Wenn Essen nicht satt macht - Jennifer Taitz - E-Book

Wenn Essen nicht satt macht E-Book

Jennifer Taitz

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Beschreibung

Wer kennt das nicht: Essen, ohne wirklich hungrig zu sein, als Mittel gegen Frust, Langeweile oder Stress. Die DBT-Therapeutin Jennifer Taitz erklärt verständlich und mit vielen Fallbeispielen die psychologischen Aspekte von Nahrungsaufnahme und übermäßigem Essen. Sie vermittelt auch denen, die schon alle möglichen Diäten als Mittel gegen ihre unkontrollierte Gewichtszunahme versucht haben, effektive Fertigkeiten, um ihr Gewicht zu reduzieren. Basierend auf Erkenntnissen und Methoden der Kognitiv-Behavioralen Therapie zeigt dieses Buch, wie über den konstruktiven Umgang mit Ärger und Stress der Weg zu einem gesunden Essverhalten ohne Kalorien zählen frei wird.

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Jennifer L. Taitz

Wenn Essen nicht satt macht

Emotionales Essverhaltenerkennen und überwinden

Jennifer L. Taitz: Wenn Essen nicht satt macht.

Emotionales Essverhalten erkennen und überwinden

2. Auflage 2015

ISBN-epub: 978-3-86739-849-7

ISBN-PDF: 978-3-86739-756-8

ISBN-Print: 978-3-86739-082-8

Bibliographische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 by Jennifer L. Taitz

Translated from the English: END EMOTIONAL EATING: Using Dialectical Behavior Skills To Cope with Difficult Emotions and Develop a Healthy Relationship to Food First published in the United States by New Harbinger Publications

© für die deutschsprachige Ausgabe: BALANCE buch + medien, Köln 2013

Der BALANCE buch + medien verlag ist ein Imprint der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden

Übersetzung: Dorothee Haentjes-Holländer, Bonn

Umschlagkonzeption und -gestaltung: GRAFIKSCHMITZ, Köln unter Verwendung eines Bildes von Stephen Lux, Cultura Images / F1online

Typografiekonzeption und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

www.balance-verlag.de

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Innentitel

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

Impressum

Hinweise des Verlags

Vorwort

Einführung: Marshmallows und Achtsamkeit

An wen wendet sich dieses Buch?

Achtsamkeit und Akzeptanz

Die Methoden dieses Buchs

Was Sie vielleicht über mich wissen wollen

Was auf Sie zukommt

Emotionen und Essverhalten erkennen und verstehen

Was heißt eigentlich emotionales Essverhalten?

Was sind Essstörungen?

Essen und Emotionen

Warum haben wir Gefühle?

Was man über Gefühle so denkt

Freiraum schaffen: Gefühle wahrnehmen und benennen

Alle Gefühle wahrnehmen

Das Kapitel kurz gefasst

Akzeptanz akzeptieren

Was heißt Akzeptanz?

Akzeptanz und Atmen

Nicht-Akzeptanz – ein Ballast

Niemand ist vollkommen

Das Kapitel kurz gefasst

Momente der Achtsamkeit

Was ist Achtsamkeit?

Achtsamkeit üben

Achtsamkeit und Essen

Was heißt achtsames Essen?

Seelische Zustände

Sich dick fühlen

Das Kapitel kurz gefasst

Emotionale Intelligenz

Gefühle verstehen

Gefühle regulieren

Das Kapitel kurz gefasst

Auf Emotionen surfen und das Selbstvertrauen stärken

Auch hohe Wellen werden kleiner

Auf Emotionen surfen, nicht gegen Emotionen kämpfen

Selbstvertrauen entwickeln

Das Kapitel kurz gefasst

Wenn der Kopf seinen eigenen Kopf hat

Das Problem mit dem Denken

Typische Denkfallen

Das Problem mit dem Kontrollieren

Gedanken akzeptieren

Das Kapitel kurz gefasst

Unangenehme Gefühle ohne fremde Hilfe meistern

Impulsives Handeln: Führt schlechte Stimmung zu schlechten Entscheidungen?

Besonnenheit: Schmerz im Schwebezustand

Stresstoleranz praktizieren

Das Kapitel kurz gefasst

Mtgefühl mit sich selbst entwickeln

Was bedeutet Mitgefühl mit sich selbst?

Selbstmitgefühl kontra Selbstwertgefühl

Selbstmitgefühl in Forschungsstudien

Selbstmitgefühl kontra Selbstvergessenheit

Selbstmitgefühl kontra Selbstbestätigung

Das Kapitel kurz gefasst

Eigene Werte leben

Essen und Selbstwertgefühl

Werte erkennen

Ein Leben nach Werten erfordert Ausdauer

Das Kapitel kurz gefasst

Am Ende und wieder am Anfang

Probleme sind Gelegenheiten

Schreiben Sie auf, was Ihnen wichtig ist

Abschließende Gedanken

Literatur

Vorwort

Die Sichtweise auf Essstörungen hat sich in den letzten Jahren entscheidend geändert. Fachleute gehen nicht mehr davon aus, dass die Korrektur von verzerrten Ansichten über Figur und Gewicht der zentrale Schlüssel zur Veränderung ist. Essverhalten steht in enger Wechselwirkung mit Emotionsregulation. Verhaltensweisen wie Fasten, exzessives Essen oder Erbrechen können zur Abschwächung oder Vermeidung unangenehmer Emotionen eingesetzt werden. Die betroffenen Frauen und Männer geraten damit in einen Kreislauf, in dem Essen zur wesentlichen Technik der Emotionsregulation wird, sie aber gleichzeitig erhebliche Beeinträchtigungen durch die negativen körperlichen und seelischen Folgen des gestörten Essverhaltens erleiden. Der entscheidende Ausweg besteht darin, nachhaltige Fertigkeiten zur Emotionsregulation zu erlernen und zu üben. Die dritte Welle der Verhaltenstherapie bietet hierzu ein breites Spektrum von Möglichkeiten: unter anderem Emotionsmanagement, Stresstoleranz, Achtsamkeit, Training zwischenmenschlicher Fertigkeiten, Training metakognitiver Fertigkeiten oder Aufbau von werteorientiertem Verhalten. Das vorliegende Selbsthilfebuch der amerikanischen Psychotherapeutin Jennifer Taitz erklärt und vermittelt viele dieser Techniken so, dass Sie diese gut in Eigenregie ausprobieren und üben können. Sie können dabei herausfinden, was für Sie persönlich naheliegend und hilfreich ist, um eigene Essprobleme zu bewältigen. Ich wünsche eine erfolgreiche Entdeckungsreise durch dieses spannende Buch!

Prof. Dr. Ulrich Schweiger und Dr. Valerija Sipos,

Autoren des Therapiemanuals »Therapie der Essstörung durch Emotionsregulation«

Einführung: Marshmallows und Achtsamkeit

Was sagen uns Marshmallows über Achtsamkeit, eine besondere Form der Aufmerksamkeit, die es uns erlaubt, auf die Situationen unseres Lebens flexibel zu reagieren? In einer grundlegenden Studie der Stanford University wurde in Bing, der Forschungskindertagesstätte der Universität, Vierjährigen ein Marshmallow angeboten. Man sagte den Kindern, sie könnten ihr Marshmallow gleich essen, aber wenn sie warten würden, bis der Versuchsleiter etwa 15 Minuten später wiederkäme, würden sie zwei Marshmallows bekommen.

Der Psychologe Walter Mischel, der sich mit dem Aufschub von Belohnungen beschäftigt, ist Vater von drei Töchtern. Gemeinsam mit anderen Kindern aus der Kindertagesstätte nahmen sie an der oben beschriebenen Studie teil. Über die Jahre hinweg erkundigte sich Mischel immer wieder bei seinen Töchtern nach ihren Freunden und Freundinnen und beobachtete dabei, dass die Fähigkeit, im Vorschulalter Belohnungen aufschieben zu können, mit guten schulischen Leistungen im Jugendalter korrespondierte. Im Jahr 1989 suchten Mischel und seine Kollegen die Teilnehmer ihrer Studie erneut auf, um ihre weitere Entwicklung nachzuverfolgen. Sie stellten fest, dass die Kinder, die ihren Marshmallow sofort gegessen hatten, tendenziell Schwierigkeiten im Sozialverhalten, im Kontakt mit Freunden und mit der Aufmerksamkeit zeigten. Im Gegensatz hierzu erreichten diejenigen, die ihre Belohnung aufgeschoben hatten, bessere Abschlussnoten und konnten besser mit Stress umgehen. Dieses Ergebnis warf die Frage auf, ob man Selbstbeherrschung lernen kann.

Wie sich herausstellte, ist es eine Fähigkeit, die man erwerben kann. Mischel konnte zeigen, dass sie mit der Fähigkeit korrespondiert, Aufmerksamkeit strategisch einsetzen zu können. Leitet man Kinder zum Beispiel an, so zu tun, als sei der Marshmallow nur das Bild eines Marshmallows, fällt es ihnen nicht so schwer, die Belohnung aufzuschieben. Die Konzentration auf den Marshmallow und die Beschäftigung damit weckt ein intensives Gefühl der Versuchung, während die Ablenkung durch andere Gedanken oder Tätigkeiten – das Zudecken des Marshmallows oder das Singen von Liedern aus der Sesamstraße – das Warten erleichtern (vgl. LEHRER 2009).

Mit diesem Buch werden Sie lernen, Versuchungen zu widerstehen, indem Sie Ihre Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Weise steuern. Sie werden Verhaltensweisen kennenlernen, die für Sie wichtig sind. Sobald Sie Ihre Reaktion auf gewisse Situationen verändern, erweitern Sie Ihre Möglichkeiten. Sie können die Fixierung auf das Essen hinter sich lassen zugunsten des weitaus wertvolleren Lohns eines gesunden Essverhaltens und einer gesunden Lebensweise.

Ich möchte Ihnen ganz herzlich danken, dass Sie den Mut hatten, dieses Buch zur Hand zu nehmen. Es braucht viel Kraft, sich auf neue Wege im Umgang mit Gefühlen und Essgewohnheiten einzulassen. Auf kurze Sicht mag es leichter erscheinen, der Herausforderung, unsere Gewohnheiten zu ändern, aus dem Weg zu gehen, doch im tiefsten Inneren wissen wir, dass wir alles nur schlimmer machen, wenn sich unsere Anstrengungen nur auf die Vermeidung der Herausforderungen richten. Probleme lösen sich in der Regel nicht von selbst. Und nicht alle Lösungen passen. Vielleicht haben Sie auch schon verschiedene Diäten und Ernährungsweisen ausprobiert und wollen nun etwas Neues versuchen, indem Sie dieses Buch lesen und durcharbeiten.

Sofern Sie denken, kein erfülltes und glückliches Leben zu führen, weil Sie ein ungesundes Verhältnis zum Essen haben, hoffe ich sehr, dass dieses Buch Ihnen neue Freiheiten schenken wird. Essen ist ein wichtiger Bestandteil des Lebens, und in diesem Buch geht es um ein erfülltes und sinnvolles Leben. Anders als Hunderte anderer Bücher wird dieses Buch Ihnen nicht sagen, was, wann, wie oder wie viel Sie essen sollen. Stattdessen werden Sie lernen, in unmittelbarem Kontakt zum Augenblicklichen zu leben, aus Ihren Gefühlen zu lernen, mit Ängsten umzugehen und Selbstachtung zu finden. Diese Grundfähigkeiten werden Ihnen helfen, eine genussvolle und gesunde Einstellung zum Essen zu entwickeln.

An wen wendet sich dieses Buch?

Tag für Tag sind wir mit Essen konfrontiert. Es ist ein Bestandteil unseres Lebens: Nahrung erhält unseren Körper und versorgt unser Gehirn. Dennoch machen nicht wenige Menschen die Erfahrung, dass uns das, was uns am Leben hält, auch schaden kann und Gefühle der Scham und Angst auslöst. Vielleicht haben Sie sich schon dabei ertappt, dass Sie etwas gegessen haben, ohne wirklich hungrig zu sein – Nahrungsaufnahme als Reaktion auf ein Gefühl, anstatt aus einem physiologischen Bedürfnis heraus. Essen kann Langeweile unterdrücken oder auch Stress, es kann uns für kurze Zeit ein Gefühl der Geborgenheit bieten. Wenn wir aber essen, um mit unangenehmen Gefühlen fertigzuwerden, vergeben wir die Chance, aus unseren Gefühlen zu lernen und gesündere Methoden für den Umgang mit unseren Gefühlen zu entwickeln. Emotionales Essverhalten hält uns davon ab, unser persönliches Potenzial zu entdecken. Darüber hinaus kann eine derartige Instrumentalisierung von Nahrung dazu führen, dass wir uns noch schlechter fühlen – körperlich wie seelisch. Sofern Sie sich schon dabei ertappt haben, dass Sie aus Langeweile, Angst, Einsamkeit, Glück oder Trauer gegessen haben, wird dieses Buch Ihnen helfen, die Akzeptanz dieser Gefühle zu stärken, sodass Sie das Essen nicht mehr brauchen, um mit Ihren Gefühlen umzugehen. Im Lauf der Zeit wird die Schwächung der Verknüpfung zwischen Nahrungsaufnahme und kurzfristigem emotionalen Trost Ihnen erlauben, Schritt für Schritt gesündere und nachhaltigere Wege für den Umgang mit Ihren Gefühlen zu entdecken. Ein achtsamer Umgang mit ihren Gefühlen wird Ihnen helfen, Essen auf eine gesunde, bekömmliche und befriedigende Weise zu genießen.

Dieses Buch kann traditionelle Diätprogramme begleiten, es ist aber kein Diätbuch im eigentlichen Sinne, wie es auch nicht ausschließlich für Leser gedacht ist, die ihr Gewicht reduzieren möchten. Stattdessen hat es das Ziel, die psychologischen Aspekte von Essenverhalten aufzuzeigen, die in konventionellen Diätbüchern üblicherweise nicht berührt werden.

Sofern Sie unter einer Essstörung leiden – wir werden Essstörungen im ersten Kapitel kennenlernen –, stellt dieses Buch allerdings keinen Ersatz für eine umfassende Therapie dar. Sollten Sie sich aber schon in professioneller Behandlung befinden, kann seine ergänzende Lektüre sinnvoll sein. Ob Sie sich mit Übergewicht herumschlagen, Ihre Gedanken immer wieder um Essen kreisen oder auch um Ihren Körper – dieses Buch wird Ihnen helfen, die Perspektive Ihres Lebens zu erweitern und zu vertiefen.

Dieses Buch stellt Ihnen die neusten Methoden der klinischen und wissenschaftlichen Psychologie vor. Sie stellen quasi die Werkzeuge dar, mit denen Sie lernen können, so mit Ihren Gefühlen umzugehen, dass ein Leben im Hier und Jetzt möglich wird. Wenn Sie Gefühle ängstigen oder Unbehagen auslösen, wenn Sie feststellen, dass Sie Gefühle zu unterdrücken versuchen, wird dieses Buch Ihnen praktische Fähigkeiten an die Hand geben, um sie zu steuern. Schließlich haben wir keine Alternative: Leben heißt fühlen.

Achtsamkeit und Akzeptanz

Beginnen wir mit den wichtigsten Leitbildern dieses Buchs: Achtsamkeit und Akzeptanz. Achtsamkeit bezeichnet das ganz auf den gegenwärtigen Moment ausgerichtete, nicht festgelegte und nicht urteilende Bewusstsein. Es geht darum, die Gegenwart wahrzunehmen und nicht mit den Gedanken in die Zukunft oder die Vergangenheit abzuschweifen. Akzeptanz bezeichnet die Bereitschaft, Gedanken und Gefühle zuzulassen, auch die unbequemen. Akzeptanz bedeutet nicht, sich Dingen zu beugen, die wir eigentlich nicht wollen oder sehenden Auges auf etwas zuzusteuern, das uns nicht gefallen wird. Akzeptanz zu praktizieren heißt, unsere realen Lebensumstände anzuerkennen. Damit schaffen wir Raum für den Fluss unseres gesamten Innenlebens, ohne uns dagegen zu wehren oder gar zu versuchen, davor zu fliehen. Zahlreiche Studien haben bewiesen, dass wir so besser mit problematischen Erfahrungen umgehen können. In späteren Kapiteln werden wir deshalb recht viel Zeit darauf verwenden, die Prinzipien und die Praxis der Achtsamkeit und Akzeptanz näher kennenzulernen.

Übrigens: Viele Menschen glauben, dass Akzeptanz der Gegenspieler der Veränderung ist. So ist es aber nicht. Wie Sie sehen werden, beschreibt Akzeptanz eine Haltung, die allmählich wächst, die begleitet und verändert.

Woran denken Sie, wenn Sie die Begriffe »Achtsamkeit« und »Akzeptanz« hören? Manche Menschen halten diese Methoden für banal und bei ernst zu nehmenden Problemen für nicht ausreichend. Sie verbuchen Achtsamkeit und Akzeptanz unter der »New Age«/»Nichts für mich«-Kategorie. Ich bitte Sie, alle Urteile, denen Sie begegnen – ob positiv, negativ oder unentschieden – zur Kenntnis zu nehmen und zu respektieren, sich aber auf nichts festzulegen (und nichts abzulehnen), bevor Sie Achtsamkeit und Akzeptanz nicht selbst ausprobiert haben.

Die Methoden dieses Buchs

Eine Reihe der Techniken, denen wir in diesem Buch begegnen, haben ihren Ursprung in wissenschaftlich anerkannten Therapieverfahren. Ich werde dies später noch genauer ausführen. Ich will Sie an dieser Stelle nicht mit Akronymen (oder mit Buchstabensuppe) verwirren, ich möchte Ihnen nur vermitteln, dass die in diesem Buch vorgestellten Methoden nicht irgendwelchen Launen oder meiner Fantasie entspringen. Vielmehr entsprechen sie den neusten Erkenntnissen der kognitiv-behavioralen Therapie und haben sich anhand randomisierter und kontrollierter Studien als hilfreich für ein breites Spektrum von Problemen erwiesen. Ich werde in diesem Buch die Leitbilder und Herangehensweisen von drei in der Praxis bevorzugten Methoden vorstellen.

Die Dialektisch-Behaviorale Therapie

Marsha Linehan, Professorin an der Universität Washington, entwickelte die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT), um ihre Patienten beim Umgang mit übermächtigen Gefühlen zu unterstützen. Sie hat herausgefunden, dass es wenig zielführend ist, Menschen zu einer Veränderung zu drängen. Stattdessen bringt sie ihren Patienten bei, wie man etwas akzeptiert und gleichzeitig verändert. Dazu kombinierte sie Elemente aus ihren Erfahrungen als Verhaltenstherapeutin und als Zen-Schülerin.

Es gibt Menschen, die Gefühle stärker empfinden als andere. Andere nehmen Gefühle stärker wahr, weil sie nicht gelernt haben, sie zu akzeptieren oder sich auf sie einzulassen. Durch DBT haben Tausende von Menschen auf der ganzen Welt erfahren, dass sich Gefühle steuern lassen, indem man sie akzeptiert. Sollten Sie feststellen, dass Ihre Gefühle wie bei einem Kippschalter entweder auf »an« oder auf »aus« stehen, wird DBT Ihnen helfen, Ihre Gefühle zu regulieren, wie bei einem Dimmer, mit dem man die Beleuchtung eines Zimmers sehr viel feiner regeln kann. Kurz: DBT wird Ihnen praktisch anwendbare Fertigkeiten vermitteln. Dazu zählen nach LINEHAN (1996a, 1996b):

Achtsamkeit ▶ Ein »Herzstück« der DBT-Fertigkeiten. Achtsamkeit heißt, ganz im gegenwärtigen Moment zu leben, alles vorurteilsfrei zu betrachten und ohne Vorbehalte am Leben teilzunehmen.

Gefühlssteuerung ▶ Wenn Sie die Bedeutung von Gefühlen erkennen, können Sie diese nicht nur besser beschreiben, Sie können sie auch verändern und konstruktiv mit ihnen umgehen, anstatt sich von ihnen beherrschen zu lassen.

Stresstoleranz ▶ Gemeint ist die Fähigkeit, mit Krisen umzugehen, ohne die Probleme größer zu machen.

Soziale Kompetenzen ▶ DBT kann Ihnen helfen, Ihre eigenen Bedürfnisse zu erkennen, auszudrücken und die Beziehungen zu Ihren Mitmenschen zu verbessern.

Ursprünglich wurde DBT entwickelt, um Patienten mit selbstverletzendem Verhalten und Suizidgedanken zu behandeln. Mittlerweile wird es viel breiter eingesetzt. Studien, in denen DBT mit anderen anerkannten Therapieverfahren verglichen wurde, haben gezeigt, dass DBT bei der Behandlung von Patienten mit schwierigen Gefühlslagen, bei Selbstverletzung, Essanfällen, Bulimie und Depression erfolgreich ist (vgl. hierzu z.B. LINEHAN 1996a; TELCH, AGRAS und LINEHAN 2001; WISNIEWSKI, SAFER und CHEN 2007; LYNCH, MENDELSON und ROBINS 2003). DBT ist auch in der Paartherapie eingesetzt worden (FRUZZETTI 2006). In meiner Praxis wende ich Elemente aus DBT sogar bei den Patienten an, die keine signifikanten Probleme mit ihren Gefühlen haben, sondern »nur« in einer Sinnkrise sind. Auch diese Klienten bestätigen durchgehend, wie hilfreich sie die DBT-Fertigkeiten finden.

Die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACT)

ACT ist ein Behandlungsverfahren, das von Steven HAYES zusammen mit seinen Kollegen Kirk STROSAHL und Kelly WILSON (1999) an der University of Nevada in Reno entwickelt wurde. ACT hilft Menschen, sich von starren Mustern zu lösen und nach eigenen Vorstellungen zu leben, anstatt ein Dasein zu führen, das auf der Bekämpfung oder Vermeidung von Gefühlen beruht. Bei ACT geht es darum, das Auftauchen negativer Gefühle zuzulassen und gleichzeitig die Dinge zu verfolgen, die einem selbst wichtig sind. Viele unangenehme Erfahrungen, dazu zählen auch Gedanken und Gefühle, sind nicht kontrollierbar. Man kann sich aber auf Verhaltensweisen stützen, die im Einklang mit den eigenen Werten sind.

Ebenso wie DBT ist auch ACT intensiv erforscht worden und seine Wirkung bei der Behandlung vielfältiger psychologischer Probleme erwiesen. ACT wird auch in der Behandlung von Körperschemastörungen und Essstörungen eingesetzt (FORMAN u.a. 2009; PEARSON, HEFFNER und FOLLETTE 2010; SANDOZ, WILSON und DUFRENE 2011).

Die Achtsamkeitsbasierte Kognitive Therapie (MBCT)

MBCT ist ein Verfahren, das von Zindel SEGAL und seinen Kollegen Mark WILLIAMS und John TEASDALE (2008) an der University of Toronto entwickelt wurde und deutlich von Jon Kabat-Zinns achtsamkeitsbasierter Stressbehandlung beeinflusst ist. Mithilfe achtsamkeitsbasierter Techniken lernen Menschen, sich von ihren wiederkehrenden und belastenden Gedankenschleifen zu befreien, die insbesondere bei depressiven Patienten häufig anzutreffen sind. MBCT senkt das Wiedererkrankungsrisiko deutlich (SEGAL, WILLIAMS und TEASDALE, 2008). Tatsächlich hat sich MBCT in der Rückfallprophylaxe sogar als ebenso effektiv erwiesen wie die Einnahme von Antidepressiva (SEGAL u.a. 2010). Man könnte also sagen: Achtsamkeit ist ein Medikament, das man durch geistige Übung erlangen kann.

Menschen, die Probleme mit ihren Gefühlen und ihrem Essverhalten haben, neigen häufig dazu, sich in wiederkehrenden, als schmerzhaft empfundenen Gedankenschleifen zu verstricken. Das ruft Stressgefühle hervor und verschärft sie. Wer ständig über Essen nachdenkt, ist oft hin- und hergerissen zwischen Heißhunger, Figurkomplexen und achtloser Nahrungsaufnahme. Da mit einer achtsamen Haltung Gefühle leichter erträglich sind und so der Teufelskreis aus Stress und verzerrtem Denken durchbrochen werden kann, hat sich MBCT als hilfreiches Instrument in der Behandlung von emotionalen Problemen und Essstörungen herausgestellt (BAER, FISCHER und HUSS 2005).

In diesem Buch möchte ich das philosophische Gedankengerüst dieser drei Behandlungsmethoden mit praktischen Übungen verbinden, das Gefühl für die eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Werte schärfen und so emotionales Essverhalten überwinden helfen.

Was Sie vielleicht über mich wissen wollen

Ich stamme aus Los Angeles und lebe seit vielen Jahren in New York. Schon in meiner Kindheit habe ich die andauernde Beschäftigung mit dem Gewicht und der Figur in unserer Kultur beobachten können. Die Bedeutung des Körpers war allgegenwärtig. Bereits während der dritten Grundschulklasse experimentierten einige meiner Mitschülerinnen mit der Kohlsuppen-Diät. Gleichzeitig habe ich immer wieder zu hören bekommen, wie wichtig es ist, schlechte Gefühle zu unterdrücken und pausenlos glücklich zu sein. Wir leben in einer »Friede, Freude, Eierkuchen«-Gesellschaft – dabei haben wir alle unsere Gedanken und Gefühle und sind verletzlich. Wie viele andere Menschen auch, weiß ich, wie es ist, nicht perfekt zu sein, Fehler zu haben. Und ebenso bin ich mit der Erfahrung vertraut, dieses Gefühl der Unzulänglichkeit nicht zeigen zu wollen – meistens umsonst.

In meinem Erwachsenenleben habe ich gelernt, die Techniken der Achtsamkeit und der Akzeptanz anzuwenden, sie erwiesen sich als äußerst hilfreich, um die Wucht und die Schärfe von Gefühlen wie Unvollkommenheit, Angst und Scham zu zähmen. Meine erste Begegnung mit dem, was ich heute »Achtsamkeit« und »Akzeptanz« nenne, hatte ich als junge Erwachsene beim Yoga. Dann begann ich den Zusammenhang dieser Übungen mit den wissenschaftlichen Inhalten meines Psychologiestudiums zu erkennen. Während meiner ersten Therapien wandte ich verschiedene achtsamkeitsbasierte Techniken bei meinen zahlreichen Patienten an, darunter auch Strafgefangene. Zunächst machte mich der Pessimismus, dem ich auf diesem Arbeitsfeld begegnete, ganz krank. Es fiel mir schwer, die Hoffnungslosigkeit mancher Prognosen zu akzeptieren. Schließlich aber zog ich es vor, zusammen mit einigen anderen, die Hoffnung nicht aufzugeben – vor allem auf die Besserung von gewissen Zuständen, was von einigen unserer Kollegen als aussichtslos abgetan wurde. Achtsamkeit und Akzeptanz, eine Haltung und Methode, die ohne Mitgefühl nicht zu praktizieren ist, verband sich mit meinen persönlichen Werten und meinem großen Optimismus.

Ich habe mich intensiv mit DBT befasst. Nach meiner Zeit als Assistentin an der Yale University School of Medicine habe ich das DBT-Programm am amerikanischen Institut für kognitive Verhaltenstherapie geleitet. In jüngster Zeit habe ich mich genauso intensiv mit ACT und MBCT befasst und meine Patienten damit behandelt. Ich bin eine große Verfechterin achtsamkeits- und akzeptanzbasierter Therapieverfahren, weil ich gesehen habe, dass sie funktionieren – auch bei den Menschen, die fest davon überzeugt waren, dass ihnen gar nichts mehr helfen kann.

Viele meiner Patienten, die unter heftigen Gefühlsausbrüchen leiden, auch unter Ängsten und Depressionen, kämpfen gleichzeitig mit einem problematischen Essverhalten. Viele von ihnen haben ein wirklich schwieriges Verhältnis zum Essen, sie leiden zu sehen, tut mir in der Seele weh. Denn auch wenn wir ohne Essen nicht leben können – zu viel oder zu wenig Nahrung kann fatale Folgen haben. Ich kenne eine Reihe von Menschen, die wegen ihres problematischen Essverhaltens ihr Leben in der Warteschleife verbringen, und es ist nur zu offensichtlich, dass sie sich dadurch ihrer Möglichkeiten berauben, aus vollem Herzen zu leben. Wir können lange warten, dass sich unsere Umstände von selbst verändern. In der Zwischenzeit verpassen wir eine Reihe von Chancen – und fühlen uns dadurch noch mieser und essen noch ungesünder. Oder wir können ein paar neue Ideen und Methoden aufgreifen, mit denen wir uns von der Stelle bewegen können.

Was auf Sie zukommt

Dieses Buch stellt Haltung und Methoden der Achtsamkeit und Akzeptanz vor. Ich werde Ihnen zunächst einiges praktische Handwerkszeug vorstellen, mit dem Sie Ihre Gefühle, Ihr Essverhalten und Ihre Art, mit Problemen umzugehen, erkennen und verstehen werden. In den späteren Kapiteln werde ich die Perspektive erweitern, vom Umgang mit Gefühlen und dem Essen hin zur Stärkung der Selbstachtung und des Mitgefühls – auch mit sich selbst. Letztlich geht es darum, ein erfülltes Leben zu führen, ein Leben, das Sinn macht.

Sie werden auf den kommenden Seiten eine Menge Material finden, aus dem Sie wählen können. Jeder Mensch ist einzigartig. Sehen Sie sich also die verschiedenen Angebote an und probieren Sie aus, was Sie anspricht. Achtsamkeit und Akzeptanz erschließen sich allerdings nicht allein durch Lesen, sondern erfordern Übung. Deshalb werden Sie davon eine ganze in diesem Buch finden. Die Tabellenübersichten und einige Achtsamkeitsübungen können Sie sich darüber hinaus im Internet herunterladen unter www.balance-verlag.de/buecher/detail/book-detail/ wenn-essen-nicht-satt-macht-1.html.

Sinnvoll ist es, ein kleines Heft zu führen, in dem Sie sich Notizen machen, in dem Sie Fragen beantworten, die Sie nachdenklich gestimmt haben, und mit dem Sie einen Überblick über die Übungen behalten, die Sie durchgeführt haben, mitsamt Ihren Beobachtungen dazu. Sie können Ihre Notizen natürlich auch auf Ihrem Computer oder Smartphone sammeln.

Ich habe viele Jahre gedacht, dass Achtsamkeit ein sehr gute Haltung und Methode ist – sie aber nur selten praktiziert. Irgendwann habe ich aber festgestellt, dass es auch hierbei, wie bei den meisten Dingen, einen Zusammenhang gibt zwischen dem, was man investiert und dem, was man herausbekommt. Mit regelmäßiger Übung habe ich die besten Erfolge erzielt. Dabei habe ich festgestellt, dass regelmäßige kleine Übungseinheiten oft wirkungsvoller sind als geballte Trainingsprogramme. Mit anderen Worten: einmal am Tag achtsam zu essen und jeden Tag zehn Minuten bei der Arbeit schwierige Gefühle zuzulassen, kann effektiver sein, als einmal in der Woche drei Stunden lang Achtsamkeit zu praktizieren.

Machen Sie sich Ihre Erfahrungen auf dem Weg zu Achtsamkeit und Akzeptanz immer wieder bewusst. Es ist sinnvoll, Verabredungen mit sich selbst zu treffen, z.B. immer abends achtsam zu essen oder Gefühle in einer bestimmten Situation zu akzeptieren. Halten Sie fest, was Ihnen geholfen hat, neue Gewohnheiten anzunehmen. Oft genügen schon kleine Schritte, um neue Wege zu gehen. Sofern Sie jemand brauchen, der Sie daran freundlich erinnert, Ihr selbst gewähltes Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, können Sie einen Freund oder eine Freundin bitten, Ihre Achtsamkeitserfahrungen zu begleiten.

Für mich ist es immer hilfreich, mir vor Augen zu halten, dass es bei Verhaltensänderungen kein unverbindiches »Versuchen« gibt. Entweder man tut etwas oder man tut es nicht. Meine Hoffnung ist, dass dieses Buch, und – wichtiger noch – Ihre persönlichen Übungen in Achtsamkeit und Akzeptanz, Ihnen einen Weg zeigen werden, der zu Lebensfreude, Mitgefühl und Ausgeglichenheit führt. Und der es Ihnen erlaubt, in aller Ruhe einen Marshmallow zu genießen.

Emotionen und Essverhalten erkennen und verstehen

Es fällt den Menschen schwer, sich von ihren Leiden zu befreien. Aus Angst vor dem Neuen leben sie lieber weiterhin mit dem Leid – weil sie es bereits kennen.

Thich Nhat Hanh

Noch ein berühmtes Experiment: 1978 beschäftigte sich eine Gruppe von Psychologen mit dem Thema Glück. Sie befragten Gewinner der Lotterie des Bundesstaats Illinois sowie Menschen, die einen schweren Unfall erlitten hatten und teilweise vom Hals abwärts gelähmt waren (vgl. BRICKAM, COATES und JANOFF-BULMANN 1978). Daneben wurde eine Kontrollgruppe zusammengestellt, deren Teilnehmer nach dem Zufallsprinzip über das Telefonbuch ausgewählt wurden. Die Forscher befragten alle Studienteilnehmer, wie glücklich sie sich in der Vergangenheit und Gegenwart fühlten und wie viel Glück sie von der Zukunft erwarteten. Daneben wurden die Teilnehmer beider Gruppen auch befragt, wie glücklich sie alltägliche Aktivitäten machten, zum Beispiel das Lesen einer Zeitschrift oder das Gespräch mit einem Freund.

Die Psychologen fanden heraus, dass die Lotteriegewinner – wie man sich fast denken kann – sehr glücklich über ihren Gewinn waren, während die Unfallopfer unter ihren schweren Verletzungen litten. Bemerkenswert ist allerdings Folgendes: Beim Vergleich der Lotteriegewinner mit der nach dem Zufallsprinzip zusammengestellten Kontrollgruppe stellten die Forscher keine Unterschiede im aktuellen und für die Zukunft erwarteten Glücksempfinden fest. Nachdem das erste Glücksgefühl nach dem Gewinn verschwunden war, fühlten sich die Lotteriegewinner nicht glücklicher als die Nichtgewinner. Besonders interessant: Die Lotteriegewinner beschreiben sich bei alltäglichen Aktivitäten als deutlich weniger glücklich als die Teilnehmer der beiden anderen Gruppen.

Ich möchte dieses Buch nicht elegisch beginnen, aber die Frage ist natürlich schon, ob wir eigentlich wissen, was uns echte Freude schenkt. Wir denken vielleicht: Wenn ich nur diesen Sportwagen hätte, ein Haus auf Hawaii oder einen Käsekuchen, dann wäre ich der glücklichste Mensch auf Erden! Die Forschung aber zeigt, dass es sich anders verhält. Timothy WILSON und Daniel GILBERT erklären dazu: »In der Regel wird die Freude – oder die Enttäuschung –, die ein zukünftiges Ereignis bringen wird, falsch eingeschätzt. Als Folge dessen setzen sich die Menschen oft mit aller Kraft für etwas ein, das ihr Glücksgefühl letzten Endes gar nicht erhöht.« (2005, 131)

Woher wissen wir eigentlich, was wir wollen? In den meisten Fällen treffen wir unsere Entscheidungen aus dem Bauch heraus oder aufgrund von Einschätzungen, wie wir uns zukünftig fühlen werden (vgl. WILSON und GILBERT 2005). Aber diese Einschätzungen treffen nicht immer zu. Wir können mit unserer Prognose, wie positiv oder negativ wir auf ein Ereignis reagieren werden, sogar ausgesprochen schiefliegen.

Häufig schätzen wir nicht nur falsch ein, wie viel Freude wir empfinden werden, wir unterschätzen auch, was wir ertragen können. Haben Sie nicht auch schon einmal gedacht »Das überlebe ich nicht!« und sind letzten Endes viel besser mit der Situation zurechtgekommen, als Sie erwartet hatten?

Auch unsere Entscheidungen, wie wir mit unangenehmen Emotionen umgehen und unsere Erwartung, wie viel Genuss wir aus dem Essen ziehen können, basieren auf solchen Gefühlsprognosen. Und diese Vorhersagen sind eben eher ungenau. Auf den kommenden Seiten werden wir einige unserer Überzeugungen über das Jammertal der Gefühle und die Höhenflüge des Essens auf die Probe stellen. Ich möchte Sie bitten, diese Vorstellungen und Glaubenssätze achtsam zu registrieren und einfach nur als das betrachten, was sie sind.

Was heißt eigentlich emotionales Essverhalten?

Die meisten von uns wissen, was man essen sollte und wann. Es gibt zu diesem Thema genügend Informationen. Häufig aber besteht ein Missverhältnis zwischen dem, was wir wissen und dem, was wir tun. Auch wenn wir die Fakten kennen – eine Entscheidung wird immer auch aus dem Bauch heraus getroffen. Viele Menschen, die Probleme mit ihren Emotionen haben, zeigen auch ein problematisches Essverhalten. Der Begriff »emotionales Essverhalten« zeigt an, dass das Essen von Gefühlen gesteuert wird, von angenehmen wie von unangenehmen.

Unsere Emotionen wirken auf die verschiedensten Aspekte unseres Essverhaltens: warum wir essen, was wir essen, wo und mit wem wir essen und wie schnell. Wer viel isst, tut dies nicht immer aus echtem Hunger. Oft essen Gefühle mit. Aber nicht jeder, der aus emotionalen Gründen isst, hat Übergewicht. Auch schlanke Menschen versuchen ihren emotionalen Empfindungen aus dem Weg zu gehen, durch Essen oder durch ständige Beschäftigung mit ihrer Figur und ihrem Gewicht. Hier sind einige Beispiele, wie sich emotionales Essverhalten äußern kann:

Essen ohne Hungergefühl oder trotz einer gewissen Sättigung

Heißhunger auf ein bestimmtes Essen

Kein Sättigungsgefühl, trotz einer ausreichenden gesunden Mahlzeit

Hastiges in den Mund schieben von noch mehr Essen, bevor der letzte Bissen heruntergeschluckt ist

Emotionale Entspannung durch Essen

Essen in oder nach Stresssituationen

Betäubung von Gefühlen durch Essen

Allein essen, damit andere es nicht mitbekommen

Menschen, die aus emotionalen Gründen essen, versuchen sich dadurch meist zu beruhigen oder sich kurzfristige Erleichterung von unangenehmen Gefühlen zu verschaffen. Manche greifen zu bestimmten Leckereien, wenn sie Stress haben. Emotionsgesteuertes Essverhalten ist verknüpft mit Gefühlen der Unzulänglichkeit (vgl. WALLER und OSMAN 1998). Manche Empfindungen können so stark sein, dass sie das Bedürfnis wecken, ihnen durch die Aufnahme von Essen augenblicklich zu entfliehen. Wir glauben, kein anderes Mittel zur Hand zu haben, um dem Stress standzuhalten.

⇔ Wie steht es mit Ihren eigenen Erfahrungen? Empfinden Sie durch Essen echte und nachhaltige Entspannung? Oder ist die Erleichterung nur flüchtig oder bestenfalls partiell?

So wie wir vielleicht aus Gewohnheit den Fernseher einschalten, Alkohol trinken oder shoppen gehen, stellt auch das Essen einen kurzfristigen Ablenkungsversuch dar. In diesem Kapitel werden Sie lernen, Ihre Gefühle besser zu verstehen, damit sie Ihnen weniger unangenehm sind und Sie sich ihnen weniger ausgeliefert fühlen.

Was sind Essstörungen?

Emotionales Essverhalten ist keine Essstörung im eigentlichen Sinne, sondern nur ein häufiges Symptom bei Essstörungen. Emotionsgesteuertes Essverhalten tritt auf bei Binge-Eating, Fettleibigkeit und Bulimie (vgl. z.B. LINDEMANN und STARK 2001). Ob Sie nun tatsächlich unter einer Essstörung leiden oder eher nicht – ich werde von Zeit zu Zeit auf die echten Essstörungen zurückkommen müssen, um darzustellen, welchen Einfluss Gefühle auf die Verhaltensweisen bei Essstörungen haben. Dazu erläutere ich zunächst kurz, wie im DSM-4, dem Diagnostischen Statistischen Manual psychischer Erkrankungen, Essstörungen kategorisiert werden.

Magersucht▶ impliziert eine Überbewertung der Figur und des Gewichts. Magersuchtpatientinnen definieren ihr Selbstbewusstsein in erster Linie über ihr Gewicht. Bei dieser Essstörung versuchen die Betroffenen, ein unnatürlich niedriges Körpergewicht zu halten (weniger als 85% des Normalgewichts). Ein Kriterium für die Diagnose Magersucht ist das Ausbleiben der Menstruation – als Resultat der mangelhaften Ernährung.

Bulimie▶ impliziert ebenfalls eine Überbewertung des Gewichts und der Figur und geht einher mit drastischen Maßnahmen, um den Körper unter Kontrolle zu halten. Bulimiepatienten leiden immer wieder unter Heißhungerattacken und nehmen dabei große Mengen an Nahrung zu sich. Diese »Fressattacken« erleben sie als Kontrollverlust und versuchen durch bestimmte kompensatorische Verhaltensweisen, die exzessive Kalorienaufnahme »wiedergutzumachen«, indem sie die Nahrungszufuhr radikal begrenzen, Erbrechen herbeiführen, sportlichen Überehrgeiz entwickeln oder Abführmittel missbrauchen.

Sonstige Essstörungen▶ sind die am häufigsten beobachteten Störungen. Diese Kategorie beschreibt krankhafte Essstörungen, die weder Kriterien der Bulimie noch der Magersucht aufweisen. Wenn zum Beispiel bei einer Frau mit gesundem Körpergewicht die Gedanken immer wieder um ihre Figur kreisen, kann eine Essstörung vorliegen. Ebenso würde man einem Mann, der sehr auf seine Figur fixiert ist, Diät hält, dabei aber nicht weniger als 85% des Normalgewichts wiegt, eine nicht näher bezeichnete oder sonstige Essstörung attestieren.

Binge-Eating▶ gehört zu den sonstigen Essstörungen. Darunter versteht man wiederkehrende Heißhungerattacken ohne kompensatorische Anstrengungen, das Gewicht unter Kontrolle zu halten. Diese Störung geht oft mit Übergewicht einher – obwohl sie auch bei Menschen mit Normalgewicht auftreten kann. Im Gegensatz zur Magersucht oder Bulimie, die überdurchschnittlich viele Frauen und Mädchen betrifft, ist etwa ein Drittel der Binge-Eater männlich.

Verwenden wir einen Moment darauf, Binge-Eating von subjektivem Gefühl, zu viel gegessen zu haben, zu unterscheiden. Beim Binge-Eating wird eine objektiv große Menge Nahrung verzehrt, begleitet von einem wachsenden Gefühl des Kontrollverlustes. Ein Betroffener kann dabei Tausende von Kalorien zu sich nehmen. Wenn Sie aber zum Beispiel beim Weihnachtsbraten ordentlich zulangen und das Gefühl haben, dass sie gleich platzen, ist das noch kein Binge-Eating, sondern ein Gefühl, dass sie vermutlich mit den anderen Menschen am Tisch teilen. Es ist nicht unbedingt gesund, so viel auf einmal zu essen, aber an einem Weihnachtsabend in gewisser Weise normal. Die Unterscheidung der Essstörung Binge-Eating vom subjektiven Gefühl, zu viel gegessen zu haben, kann ein erster Schritt sein, nicht weiter in Schwarz-Weiß-Kategorien zu denken. Das Gefühl oder der Gedanke, zu viel gegessen zu haben, ist etwas anderes als der Kontrollverlust und das rasante Verzehren übergroßer Kalorienmengen.

Die meisten Essstörungen weisen zentrale Gemeinsamkeiten auf. Viele Betroffene, die Merkmale einer Essstörung zeigen, lassen irgendwann auch Kriterien einer zweiten erkennen (vgl. FAIRBURN 2011). Eine Magersuchtpatientin zum Beispiel leidet möglicherweise auch unter Bulimie. Im Allgemeinen messen Menschen, die unter einer Essstörung leiden, ihrer Figur und ihrem Gewicht eine zu hohe Bedeutung zu, und ihre Versuche, ihren Körper zu kontrollieren, beschäftigen sie in extremer Weise. Auch das Binge-Eating geht oft mit weiteren Essstörungen einher. Dies ist leicht nachzuvollziehen: Wenn man sich über sein Gewicht definiert, reduziert man zum Beispiel den Konsum von Süßigkeiten. Das führt aber häufig zu Heißhunger auf Süßigkeiten. Nach einer Diät stürzen sich die Menschen oft auf die Dinge, auf die sie während der Diät verzichtet hatten. Außerdem ist Binge-Eating häufig eine Reaktion auf schlechte Laune oder auf einen anstrengenden Tag.

Essen und Emotionen

Stress kann ein Motiv sein, mehr oder weniger zu essen. Viele Menschen entwickeln zum Beispiel großen Appetit, wenn sie traurig sind – während bei anderen der Appetit nachlässt. Weniger zu essen kann ebenso ein Weg sein, mit seinen Gefühlen umzugehen wie Binge-Eating. Vielleicht haben auch Sie sich schon dabei ertappt, dass Sie bei unangenehmen Gefühlen große Mengen zu sich nehmen, um sich zu trösten, und sich andererseits strengen Diäten unterwerfen, um Ihr Gewicht oder Ihre Gefühle zu kontrollieren.

Die Psychologie geht mittlerweile davon aus, dass Probleme im Umgang mit Gefühlen der Dreh- und Angelpunkt sowohl für Binge-Eating wie auch für Bulimie sind. Binge-Eating und andere Formen problematischen Essverhaltens werden als Versuch angesehen, schmerzhafte Gefühle zu beeinflussen, zu verändern oder zu kontrollieren (vgl. z.B. SAFER, TELCH und CHEN 2009; LINEHAN und CHEN 2005). Menschen, die mit ihren Gefühlen nicht umgehen können – weder mit den positiven noch mit den negativen –, suchen oft Zuflucht im Binge-Eating oder im Missbrauch von Abführmitteln. Entsprechend wurde bei Bulimikern eine eingeschränkte Wahrnehmung von Gefühlen beobachtet, für Magersuchtpatienten ist die Vermeidung jeglicher Gefühle charakteristisch (LEGENBAUER, VOCKS und RÜDDEL 2008; WILDES, RINGHAM und MARCUS 2010).

Aber Gefühle können in weitaus harmloserer, nicht klinisch auffälliger Weise unser Essverhalten beeinflussen. Wer hat sich zum Beispiel nicht schon nach einer Trennung mit einer großen Tafel Schokolade getröstet? Es spricht nichts dagegen, sich in harten Zeiten etwas zu gönnen. Doch ein regelmäßiger Rückgriff auf Essen, wenn Gefühle im Spiel sind, bestärkt uns in der wenig hilfreichen Vorstellung, auf andere Weise mit ihnen nicht fertigwerden zu können. Nebenbei bemerkt: Schokolade wird Ihren Gefühlen niemals wirklich gerecht werden. Weder ein kleines noch ein großes Stück Schokolade wird Ihnen helfen herauszufinden, was Ihnen wirklich wichtig ist.

Studien zeigen, dass Probleme im Erkennen, Verstehen und Kontrollieren von Gefühlen einen größeren Einfluss auf die Entwicklung einer Binge-Eating-Störung haben als das Geschlecht, Diäten oder die Überbewertung von Figur und Gewicht (WHITESIDE u.a. 2007). Menschen, die ihre Gefühle als überwältigend empfinden oder Probleme haben, ihre wirklichen Gefühle überhaupt zu erkennen, haben oft den Eindruck, mit ihren Emotionen überhaupt nicht umgehen zu können. Sie versuchen, ihr Unbehagen mit Essen zu unterdrücken.

Vielleicht stellen Sie fest, dass Sie nach einem heftigen Gefühlseindruck spontan zu Essen greifen und auf diese Weise Ihrem Gefühl entgehen. Sie fühlen zunächst Erleichterung, verpassen dadurch aber die Chance, wahrzunehmen, was das Gefühl Ihnen sagen will (dies jedoch kann man üben, wie wir noch sehen werden). Unangenehme Gefühle zu haben, lässt sich nicht vermeiden. Ihnen immer wieder auszuweichen beschränkt unsere Möglichkeit, ein freies und erfülltes Leben zu führen.

Manche Menschen sind gefühlsmäßig leichter zu verletzen als andere. Sie nehmen Gefühle stärker und über einen längeren Zeitraum wahr (LINEHAN 1996a). Wenn Sie emotional verletzlich sind und in einer Umgebung aufgewachsen sind, wo man Ihnen nicht beigebracht hat, mit Gefühlen umzugehen – oder schlimmer: wo Sie bestraft wurden, wenn Sie Gefühle zeigten – haben Sie vielleicht stattdessen gelernt, Ihre Gefühle durch Essen zu kontrollieren.

Wenn Sie als Reaktion auf ein Gefühl essen, wird dieses Gefühl immer wieder auftauchen, neben anderen Gefühlen, die dem emotionsbedingten Essverhalten folgen. Wenn Sie essen, um ein Gefühl zu unterdrücken, wird dieses Gefühl nicht wirklich nachlassen; stattdessen wird es Sie mit weiteren psychologischen (und auch kalorischen) Gewichten belasten. Es wird Ihnen auf diese Weise auch niemals gelingen, die Botschaft wahrzunehmen, die Ihre Gefühle Ihnen übermitteln möchten. Vor allem Zorn und Traurigkeit sind eng verknüpft mit problematischem Essverhalten (vgl. z.B. FOX und FROOM 2009). Viele Menschen beobachten, dass sie essen, wenn sie glücklich, einsam oder einfach nicht gut drauf sind. Eine ordentliche Portion Chicken Mc’Nuggets mag im ersten Moment tröstend wirken, wenn man aber in einem Moment starker Gefühle entsprechend große Portionen zu sich nimmt, werden damit gleichzeitig wichtige emotionale Informationen gedämpft – gleichzeitig können sich zusätzlich Schamgefühle und Verwirrung einstellen.

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Essen kann die Intensität eines Gefühls aber auch verstärken. So soll ein Festmahl die Freude an einem besonderen Ereignis unterstreichen und den Genuss aller Gäste steigern.

GRAZIELLA, eine ehemalige Patientin, kämpfte mehr als ein Jahr mit einer schweren Depression. Nach einer Verhaltenstherapie in Kombination mit einer Psychopharmakabehandlung besserte sich ihr Zustand und sie begann Geschmack am Essen zu finden. Sie beschrieb die Wiederentdeckung eines Genusses: Anfangs fand Gracie es einfach spannend, neue Weine und neue Käsesorten zu kosten. Schließlich aber nahm sie Wein und Käse in immer größeren Mengen zu sich, stets auf der Suche nach einem neuen, unübertrefflichen Geschmackserlebnis. Graziella war zu weit gegangen. Die Freude am Essen war einer manischen Unersättlichkeit gewichen. Der kurzfristige Erfolg, eine Käsespezialistin und gute Weinkennerin geworden zu sein, wurde nun verdrängt von Scham und Sorge über ihr zunehmendes Gewicht. ×

ÜBUNGGefühle vor und nach dem Essen wahrnehmen

Nehmen Sie Ihr Notizbuch oder Ihr Notebook zur Hand und erinnern Sie sich an eine Situation der unmittelbaren Vergangenheit, in der Sie zu viel gegessen haben oder aßen, ohne wirklich hungrig zu sein. Beantworten Sie die folgenden Fragen so urteilsfrei, wie Sie können. Es handelt sich nur um das Sammeln von Informationen. Wenn Sie während dieser Übung unangenehme Gefühle empfinden, notieren Sie diese und versuchen Sie, Ihre Aufmerksamkeit wieder behutsam auf die Frage zurückzulenken.

Wie war die Situation? Wo befanden Sie sich, mit wem waren Sie zusammen? Was geschah in diesem Moment, was sollte oder was war geschehen?

Beschreiben Sie nun, nachdem Sie etwas Abstand gewonnen haben, Ihre Gefühle in diesem Moment.

Wie haben die Gefühle Ihr Essverhalten bestimmt? Haben Sie mehr gegessen, als Sie wollten, oder schneller, oder haben Sie zu etwas gegriffen, das Sie sonst eher nicht essen?

Erinnern Sie sich jetzt an Ihre Gefühle nach dem Essen. Was empfanden Sie?

Wenn Sie die Gefühle, die sich nach dem Essen einstellen, mit Achtsamkeit betrachten, dient dies nicht dazu, Ihnen Schuldgefühle zu machen, sondern Bewusstsein in Ihren Alltag zu bringen. Führen Sie diese Übung immer wieder durch, so teilnahmsvoll und urteilsfrei wie Sie können! Dieses Wahrnehmungstraining wird Ihnen helfen zu erkennen, wie Ihr Essverhalten und Ihre Gefühle zusammenhängen. Sicher ist es gerade in Momenten, in denen Sie sich unwohl fühlen, schwierig, diese Perspektive beizubehalten. Irgendwann aber werden Sie erkennen: »Ah, ich fühle mich einsam und ich spüre den vertrauten Wunsch, etwas zu essen.« Das ist der Moment, in dem Sie zum ersten Mal wählen können, wie Sie mit Ihrer Einsamkeit umgehen wollen.

Warum haben wir Gefühle?

Machen wir einen Schritt zurück und betrachten wir die Funktion unserer Gefühle. Emotionen versorgen uns mit wichtigen Informationen. Der Stamm des Wortes Emotion lautet »movere«, lateinisch für »bewegen«. Gefühle rufen in unserem Gehirn und im Rückenmark kurzfristig Veränderungen hervor, auf die wir reagieren. Daher ist unser Verhalten oft eng mit Emotionen verknüpft. Ein Gefühl ist ein kurzes Signal, das überlebenswichtiges Verhalten anstößt. Unsere Gefühle bestimmen unser Verhalten, versorgen uns mit wichtigen Informationen und erlauben uns, mit anderen zu kommunizieren.

Betrachten wir zwei wohlbekannte Gefühle und ihre Funktionen: Nehmen wir an, Ihr Partner freundet sich mit einer bemerkenswert attraktiven Kollegin an. Sie werden eifersüchtig. Warum? Weil ein Gefühl, die Eifersucht, eine Bedrohung signalisiert. Es bringt uns dazu, als Reaktion auf diese Bedrohung unser Verhalten zu verändern. Das Gefühl Eifersucht enthält die Information, dass unsere Beziehung kostbar und möglicherweise gefährdet ist. Eifersüchtiges Verhalten signalisiert unserem Partner unser Unbehagen. Auf diese Weise führt die Eifersucht zum Schutz unserer Beziehung. Wenn wir stattdessen aber essen, um dieses Gefühl zu unterdrücken und uns von uns selbst abzulenken, können wir aus diesem Gefühl nicht lernen. Wir können nicht in sinnvoller Weise reagieren und unserem Partner auch nicht unsere Gefühle zeigen. Ähnlich verhält es sich mit Glücksgefühlen. Glücksgefühle motivieren uns, bestimmte Aktivitäten oder erfolgreiche Konzepte weiterzuverfolgen. Sie vermitteln uns Informationen darüber, was uns wichtig ist. Zudem teilen sie sich unseren Mitmenschen mit und festigen soziale Bindungen. Wer würde Sie zu seinem nächsten Geburtstag einladen, wenn Sie beim letzten Mal dagesessen hätten wie die personifizierte Unlust?

MARIO kam in meine Therapie, weil er unter ständigen Sorgen litt. Er war frisch verheiratet und gerade dabei, seine gesamten Ersparnisse in den Kauf eines teuren Hauses zu stecken. Er fürchtete, dass ihm nicht mal genug Geld für die notwendigen Renovierungen übrig blieb. Doch das war noch nicht alles: »Habe ich die richtige Frau geheiratet? Ob ich wohl verrückt werde? Funktioniert mein Kopf eigentlich noch richtig? Ich vergesse so viel. Was passiert, wenn das Flugzeug, mit dem ich nach Miami fliegen will, abstürzt? Ob mein Vater auch Parkinson bekommt, wie mein Großvater?« Seine Sorgen nahmen kein Ende und Mario merkte, dass er immer deprimierter wurde, je mehr Gedanken er sich machte. Um seinem geplagten Geist ein wenig Ruhe zu verschaffen, lenkte er sich durch Essen ab.

Im Verlauf der kognitiv-behavioralen Therapie mit Schwerpunkt auf Achtsamkeit und Akzeptanz lernte Mario allmählich, wegen seiner Panikanfälle nicht in Panik zu verfallen. Er begann, sich seine Ängste als mentale Prozesse bewusst zu machen. Anstatt seine Gedanken nach wie vor um alle möglichen Katastrophen kreisen zu lassen, lernte er zu fragen: »Ist diese Sorge produktiv? Kann ich etwas tun oder kann ich das nicht?« Wenn die Sorge produktiv war, entwarf er einen Aktionsplan. Konnte er nichts tun, nahm er seine Gefühle und seine Gedanken in Körper und Geist zur Kenntnis und versuchte, sich wieder dem gegenwärtigen Moment zu widmen. Sobald er merkte, dass er Lust auf etwas Süßes oder Salziges bekam, entschied er sich, seiner Lust nicht nachzugeben, sondern seine Gefühle auf sich wirken zu lassen und auf diese Weise ernst zu nehmen.

Was stand eigentlich hinter all den Sorgen? Es war Mario sehr wichtig, seine Familie gut versorgt zu wissen. Er wollte ein sicheres und liebevolles Zuhause schaffen und seinen Vater beschützen. Seine Gefühle sagten das ganz deutlich. Aber seine tiefe Angst und Verwirrung wegen seiner heftigen Emotionen und sein fehlende Verständnis für ihre Botschaft verhinderten, dass er seine Gefühle annehmen und aus ihnen lernen konnte. In unserer letzten Sitzung sagte er: »Ich habe Gefühle, weil mir die Dinge wichtig sind. Mit meiner Frau kann ich über unsere Schwierigkeiten reden. Ich kann etwas tun, um unsere finanziellen Probleme zu lösen, und ich kann meinem Vater zeigen, wie sehr ich ihn liebe. Das finde ich sehr schön.« ×

ÜBUNGDie Funktion der Gefühle erkennen

Nehmen Sie sich ein paar Minuten Zeit, um die folgende Tabelle in Ihr Notizbuch zu übertragen oder herunterzuladen. In dieser Übung geht es darum, zu erkennen, dass Ihre Gefühle Sie mit wichtigen Informationen versorgen. Angesichts der Tatsache, dass man sich mit negativen Gefühlen unbehaglich fühlt, erscheint es vollkommen verständlich, wenn man ihnen zu entfliehen versucht. Versteht man aber die Funktion dieser Gefühle, kann man anders auf sie reagieren. Das Beispiel zeigt, wie Mario diese Tabelle hätte ausfüllen können, um seine Gefühle und deren Wert zu erkennen, und wie er im Anschluss vielleicht reagiert hätte.

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Was man über Gefühle so denkt

Wir alle haben feste Vorstellungen und nicht hinterfragte Überzeugungen, wenn es um Gefühle geht. Man kann es zum Beispiel für eine Schwäche halten, traurig oder ängstlich zu sein. Verbreitete Ansichten lauten:

Negative Gefühle sind etwas Schlechtes.

Wenn ich zu glücklich bin, verliere ich vielleicht die Kontrolle über mich.

Ich habe gar nicht verdient, dass es mir gut geht.

Wenn es mir gut geht, sollte ich dieses Gefühl noch etwas verstärken.

Ich muss meine unangenehmen Gefühle in Schach halten, sonst werden sie zu stark.