Summewenn (#NV) - Heike Söht - E-Book

Summewenn (#NV) E-Book

Heike Söht

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Beschreibung

Wenn es keine Zurücktaste gibt, ist Aufgeben dann eine Option? Als Kalea erwacht, spürt sie sich selbst nicht mehr. Gefangen im Körper einer Fremden hält sie ihr Kind in den Armen, während die Erlebnisse an ihr zerren. Mark und Tim sind an ihrer Seite, doch ihre Entscheidung für den Einen scheint keine Bedeutung zu haben. Im Nebel der Gefühle verschwimmt alles und ihr Schmerz formt eine Zukunft, die sie nicht geplant hat. Wo findet sie ihre Orientierung, wenn der Verstand und der Bauch schweigen? Formelsammlung Trilogie 3/3

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Seitenzahl: 454

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Summewenn (#NV)
Über die Autorin
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Epilog
Danksagung

Heike Söht

Summewenn (#NV)

Im Bereich des Möglichen

Formelsammlung Trilogie 3/3

XOXO Verlag

Dieses Buch widme ich allen,

die die Dunkelheit spüren.

Über die Autorin

Heike Söht wurde 1988 im Rheinland geboren und lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in einer Kleinstadt in der Nähe von Düsseldorf. Nach langjähriger Tätigkeit in einem renommierten Wirtschaftsverlag arbeitet sie heute hauptberuflich als Controllerin. Nachts, wenn der Alltag verstummt, fließen die Geschichten in ihren Laptop. Die Liebe zu Büchern im Besonderen und dem Leben im Allgemeinen gibt sie an ihre Kinder weiter und hofft, mit ihren Geschichten auch die Herzen ihrer Leser:innen zu berühren. summewenn ist der dritte und letzte Band der Formelsammlung-Trilogie.

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-083-5

E-Book-ISBN: 978-3-96752-997-5

Copyright (2024) XOXO Verlag

Lektorat und Korrektorat: Bettina Dworatzek

Umschlaggestaltung: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung der Bilder:

Stockfoto-Nummer: 1814607365 von www.shutterstock.com

Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Alte Heerstraße 29 | 27330 Asendorf

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Hinweis

Das Buch enthält, wie bereits Band 1 und 2, potentiell triggernde Inhalte (Suizid, Geburt, Depressionen).

Summewenn-Formel

Wenn aus der Summe der Gefühle keine Balance

entsteht, ist es Liebe.

Prolog

Dezember 1997

Ich starb. Ein beruhigender wie beängstigender Gedanke.

Ich schloss meine Augen, die Dunkelheit umhüllte mich wie ein sanftes Nichts. Die harten Farben der Welt verblassten; das hässliche Grau der Stadt, die grell beleuchteten Plakate an den Bushaltestellen und die trostlosen wie nutzlosen Emotionen, die sich in meinem Leben angehäuft hatten, trieben davon.

Die unnatürlichen Gerüche der Stadt lagen gedämpft unter der Schneedecke. Eine unbarmherzige Welt, verborgen unter dem unschuldigen Weiß, das ich gegen das Schwarz des Unbekannten eintauschte. Lange hatte ich mich vor diesem Schritt gefürchtet, wie vor einer Prüfung den Tag erwartet und mich gleichzeitig gesträubt. Die Nervosität verflog, als ich mich an einem Baumstamm niederließ. Inmitten der Schatten verloren die Forderungen meines Lebens an Bedeutung. Hier war nichts mehr wichtig, das sanfte Schwarz hieß mich willkommen und blendete Belangloses aus.

Schwer ruhten meine Arme neben meinem Körper und berührten den frostharten Boden, auf dem ich saß. Ich hob sie an und faltete die Hände mit stockenden Bewegungen in meinem Schoß. Den Brief zwischen die Finger meiner linken Hand geklemmt, pumpte mein Herz verzweifelt gegen das Unausweichliche an.

Lass los, du willst es nicht ändern.

Es kämpfte, vergeblich, während mein Verstand bereits vorauslief, als hätte es vergessen, wie sehr es über die Jahre in ständiger Panik in meiner Brust geschlagen hatte, pochend gegen die natürlichen Grenzen, die es nie hatte sprengen können. Zu lange hatte ich den Zwiespalt in mir in Schach gehalten, die Wunden notdürftig abgedeckt und die Vernunft über alles gestellt. Mein Herz würde aufhören, wenn es bereit war.

Merkwürdig, wie sich kurz vor dem Ende die Pole vertauschten.

Tief einatmend zwang ich meine Lider sich zu öffnen, noch nicht abzugleiten, zumindest nicht ganz.

Atmen.

Mein Herzschlag verlangsamte sich und ich spürte die tiefe Ruhe, auf die ich viele Jahre gewartet hatte.

Einatmen.

Alex.

Ausatmen.

Kalea.

Kalea, die ich mit meiner Liebe geschaffen und auf ein Leben ohne mich vorbereitet hatte, ohne dass sie sich dessen bewusst gewesen war. Kalea, die meinen Körper geteilt und mich mit auf eine Reise durch die Möglichkeiten des Lebens genommen hatte. Meine bedingungslose Liebe zu ihr trug mich durch die Wellen des Nichts.

Augen schließen.

Einatmen.

Wenn sie es zuließ, würde sie jemandes Welt bedeuten, berühren, überwältigen und alles für diesen einen Menschen sein. Sie würde an ihm wachsen und er könnte heilen, was in ihr unausweichlich zerbrach, wenn ich ging. Die Wunden, die mein Weggang hinterließen, würden umsorgt werden müssen. Sie verdiente eine starke Schulter, die ihr ab und zu die Führung abnahm, damit sie die Welt außerhalb ihres Verstandes entdecken konnte. Sie lebte nicht in der Dunkelheit, sie brauchte das Licht, um sie selbst sein zu können. Sie war mehr als ich es jemals hätte sein können.

Ausatmen.

Den Kopf auszuschalten und zu fühlen würde sie lernen müssen. Sie würde die Schönheit ihres Lebens sehen, die Ecken, die Kanten, die Kompromisse und Entscheidungen, die sie formen würden. Es würde nicht leicht werden, sie für sich zu gewinnen, dafür hatte sie zu früh gelernt, ihre Gefühle zu verbergen. Wenn sie mir ähnelte, würde sie gelegentlich die Orientierung verlieren und ihren Sehnsüchten misstrauen. Die Liebe würde sie an unerwarteten Orten finden, egal, wie sehr sie versuchte, sich zu verstecken.

Einatmen.

Ich schloss meine Augen, dieses Mal länger, und ließ mich tiefer in die namenlose Ruhe sinken.

Ausatmen.

Sie hatte ein außergewöhnliches Leben vor sich, davon war ich überzeugt. Alex würde ihr geben, was sie brauchte.

Einatmen.

Die Kälte kroch vom erdigen Boden durch meine Strumpfhose, legte sich klamm um meine Muskeln und nistete sich zwischen meinen Knochen ein.

Ich wollte spüren, wenn es passierte.

Wenn ich ging.

Es war früh am Morgen, das entfernte Rauschen der gelegentlich vorbeifahrenden Autos erfüllte die Luft, die Reifen auf dem tauenden Schnee hinterließen spritzende Geräusche, während meine Gedanken durch den Wald flogen. Zwischen den Bäumen, die die Rückseite des Hospizgebäudes säumten, umgab mich friedvolle Stille.

Ich war allein.

In einer Stunde stand der Schichtwechsel an. Bis dahin gab es nur mich, und wenn ich fort war, kam Betty, meine Vertraute, und würde mich hier finden. Sie verstand.

Ich hob meine rechte Hand und legte sie an meine Brust. Ich spürte den Druck, meine letzten Atemzüge wurden schwerer. Ein unsichtbares Band in mir begrenzte das Volumen meiner Lunge, spannte sich, zog sich immer weiter zusammen.

Ausatmen.

Ich würde nicht da sein, um mein Baby als Jugendliche und später als Frau zu erleben.

Ich würde nie eine Großmutter werden.

Ich würde nicht an Alex´ Seite sein.

Ich würde nicht auf sein Leben zurückblicken können, nur er auf meines. Hier und jetzt endete unser gemeinsamer Weg.

Er hatte meinen Pfad bis zum Schluss mit bunten Klecksen versehen und den Schrecken in meinem Kopf mit einem Augenzwinkern relativiert. Es war mir nicht bestimmt, sein ganzes Leben an seiner Seite zu bleiben. Während er tänzelte, hob ich meine Füße kaum vom Boden, mit ihm Schritt zu halten zehrte an meinen Kräften.

Ich gab unsere Zukunft für meine auf. Meine, die nicht zwischen ihnen sein würde.

So vieles ließ ich zurück. Erinnerungen und Meilensteine, die meinen Weg gesäumt hatten. Doch mir fehlte etwas, das selbst diese großartige Liebe nicht hatte aufwiegen können: Frieden.

Das, was mir ein Leben lang verwehrt geblieben war und dessen Abwesenheit über jedes Ereignis einen Schleier gelegt hatte. Meinen inneren Frieden, den ich vergeblich gesucht und verzweifelt hatte erzwingen wollen, den ich nie hatte finden können und den ich mehr als alles andere gebraucht hätte.

Einatmen.

Warum sollte ich einen weiteren Atemzug durch einen Körper strömen lassen, den ich nicht mehr brauchte? War es notwendig? War nicht alles gedacht, gefühlt und gelebt worden?

Ich spürte Kalea aus weiter Ferne. Ich schloss sie in mein Herz und fühlte, wie der Teil in mir, der mich ausmachte, überglitt.

Loslassen.

Mein Kopf wurde leichter, mein Herz machte eine zaghafte Pause und setzte aus. Testete, wie es sein würde, seinen Dienst einzustellen. Ich spürte keine Furcht mehr, denn ich war auf dem Weg.

Ein letztes Mal schloss ich meine Augen und seufzte. Es war so weit.

Alex war bei ihr.

Ich durfte gehen. Eine Träne fand ihren Weg aus meinem Augenwinkel und rann über meine kalte Wange. Eine Träne für Kalea, stellvertretend für den Schmerz, den ich ihr nicht nehmen konnte.

Ausatmen.

Ich liebe euch.

Jetzt.

Kapitel 1

Juli 2020

Mit einem keuchenden Atemzug, der mich aus dem Nirgendwo zerrte, kam ich zu mir. Unzusammenhängende Bilder rasten an mir vorbei, zogen mich mit sich und ließen eine nicht greifbare Unruhe in mir aufsteigen. Der Sauerstoff durchströmte meinen Körper und klärte meine wirren Gedanken. Meine Lungen brannten unerträglich, als sich meine Brust hob und senkte, und doch war es eine Erleichterung, wieder im Hier und Jetzt zu sein.

Wo genau bin ich?

Benommen öffnete ich meine Augen und nahm verschwommene Konturen wahr. Das plötzliche, helle Licht zwang mich, sie direkt wieder zu schließen, bevor das Pochen hinter meinen Schläfen übermächtig wurde. Ich verzog meine Lippen zu einer lautlosen Grimasse, meine Mundwinkel rissen bei der plötzlichen Bewegung ein. Ein unangenehmer, chemischer Geschmack lag auf meiner Zunge und ich schluckte krampfhaft, bemüht, die unterschiedlichen Eindrücke einzuordnen. Mein Hals protestierte mit einem Kratzen, als ob ihn etwas heftig misshandelt hätte.

Widerlich.

Ich fühlte meinen Körper auf befremdliche Weise, wie eine Steckfigur, die erst in Stücke zerlegt und dann falsch zusammengesetzt worden war. Manches fühlte sich taub an – meine Beine und mein unterer Rücken –, anderes schmerzte mit beißender Genauigkeit – mein Brustkorb und eine Stelle unterhalb des Bauchnabels. Nichts an ihm erkannte ich wieder, er war mir genauso fremd wie meine unzusammenhängenden Gedanken. Hatte er nicht erst vor wenigen Stunden eine Kraft bewiesen, die ich weder ihm noch mir zugetraut hatte? Die Erinnerungen an die Geburt lagen in einem dichten Nebel und es strengte mich an, die Teile zu einem Ganzen zusammensetzen zu wollen. Mein Kopf pochte im Takt meines Herzschlags.

Aber es schlägt. Das ist das Entscheidende.

Wir sind mit dem Minimum zufrieden?

Unter den gegebenen Umständen? Ja.

Ich bewegte meine Hände und spürte weichen Stoff um mich herum, jemand hatte eine Decke über mich gelegt. Neben meinem rechten Ohr nahm ich das regelmäßige Piepen eines Monitors wahr. Regelmäßig war gut. Ich drehte mein Gesicht zur Seite, in meinem Kopf verschwammen die Bilder, während mein Blick keinen Fixpunkt fand. Wie in einem Karussell wirbelten die Farben an mir vorbei. Mir wurde übel.

Was ist mit mir passiert?

Erinnerungsfetzen schoben sich vor mein inneres Auge und ich sah undeutlich eine breite Brust vor mir.

Wo war er? Wo war sie?

»Mark?«, hörte ich eine fremde, krächzende Stimme aus meinem Mund, die nicht lauter war als ein Flüstern.

Bin ich das?

Plötzlich knarrte der Stuhl neben meinem Bett, gefolgt von einem tiefen Seufzen, das mir fremd war. Ich war nicht allein. Mein Herzschlag beschleunigte sich, die Panik drohte mir die Brust zu zerreißen.

Mark?

»Kalea. Gott sei Dank.«

Nein, das war nicht Mark, die Stimme klang weiblich und kam mir vage bekannt vor. Ich sah schwarze Umrisse, mein unscharfer Blick verzerrte die Wirklichkeit.

»Kalea, hören Sie mich?«

»Ja«, flüsterte ich heiser.

»Wie fühlen Sie sich?« Warme Finger tasteten an meinem Handgelenk entlang und fühlten meinen Puls.

Yvonne, die dauerlächelnde Nervensäge.

»Weiß ich nicht.« Die Worte kamen abgehackt, als hätte ich meine Stimme zwischen den Schreien der Geburt verloren. Oder in der Dunkelheit danach.

»Das macht nichts, das Wichtigste ist, dass Sie wach sind.«

»Wo ist sie?«, brachte ich hustend hervor.

Ich habe ein Kind, oder? Ein kleines Mädchen?

Ich war zu müde, um mich aufzusetzen. Dass ich verschwommen sah, war verstörend.

Was ist mit meinen Augen passiert?

Meine Hand, in der eine Infusionsnadel lag, tastete unbeholfen unter der Decke nach meinem Bauch. Ich hielt kurz in der Bewegung inne, unsicher, was ich vorfinden würde … und ob ich dafür bereit war. Meine Hand wanderte tiefer und ich erschrak, als ich statt der riesigen Wölbung, die mich viele Monate begleitet hatte, eine leere Hülle fand, einen Fremdkörper, der sich falsch anfühlte. Suchend fuhren meine Finger über die weiche, schlaffe Haut, die den plötzlichen Verlust des Babys nicht verarbeitet hatte. Da war nichts, was ich wiedererkannte, nichts, was sich wie ein ich anfühlte, nur … ja, was? Ruckartig zog ich meine Finger zurück und die Nadel drückte schmerzhaft in meinen Handrücken.

Ich bin ein Wrack.

Ein Wimmern zerschnitt die Stille im Raum, und es dauerte einen Augenblick, bis ich begriff, dass der Laut aus meinem Mund entwich. Das Brennen in meiner Kehle drohte mich zu ersticken und ich unterdrückte den Weinkrampf, der sich in meinem Inneren aufbaute.

Sie ist nicht da. Ich bin nicht da.

»Schhh, Kalea, beruhigen Sie sich«, hörte ich Yvonnes sanfte Stimme. »Ihr Mann begleitet ihre Tochter zur Säuglingsuntersuchung, sie sollten bald zurück sein.«

Mein Mann? Er ist nicht mein Mann.

»Ruhen sie sich aus«, flüsterte sie und strich mit einem feuchten Tuch über meine Stirn.

Ausruhen? Wovon?

Mein Zustand ergab keinen Sinn. Ich hatte ein Kind geboren, ich erinnerte mich genau. Wieso lag ich hier, in diesem Bett, in einer Verfassung, die ich mir nicht erklären konnte?

»Was ist passiert?«, fragte ich und drehte den Kopf in ihre Richtung.

Meine Pupillen stellten sich mühsam scharf und langsam erkannte ich ihr Gesicht, aus dem die enervierende Fröhlichkeit gewichen war, die mich vor Stunden – oder Tagen? – zur Weißglut getrieben hatte.

»An was erinnern Sie sich?«, fragte sie mit Zurückhaltung in ihrer Stimme und hielt mir einen Becher an den Mund.

Mit zitternden Lippen trank ich einen Schluck, das Wasser nahm den chemischen Geschmack auf meiner Zunge an. Ich versuchte, meine Gedanken zu ordnen und mich nicht zu übergeben.

Kacheln. Ich war in einem Raum mit seltsamen Kacheln gewesen.

»An einen OP-Saal?«, mutmaßte ich. Vielleicht war es ein Traum gewesen. War es überhaupt wichtig?

»Ja, wir haben Ihre Tochter entbunden und die Plazenta hat sich nicht wie erwartet gelöst. Ich habe vorher nie ein Organ dieser Größe gesehen, und das soll etwas heißen, ich bin seit fünfzehn Jahren Hebamme. Sie … haben viel Blut verloren. Sie …« Yvonne stockte und ich nahm undeutlich tiefe Ringe unter ihren Augen wahr.

»Yvonne?« Ihre Reaktion beunruhigte mich. Warum verhielt sie sich so?

»Kalea, ich dachte, ich hätte Sie verloren.« Ihre Stimme zitterte und ihre Worte sickerten langsam in mein Bewusstsein, als wollte mein Verstand mich vor der einzig logischen Schlussfolgerung bewahren.

Was ist mit mir los?

Du bist fast gestorben, das ist mit dir los.

Ich drehte den Kopf zur Seite und schloss müde meine Augen.

Natürlich.

Es war zu viel.

Kapitel 2

Juli 2020

»Ihrer Tochter geht es gut, alle Werte sind im grünen Bereich, Herr Fadinger. Ihr Herzultraschall und EKG sind unauffällig, was wir unter den gegebenen Umständen als höchst erfreulich betrachten dürfen. Sie ist kräftig und hat trotz ihres frühen Starts ins Leben ein ordentliches Geburtsgewicht erreicht. Wenn sie sich in den kommenden Tagen weiter gut entwickelt, kann sie bald mit Ihnen nach Hause, sofern …«

»Sofern ihre Mutter überlebt, meinen Sie?«

Er konnte die Worte kaum aussprechen, ohne dass ihm übel wurde, aber einer musste es tun. Alle tänzelten um das Offensichtliche herum, benutzten blumige Umschreibungen und aufgesetzten Optimismus, mit dem sie ihn zu beruhigen versuchten. Er war verdammt wütend. Irgendjemand musste das Schweigen brechen und das Unvermeidliche beim Namen nennen. Und was war mit seiner Tochter? Spielte es keine Rolle, dass bei den Untersuchungen etwas übersehen worden war? Stand Kaleas Situation über allem?

»Lassen Sie uns abwarten«, antwortete der Stationsarzt ernst.

Der Arzt war kaum älter als er selbst und sein zurückhaltender Gesichtsausdruck nervte ihn gewaltig. Sie waren auf der Kinderstation, was ein gutes Zeichen war, da seine Tochter die magische Grenze eines Frühchens knapp überschritten hatte. Kurven, Maße und Werte. Vor wenigen Stunden wäre ihm nie in den Sinn gekommen, dass davon seine Zukunft abhängen würde.

Das kleine Mädchen lag unter der Wärmelampe, während eine Kinderkrankenschwester – er hatte ihren Namen vergessen und wollte ihr nicht unangemessen lange auf das Namensschild starren – ihr einen Body anzog, der um ihren zarten Bauch zu weit saß. Sie hatte eine kleine Banderole um ihr Handgelenk, auf der ihr Geburtsdatum und Mutter: Kalea Imhof stand. Ansonsten war der Plastikstreifen leer, Kalea hatte keine Zeit gehabt, ihr einen Namen zu geben. Er hatte sich geweigert, diese Aufgabe zu übernehmen, da es ihnen gemeinsam zustand, diese Entscheidung im Leben ihrer Tochter zu treffen. Und das würden sie. Sie mussten. Alles andere ergab für ihn keinen Sinn.

Konzentriert beobachtete er die Handbewegungen der Krankenschwester, während um ihn herum eine ungewohnte Geräuschkulisse summte. Ein unangenehmes Rauschen schwoll in seinen Ohren an, und die Erinnerungen an die letzten beiden Tage lasteten schwer auf ihm, obwohl er sich wünschte, es wäre nicht so. Er dachte an die Wärme und das Gewicht des Babys, als Yvonne es ihm zum ersten Mal in die Arme gelegt hatte.

Sie tragen nun die Verantwortung für Ihr Baby.

Niemand fragte ihn, ob er sich der Aufgabe gewachsen fühlte, es wurde von ihm erwartet, vorausgesetzt. Er war der Mann, er war stark.

Nein, verdammt, das bin ich nicht.

Ein nie gekanntes Gefühl der Ohnmacht ergriff ihn, als er an die Geburt dachte. Die Stunden, in denen er allein gewesen war. Die Stunden, die ganz anders gewesen waren, als nach Georgs Geburt. Die Stunden, in denen er sich fragte, ob sie ihm genommen worden war.

Er stand im Kreißsaal, dem Raum, der sich innerhalb von Sekunden von einem geschützten Minikosmos in einen schlecht inszenierten Film verwandelt hatte. Kalea war verschwunden, und niemand sah die Notwendigkeit, ihm zu sagen, wo sie war oder, was noch hilfreicher gewesen wäre, wie es ihr ging. Er hatte das Baby an seine nackte Brust gelegt und sich in den Sessel neben dem Bett sinken lassen. Mit einem Handtuch zugedeckt, lag das kleine Bündel auf ihm und statt Freude spürte er Hilflosigkeit und unterdrückte Panik. Und Wut, wenngleich er sich nicht sicher war, gegen wen sie sich richtete. Gegen die mangelnde Voraussicht der Ärzte, gegen den verdammten Zynismus des Universums, gegen alles. Am meisten gegen sich selbst, weil er sie nicht hatte beschützen können.

Das kleine Wesen unter dem Handtuch regte sich. Am liebsten hätte er es ignoriert, oder zumindest die Stopp-Taste gedrückt. Er war nicht bereit, das Mädchen in seinen Armen kennen zu lernen, nicht, solange seine Gedanken unaufhörlich um Kaleas Zustand kreisten. Kalea, die in Bronze getauchte Göttin, die mit ihrem Schrei den Raum erfüllt und ohrenbetäubende Stille hinterlassen hatte.

Das Baby ließ seinen Kopf mit leicht geöffneten Lippen unkoordiniert über Marks Schlüsselbein wandern.

»Tut mir leid, Kleines, ich kann dir nicht helfen«, flüsterte er und hielt ihr seinen kleinen Finger an den Mund, an dem sie unerwartet kräftig saugte. Sie musste Hunger haben und er hatte keine Ahnung, wie lange sie auf ihre Mutter warten musste.

Sie würde kommen.

Sie musste.

Eine Stunde verstrich. Dann eine weitere.

Die Schatten wanderten über den Boden, wurden länger und kündigten den Abend an. Noch immer hörte er nichts von den Krankenschwestern oder der Hebamme, doch er wollte sich nicht bewegen. Sie schlief auf seiner Brust, und solange er ruhig in diesem Sessel saß, konnte sie nicht aufwachen und feststellen, dass ein Teil von ihr fehlte. Er ließ seinen Kopf nach hinten sinken und schloss für einen Atemzug seine Augen.

Was mache ich hier?

Hilflosigkeit pulsierte durch seine Adern und seine Hand legte sich vorsichtig um das Mädchen.

Beruhige dich.

Einen Scheiß werde ich. Ich sitze hier mit einem Neugeborenen allein im Kreißsaal und niemanden interessiert es? Habe ich kein Recht zu erfahren, wie es der Mutter meines Kindes geht?

War Kaleas Zustand so besorgniserregend, dass sie ihm nichts sagen konnten? Das konnte nicht sein.

Das hatte er nicht einkalkuliert.

Er streckte seinen Arm aus und ertastete die Klingel. Kurz darauf öffnete sich endlich die Tür und eine junge Hebammenschülerin betrat den Kreißsaal.

***

Sie blickte auf den halbnackten Mann mit dem Baby, um dessen Mutter die Ärzte gerade in OP zwei kämpften. Sie konnte ihm nichts sagen, nichts, was ihm zum jetzigen Zeitpunkt hätte helfen können. Es passierte nicht häufig, aber an Tagen wie diesen fragte sie sich, ob sie wirklich Hebamme sein wollte. Doch das Baby war am besten Ort, an dem es gerade sein konnte.

***

»Wo ist meine Frau?«, fragte Mark und seine Stimme klang rau, nachdem er sie stundenlang im Flüsterton benutzt hatte.

»Das weiß ich leider nicht, meine Schicht hat gerade erst begonnen«, sagte sie schüchtern und senkte unter seinem starren Blick ihre Lider, während sie das Baby auf seiner Brust untersuchte.

»Aha.« Danke für den Nonsens. »Und wer könnte es wissen? Ihre Kollegen haben sie vor zwei Stunden mitgenommen, irgendwo muss sie sein.«

»Ich werde nachfragen und Ihnen einen Löffel mit Pre-Milch für Ihre Tochter bringen«, antwortete sie ruhig und verließ den Raum.

Er war wieder allein. Wunderbar.

Die Kleine lag Bauch an Bauch mit ihm und hatte die Augen geschlossen. Mark bewunderte ihr Urvertrauen, während er selbst nur schwer begreifen konnte, was geschehen war.

Kalea hatte gekämpft, ihren Körper an seine Grenzen getrieben und sich selbst für dieses kleine Wesen, das friedlich auf ihm lag und nichts von der Aufregung mitzubekommen schien, zerbrochen. Er hatte nie etwas Vergleichbares erlebt. Kalea hatte Übernatürliches geleistet, um nach Stunden des Schmerzes ihr Baby im Arm halten zu können, und nun war er es, der sie hielt. Das ergab keinen Sinn. Das Mädchen bewegte unruhig seinen Kopf. Er war nicht der Einzige, der Kalea suchte.

***

Yvonne betrat den Untersuchungsraum, suchte Mark und fand ihn, tief in Gedanken versunken neben ihrer Kollegin stehend. Sie war müde, an ihrer Belastungsgrenze angekommen, aber er verdiente ein Lächeln.

»Kalea hat die Augen geöffnet und ist ansprechbar«, sagte sie und sah, wie der gestandene Mann vor ihr Halt suchend nach der Stuhllehne neben sich griff. Tränen rannen über seine Wangen, während er sie mit leicht geöffneten, zitternden Lippen anstarrte. Mit schnellen Schritten war sie bei ihm, gab ihm den nötigen Halt. Sie fasste ihn an den Unterarmen und half ihm, sich hinzusetzen. Sein Körper bebte, als würde das Adrenalin der letzten Stunden nachlassen, und einem Impuls folgend nahm sie ihn in die Arme. Unter ihren Fingern spürte sie seine Muskeln und Sehnen, aber keine Kraft.

»Holen Sie tief Luft. Sammeln Sie sich. Es geht ihr gut. Ich bleibe bei ihr, bis Sie soweit sind, zu ihr zu gehen. Sie liegt im Zimmer am Ende des Flurs.«

»Danke.«

Es war nicht das Wort, das Yvonne das Herz zerriss, sondern der tiefe, verzweifelte Ton.

So, dachte sie, klang Liebe.

Kapitel 3

Juli 2020

»Erschrecken Sie nicht, wenn Sie das Zimmer betreten. Kalea ist erschöpft, was angesichts des Kraftaktes, der hinter ihr liegt, nicht ungewöhnlich ist. Geben Sie ihr Zeit, zu sich zu finden«, flüsterte Yvonne, als sie klopfte und die Tür öffnete.

»Danke, Yvonne.«

Er schob das kleine Kinderbett durch die Tür und atmete heftig ein, als er Kalea, unter einer Decke und an Schläuche angeschlossen, im Bett liegen sah. Die Ärzte hatten sie auf die Intensivstation verlegt. Sie sah nicht aus wie die Frau, die sie am Tag zuvor gewesen war.

»Warum ist sie zugedeckt? Draußen herrschen gefühlte dreißig Grad«, fragte er irritiert, seine Maske dämpfte seine Worte. Er nahm sie ab und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden.

»Ihr Körper erholt sich.« Yvonnes Worte waren sanft. »Wir stabilisieren ihren Kreislauf und versuchen, ihr auf die bestmögliche Weise zu helfen. Sie hat viel Blut verloren.«

»Und was kann ich tun?« Die Frage rutschte ihm über die Lippen, bevor er sie zurückhalten konnte. Er wollte nicht derjenige sein, der keine Antworten hatte, aber nun stand er hier, neben dem Beistellbett, mit rasendem Puls, in einem Albtraum, den sein Unterbewusstsein nicht schlimmer hätte suggerieren können.

»Gehen Sie zu ihr.«

»Darf ich sie berühren?«

Yvonnes Kopf neigte sich leicht zur Seite, ihre Lippen umspielte ein verständnisvolles Lächeln. »Natürlich.«

Zum ersten Mal, seit seine Tochter mit einem Schrei seine Welt verändert hatte, trat er einen Schritt von ihr zurück und ließ sich langsam neben Kalea auf die Bettkante sinken. Er konnte den Blick nicht von ihr lösen, er musste sie berühren und sich vergewissern, dass sie da war. Vorsichtig legte er seine Hand an ihr Gesicht. Ihre Haut wirkte wächsern, ihre schlaffen Gesichtszüge waren die einer Fremden. Sie hatte die Lider geschlossen, die Decke hob sich in beruhigenden, gleichmäßigen Atemzügen über ihre Brust. Wo war die Naturgewalt, die fluchend vor ihm gekniet und ihn angeschrien hatte? Er legte den Arm um sie und küsste sie auf die Stirn.

»Was hast du dir dabei gedacht?«, hauchte er stockend in ihre Haare. »Tu mir das nie wieder an.«

»Das hatte ich nicht vor«, krächzte Kalea und bewegte kaum merklich ihren Kopf in seine Richtung.

Sein Herzschlag beschleunigte sich und sein Körper bebte, als sie die Augen öffnete und ihn ansah. Oder vielmehr durch ihn hindurch.

»Wo ist mein Baby?«, flehte sie und versuchte, ihren Arm zu heben.

»Hier«, sagte Yvonne, die leise an ihre andere Seite getreten war, und legte das kleine Mädchen an Kaleas Wange. Ihre schwachen Arme konnten sie nicht halten, Yvonne wich nicht von ihrer Seite. Instinktiv drehte das Mädchen seinen Kopf in Kaleas Richtung und ihr Körper spannte sich an. Sie wusste, dass sie genau hierhin gehörte.

Genau wie er.

Mit einem lauten Schrei aus dem rosa Mund seiner Tochter drückte das Leben auf Play.

***

Nie zuvor hatte ich etwas Vergleichbares gerochen. Ich spürte ihren zarten Kopf an meiner Wange und sog ihren süßlichen Duft ein. Sie bewegte sich und erstaunlich starke Finger kniffen in meinen Hals. Ich wusste, wer sie war. Viele Monate hatte ich auf sie gewartet, und sie auf mich.

Hallo, kleiner Wirbelwind, willkommen im Leben.

Aufmerksam betrachtete ich ihr Gesicht und mein Gefühl direkt nach der Geburt bestätigte sich. Etwas an ihr war … ja, was? Ich war unsicher. Ich hatte es in der Sekunde nach der Geburt gespürt, beim ersten Blick auf sie.

Down-Syndrom,schoss es mir durch den Kopf.

Meine Angst muss in meinen Augen gestanden haben, denn als ich Marks Blick suchte, antwortete er mit der gleichen Sorge.

***

Schweigend beobachtete er Kalea, während sich ihre Augen in ungläubigem Staunen weiteten. Es musste seltsam für sie sein, ihre Tochter erst Stunden nach der Geburt berühren zu dürfen. Jetzt, da das Mädchen in den Armen lag, in die es gehörte, konnte er es ansehen.

Ihre zimtfarbene Haut war heller als Kaleas, ihr rosa Mund, die kleine Nase und ihre ungewöhnlich kräftigen, dunklen Haare erinnerten stark an Kaleas Äußeres, sich selbst sah er nicht in ihr. Ihr zarter Körper ließ vermuten, dass ihr ein paar Wochen mehr im Bauch gutgetan hätten. Ihre schmalen Gliedmaßen täuschten, sie hatte eine unglaubliche Stärke bewiesen.

Einen Wimpernschlag lang meldeten sich Zweifel, ob Kalea sich geirrt haben könnte, was die Vaterschaft anging, doch dann öffnete die Kleine unerwartet ihre leicht schräg stehenden, mandelförmigen Augen. Sie waren nicht dunkelblau, wie bei den meisten Neugeborenen, sondern hatten den gleichen rauchigen Akzent wie seine. Und Georgs. Sie sah ihn nicht an, sie hatte nur Augen für Kalea, die ihre aufgesprungenen Lippen zu einem erstaunten Lächeln verzog und nach der Hand ihrer Tochter griff. Überwältigt von Liebe und Ehrfurcht legte er seine Arme um sie beide. Der erste Moment, als die Ärzte ihm das Down-Syndrom bestätigten, hatte ihn sorgenvoll schlucken lassen.

Doch solange beide lebten, war es ihm egal.

Als Kalea schlief, griff er zu seinem Handy auf dem Nachttisch.

Tim,

sie ist aufgewacht. Sie ist schwach, vielleicht kommst du erst morgen, sofern du es bis dahin aushältst.

Danke für alles.

Mark

Die Zeit verging in Sprüngen. In einem Moment war es Nachmittag, als er das Baby an seiner Schulter wiegte, im nächsten war es früher Morgen, und Kalea lag von ihm abgewandt im Bett und schlief. In immer gleichen Runden schlenderte er mit seiner Tochter auf dem Arm durch den Raum, ließ beide schlafen in der Hoffnung, dass der Schock beim Aufwachen nachlassen würde. Sie waren beide hier, und auch wenn nicht alles war, wie es sein sollte, würde es das in ein paar Tagen sein.

Er würde dafür sorgen.

Als Kalea erwachte, war sie erschöpft, und eine ungewohnt distanzierte Körpersprache ging von ihr aus, die er nicht einordnen konnte. Er erklärte ihr Verhalten mit den Strapazen der letzten Tage und würde ihr Zeit geben, in ihrem Leben anzukommen.

Sie lagen gemeinsam im Bett, er auf, sie unter der Decke. Das Baby saugte an Kaleas Brust. Zu schwach, sie selbst zu halten, stützte er sie mit seinen Händen, die an dem schmalen Körper riesig wirkten. Seit er das Zimmer gestern betreten hatte, wich er nur von ihrer Seite, um sich um die Bedürfnisse seiner Tochter zu kümmern. Oder um seine eigenen, wenn es nicht anders ging. Er konnte keinen Abstand mehr zwischen Kalea und sich ertragen, das Gefühl der Panik, sie zu verlieren, hatte sich unter seine Haut gebrannt. Aufmerksam betrachtete er die Frau neben sich, die gedankenversunken über den Kopf ihres Kindes strich. Sie schien weit weg von ihm, obwohl er direkt neben ihr lag. Er würde es nicht wagen, die Geburten seiner beiden Kinder – meine Güte, er hatte zwei Kinder, wie verrückt das klang! – miteinander zu vergleichen, aber er hatte eine Vorstellung gehabt, wie es sein würde. Es fühlte sich vollkommen anders an, als er erwartet hatte.

»Wir hatten bisher keine Gelegenheit, in Ruhe miteinander zu reden. Es sei denn, die Gespräche zwischen den Wehen zählen«, begann er, an ihrer Seite liegend.

Kaleas Mundwinkel zuckten, aber nicht auf eine amüsierte Art und Weise. »Wohl kaum«, murmelte sie und strich der Kleinen zart über den Rücken.

Er spürte, dass sich etwas hinter ihrer ruhigen Fassade verbarg. »Gibt es etwas, das dich beschäftigt?« Eine dämliche Frage, aber irgendwo musste er anfangen.

»Nein.« Sie stockte. »Ja.« Sie atmete tief durch und begann erneut. »Warum warst du, oder vielmehr bist du hier?« Ihr Blick war nach unten auf den Haarschopf zwischen ihnen gerichtet, ihr Tonfall war ruhig.

Fragte sie ernsthaft, warum er hier war? War das nicht offensichtlich? Hatte er ihr nicht gesagt, dass er sie liebte? Konnte es sein, dass sie seine Worte vergessen hatte? Er strich über seine müden Augen, scheinbar täuschten ihn seine Sinne. Er sortierte die Geschehnisse der letzten Tage. Sein Spaziergang mit Tim im Park schien weit weg zu sein.

»Weil Tim mir sagte, dass du mich brauchst.«

»Und du warst vorher bei ihm?«, fragte sie zögernd, als ob sie sich daran erinnerte, was Tim ihr gesagt haben musste. »Du wusstest, dass sie …?« Ihre Stimme verstummte und ihre Lippen legten sich auf den Scheitel des Babys.

»Ich weiß seit ein paar Tagen, dass ich ihr Vater bin, ja. Meine Fassungslosigkeit über deine Scharade und meine Blindheit möchte ich an dieser Stelle nicht weiter ausführen. Du kannst es dir gerne in einer ruhigen Minute einmal ausmalen.«

»Und trotzdem bist du gekommen.«

»Wie hätte ich nicht kommen können?« Stirnrunzelnd versuchte er, ihre Worte zu begreifen. Worauf lief dieses Gespräch hinaus?

»Weil du wütend gewesen sein musst.«

Sie strich mit ihren Fingerspitzen sanft über den Handrücken der Kleinen, während sie weiter seinen Blick mied.

»Und ob ich das war. In erster Linie auf mich selbst.« Er war sich nicht sicher, ob es der richtige Moment war, aber es wurde Zeit, seine Fehler zu benennen.

»Ich war blind und habe nichts dagegen unternommen, die Dinge klar zu sehen. Ich habe mich meiner Unterschrift auf einem unbedeutenden Arbeitsvertrag unterworfen und dafür vieles in den letzten Monaten aufgegeben. Ich hätte an deiner Seite sein sollen, anstatt mich den Normen zu beugen. Die letzten Tage haben mir meine Prioritäten klar vor Augen geführt. Ich möchte, dass du dich aus freien Stücken für mich entscheidest, und im Gegenzug verspreche ich dir, dass du – oder vielmehr ihr – nie wieder an zweiter Stelle stehen werdet.«

Er wusste, dass er hier enden sollte, aber Tim hatte vieles getan und übernommen, zu dem er nicht imstande gewesen war. Tim verdiente es, Position beziehen zu können, auch wenn es ihm widerstrebte.

»Tim und ich wollen beide an deiner Seite sein, das solltest du wissen.«

Kalea schwieg, scheinbar tief in Gedanken versunken. Er hatte nicht erwartet, dass sie ihm seine Abwesenheit in den letzten Monaten nach nur einem Satz verzeihen würde, ihre Distanziertheit versetzte ihm dennoch einen Stich. Als sie sprach, klangen ihre Worte nachdenklich.

»Es klingt leicht, wenn du es so sagst, aber das ist es nicht. Es geht nicht nur um mich, sondern auch um deine Familie. Deinen Job. Meinen Job. Die Regeln haben sich nicht geändert.«

»Abwarten.«

»Wie kannst du dir da sicher sein? Im März hat es dich in Panik versetzt, dass unser Verhältnis publik werden könnte. Was hat sich verändert?«

»Ich habe dich fast verloren.« Seine Stimme vibrierte. »Mein Job steht nicht mehr an erster Stelle.«

»Es kommen auch wieder andere Zeiten. Ich werde nicht für immer an dieses Bett gefesselt sein und unsere Leben werden weitergehen.«

»Das hoffe ich doch.«

»Und dann?«

»Dann werden wir unseren Weg finden. Es liegen alle Karten auf dem Tisch, wenn auch sehr spät. Oder gibt es noch etwas, das du mir verschwiegen hast?« Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie etwas vor ihm zurückhielt.

»Nein«, flüsterte sie und schluckte.

Er hatte es bereits gestern gespürt, eine vage Ahnung gehabt, die ihn nicht losließ, doch nun war er sich sicher: Rational gab es nichts mehr, was zwischen ihnen stand, und dennoch war nichts, wie es hätte sein sollen.

Kapitel 4

Juli 2020

»Wie soll Ihre Kleine heißen?«, fragte die Krankenschwester erwartungsvoll und hielt mit dem Stift über dem Klemmbrett inne.

Ich schätzte ihr Alter auf Mitte Fünfzig; diese Frage hatte sie in ihrem Leben wahrscheinlich bereits tausende Male gestellt. Für sie war es eine Alltagsfrage, mich ließ sie angespannt schlucken. Ein heftiges Ziehen zerriss meinen Unterleib und ich wusste nicht, ob es Nachwehen waren oder die Tatsache, dass ich mir über diese Frage viele Wochen Gedanken gemacht hatte. Sie stellte diese Frage, als wäre das damit verbundene Ausmaß kleiner, als ich es empfand. Mein Bauchgefühl hatte mir, wenn mein Verstand schwieg, in den stillen Nächten einen Namen zugeflüstert.

Bin ich stark genug, mit der Konsequenz zu leben?

Du wirst es wohl herausfinden müssen.

Wir warteten im Untersuchungsraum der Kinderstation auf den Arzt, der die nächste Untersuchung übernehmen würde. Es war die erste, bei der ich dabei sein konnte. Meine Blickhöhe, eingeschränkt durch den lächerlichen Rollstuhl, in dem ich saß, war demütigend. Bei den Versuchen, alleine zu laufen, gehorchten meine Beine nicht. Sie zitterten, schwankten und gaben nach. Mark stand hinter mir, stark wie immer, während ich das Baby in meinen Armen hielt. Zumindest dabei brauchte ich ihn nicht.

»Malou«, sagte ich bestimmt und betrachtete meine Tochter. Es war das erste Mal, dass ich den Namen laut aussprach.

»Ist das eine Abkürzung?«, fragte sie.

»Nein, ist es nicht. Nur Malou.«

»Habe ich gar kein Mitspracherecht?«, raunte Mark an meiner Seite.

»Nein.« Das Wort lag bitter auf meiner Zunge, machte es jedoch nicht weniger wahr.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich seine Schultern anspannten. Mein Körper reagierte mit einem erneuten Ziehen im Bauch, das mich zusammenzucken ließ.

»Okay. Dann trägt sie meinen Nachnamen.«

»Bist du irre?« Mein Kiefergelenk schmerzte und hielt dem inneren Druck kaum stand. »Was glaubst du, passiert, wenn die Personalabteilung die Geburtsurkunde sieht?«

»Dass Marlene und Nina blind waren. So wie ich.«

»Mark, ernsthaft?«, seufzte ich müde.

»Ich bin ernst. Es ist mir egal, was sie denken. Ich wüsste nicht, dass es sie etwas anginge. Ich bin ihr Chef, nicht umgekehrt.«

Nachdenklich betrachtete ich sein Gesicht. »Warum ist dir das wichtig?«

»Weil wir drei den gleichen Namen tragen sollten.«

War das ein Heiratsantrag?

Lass es uns nicht hoffen. Er wäre grauenvoll gewesen.

»Du hast wirklich den Verstand verloren.«

Seine Lippen formten sich zu einer schmalen Linie. »Das glaube ich kaum.«

»Dann bist du größenwahnsinnig.«

»Auch unwahrscheinlich.«

Ich sah ihn an. »Was soll das?«

Er beugte sich zu mir, ignorierte die Krankenschwester, die stumm neben uns stand, und seine Lippen strichen sanft über meine. Mein Puls raste und Übelkeit stieg in mir auf.

»Du siehst es nicht, weil du erschöpft bist von deiner Wahnsinnsleistung der letzten Tage, und deshalb vertagen wir diese Diskussion. Aber es wird so sein. Vertrau mir.«

Ganz sicher nicht.

»Der Schlafmangel vernebelt deine Sinne. Du weißt nicht, was du sagst«, konterte ich und zog mich zurück.

»Das weiß ich sehr genau. Ich hätte dir das Angebot auch gemacht, wenn es nicht mein Kind gewesen wäre. Ich liebe dich, ob du das in diesem Moment sehen kannst oder nicht.«

Nein, ich will es nicht.

Mich erschreckte seine selbstverständliche Art, mit der er von Liebe sprach.

»Trotzdem wäre es der unromantischste Antrag, den ich je gehört habe.«

»Es war ja auch keiner.«

»Gut.« Der Schlagabtausch mit ihm war ermüdend.

Was ist mit ihm passiert? Wieso kann er die Worte sagen, die mir nicht über die Lippen kommen wollen?

Schreist du gedanklich mich oder ihn an?

Beides. Du hättest aufpassen müssen, aber das hast du nicht.

Also ist es meine Schuld?

»Trotzdem sollten wir jetzt die Weichen legen, ein Nachname lässt sich nicht mehr ändern.«

Meine Nerven vibrierten, ein beißender Geschmack stahl sich durch meinen Hals.

Ich kann nicht atmen.

Doch, das kannst du.

Nein! Ich muss hier weg.

»Also?«, fragte die Krankenschwester. »Wie heißt ihr Kind?«

Ich reckte mein Kinn, verdrängte den Schmerz und hielt an meinem Entschluss fest. »Malou Imhof.«

Sein analysierender Blick traf mich unvorbereitet hart. Wie es seine Art war, versuchte er, die Situation zu ergründen.

Muss er seine Finger noch mehr in die Wunde legen? Schick ihn weg.

»Wirst du mir gar keine Zugeständnisse machen?« Er verschränkte seine Arme im Nacken.

Ich nahm seine Enttäuschung wahr, konnte mich jedoch nicht damit auseinandersetzen.

»Nicht bei einer Entscheidung mit dieser Tragweite. Nimmst du Malou bitte?«, presste ich hervor, legte sie ihm in die Arme und drehte meinen Rollstuhl Richtung Tür. »Ich möchte zurück in mein Bett.«

Ich verließ den Raum, bevor er mich aufhalten konnte.

Kapitel 5

Juli 2020

Es klopfte und Tim öffnete seine Wohnungstür. Seine Haare fielen ihm in einem wilden Durcheinander in die Stirn, aber das störte ihn noch weniger als der viel zu lange Bart, der sein Gesicht bedeckte.

»Hallo Sofia, komm rein.«

Er verbeugte sich übertrieben galant und ließ Sofia, die genauso müde aussah wie er sich fühlte, eintreten.

»Hey Tim. Danke.«

»Gib mir deinen Hausstand«, bot er an und nahm ihr die Sporttasche vom Arm, bevor er sie ächzend zu Boden gleiten ließ. »Meine Güte, was hast du alles eingepackt?« Sein Stöhnen war gespielt, doch zu einem Lächeln war er nicht imstande.

Sofias zierliche Schultern zuckten. »Alles. Nichts. Ich wusste nicht, was ich brauchen oder … was mich erwarten würde.«

Sie versuchte gar nicht erst, ein freches Grinsen auf ihre Lippen zu legen. Die halbe Nacht im Zug hatte bei ihr Spuren hinterlassen.

»Wir dürfen noch nicht zu ihr. Wenn du keine Unordnung im Bad machst, kannst du meine Dusche benutzen.«

Ihren Kopf schief legend, sah sie ihn an. »Habe ich es so nötig?«

»Nein, ich wollte nur höflich sein. Du siehst mitgenommen aus, eine warme Dusche wirkt Wunder. Glaub mir.«

Eine Stunde später saßen sie in seiner Küche und starrten in entgegengesetzte Richtungen. Sofia hielt ihre Tasse umklammert, während Tim nach hinten gelehnt aus dem Fenster sah. Unter seinen nackten Füßen spürte er die Kälte des Holzbodens, der ihm keinen Halt gab.

Sie wäre fast gestorben.

Wochenlang hatten sie sich seine Wohnung und ein Leben geteilt, und nur ein dünner Faden hatte ihr den Tod erspart.

Ich war nicht bei ihr, um sie zu beschützen.

Sie hatte sich für Mark entschieden, damit musste er leben. Aber ganz ohne sie zu sein? Das war unmöglich.

Sein Handy vibrierte und in einer fließenden Bewegung nahm er es in die Hand und stand auf. »Mark schreibt, wir können kommen.«

Sofia ließ die Tasse sinken, die sie gedankenversunken an ihre Lippen gehalten hatte. »Warte.«

»Worauf?«, rief er ungeduldig aus dem Flur.

»Wir sollten ihr etwas von hier mitnehmen. Etwas, was ihr den sterilen Krankenhausaufenthalt etwas erträglicher macht.«

Er sah sie ratlos an, bevor er mit langen Schritten in sein Zimmer lief. Mit seinem Kissen unter dem Arm hielt er Sofia die Tür auf. »Los jetzt.«

Wortlos nickte sie, stand auf und ging an ihm vorbei, jedoch nicht, ohne ihn aufmerksam zu betrachten. Er wusste genau, was Sofias Starren aussagte. Es hätte ihn stören sollen, dass sie seine Gefühle lesen konnte, aber er war zu erschöpft, um seine Ruhelosigkeit hinter einer Fassade zu verbergen.

***

»Ich gratuliere dir«, sagte Sofia liebevoll und nahm Kalea vorsichtig in die Arme.

Auch wenn ihre Freundin einen Kopf größer war als sie selbst, wirkte Kalea erschreckend zerbrechlich. Es fiel ihr schwer, sie loszulassen, aber sie wusste, dass sie ihre Sorge um sie herunterschlucken musste. Kalea brauchte eine starke Schulter, kein Nervenbündel, das ihr die Tatsache vor Augen führte, dass es bedrohlich knapp für sie gewesen war.

Sie sah hinab auf Malou, wie sie schlafend in den Armen ihrer Freundin lag. »Sie ist mit Abstand das süßeste Baby, das ich je gesehen habe.«

»Das sehe ich genauso.« In Kaleas Stimme schwang tiefe Müdigkeit mit – und etwas anderes, das Sofia nicht greifen konnte.

Mark stand regungslos neben ihrem Bett und beobachtete sie schweigend.

»Dir gratuliere ich natürlich auch«, wandte sie sich etwas unbeholfen an ihn.

»Danke«, erwiderte er steif.

Sie hatte ihr letztes Gespräch im Büro vor Augen. War es wirklich erst ein paar Tage her? Er war aufgebracht gewesen, als er sie nach Kaleas Verbleiben gefragt hatte. Er hatte sie mit seiner Präsenz gefesselt und sein Körper war bis zum Äußersten gespannt gewesen.

Seine Körpersprache war nun eine andere. Er wirkte … gebrochen, passender konnte sie es nicht beschreiben. Stirnrunzelnd betrachtete sie Kalea mit ihrer Tochter im Arm. Sie schien Mark an ihrer Seite gar nicht wahrzunehmen.

Was war zwischen ihnen passiert? Lag es an Malou? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Die Kleine war perfekt mit allem, was dazu gehörte.

Was hatte Kalea aus der Bahn geworfen?

***

Als Kalea den Rollstuhl neben ihr Bett schob und sich mit zitternden Armen hinaufzog, öffnete Mark leise die Tür und trat ein.

»Malou wird von der Krankenschwester verwöhnt, ich hole sie gleich dort ab. Ich denke, wir sollten reden.«

»Worüber?«, ächzte sie und starrte, auf der Bettkante sitzend, an ihm vorbei.

»Genau darüber. Du siehst mich nicht an.«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Weich mir nicht aus, bitte«, konterte er, um Ruhe bemüht, und bewegte sich auf sie zu.

Er beobachtete sie genau, und je näher er ihr kam, desto mehr verkrampfte sich ihr Körper. Ihre Schultern hoben sich kaum merklich, ihr Oberkörper drehte sich um ein paar Grad von ihm weg, und ihr Kiefer presste sich zusammen, bis ihr sonst voller Mund zu einer harten Linie wurde. Er glaubte nicht, dass sie es bewusst tat oder, das war noch abwegiger, mit Absicht. Vielmehr schien es ein Reflex, ein Instinkt zu sein. Ganz so, als müsste sie sich vor ihm schützen. Sie brauchte keine Worte, um ihn ihre Ablehnung spüren zu lassen. Er hatte es viele Male beobachtet, wie seine Nähe gegenteilige Reaktionen ausgelöst hatte; wie eine Berührung gereicht hatte, sie und sich selbst unter Strom zu setzen und alles andere vergessen zu lassen. Wie er ihre Nähe gesucht hatte und sie seine. Doch nun, da sie einander gestattet hatten, offen in den Gefühlen des anderen zu lesen, verschloss sie sich ihm. Sein Herz krampfte sich zusammen, äußerlich blieb er ruhig.

Er kniete vor ihr, berührte sie jedoch nicht. »Erzähl mir, was dich quält, Kalea«, bat er sanft.

»Ich kann nicht«, flüsterte sie und schien weit weg zu sein. Weit weg von ihm.

»Versuch es. Bitte. Für mich.«

Bei seinem letzten Wort zuckte sie heftig zusammen. Als hätte sie ihm ins Gesicht geschlagen, taumelte er zurück. »Ist es das? Bin ich es? Habe ich etwas Falsches gesagt oder getan?«

Sie saß wie eine Statue vor ihm, steif und unnahbar. Nie zuvor hatte er diese tiefe Hilflosigkeit gespürt und den Wunsch, dass sie etwas sagte.

Sie schwiegen, während Marks Beine durch die gebückte Haltung taub wurden. Er wagte es nicht, sich zu bewegen. Hier lief etwas gewaltig schief, und jeder Schritt in die falsche Richtung wäre fatal gewesen.

Er legte seine Hand auf ihre. »Kalea?«

»Mark, ich kann nicht«, keuchte sie.

»Was kannst du nicht?«

Sie schluckte und suchte nach den richtigen Worten. »Deine Berührung. Sie ist zu viel.«

Mark zog seine Hand zurück, stand jedoch nicht auf. Seine Augen suchten unter ihren gesenkten Lidern nach einer Verbindung, irgendetwas, was ihn verstehen ließ, warum sie sich ihm entzog.

»Okay, hör mir zu.« Er hielt kurz inne, schloss die Augen und atmete tief durch. »Ich sehe, dass etwas an dir zehrt, und diesen Schmerz würde ich dir gerne nehmen. Wir sind ein Team, erinnerst du dich?«

Sie lachte - ein hohles, freudloses Lachen. In ihren Worten schwangen Bitterkeit und Verzweiflung, als sie endlich ihren Blick hob. »Nein, wir sind kein Team. Ich bin gar nichts.«

»Du bist mehr als nichts, du hast deine eigenen Grenzen herausgefordert und unsere Tochter geboren. Du bist Alles.« Seine Welt stand Kopf, er verstand es nicht, konnte ihre Worte nicht einordnen.

»Ich habe versagt«, hauchte sie und sah ihn endlich an.

In ihrer Miene war nichts, was er hätte lesen können, wieder sah sie durch ihn hindurch. Er sah keine Wärme, kein Anzeichen dafür, dass sie ihn brauchte oder wollte.

Nichts.

Er wollte sie berühren, sie schütteln, wenn es sein musste, um diese ihm fremde Frau von seiner zu trennen.

Die Verzweiflung bahnte sich ihren Weg und brach aus ihm heraus. »Ich war da! Ich habe gesehen, wie du über dich hinausgewachsen bist!«

Er legte seine Hand an ihre Wange, doch als hätte er eine unsichtbare Grenze überschritten, fuhr sie hoch.

»Fass mich nicht an«, schrie sie und die Gefühle, die sie die letzten Tage sorgsam vor ihm verschlossen hatte, kämpften sich an die Oberfläche. »Ja, du warst da, und ich habe losgelassen und alles lief schief. Alles ist verschwommen in meinem Kopf, ich kann die Gefühle nicht zulassen. Verstehst du das denn nicht? Es tut weh! Ich sehe dich an und die Bilder erdrücken mich. Ich wusste, dass es schiefgehen würde, wenn ich es zulasse, dich zu lieben. Ich zerstöre alles. Meine Mutter, meinen Vater, mich selbst.«

Wie erstarrt sah er sie an. Lange schwieg er, unfähig, ihre Worte zu verarbeiten. »Du hast mir nie gesagt, dass du mich liebst und jetzt, wo du die Worte aussprichst, klingen sie wie eine Beschimpfung.«

Er verstand ihre Wut, er empfand sie gleichermaßen, aber aus ganz anderen Gründen. Er hätte sie beschützen müssen, doch stattdessen war er zu ohnmächtiger Tatenlosigkeit verdammt gewesen.

Sie hustete, und ihre Stimme schwebte eine Oktave höher durch den Raum. »Die letzten Monate war ich wie betäubt, ich habe funktioniert und meinen Job gemacht. Erst kam der Lockdown, der Abstand zu dir und als makabrer Abschluss einer langen Reihe von Fehlentscheidungen der Tod meines Vaters, der mich an den Rand des Erträglichen getrieben hat. Und dann wurde Malou geboren und du warst da und alle Gefühle, die ich sorgsam verschlossen hatte, brachen heraus und hinterließen Wunden.« Die Worte strengten sie an, Schweiß glänzte auf ihrer Stirn, und ihre Stimme brach mehrmals. Trotzdem sprach sie weiter. »Und jetzt fühle ich so viel – zu vieles, was ich gar nicht fühlen will. So viel Schmerz, so viel Angst, so viele Was-wäre-Wenn. Es ist, als läge meine innere Welt frei, mit Brandblasen übersäht tropft heißes Wasser darauf und ich verliere den Verstand vor lauter Schmerzen.«

Er sah sie an, sah ihren Kampf mit sich selbst und fühlte die erdrückende Last, die sie von ihm wegzog. Sie war ihm beinahe entrissen worden und die Angst, die er empfunden hatte, als er die scheinbar endlosen Stunden durch den Kreißsaal getigert war, mit seinem Baby auf dem Arm, ohne zu wissen, wie es ihr ging, ließ ihn hart schlucken.

Er wusste, sie stieß ihn weg, um sich selbst zu schützen. Ohne es zu wollen, war er zum Katalysator für ihren Verlust geworden. Er konnte nicht zulassen, dass sie ihm entglitt.

»Kalea, sieh mich an. Du bist hier. Sie ist hier. Du hast nicht aufgegeben. Lass mich dir helfen, den Schmerz auszuhalten.«

Ihr Blick ruhte auf ihm, leer und voller Bedauern. »Ich sehe dich an, und es ist, als hättest du meine Mauer zerstört. Ich kann sie in deiner Nähe nicht mehr aufrechterhalten, aber dadurch fühle ich all das.«

»Das heißt, du weist mich ab, weil ich dich fühlen lasse?«

»Ja, und zwar den schlimmsten Moment meines Lebens. Immer wieder.«

Das saß.

Kapitel 6

Dezember 1997

Alex schlief nicht ein, obwohl die Nacht schon bald von der Morgendämmerung abgelöst werden würde. Er hielt die Augen offen, starrte an die Decke und ließ die Stunden an sich vorbeiziehen mit dem Gefühl, in einer Parallelwelt festzustecken. In einem surrealen Bild von Dalí gefangen, in dem Raum und Zeit verschwammen und eine seltsame Realität formten.

Vertrau mir.

Malous Worte hallten in seinem Kopf wider. Es waren ihre letzten Worte an ihn, es würden keine weiteren folgen, ihr Kontingent war erschöpft.

Sie lag neben ihm, schlief ein letztes Mal in seinem Bett, erfüllte es mit einer Wärme, die er weder für sich noch für Kalea würde bewahren können. Er zählte ihre tiefen Atemzüge, die ihm seit zwölf Jahren vertraut waren.

Die Melodie der Nacht würde sich ab morgen verändern, eine andere werden und er fragte sich, wie die Zeit vor ihr gewesen war. Er konnte sich nicht daran erinnern, obwohl er mehr Zeit seines Lebens ohne sie statt mit ihr verbracht hatte.

Es konnte nicht wirklich passieren.

Doch das tat es.

Der irrationale Teil in ihm redete sich ein, dass er das Unvermeidliche würde aufhalten können, wenn er nur nicht einschlief.

Erst in den Morgenstunden siegte der Schlaf und entführte ihn in eine traumlose Welt.

Als er wenige Stunden später erwachte, war sie fort.

Vertrau mir.

Mit schweren Lidern und dem grauenvollen Wissen, dass es jeden Moment klingeln könnte, saß er auf dem Badewannenrand und hielt sich mühsam aufrecht. Er beobachtete Kalea, die nichts von seinem inneren Aufruhr ahnte. Er würde es ihr sagen, wenn er ganz sicher war. Wenn es keine Hoffnung mehr auf ein Wunder gab. Nur dann würde er ihre Welt einstürzen lassen, um sie aufzufangen und neu aufzubauen.

Nun hieß es für ihn, zu warten, bis sie kamen.

***

Ich saß in der Badewanne und ließ meine Barbie im warmen Wasser untertauchen. Es war toll, dass Papa mir erlaubt hatte, sie mitzunehmen, eigentlich hieß es für mein Spielzeug ‚am Wannenrand ist stopp‘. Die Sonne war noch gar nicht richtig aufgegangen und heute hatten wir frei. Ich liebte die Wochenenden, wenn wir zusammen waren und Blödsinn machten. Papa war heute Morgen nicht lustig, aber das machte nichts. War er traurig, weil Mama gestern gesagt hatte, dass sie in die Wolken gehen würde? Ich glaubte nicht, dass sie das tun würde, dafür war der Tag gestern zu schön gewesen. Wir hatten gekuschelt, und sie hatte mit mir geredet, bis mir die Augen zugefallen waren. Warum sollte sie gehen, wenn sie bei uns alles hatte?

Direkt nach dem Aufstehen hatte Papa mich ins Badezimmer gerufen und wir schmissen bunte Badeperlen in das Wasser. Jetzt schwamm ich in einem lila Zaubertrank, weil ich vergessen hatte, dass die blaue und rote Farbe sich vermischen würden. Papa saß neben mir, so, wie er es immer tat. Zwischen dem Plätschern und Knistern der Blubberblasen hörte ich ein Klopfen an der Tür, und Papas schnelle Bewegung, als er aufstand, ließ mich hochschrecken.

»Kalea, bleib hier, ich bin gleich zurück. Egal, was du hörst, du bleibst im Bad, verstanden?«

»Okay.« Was dachte er denn? Dass ich ihm nackig an die Tür folgte? Manchmal war er wirklich komisch.

Kichernd tauchte ich meine Barbie wieder und wieder ins Wasser, ließ sie schwimmen, und prustend kam sie an die Oberfläche. Ich ließ ihren Hinterkopf unter Wasser, weil ihre Haare wie bei Arielle um ihren Kopf wirbelten und ganz weich aussahen.

Ob das bei mir auch so war? Ich strich mit meinen nassen Fingern über meine krausen Locken und rümpfte die Nase. Niemand in meiner Klasse hatte solche Haare wie ich, die meisten hatten blonde oder braune Haare, die gerade hinabhingen wie Spaghetti. Wenn Mama sie mir nicht am Kopf flocht oder kleine Zöpfe drehte, standen sie in alle Richtungen ab. Es ziepte und manchmal stiegen mir Tränen in die Augen, aber lieber sagte ich Mama nichts, denn ich wollte auch, dass meine Haare glatt hinabhingen.

Ich hörte Papas Stimme im Flur, sie klang sehr ernst. Mit wem er sich wohl unterhielt? Vielleicht war Mama zurück? Nein, das konnte nicht sein, es waren mehrere Stimmen, eine davon klang wie ein Mann, der sprach, wie Erwachsene es eben tun.

Sie störten mich.

Ich ließ mich wie meine Barbie mit dem Rücken ins Wasser fallen, spritzte aus Versehen das Wasser bis auf die Fliesen neben der Wanne und mein Kopf sank nach hinten, bis nur noch mein Gesicht aus dem Wasser guckte. Die Stimmen wurden unter der Wasseroberfläche zu einem undeutlichen Murmeln. Ich stellte mir vor, wie ihre Worte als Blasen durch das Wasser trieben und eine lustige Melodie spielten, wenn sie platzten.

Lächelnd trieb ich vor mich hin.

Papa war noch nicht zurück, und ich griff nach meinen Haaren. Sie fühlten sich weicher an und wirbelten um meinen Kopf. Sie streckten sich und waren, wenn ich mit den Fingern durch sie hindurchfuhr, doppelt so lang wie sonst. Ich hatte Zauberhaare, sagte Mama. Vielleicht konnte ich Arielle sein?

Ich sah an die Badezimmerdecke, bewegte meine Hände in kleinen Kreisen und ließ sie Wellen schlagen, die gegen meinen Bauch platschten. Die Haare meiner Barbie kitzelten an meiner Seite und ich grinste.

Durch das Fenster, das zur Straße zeigte, sah ich blaues Licht aufleuchten, das die Badezimmerdecke wie das Meer schimmern ließ. Ich schloss meine Augen und stellte mir vor, wie ich tief im Meer schwamm und das Blinken die Sonnenstrahlen auf dem Meeresgrund waren. Über mir segelte das Schiff eines Prinzen dahin und ich war die kleine Meerjungfrau, die davon träumte, die Welt zu entdecken und sich zu verlieben.

Lieben musste etwas Besonderes sein.

Das Blaulicht war noch da, als ich meine Augen öffnete, und das Wasser dämpfte schnelle Schritte vor der Badezimmertür. Jemand ging an ihr vorbei, aber ich regte mich nicht. In Gedanken versteckte ich mich vor Sebastian, der Krabbe, und floh mit meinem Fischfreund in meine geheime Höhle, in der ich meine Schätze hütete. Ich wünschte, ich könnte genauso mutig sein wie Arielle.