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Wenn die Variablen sich verändern, hat die Liebe dann noch eine Chance? Kalea steht am Abgrund ihrer Gefühle. Sie stellt alles in Frage, was sie bisher über sich zu wissen glaubte. Ihr Leben fordert eine Entscheidung, deren Tragweite sie nicht abschätzen kann. Verschiedene Weggabelungen lassen sie zögern: Tim, der einen Schritt nach vorne machen müsste, und Mark, der einem klaren Kurs folgt, lassen sie nicht los. Wer kommt ihr entgegen – und wer geht? Ein Knistern weist ihr die Richtung, aber kann sie ihrem Bauchgefühl trauen? Wo findet sie sich selbst, wenn eine einzige Entscheidung einen Sturm auslöst und die Vergangenheit ihre Gegenwart bestimmt? Teil 2 der »Wenn ich nicht …«-Trilogie
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Seitenzahl: 409
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Heike Söht
XOXO Verlag
Band 1: Wenn ich nicht fühle
Band 2: Wenn ich nicht vertraue
Band 3: Wenn ich nicht liebe
Heike Söht wurde 1988 im Rheinland geboren und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in einer Kleinstadt in der Nähe von Düsseldorf. Nach langjähriger Tätigkeit in einem renommierten Wirtschaftsverlag arbeitet sie heute hauptberuflich als Controllerin. Nachts, wenn der Alltag verstummt, fließen die Geschichten in ihren Laptop. Die Liebe zu Büchern im Besonderen und dem Leben im Allgemeinen gibt sie an ihre Kinder weiter und hofft, mit ihren Geschichten auch die Herzen ihrer Leser:innen zu berühren. »Wenn ich nicht fühle« ist der erste Band der »Wenn ich nicht …«-Trilogie und erschien 2023 zunächst unter dem Titel sverweis.
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.
Print-ISBN: 978-3-96752-235-8
E-Book-ISBN: 978-3-96752-733-9
Copyright (2023) XOXO Verlag
Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag
Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag
Hergestellt in Deutschland (EU)
XOXO Verlag
ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH
Alte Heerstraße 29 | 27330 Asendorf
Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Hinweis
Das Buch enthält potentiell triggernde Inhalte
(Suizid, Geburt, Depressionen).
Dieses Buch ist für dich.
Du bist nicht der Grund, warum ich schreibe –
du bist der Grund, warum ich veröffentliche.
Dezember 1997
Mein letzter Blick auf sie, bevor ich starb, war der schwerste.
Bist du soweit?
Die Entscheidung lag in meiner Hand – die Hand, die mein Leben beenden würde – und die Last, meine Wünsche über das Wohl meiner Tochter zu stellen, riss mich entzwei.
Ich opfere deine Unversehrtheit.
Meinen Körper an ihren geschmiegt, eingebettet zwischen Decken und Kuscheltieren, schloss ich die Augen und prägte mir noch einmal jedes Detail ein.
Ihre Art, den Kopf schief zu legen, wenn sie Gehörtes infrage stellte.
Ihren Tanzstil, bei dem jedes ihrer Körperteile einem eigenen Rhythmus folgte.
Wie sie beim Lachen die Augenbrauen hochzog.
Ihre Stimme, die ihre Gedanken in bunte Bilder verwandelte und meine Dunkelheit mit Farben flutete.
Das Gefühl, sie in meinen Armen zu halten, die zentimetergenau für sie geschaffen waren.
Mein Körper reagierte auf ihren, passte sich an, veränderte sich und gab ihr, was sie brauchte.
Nahrung.
Nähe.
Halt.
Nur meine Seele, empfindlich und geschunden, hielt nicht Schritt.
Lass los.
Ich fuhr mit meinem linken Zeigefinger die Konturen ihrer Nase nach, während ihre Wimpern wie ein Fächer um ihre geschlossenen Lider lagen. Es war ihr ganz eigener Geruch, der sich tief in mir verankert hatte und dessen Nuancen seit ihrer Geburt unverändert blieben. Kostbarkeiten, die ich aufgab.
Denn für uns gibt es kein Morgen mehr, mein Schatz.
Die Schatten, die durch das spärliche Flurlicht auf ihr Gesicht fielen, würden sich durch meine Abwesenheit unter ihre Haut brennen und Narben hinterlassen. Narben des Verlustes, die nicht sichtbar sein und tief sitzen würden. Ich könnte das Licht im Raum anschalten, ihn vollständig ausleuchten - es würde nichts ändern, die Dunkelheit, die ich ihr aufbürdete, würde bleiben.
Bin ich grausam, weil ich trotzdem gehe?
Ich zuckte zusammen, ließ meine rechte Hand unter die Decke gleiten und rieb über die Stelle auf der Matratze, an der etwas Spitzes in meinen Oberschenkel stach. Mein Daumen ertastete Überreste der Kekse, die wir am Nachmittag in ihrer Burg aus Kissen gegessen hatten.
Wirst du mit Alex unsere Bett-Picknicke fortführen?
Kalea wandte ihren Kopf zur Seite, ihr Brustkorb hob und senkte sich in einem tiefen Atemzug, und ich spürte die vertraute Enge in meiner Kehle.
Bei dir sieht atmen so leicht aus. Als wäre es selbstverständlich, am Leben zu sein.
Ich bemerkte ein Kräuseln ihrer Lippen und ließ meinen Arm sinken, um sie nicht aus ihren Träumen zu reißen, die sie vor der Wirklichkeit schützten.
Der Moment, in dem du realisierst, dass ich fort bin, wird entsetzlich sein. Ich wünschte, ich könnte dir diesen Moment ersparen. Ich würde gerne an den Punkt vorspulen, an dem es für dich erträglicherwäre.
Um sich tastend griff Kalea nach ihrem Lieblingskuscheltier und zog es in ihren Arm. Ohne die Augen zu öffnen, rieb sie ihre Wange am Stoff des Löwen, der mit glänzenden Knopfaugen in die Dunkelheit starrte. Ihr blumiger Duft vermischte sich mit dem muffigen Geruch des Fells ihres Freundes. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass das Kuscheltier in die Waschmaschine gehörte. Ich hätte es waschen sollen.
Jetzt ist es zu spät.
Ich hatte an alles gedacht, alles erledigt, nichts dem Zufall überlassen. Bis auf den Löwen, ihren Vertrauten.
Was, wenn ich noch etwas Entscheidendes vergessen habe?
Ich musste darauf vertrauen, dass Alex meinen Platz füllen würde.
Sanft legte ich meine Lippen auf ihre Stirn, spürte eine Locke an ihnen kitzeln und küsste sie. Ich atmete ihren Duft ein, der mich mehr zu mir selbst brachte als die Medikamente, die ich nicht wollte. Zu wissen, dass Alex in ihrer Welt blieb und sie mit seiner Existenz bereicherte, gab mir die Sicherheit, die ich brauchte. Ich würde nicht mehr bei ihr liegen, ihre Hand halten, ihre Sorgen wegtrösten und mich schützend vor sie stellen können.
Das letzte Mal. Für immer.
»Wir sehen uns danach. Wenn die Möglichkeit besteht, werde ich dich finden. Ich liebe dich«, flüsterte ich.
Von hier aus gab es kein Zurück, nur noch das Loslassen von ihr und mir. Sie würde keine Mutter mehr haben, und ich würde keine mehr sein.
Mein Mund verzog sich voller Schmerz und mit zitternden Lippen wandte ich meinen letzten Blick ab.
***
Alex schlich durch den Flur und betrachtete, am Türrahmen lehnend, seine Familie. Sie war alles, was er je gewollt hatte. Materielles war ihm nie wichtig genug gewesen, um danach zu streben. Die kleinen Momente waren es, die ihn erfüllten. Er konnte sich an ihrem Anblick nicht sattsehen. Lange hatten sie zu dritt – zu viert, wenn er den Löwen, den er dringend waschen musste, mitzählte – im Kinderbett gelegen und dem endlosen Gedankenstrom ihrer Tochter gelauscht. Malou hatte jede Frage beantwortet, die aus ihrem Mund gesprudelt war. Seine Frau überließ Kalea nicht unwissend ihrem Schicksal; aber war es richtig gewesen, mit ihr über das Ende zu sprechen und dabei Malous wahre Gründe zu verschweigen?
Ja. Kalea war zu jung, um der Realitätswelle standzuhalten.
Er sah, wie sich Malou vorsichtig hochstemmte, um Kalea nicht zu wecken. Sie hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn, der eine Sekunde zu lang dauerte und doch zu kurz war, um für ein ganzes Leben zu reichen. Ihr Abschied war von einer Intensität, die ihm eine Gänsehaut über den Körper jagte.
»Alex«, sagte Malou sanft, als sie neben ihn trat und ihn mit ihren Armen umfing.
Es war ihr Tonfall, der seinen verschlafenen Blick klärte, und er spürte sein Herz mit dem nächsten Schlag in den Abgrund fallen, an dem es zu lange entlanggewandert war.
»Jetzt?«
Er ergründete ihr Gesicht und rang die aufkeimenden Gefühle der Endlichkeit nieder. Sie wirkte gefasst, und obwohl ihr Körper seinem nahe war, entfernte sie sich bereits von ihm.
»Ja.«
Er sah in das Grün ihrer Augen, er sah sie nicht. In den letzten Jahren war aus der strahlenden Kämpferin eine lebensmüde Hülle geworden, die sich nach Rückschlägen zusammenriss, ihr inneres Leuchten jedoch verlor. Sie brannte weiter, für Kalea und ihn. Für sich selbst reichte ihre Energie nicht aus.
Ein letztes Mal, ein letzter Versuch.
»Es ist zu unerwartet für sie. Du hast sie heute erlebt. Sie wird zerbrechen.«
»Ich muss daran glauben, dass dem nicht so ist. Sie sieht, was wir beide nicht wahrhaben wollen«, seufzte sie und blickte in die Dunkelheit, in der ihre Tochter schlief. »Sie ist stark, sie wird es schaffen.«
»Aber um welchen Preis, mein Schatz?«, flüsterte er, ihrem Blick folgend, und legte seine Hand um ihre.
Malou atmete tief ein, die Luft entwich in einem heftigen Strom aus ihrem Mund. Ihre Augen waren so klar wie seit Monaten nicht. Sie war vollkommen bei sich, und das erschütterte ihn. Wie konnte er sie spüren lassen, dass sie ohne Einschränkung geliebt wurde?
Die Ohnmacht presste die Luft aus seinen Lungen – warum konnte seine Liebe nicht ausreichen, um sie zu retten? Er hatte es versucht, ein ums andere Mal, aber er sah an ihrer in Falten gelegten Stirn, dass er verloren hatte.
Seufzend lehnte er seine Stirn an ihre, Kopf an Kopf, zwischen ihnen eine unsichtbare Wand.
»Wenn ich dich liebe, wie du es verdienst, muss ich dich gehen lassen. Ich habe nicht das Recht, über dich zu bestimmen.«
Er durfte sie lieben, und oh ja, das tat er, aber er konnte sie nicht zum Leben zwingen. Es mochte für Kalea und ihn leichter sein, sie bei sich zu haben, aber er sah, wie sie Stück für Stück zerbrach, sich auflöste. Für seinen Egoismus war kein Platz. Sie agierte aus keiner Laune heraus, war nicht orientierungslos oder unfähig, Entscheidungen zu treffen. Sie litt, seit er sie kannte.
Malou strich über seine Wange. »Sie ist nicht wie ich, sie hat deinen Mut und deine Lebensfreude. Sie wird nicht daran zerbrechen.«
»Möglicherweise nicht. Aber sie ist eigensinnig. Ich kann dir nicht garantieren, dass sie dir verzeihen wird, wenn du gehst.«
»Sie wird wissen, dass ich sie geliebt habe. Ich vertraue darauf, dass das Band zwischen uns über den Tod hinaus Bestand hat.«
»Ich flehe dich an, Malou«, flüsterte er, obwohl er die Antwort kannte.
»Ich kann nicht.«
Langsam beugte er sich vor und legte seine Lippen auf ihre. Er schmeckte sie, spürte ihren warmen Körper und wünschte, es würde reichen. Die Erkenntnis, dass der letzte Abend gekommen war - dass ihre gemeinsame Zeit vorüber war – flutete ihn und hinterließ eine brennende Spur der Sehnsucht. Er bemühte sich um Fassung, sein Herz schmerzte und seine Stimme bebte.
»Was wäre ich für ein Mann, wenn ich es nicht versuchen würde?«
»Du wärst nicht mein Mann.«
»Dann morgen.«
»Ja«, hauchte sie und drückte seine Hand.
Sie hatte verloren, aber nur in dieser Welt.
***
Ich zog ihn mit mir, schritt mit ihm durch den Flur und öffnete unsere Schlafzimmertür, hinter der sich der Abschied ankündigte. Als ich meine Seite des Kleiderschranks öffnete, starrte ich auf die leeren Regale und die wackelnden Bügel. Ohne meine Kleidung wirkten sie wie Skelette, die durch ihre Nutzlosigkeit an Wert verloren.
Ein passendes Bild.
Mein Nachthemd und die Kleidung für den morgigen Tag lagen geordnet nebeneinander, alles andere war verschwunden. Das Ausräumen hatte weniger Zeit in Anspruch genommen als das Packen vor unseren Urlauben.
Ich werde nicht wiederkommen. Es ist leicht, sich der Gegenstände zu entledigen, die unbedeutend sind.
Der Stoff meines Seidennachthemdes floss weich durch meine Finger.
»Ich habe alles in Kisten verpackt. Was mir nicht wichtig genug war, um es für Kalea aufzuheben, habe ich in einem Plastiksack verstaut und markiert. Ihr könnt gemeinsam entscheiden, ob ihr die Sachen spenden wollt. Die Dinge, an denen ihr Herz hängen könnte, findest du in den Kartons und Kisten. Hast du alle Unterschriften für die Konten und Versicherungen?«
»Malou, bitte.«
Ich wandte mich um und blickte in die schmerzverzerrten Gesichtszüge meines Mannes.
»Alex?«
»Ich kann das jetzt nicht. Lass uns nicht darüber sprechen.«
»Wir müssen, es ist wichtig.«
»Lass es uns verschieben.«
»Verschieben heißt, es nicht zu tun.«
»Dann machen wir es nicht. Die Worte zwischen uns müssen Bedeutung haben. Kein belangloses Zeug über Kisten.«
»Es ist wichtig. Meine Habseligkeiten werden mich überdauern und Kalea ein Anker sein, wenn sie ihn braucht.«
Er ließ sich auf meine Bettseite fallen und strich mit einer Hand über mein Kissen. »Es sind nicht die Gegenstände, die das Herz berühren, sondern die flüchtigen Momente zwischen zwei Wimpernschlägen. Die geflüsterten Worte, die alles bedeuten.«
Mit fünf Schritten war ich bei ihm und ließ mich neben ihn sinken.
»Die wichtigen haben wir uns die letzten Jahre gesagt.«
»Sie reichen mir nicht. Ich brauche mehr.«
»Und ich brauche die Gewissheit, alles erledigt zu haben. Ich kann nicht gehen, wenn ich glaube, euch unvorbereitet zurückzulassen.«
»Wir haben alles geklärt. Schenk mir stattdessen ein paar Worte unserer Jahre.«
Zärtlich drückte ich ihn auf die Matratze, legte mich neben ihn, schmiegte meinen Kopf an seinen Hals und küsste seine empfindliche Stelle.
»Du bist es, Alex. Du warst und wirst es immer sein. Meine Wurzeln. Meine Festung.«
Er schlang seine Arme um mich, und sein Kehlkopf zog sich krampfhaft hoch.
»Das kann nicht das Ende sein.«
»Ist es nicht.«
»Hast du Angst?«
»Ja«, flüsterte ich. »Aber zu bleiben macht mir mehr Angst.«
Er zog mich an sich, bis der Druck in mir sank.
»Ich bin bei dir. Immer.«
Meine Zeit war vorüber – und in der Stille der Zweisamkeit endete der Abschnitt unseres Lebens.
***
In dieser Nacht liebte er sie mit der Gewissheit, dass es das letzte Mal sein würde. Sie gab ihm alles, sie hielt nichts zurück, und er ließ sich in sie fallen, sog jeden Moment mit ihr auf, nahm, was sie ihm bereitwillig gab.
Sie würde gehen, und er konnte sie nicht zum Bleiben bewegen. Sie verwandelte sein Inneres in ein Silo voller Erinnerungen, die die Trennung überdauern würden. Sie bot ihm die Chance, dass ihr Weggang ihn nicht in Sinnlosigkeit ertränkte, sondern in der Gewissheit, alles getan zu haben, was zwischen zwei Liebenden möglich gewesen war. Wie musste sie sich fühlen? Sie verließ nicht nur ihren Mann, sondern ihr Kind – einen Teil von sich selbst, vielleicht sogar den besten. Und weil er wusste, wie sehr sie Kalea liebte, verstand er, wie viel größer ihr Schmerz sein musste.
Die Stunden, in denen sie einander hielten, zogen über sie hinweg. In den Momenten der Stille fasste er die großen und kleinen Augenblicke zusammen, Puzzleteile, die sich zu ihrem Leben zusammenfügten. Dreizehn Jahre teilten sie Seite an Seite ihre Geheimnisse, und auch, wenn sie am gleichen Ort waren, lebte Malou stets in einer Zwischenwelt – nie ganz hier, nie völlig weg, im Nirgendwo gefangen, aus dem er sie nicht befreien konnte. In einer Welt, die für ihn unerreichbar war, und jedes Zerren hätte sie weiter von ihm entfernt. Was musste es für sie bedeutet haben, sich zu zerreißen, zu zerstückeln, um bei ihnen zu sein?
Während er sie zärtlich küsste, erinnerte er sich an die junge Frau, die sie bei ihrem Kennenlernen gewesen war. Klug, wunderschön und auf der zerstörerischen Suche nach einem Sinn. Sie hatte ihn in ihren Bann gezogen, und er hatte gewusst, dass sie anders war.
Halt suchend sah er in die Augen, die denen ihrer Tochter ähnelten. Morgen würde sich die Welt auf die gleiche Weise weiterdrehen, aber für ihn würde die Zeit stillstehen. Sie waren eins, und ein Teil würde morgen verschwunden sein.
Endete die Liebe mit dem Tod?
Ihre Seele brach, wenn zu viel Spannung auf sie einwirkte, also öffnete er seine Hand und ließ sie los.
02. Januar 2020
Ins Leere starrend, meinen Blick aus dem Hier gerissen, flogen meine Gedanken orientierungslos durch vergangene Bilder. Seit Stunden saß ich bewegungslos in meinem Sessel, ließ das Leuchten der Stehlampe Schatten durch den Raum zeichnen und verbarg mich in der Dunkelheit.
Zur Salzsäure erstarrt rumzusitzen löst deine Probleme nicht.
Hysterisch umherzulaufen auch nicht.
Ist ja nicht so, als wären das die beiden einzigen Möglichkeiten.
Das grüne Fotoalbum und der letzte Brief meiner Mutter verrutschten auf meinem Schoß, während ich zaghaft eine Hand auf meinen Bauch legte. Meine Fingerspitzen kribbelten, ich fühlte Widerwillen und den Drang, meine Hand wegzuziehen. Ich tat es nicht. In mir war mehr als Schock und Abneigung, und dem musste ich mich stellen.
Auf einer der letzten Seiten des Albums, die viele Jahre leer geblieben waren, klebte das Ultraschallbild aus dem Krankenhaus. Ein Schwarz-Weiß-Bild, dessen Ränder beim Abreißen von der Papierrolle ausgefranst waren. Ein Bild, wie es täglich an Schwangere überreicht wurde. Ich hatte nicht darum gebeten, es weder forciert noch gewollt, und doch war es hier und hob sich deutlich von den vorangehenden Fotoseiten ab.
Wie wurde aus einer sterilen Untersuchung und der Übelkeit, die in meiner Kehle brannte, ein buntes Leben mit Augenblicken, die es wert waren, in einem Album festgehalten zu werden? Wie gelang der Sprung von Fassungslosigkeit zu Akzeptanz? Und wie sollte ich eine neue Richtung hinnehmen, wenn ich im Dschungel der Fehlentscheidungen keine Orientierung fand?
Meine Mutter sprach von Liebe, es war ihr ständiges Mantra gewesen, das sie dennoch nicht vor dem Tod bewahrt hatte.
Welchen Stellenwert hat die Liebe, wenn sie die Klügsten nicht retten kann?
Ich empfand sie nicht beim Betrachten des verpixelten Bildes. Voller Scham hatte ich es eingeklebt, den penetranten Geruch der Druckerfarbe registriert und das Album geschlossen.
Normalerweise erkannte ich Fehler sofort, analysierte und korrigierte sie mit effizienten Methoden, die ich mir über die Jahre angeeignet hatte.
Hier gab es keine direkte Lösung.
Wenige Tage hatten ausgereicht, mich selbst und mein Leben vollkommen in Frage zu stellen, obwohl ich äußerlich dieselbe war.
Wer bist du?
Die Frage ist überflüssig. Ich bin noch immer du.
Und wer genau ist das?
Was hatte meine Mutter mir sagen wollen? Bedeutete mutig nach vorne zu schauen, das Leben zu nehmen, das sich bot, ohne eine Wahl du haben?
Du hast eine.
Ach ja?
Sie war davon überzeugt gewesen, dass ihre Abwesenheit mich nicht zerreißen würde, dass ich stärker sein würde als sie selbst – woher hatte sie die Gewissheit genommen?
Die Fragen in meinem Kopf überschlugen sich und die Schwerkraft des Schmerzes drohte, mich ins Nirgends zu schleudern. Die Farben verschwammen und ich wagte nicht loszulassen. Ich schloss die Augen in der Hoffnung, dem Strom zu entkommen. Der Brief knisterte, als sich meine Hand in meinem Schoß verkrampfte.
Atme. Es scheint schlimm, aber nicht alles spricht gegen uns.
Ach nein? Schreckt dich die Tatsache, dass das zwei Männer sicher anders sehen würden, nicht ab?
Nein. Es geht nicht um sie, sondern um dich. Um das, was du willst.
Und was will ich?
Das gilt es, herauszufinden.
Marks Worte hallten in meinem Kopf wider. Du bist nicht defekt.
Durch den Nebel, den die Übelkeit um die Erinnerung legte, sah ich ihn mit aufgestützten Unterarmen auf dem Boden meines Schlafzimmers sitzen. Stärker als das innere Bild waren die Gefühle, die es in mir auslöste. Die selbstverständliche Art, mit der er den unternehmerischen Hierarchieregeln trotzte und sich meinen Bedürfnissen unterordnete, auf falsche Attitüden verzichtete und zwischen Wollmäusen Platz nahm, war mehr, als ich ihm zugetraut hätte.
Dass du ihn unterschätzt hast, ist nicht verwunderlich.
Warum?
Du hast ihn mit ausgestrecktem Arm auf Distanz gehalten.
Er war in meinem Bett, schon vergessen?
Nur da, dafür hast du gesorgt.
Schwachsinn.
Wie du meinst.
Mark hatte das Talent, eine Situation innerhalb von Sekunden zu erfassen – nichts schien ihn aus der Ruhe zu bringen, er hatte stets die Oberhand über jede Situation. Sein Grinsen, das in mir den Drang schürte, mich gegen ihn behaupten zu müssen, seine dunkle Seite, die er mir in der Zweisamkeit zeigte – er war ein komplex geschliffener Charakter, in dessen Gegenwart alles und nichts möglich war.
Klingt vielversprechend, wäre da nicht noch jemand.
Tims markantes Äußeres schob sich in den Vordergrund und legte sich über Marks. Die letzten Worte, die ich ihm entgegengeschleudert hatte, brannten in meinem Magen. Du sagst, ich stoße dich weg, dabei bist du derjenige, der immer wieder geht.
Ich zog sie beide mit mir in einen Strudel, der eine unbeherrschbare Eigendynamik entwickelt hatte. Was erwarteten sie von mir? Welchen Gefühlen konnte ich trauen, wenn ich nicht hatte kommen sehen, wohin sie mich führen würden? Was, wenn ich nicht in der Lage war, zu lieben, ohne zu zerstören – so, wie sie?
Mein Herzschlag beschleunigte sich und ich schnappte hektisch nach Luft. Der Raum erschien mir plötzlich zu eng, die Farben in meinem Kopf zu grell und ein monotones Rauschen in meinen Ohren ließ mich aus dem Sessel taumeln. Panisch lief ich zur Toilette und übergab mich.
Mein Körper bebte und ohne Kontrolle ließ ich Schwall um Schwall über mich ergehen. Nichts konnte es aufhalten, ganz so, als würde sich mein Magen gegen die unausweichliche Wahrheit wehren.
Du hast versagt.
Erschöpft sank ich auf den Boden und fuhr mit bebenden Fingern über die Schweißperlen auf meiner Stirn. Ich war es nicht gewohnt, meinem Bauchgefühl den Vortritt zu lassen - mein Kopf wusste stets, was zu tun war.
Zumindest bis jetzt.
Großartig, Mama. Ich bin sicher genau die Tochter geworden, die du dir gewünscht hast.
Mit zitternden Beinen zog ich mich am Waschbecken hoch und stand ungelenk auf. Ich mied mein Spiegelbild, ich wollte die Frau nicht ansehen, die innerhalb von sechs Monaten zu einer Fremden geworden war. Wo waren die Sommerstunden, während derer ich mit meinem besten Freund auf dem Balkon gesessen und auf die Ankunft des neuen Direktors gewartet hatte? Es schien ein anderes Leben gewesen zu sein, und die Säure brannte auf meiner aufgerauten Zunge.
Das passiert, wenn du dich nicht kontrollierst.
An der Wand festhaltend, wankte ich zurück ins Wohnzimmer, griff nach dem heruntergefallenen Fotoalbum und dem Brief und legte beides in meine Kommode. Energisch schob ich die Schublade zu, meine Hände verweilten kurz auf den glänzenden Griffen. Ich wünschte, ich könnte nicht nur meine Vergangenheit, sondern auch meine Unzulänglichkeiten darin einschließen.
Meine Güte, kannst du das Bemitleiden aufhören? Das ist grauenvoll.
Dann übernimm endlich die Führung.
Ich schloss meine Sorgen in eine imaginäre Schachtel, die ich weit hinten in mein Unterbewusstsein stellte – und straffte meine müden Schultern.
***
Mark schloss die Tür seiner Wohnung hinter sich und ließ seine Tasche auf den Boden fallen. Der freie Tag mit Georg hatte ihm den nötigen Abstand verschafft, den er nach den Ereignissen der letzten Tage dringend gebraucht hatte.
Es erstaunte und verblüffte ihn, wie sich sein Sohn vom Säugling zum aufgeweckten Schulkind entwickelt hatte. Er genoss die Zeit mit ihm, aber es war ihm nicht gelungen, die Gedanken an Kalea abzuschütteln, wie ein schlecht eingestelltes Radio rauschten sie in seinem Kopf. Mal lauter, mal leiser, meistens unklar und zwischendurch wie ein durchdringender Piepton, der ihn innerlich elektrisierte – unaufhörlich auf der Suche nach Empfang.
Er wusste, dass er sich auf seine Karriere konzentrieren sollte, dass sein Interesse an Kalea rein beruflich sein musste, denn – und das sagte er sich immer wieder – er durfte sich nicht in ihre Beziehung drängen. Ein Kind veränderte die Dynamik im Leben und schuf Regeln, denen selbst er sich nicht widersetzen konnte. Sein Verlangen nach ihr war nichts im Vergleich zu dem Bewusstsein, eine wachsende Familie zu gefährden. Er wusste, was es bedeutete, ein Kind zwischen die Stühle zu setzen. Denn egal, wie bequem sie waren, der Fall dazwischen tat immer weh.
Er wusste, was zu tun war.
Zu schade nur, dass er gegensätzlich fühlte. Das, was er für sie empfand, war anders, er hatte es von Anfang an gespürt. In den Jahren mit Jenna, mit den Hochs und – in seinem Fall – vielen Tiefs einer Ehe, fühlte er nie das, was Kalea imstande war, in ihm auszulösen. Wäre sie nicht schwanger, hätte er nicht lockergelassen und seinen Charme eingesetzt, um zu bekommen, was er wollte – aber so? Sie bekam ein Baby mit und von einem anderen Mann. Von einem Mann, den sie ihm scheinbar vorzog – oder war Tim ein Ausrutscher gewesen? Nein, sie war keine, die kalkuliert von einem Kerl zum nächsten sprang.
Ihre Nähe im Taxi, der er nicht hatte widerstehen können, brannte in ihm. Sie hatte sich nicht gesträubt und die Berührung zugelassen, aber das bedeutete nicht, dass er ihre Verletzlichkeit ausnutzen sollte.
Oder?
Sie reagierte auf ihn, aber reichte es aus, um sich beruflich Chancen zu verbauen und in eine ungewisse Zukunft zu stürzen? Bald würde er ihr Geschäftsführer sein, und er durfte sich nicht in etwas hineinziehen lassen, das ihn kompromittieren konnte.
Seufzend nahm er seinen schweren Mantel von den Schultern und hängte ihn an die Garderobe. Es führte zu nichts, ohne Fakten das Ganze zerdenken zu wollen. Am Montag würde sie entscheiden, ob sie das Jobangebot annahm. Bis dahin übte er sich in Geduld und stellte sein inneres Radio auf eine andere Frequenz.
***
Tim öffnete die Terrassentür und ließ die kalte Luft durch seine Wohnung strömen. Er hielt inne und atmete tief durch, bevor er die Küche verließ. Im Wohnzimmer gegenüber ließ er sich auf die Couch fallen und schaltete den Fernseher ein. Er blinzelte mehrmals, um den Schleier vor seinen Augen loszuwerden. Die Fahrt zu ihr, nur um direkt wieder umzukehren, hatte seine Spuren hinterlassen und ein tiefes Gähnen entfuhr ihm. Er war verdammt müde.
Sich hinzulegen war keine Option; sein Verstand würde ihn mit erhobenem Zeigefinger daran erinnern, wie sie ihre Hand an seine Wange gelegt und ihn weggeschickt hatte. Und alles an diesem Bild war seine eigene Schuld.
Die Kälte aus der Küche kroch an seinen Füßen empor, und er stand auf, um die Tür zu schließen. Die Arme vor der Brust verschränkt sah er sich um.
Nina hatte seine Abwesenheit genutzt und ihre Sachen aus seiner Wohnung geholt. Er ließ seinen Blick über die sauberen Oberflächen wandern. Ein paar Kerzen und Gläser fehlten, ebenso die Tischdecke, die für Ninas sonstige Pastellvorliebe ungewöhnlich grell gewirkt hatte. Der Holztisch, der ohne dieses überflüssige Zeug zum Vorschein kam, war eher sein Stil.
Nina war fort, und mit ihr die Notwendigkeit, verlässlich parat stehen zu müssen.
Im Bad klafften Lücken in den Regalen, die sie vorher sorgsam mit Cremes und anderen Tuben, dessen Inhalt er nie verstanden hatte, bestückt hatte. Ein Gefühl der Leichtigkeit beschlich ihn, als er die reduzierten Gegenstände in seiner Wohnung sah.
Weniger überfüllt, mehr er.
Ein kurzer Blick ins Schlafzimmer genügte, bevor er sich abwandte und den Flur entlang zurück zur Couch ging. Die Leere, die er beim Anblick seines Bettes fühlte, hatte er nicht erwartet.
Bei jedem Schritt fragte er sich, ob er davonging oder zurückkam. Das Zusammenwohnen mit einer Frau hatte ihn nicht nur gebunden, sondern auch eingeschränkt. Die Nähe zwischen ihnen war ein solider Funken gewesen, während Kalea in ihm einen Hausbrand auszulösen wusste. Er begehrte Nina nicht auf die gleiche Art wiesie, aber Nina hatte es ihm mit ihrer kontrollierten und verlässlichen Art leichtgemacht, sie in sein Leben zu integrieren. Bei ihr hatte er gewusst, wer er sein wollte, auch wenn das bedeutete, Kompromisse einzugehen. Musste es in einer Beziehung so sein? Er hatte sich unter Kontrolle gehabt und sich nicht wie ein hormongesteuerter Teenager gefühlt. Das mochte langweilig sein, aber beherrschbar. Er würde Ninas Abwesenheit bemerken, aber war es Vermissen, das er empfand? Unschlüssig runzelte er die Stirn. Sollte er es nicht wissen? Und wenn er sie nicht vermisste – was sagte das über die Substanz ihrer Beziehung aus? Was sagte es über ihn aus?
Mach dir nichts vor, Nina war eine Lückenfüllerin für dich. Du bist ein charmantes Arschloch, nicht mehr.
Der Gedanke biss sich fest, obwohl er ihn nie laut ausgesprochen hätte. Wann war er an diesen Punkt der Gleichgültigkeit gelangt, an dem ihr Weggang nicht mehr als mäßiges Bedauern bei ihm auslöste?
Und warum bohrten sich Kaleas Worte in seinen Schädel und machten ihn auf eine irrationale Weise wütend?
Lass uns Zeit, wieder zu unserer alten Form zu finden.
Einen Scheiß würde er.
Er hatte etwas Unbekanntes in ihrem Blick gesehen – ohne es klar benennen zu können. Hatte Mark es bei ihr ausgelöst? Wieso war der Kerl immer zur Stelle, während er selbst es nicht konnte?
Das unbändige Verlangen, das ihn zu ihr zog, wütete in ihm, ohne dass er wusste, wie er dieses Feuer bändigen sollte. Konnte er ein Inferno in Schach halten, ohne dabei in Flammen aufzugehen? Fühlte er sich dieser Verantwortung gewachsen? Er verstand, dass sie Abstand zueinander brauchten, die Intensität zwischen ihnen hatte entblößt, worauf keiner von beiden vorbereitet gewesen war. Hatte Kalea recht? Zerstörten sie einander? Er müsste sich ändern, loslassen und – was ihm widerstrebte – Verbindlichkeiten zulassen. Er wusste nicht, ob er das konnte.
Nicht einmal für sie.
05. Januar 2020
Mit kraftlosen Schritten schlich ich in die Küche. Meine Wadenmuskulatur krampfte und ich streckte mich, um die Brausetabletten aus dem Küchenregal zu klauben, auf denen in roter Schrift Magnesium stand. Ich drehte die Verpackung in der Hand und starrte auf das Ablaufdatum: November 2019.
Wunderbar, nun verspotten mich schon tote Gegenstände.
Ach komm, ein bisschen Ironie ist doch lustig.
Seufzend ließ ich eine Tablette in mein Glas fallen und hielt es unter den Wasserhahn. Während ich es bis zum Rand füllte, spürte ich das Sprudeln als feinen Regen auf meinem Handrücken. Der süße Geruch der Flüssigkeit ließ meinen Magen revoltieren und ich schluckte den Speichel hinunter, der unangenehm auf meiner Zunge lag.
Ist irgendein Körperteil nicht gegen mich? Es kann sich gerne bei mir melden.
Das Zeug würde ich nicht trinken können. Genervt kippte ich den Glasinhalt in den Abfluss und füllte stattdessen den Wasserkocher. Müde lehnte ich mich an den Kühlschrank.
Ich war mir nicht sicher, ob der körperliche Aufschrei eine Folge der Strapazen der letzten Nächte war oder ob der Stress, den der morgige Tag mit sich bringen würde, ein Ventil suchte. Ich hatte meine Richtung noch nicht gefunden, die Variablen in meinem Kopf tanzten durcheinander. Die Gedanken an zwei zu präsente Männer schob ich beiseite. Was zählte war die quälende Frage, die in mir brannte: Was sollte ich tun?
In mich hineinhorchend sah ich zu, wie das Wasser zu kochen begann.
Du hast sonst zu allem eine Meinung - doch nun strafst du mich mit Stille?
Verstimmt starrte ich auf die Blasen, die in unberechenbaren Bahnen durch die kochende Flüssigkeit wirbelten und als Wasserdampf entwichen. In meinem Bauch brodelte es nicht weniger, während mein Kopf streikte.
Als es nachmittags an meiner Tür klopfte, war ich überrascht, Mark in schwarzer Sweathose und T-Shirt vor mir stehen zu sehen. Ich blinzelte bei seinem Anblick. Ich hatte mich so sehr an ihn im Anzug gewöhnt, dass sein legeres Äußeres ungewohnt intim wirkte.
Du errötest?!
Ja, verflixt.
Deine Befangenheit amüsiert mich.
Dann mach es besser.
Er verzog seinen Mund zu einem Lächeln, während ich damit beschäftigt war, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen.
»Hallo Kalea. Ich hoffe, ich überfalle dich nicht.« Nach der Stille der letzten Tage vibrierte der tiefe Klang seiner Stimme in meinen Ohren. »Ich bin auf dem Weg in den Fitnessraum und wollte kurz nach dir sehen und mich davon überzeugen, dass bei dir alles in Ordnung ist.«
Er hob seine linke Augenbraue, während er mit seinem Blick in meinen Flur deutete.
»Natürlich, komm rein«, sagte ich gelassener, als ich mich fühlte, und trat zur Seite.
Ein schneller Blick in den Gang hinter ihm sagte mir, dass wir alleine waren. Wir konnten es uns nicht leisten, gesehen zu werden. Er ging an mir vorbei und sein typisch markanter Geruch umfing mich. Ohne starres Hemd und Sakko bewegte sich sein Körper anders, fließender. Ein sanftes Kribbeln besetzte meinen Bauch und im Gegensatz zum morgendlichen Brausetabletten-Vorfall war mein Mund zu trocken.
Ungezwungen betrat er mein Wohnzimmer und ich folgte ihm mit zitternden Beinen. Er blieb mitten im Raum stehen und drehte sich zu mir um. Sein Blick bohrte sich in meinen, eine Frage stellend, die ich nicht verstand. Um meinen Händen eine Aufgabe zu geben, öffnete ich die Balkontür und atmete die kalte Luft ein. Mit verschränkten Armen stand ich im Türrahmen und blickte hinaus, ohne die schneebedeckten Berge wahrzunehmen.
Er sollte nicht hier sein.
Ist er aber. Steh dazu, dass du genauso neugierig auf das Warum bist wie ich.
Ich hörte seine Schritte, seinen Atem und ein leises Räuspern, das die ungesagten Worte zwischen uns überbrückte. Sein Auftauchen füllte den Raum mit offenen Fragen, die ich mich nicht traute zu stellen. Die Wärme seines Körpers prickelte auf meiner Haut und meine Nackenhaare stellten sich auf. Ich sehnte mich nach seiner Nähe – und schreckte gleichzeitig davor zurück.
Wenn er wüsste, wie unehrlich ich zu ihm bin, wäre er nicht hier.
Das ist korrekt.
»Kalea?« Seine Stimme klang rau. »Wie geht es dir?«
Ich drehte meinen Oberkörper zu ihm und sein Blick suchte meinen. Das Tageslicht, verändert durch den Schnee, tauchte seine Iriden in ein rauchiges Blau, das mich durchdrang. Er legte seine Hand flüchtig auf meine Schulter und für einen Augenblick vergaß ich die Last, die das Problem in meinem Bauch mit sich brachte. Durfte ich mich – kurz – in die Berührung fallen lassen?
Chef. Deiner.
Seine Mundwinkel zuckten, als ich meine Lippen öffnete und lautlos wieder schloss. Meine Gedanken rotierten. Es war eine einfache Frage, die ich oberflächlich abtun konnte. Oder?
Beim zweiten Anlauf gehorchte meine Stimme.
»Besser. Dank deiner Fürsorge und einer ordentlichen Mütze Schlaf in den letzten Tagen bin ich annähernd wieder die Alte«, antwortete ich mit freundschaftlichem Unterton, der ihn hoffentlich auf Distanz halten würde.
Seine Brust hob und senkte sich, und seine angespannten Schultern entgingen mir ebenso wenig wie die Falten, die sich auf seiner Stirn bildeten.
Wahnsinnig attraktive Falten.
Herrlich, wie hilfreich du bist.
»Das beruhigt mich zu hören. Du hast mir einen gewaltigen Schreck eingejagt.«
Frag mich mal.
»Das war nie meine Absicht. Entschuldige bitte.«
»Du musst dich für gar nichts entschuldigen. Pass einfach auf dich auf.«
Prüfend sah er mich an. Offensichtlich hatte ich den Test bestanden.
»Dann lasse ich dich alleine, ich wollte nur sichergehen, dass du alles hast, was du brauchst.«
»Ich danke dir. Wir sehen uns morgen.«
Ich folgte ihm zur Tür.
»Ruf mich an, wenn etwas nicht stimmt, okay?«
Ganz sicher nicht.
»Das mache ich. Danke.«
Ich schloss die Tür hinter ihm und ließ mich erschöpft auf mein Bett fallen.
Lange sah ich an die Decke, während die Schatten tiefer in den Raum fielen und das schwindende Licht meinen Schlafbereich in ein undefinierbares Grau tauchte. Die Medikamente wirkten, die Übelkeit war verschwunden, aber die Unsicherheit blieb.
Ich nahm mein Handy vom Nachttisch und schrieb eine Nachricht, bevor mir die Augen zufielen.
***
Marks Handy vibrierte, während er das Glas in seiner Hand schwenkte. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit folgte den Bewegungen seiner Hand und er beobachtete, wie sie in Wellen aufeinanderschlug, als er die Richtung änderte. Er war zurück im Penthouse, nachdem er dem irrationalen Drang nachgegeben hatte, nach ihr zu sehen.
Danke, dass du da warst. Ich schulde dir viel. K
Kaleas Nachricht ließ ihn zynisch grinsen. Er hatte ihre Reaktion auf seine Berührung gesehen. Er löste etwas in ihr aus, was sie nicht vor ihm verbergen konnte. Es war an ihm, sich darüber klar zu werden, ob und welchen Zug er als nächstes machen wollte.
Er war Analyst, alle Fakten sprachen gegen ihn als Mann an ihrer Seite. Aber vor langer Zeit hatte er gelernt, dass nicht alles logisch und erklärbar sein musste, um einen Sinn zu ergeben.
Welchen, musste er herausfinden.
Herbst 1990
Veränderungen begegnete ich mit Widerwillen. In den letzten achtundzwanzig Jahren hatte ich stets abgewogen, ob die innere Unruhe es wert war, sich ihr zu stellen. Ich brauchte Kontinuität – Dinge, die mir die Sicherheit gaben, dass um mich herum nicht alles zusammenbrechen würde. Ich brauchte das Leben so, wie es war, nicht, wie es sein könnte.
Ergab das einen Sinn?
Ich starrte auf den zweiten rosa Streifen, der erst blass, dann immer kräftiger auf dem Pappstäbchen in meiner Hand erschien.
Mist.
Wie war es möglich, dass aus Alex‘ Wunschkind in der Theorie so schnell Wirklichkeit geworden war? Hatte ich nicht letzten Monat erst die Wahrscheinlichkeit berechnet, wie lange es dauern würde, schwanger zu werden?
Tief ihn mir flüsterte eine Stimme, dass mir unsere Zweisamkeit ausgereicht hätte. Wir arbeiteten viel, und wenn wir uns in den Abendstunden sahen, liebten wir uns, bis ich vergaß, dass die Leere in mir größer war als unser Leben. Ihm zuliebe hatte ich meine Bedenken zurückgestellt.
Und wenn mit dem Kind etwas nicht stimmt, so wie mit mir?
Ich war beschädigt, defekt - wie könnte ich eine weitere Last schultern? Wie konnte ich noch mehr Verantwortung tragen?
Mein Herz begann zu rennen, immer schneller, bis die Panik über mich rollte und mich mit sich riss.
Ich kann nicht aus meinem Kopf. Niemals. Ich werde in mir ertrinken.
Das Stäbchen in meiner Hand zitterte. Ich schüttelte es, als könnte ich damit den zweiten Strich verschwinden lassen.
Was habe ich bloß zugelassen?
Die Ränder meines Blickfeldes flackerten, verzerrten den Raum und das Grauen in mir zog mich in die Tiefe.
Bin ich hier? Ist das wirklich real?
In meinen Ohren dröhnte die verfälschte Wirklichkeit, und mit weit aufgerissenen Augen sah ich mich um.
Hol mich hier raus. Bitte.
Ein Klopfen an der Tür drang aus weiter Ferne zu mir.
Alex.
Plötzlich war ich wieder hier, in meinem Badezimmer, rieb die Füße über den weichen Teppich und roch den Lavendelstrauch, der in einer Vase hinter mir auf der Fensterbank stand. Mit einer Hand fuhr ich über meine Stirn und ließ den feinen Schweißfilm darauf verschwinden.
Leise öffnete er die Badezimmertür und sah mich erwartungsvoll an. »Und?«
Ich hielt ihm den Streifen entgegen und lächelte, obwohl meine Wangenmuskulatur sich wehrte. Mit einem Freudenschrei eilte er zu mir und erfüllte den kleinen Raum mit seiner Liebe. In seiner Umarmung konnte ich fühlen, was er fühlte, und für einen Moment sah ich unsere Zukunft durch seine Augen.
»Wahnsinn, Malou, jetzt beginnt ein neuer Abschnitt in unserem Leben.« Zärtlich legte er sanfte Küsse auf meine Zweifel.
Der nächste Abschnitt.
War es im Leben so? Musste ich Meilensteine ablaufen, bis meine Füße bluteten, meine Beine schmerzten und ich im Labyrinth den Ausweg nicht mehr fand? Ich spielte eine Rolle, passte mich an, arbeitete mich vor, bis ich meinen Platz in der Gesellschaft fand. Effektiv sein, nicht aus der Norm fallen.
Stopp. Es ist Alex, vergiss das nicht.
Solange er an meiner Seite war und meine Hand hielt, würde ich nicht untergehen. Er gab mir die bedingungslose Sicherheit, die er wie einen Mantel um meine Schultern warf und das Leben erträglicher machte.
Es gab einen Sinn, warum ich hier war – es musste einen geben –, vielleicht fand ich ihn im nächsten Kapitel unseres Lebens. Alex verdiente dieses Kind. Wie könnte etwas, das er schuf, schlecht sein?
Meine Welt wankte, doch ich hoffte, dass sie ihre Balance finden würde. Alex war mein Kompass, der niemals schwankte.
06. Januar 2020
Der kleine Junge in meinen Armen weinte. Ich spürte seinen Kummer, meine Angst wuchs und verwandelte sich in Panik.
Was passiert, wenn ich sie nicht finde?
Meine Schritte hallten durch die leeren Straßen, als ich das Tempo erhöhte.
»Hilfe! Ich brauche Hilfe!«, schrie ich und meine Stimme überschlug sich.
Verzweifelt sah ich mich um, wir waren alleine. Niemand würde uns helfen können. Der Junge wand sich in meinen Armen und ich zog ihn fester an meine Brust. Meine Hand umschloss sanft seinen Kopf.
Wo war seine Mutter?
Tränen liefen über meine Wangen. Ich musste sie finden, ansonsten wäre er verloren.
Mit einem spitzen Schrei schreckte ich hoch.
Ich spürte tiefe Hilflosigkeit beim Gedanken an den Jungen. Er gehörte nicht zu mir. Ich hielt die Hände vor mein Gesicht und starrte sie verwirrt an.
Wo ist er?
Plötzlich war ich hellwach und die verstörenden Träume verloren ihre Macht über meine Gefühle. Mein T-Shirt klebte unangenehm an meinem Oberkörper und Schweiß rann an meinem Hals entlang. Suchend tastete ich nach dem Lichtschalter und sah auf mein Handy. Drei Uhr. Die Geister, die mich im Traum verfolgten, waren lediglich in meinen Gedanken real, doch sie ließen sich nur schwer abschütteln.
Beruhige dich. Es war bloß ein Traum.
Wunderbar, da braucht niemand Freud, um zu verstehen, was das zu bedeuten hat.
Kopfschüttelnd wand ich mich aus meinem Bett und zog ein frisches T-Shirt aus meinem Schrank. Die Nacht hinter den Vorhängen war friedlich und ich öffnete die Balkontür. Der Luftzug trocknete meinen feuchten Nacken. Ich strich über das Seidentuch um meinen Kopf, das an der Stirn nass war. Ich hörte nichts außer meinem Atem, die Etagen um mich herum waren dunkel und still, und von der Straße drangen keine Geräusche zu mir. In diesem Moment schien ich die Einzige zu sein, die sich den Ängsten eines verrückten Traums stellen musste. Als die Kälte durch meine Lungen pulsierte, waren die letzten Traumfetzen verschwunden.
Was wäre, wenn ich mich gegen das Baby entscheiden würde?
Ich kann es dir gerne kurz skizzieren.
Ich sah Bilder in meinem Kopf, wie ich eine Frauenarztpraxis beträte. Auf dem Schild neben der Tür gäbe es keinen Hinweis auf das, was mich erwarten würde. Die handschriftlich verfasste Adresse, geschrieben auf ein Post-it, würde übereinstimmen. Mein Schweigen würde mir die Türe öffnen, durch die ich mir nie vorgestellt hätte, einmal gehen zu müssen.
Meine Schritte würden auf dem Linoleumboden quietschten und ich nähme, mit dem Patientenfragebogen in der Hand, im Wartezimmer Platz. Meine Nervosität würde nur von meiner Abneigung gegen die sterilen Wände übertroffen werden. Der Kugelschreiber würde über das Papier kratzen. Fakten, Daten, Angaben. Es wäre ein Job wie jeder andere. Auf der letzten Seite würde vielleicht der Stift versagen, aber im Grunde wäre es egal.
Die Patientinnen, die sich mit ihren Begleitern unterhalten würden, würden meine ohnehin überreizten Nerven strapazieren und ich zwänge mich, nicht zu weinen. Es wäre kein Ort des Glücks, mein Besuchsgrund wäre nicht die Hoffnung freudiger Erwartung, sondern die Beendigung ebenjener.
Kein Schluchzen, kein Schmerz. Nur mein Schweigen.
Der Sitzplatz neben mir, auf dem der Vater hätte sitzen sollen, wäre leer. Niemand wäre dabei, um meine Hand zu halten oder den Verlust mit mir zu teilen. Es wäre meine Entscheidung, warum sollte ich ein Recht auf Zuspruch haben?
Ich wäre jedes Mal, wenn ein Name aufgerufen würde, zusammengezuckt und empfände es als Strafe, dass es irgendwann meiner sein würde, der durch den Wartebereich hallen würde. Eine weitere Namenlose in einer Statistik. Würde es zählen, wie es in mir aussähe?
Und doch wäre ich irgendwann an der Reihe. Ich würde der Arzthelferin in den Behandlungsraum folgen. Der kleine Stuhl, auf dem ich meine Kleidung gegen ein OP-Hemd tauschen würde, bräche unter der Last meiner Schuldgefühle ein. Vielleicht ließe die Narkose mich kurz vergessen, wo ich wäre, aber in der Aufwachkabine danach, was würde ich fühlen?
Schmerz.
Verlust.
Ich war nicht dazu bereit.
In Gedanken zog ich mich an und ging über das Linoleum zurück nach Hause.
Wenn ich mich nicht für dieses Kind einsetzte – wer würde es dann tun?
Die Fingerspitzen meiner rechten Hand zeichneten sanfte Kreise auf meinen Bauch.
Ich weiß, wo du hingehörst.
Fassungslos stellte ich fest, dass meine Entscheidung gefallen war. Hier, mitten in der Nacht, alleine am Fenster, sah ich klar. Ich spielte es in meinem Kopf durch und kam immer wieder zu dem gleichen Ergebnis. Es war absolut logisch – für die Alternative fehlte mir der Mut.
Es waren zu viele hätte, wäre, wenn. Ich lief vor Problemen nicht davon. Ich hatte Sorge vor dem Unbekannten und dem, was kommen würde, aber das war kein Grund, mich zu beugen. Ich würde mich nicht von einer diffusen Angst beherrschen lassen, egal wie groß die Herausforderung war, vor der ich stand. Es war mein Recht, so zu empfinden; ich durfte mich für oder gegen das Baby entscheiden, weil es meine Wahl war. Es wäre leichter nach außen, das Gegen zu wählen, aber ich lebte nicht für die Erwartungen anderer.
Es würde Hürden geben, die ich zu überwinden hatte – Mark und Tim waren nur zwei von ihnen – aber hier, in der Dunkelheit, war ich mir sicher.
Voller Erstaunen lächelte ich in die Nacht, denn ich war nicht mehr allein.
Als ich zurück unter die warme Decke kroch, hoffte ich, erneut einschlafen zu können.
Nach zwanzig Minuten starrte ich noch immer an die Decke und schürzte die Lippen.
Los, schlaf ein.
Ich habe Lust auf ein Spiel. Was hältst du vom Gedankenkarussell?
Gibst du dann Ruhe?
Vielleicht.
Was bedeutete es für mich, Marks Job – schwanger – anzunehmen? War ich den Aufgaben gewachsen? Ich hatte sie bereits in einer Übergangsphase übernommen, stets mit dem Hintergedanken, dass ich sie wieder abgeben würde. Ich trug Verantwortung, war aber nie auf mich alleine gestellt; ich hatte einen doppelten Boden, der mich auffing, wenn ich Fehler machte. Träte ich die Stelle an, wäre da kein sicheres Netz. Es gäbe nur mich. Und ich wusste nicht, ob ich dem gewachsen war.
Ob ich genug war.
Kann ich dich etwas fragen?
Klar, ich habe mich schon gewundert, warum du so lange still bist.
Macht es Sinn, sich selbst in Frage zu stellen?
Rhetorische Fragen sind wirklich deine Stärke.
Es begann zu schneien. Unaufhörlich.
Ich genügte. Für den Job und für das Baby.
Und endlich schlief ich ein.
Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, fühlte ich beinahe die dunklen Ringe darunter. Ich stand auf und ging zum Schrank, auf der Suche nach meinem Lieblingsoutfit.
Es wurde Zeit.
06. Januar 2020
Wie versteinert stand ich vor Marks Büro und starrte auf die geschlossene Tür. Mit zitternden Fingern strich ich meinen Pullover glatt.
Warum bin ich so nervös?
Weil du gerade versuchst, die Person, die auf der anderen Seite der Tür sitzt, nicht als Mann zu sehen, sondern als deinen Chef.
Kannst du dich dieses eine Mal auf das Berufliche konzentrieren und still sein?
Klar, aber dann liefere mir nicht solche Vorlagen.
Ich klopfte, und als ich seine Zustimmung vernahm, atmete ich tief durch und trat ein. Mein Blick glitt erwartungsvoll zu seinem Schreibtisch, doch verwirrt hielt ich in meiner Bewegung inne. Er saß nicht, wie vermutet, an seinem gewohnten Platz, sondern stand mit geradem Rücken am Fenster, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Anzugjacke spannte um sein breites Kreuz, und das Anthrazit hob sich dunkel vom hellen Schnee auf den Dächern der Nachbargebäude ab. Seine hochgewachsene Statur strahlte Souveränität aus, wie immer. Er wusste genau, wo sein Platz im Leben war.
Lass dich nicht einschüchtern.
Ein Stromstoß jagte zwischen meinen Schulterblättern hinab bis in meinen Magen, als sein Profil sich mir zuwandte und ein amüsiertes Lächeln seine Gesichtszüge veränderte.
Wahnsinn.
Dein Chef. Nur zur Erinnerung.
Ich weiß.
Impulsiv verzog ich meine Lippen und antwortete auf sein Lächeln.
»Nun offiziell: Auf ein erfolgreiches, neues Jahr, auch wenn ich nicht mehr zählen kann, wie oft ich das heute schon zu jemandem gesagt habe«, begann er.
»Ich weiß genau, was du meinst«, grinste ich, »und dennoch bin ich überzeugt, dass es ein spannendes Jahr für uns alle wird.«
Interessante Wortwahl.
Und inwiefern ist es sinnvoll, unter jedes meiner Worte den Rotstift anzusetzen?
Er hob amüsiert eine Augenbraue, seine Lippen zuckten.
»Ich sehe deinen Kopf arbeiten und wüsste zu gerne, was in ihm vorgeht.«
Oh nein, glaub mir, das möchtest du ganz sicher nicht.
»Viele Gedanken, die zu einer logischen Konsequenz führen.«
»Das klingt vielversprechend. Offenbar hast du ausreichend Gesprächsstoff mitgebracht. Setz dich bitte«, sagte er und wies mit seiner Hand auf die Sitzgruppe neben seinem Schreibtisch.
Nickend nahm ich ihm gegenüber Platz.
»Ich möchte mich bei dir entschuldigen, dass ich dir eine Antwort schuldig geblieben bin und wir das Thema der perspektivischen Umstrukturierung nicht weiterverfolgen konnten. Die jüngsten Ereignisse forderten meine Aufmerksamkeit, doch ich versichere dir, dass ich weiß, wo mein Fokus liegt.«
Er lehnte sich zurück, sein linker Ellenbogen ruhte auf der Lehne, während seine Hand belanglos einen Stift zwischen den Fingern drehte. Sein Blick verriet geschäftsmäßiges Interesse. Mich durchzuckte das Bild, wie er mitten in der Nacht auf meinem Schlafzimmerboden saß. Es war die Nacht, in der er mich beschützt hatte, ohne zu wissen, wie fragil unsere berufliche Zukunft war. Eine Welle von Schuldgefühlen überrollte mich, die mich hinunterzuziehen drohte.
Bleib fokussiert.
Marks Lässigkeit täuschte; er verlangte meine absolute Konzentration und ich schluckte, um weder meiner Nervosität noch meinen kurz abschweifenden Gedanken zu viel Raum zu geben. Er legte den Stift auf den Tisch und beugte sich leicht nach vorne. Der Abstand zwischen uns wurde kleiner.
»Wirst du mich weiter auf die Folter spannen oder soll ich raten?«
Nun war es an mir, mich entspannt zurückzulehnen. Die Beine übereinanderschlagend sah ich ihn fest an.
»Nein, ich verschone dich mit langweiligen Ratespielen. Ich danke dir für die Chance, die du mir bietest. Und ja, ich nehme sie an«, sagte ich ernst.
Das siegessichere Funkeln in seinen Augen entging mir nicht.
»Gratulation zu dieser klugen Entscheidung, obgleich ich nicht davon ausging, dass du dir diese einmalige Gelegenheit hättest entgehen lassen wollen. Es warten viele Veränderungen und Abstimmungen auf uns, aber bei dir sind sie gut aufgehoben.«
»Das sehe ich genauso. Und sei dir sicher, dass ich mich den Anforderungen gewachsen fühle.«