Wenn ich tanzen will - Gaby Hauptmann - E-Book

Wenn ich tanzen will E-Book

Gaby Hauptmann

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Beschreibung

Die Swinging 60s in Konstanz – Sehnsuchtsort Bodensee Die Swinging 60s in Konstanz – Sehnsuchtsort Bodensee Im Radio spielen sie englische Schlager, und die Kleider der anderen Frauen sind so aufregend wie noch nie. Und auch Evas Leben fängt gerade erst richtig an – da stirbt ihr Vater unter mysteriösen Umständen, und sie muss seinen ungeliebten Pfandleihladen übernehmen. Dabei hat sie ganz andere Träume: Sie möchte die Welt sehen, sich verlieben, zu all den neuen Liedern tanzen gehen. Und so schnell will sie nicht aufgeben, sie weiß auch schon, wie das gelingen kann, sogar in ihrer geliebten Heimat Konstanz, wo manch einer schon noch hinter dem Mond lebt. Nur eins weiß sie noch nicht: Die Musik wird der Schlüssel sein für sie. Denn Eva ist mutig genug, um auf alle Konventionen zu pfeifen ...

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Eva wollte …

Dienstag, 17. Mai 1960

Mittwoch, 18. Mai 1960

Donnerstag, 19. Mai 1960

Freitag, 20. Mai 1960

Samstag, 21. Mai 1960

Montag, 23. Mai 1960

Freitag, 27. Mai 1960

Samstag, 28. Mai 1960

Sonntag, 29. Mai 1960

Mittwoch, 1. Juni 1960

Donnerstag, 2. Juni 1960

Freitag, 3. Juni 1960

Sonntag, 5. Juni 1960

Montag, 6. Juni 1960

Dienstag, 7. Juni 1960

Freitag, 10. Juni 1960

Samstag, 11. Juni 1960

Mittwoch, 15. Juni 1960

Freitag, 17. Juni 1960

Samstag, 18. Juni 1960

Montag, 20. Juni 1960

Mittwoch, 22. Juni 1960

Donnerstag, 23. Juni 1960

Freitag, 24. Juni 1960

Samstag, 25. Juni 1960

Sonntag, 26. Juni 1960

Montag, 27. Juni 1960

Mittwoch, 29. Juni 1960

Donnerstag, 30. Juni 1960

Freitag, 1. Juli 1960

Samstag, 2. Juli 1960

Sonntag, 3. Juli 1960

Montag, 4. Juli 1960

Samstag, 9. Juli 1960

Die Geschichte zum Buch

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Widmung

Für meine Tochter Valeska und meine ganze, tolle Familie ❤

Eva wollte …

Eva wollte gerade den Vorhang zum Verkaufsraum zur Seite schieben, als sie eine barsche Stimme hörte und stehen blieb.

»Du schaffst die Uhr meines Vaters wieder her!«

Es klang bedrohlich. Unheilvoll.

Eva rührte sich nicht.

»Und ich habe dir gesagt, du hast die Zeit verstreichen lassen, warst nie hier. Sie ist auf der letzten Auktion weggegangen. Zu einem guten Preis. Du bekommst noch Geld!«

»Ich will das Geld nicht! Ich brauch die Uhr! Hier …« Eva hörte ein Klatschen auf dem harten Holz der Theke. »Die zweihundert Mark, die du mir dafür gegeben hast.«

»Zu spät!« Dem Geräusch nach schob ihr Vater das Geld wieder zurück.

Leise schob Eva den Vorhang etwas zur Seite, sodass sie in den Raum spähen konnte. Im Gegenlicht, das durch die kleinen Fenster fiel, sah sie den schmalen Rücken ihres Vaters und vor ihm wie einen unscharfen Scherenschnitt eine breite Männergestalt.

»Du weißt, wer die Uhr ersteigert hat! Schaff sie her. Mein Vater hat den Verlust bemerkt, die Hölle ist los, wenn sie nicht zurückkommt!«

»Das geht nicht. Es ist nun das rechtmäßige Eigentum des Käufers!«

Der Mann schoss vor, beugte sich über die Theke und packte ihren Vater am Revers. Eva konnte einen Aufschrei unterdrücken, ihre Hand verkrampfte sich im Vorhangstoff.

»Ich meine es ernst!«

Die Stimme ihres Vaters klang gequetscht.

»Ich kannte den Käufer nicht. Er hat mehrere Stücke ersteigert.«

»Dann mach ihn ausfindig! Du führst doch Buch! Hier liegen die zweihundert Mark!« Er schwieg einen Moment, dann schob er drohend nach: »Und Gnade dir Gott, wenn … Ich komme wieder. In zwei Tagen ist die Uhr wieder da. Und zwar genau die Uhr!«

Damit ließ er ihren Vater los, der sich langsam streckte, und ging an den Vitrinen vorbei zur Tür. Ein heftiges Gebimmel der kleinen Türglocke, dann war er verschwunden.

Eva trat in den Verkaufsraum.

»Was war denn das?«

Ihr Vater drehte sich nach ihr um, lockerte die Krawatte, die er unter seiner Weste trug, räusperte sich und holte tief Luft.

»Geht’s dir gut? Wer ist dieser Kerl?«

Doch ihr Vater winkte ab.

»Ein elender, ewiger Spieler. Um seine Spielschulden zu bezahlen, hat er die goldene Armbanduhr seines Vaters versetzt. Ich habe sie sowieso länger aufbewahrt, als ich gemusst hätte. Jetzt hat sein Vater den Diebstahl seines Sohnes wohl bemerkt …«

»Aber der ist doch gefährlich!«

Ihr Vater ging an ihr vorbei zur Eingangstür, schloss ab und drehte das Schild um, das in dem kleinen, vergitterten Fenster in der Tür angebracht war.

»So. Geschlossen. Es ist ohnehin schon Abend.« Er drehte sich zu Eva um. »Haben wir noch irgendwas zum Abendbrot außer altem Brot und ranziger Butter?«

Eva lachte. Sie sah es als Versuch ihres Vaters, die düstere Stimmung zu vertreiben. Trotzdem rieb sie sich die nackten Unterarme. Sie fror. Aber mehr von innen.

»Robin wollte nach der Schule einkaufen, hat er gesagt.«

Ihr Vater schenkte ihr ein müdes Lächeln. »Du kennst doch deinen Bruder! Das wird nie was!«

Eva sah zur Wanduhr. »Na gut, gleich ist Ladenschluss, aber ich schaff’s noch zum Metzger. Brot ist oben. Butter auch!«

Eva ließ der Furcht einflößende Auftritt dieses Mannes nicht los. Sie lag im Bett und konnte nicht einschlafen. Sie hörte Robin die knarzende Treppe zu seiner Kammer hochschleichen, sie hörte die Münsterglocke elf Uhr schlagen, draußen, in der engen Gasse, balgten sich zwei fauchende Kater, sie zog sich die Decke über das Gesicht, aber es nützte alles nichts, die Gedanken waren da. Dieser Mann heute … der hatte ihr schon einen gehörigen Schrecken eingejagt. Gut, ein Pfandhaus barg immer Risiken, das hatte ihr Vater schon oft betont. Aber so handgreiflich? So bedrohlich?

Direkt nach dem Krieg hatte ihr Pfandleihhaus floriert. Die meisten Flüchtlinge, die nach Konstanz kamen, trugen zwar nur noch das Nötigste am Leib, aber manche hatten eben doch noch etwas Wertvolles retten können. Und auch etliche Einheimische brauchten dringend Geld. Dazu die Soldaten, die nach und nach aus dem Krieg zurückkamen, auch sie gingen zu Ewald König. Alles Mögliche wurde versetzt, so manch kostbare Andenken wanderten bei ihrem Vater über den Tisch, und immer schwebte die Hoffnung im Raum, es zurückkaufen zu können. Damals war das Leben für ihre Eltern leicht gewesen.

Doch nun war 1960. Der Krieg war seit 15 Jahren vorbei, der Wohlstand wuchs, viele Deutsche konnten sich wieder etwas leisten. Ihre Einnahmen dagegen gingen zurück. Und seitdem ihre Mutter, die ihrem Mann stets den Rücken freigehalten hatte, an Tuberkulose erkrankt war, war das Leben für ihren Vater so gar nicht mehr leicht. Und für Eva auch nicht.

Einzig Evas Bruder lebte unbekümmert in den Tag hinein, obwohl er mit seinen 16 Jahren auch schon mehr Verantwortung übernehmen könnte, fand Eva. Aber er interessierte sich vor allem für seine Freunde, für Fußball, für Rock ’n’ Roll und für alles, was aus Amerika herüberschwappte. Vor allem sah er in Elvis ein Idol und brauchte morgens vor dem kleinen Badezimmerspiegel ewig Zeit, bis seine Tolle richtig saß. Eva lachte darüber, doch ihr Vater regte sich ständig über ihn auf.

»Ihm fehlt die Mutter!«, erklärte er ein ums andere Mal, aber sein Klagen nützte nichts, Emma, seine Frau, war vor einem Jahr in eine Lungenheilstätte im Schwarzwald eingewiesen worden, und nun warteten alle darauf, dass die Höhenlage und das dortige Klima Besserung bringen würden. Bisher sah es aber nicht danach aus. Und für ständige Besuche war Sankt Blasien von Konstanz aus zu weit entfernt.

Eva drehte sich auf den Bauch und klopfte ihr unförmiges Kissen zurecht.

Es musste eben so gehen. Vieles musste eben auch so gehen. Vor allem bei ihr. Wie hatte ihr Vater so schön gesagt, als sie unbedingt aufs Gymnasium wollte: Das brauchst du nicht. Mach die Volksschule fertig, das reicht. Vielleicht noch die Handelsschule hinterher, dann kannst du mir bei der Buchhaltung helfen. Du wirst sowieso mal heiraten.

Ihre Mutter hatte keine Einwände gehabt. Sie hatte nie Einwände, wenn ihr Vater etwas beschloss. Auch Evas inständiges Bitten, zumindest einen Versuch auf dem Gymnasium machen zu dürfen, denn sie hatte ja gute Noten, war fruchtlos geblieben. Nach ihrem Abschluss an der Handelsschule suchte ihr Vater eine Stelle als Sekretärin für sie und stellte sie schließlich vor die Wahl: entweder Stromeyer mit der Produktion von Zelten, Textilien und Gewebe, Faber-Castell mit seinen Stiften oder die Willy-Weber-Fabrik, die auf Metallwaren und technische Federn spezialisiert war. Wenn es schon sein musste, dann lieber Textilien als Stahlfedern, fand Eva, und so fing sie widerstrebend in der großen Fabrik am Konstanzer Rheinufer an. Da war sie siebzehn.

Drei Jahre arbeitete sie nun schon für die Firma am Rheinufer, die Zelte und wetterfeste Bekleidung herstellte, und war dann doch ziemlich stolz, als »ihr« Stromeyer den Auftrag bekam, mit ihren Planen und textilen Überdachungen den Zentralbaldachin für die Altarinsel auf der Münchner Theresienwiese zu gestalten. Immerhin ging es dabei um den Eucharistischen Weltkongress, und es war ein wirklich großes Projekt, an dem sie teilhaben durfte. Wenn auch nur vom Büro aus, aber immerhin.

Trotzdem hatte sie ihrer Kollegin kichernd zugeflüstert: »Lieber würde ich zum Oktoberfest auf die Theresienwiese fahren als zu einem kirchlichen Ereignis«, aber beide wussten, dass das so oder so nur ein Traum war.

Dienstag, 17. Mai 1960

Über die Tage vergaß Eva den Vorfall mit Vaters seltsamem Kunden. Sie fuhr morgens wie gewöhnlich mit dem Fahrrad über die Rheinbrücke am Ufer entlang zur Arbeit und war froh, dass der Morgen einen sonnigen Tag ankündigte, dann wurde ihr Kleid, das sie nur zur Arbeit trug und sehr schonte, nicht nass oder schmutzig.

Ruth war schon da und machte ein geheimnisvolles Gesicht, als Eva eintrat.

»Rate mal«, flüsterte sie, kaum dass Eva die Türe hinter sich geschlossen hatte.

»Du darfst zum Diktat zum Chef«, mutmaßte Eva und ging durch den kleinen Raum zu ihrem klobigen Schreibtisch, der Ruths Schreibtisch gegenüberstand. Bevor sie sich setzte, prüfte sie mit dem Zeigefinger die Erde der Pflanzen auf der Fensterbank, nickte zufrieden und zog sich ihren Stuhl heran.

Ruth beobachtete sie vornübergebeugt. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, zwei Jahre älter als Eva, und ging mit ihren am Hinterkopf hochtoupierten Haaren ganz mit der Mode, wie sie Eva gegenüber immer wieder betonte. Eva nickte dann nur und dachte an Robin und seine Tolle. Ihr waren solche Frisuren zu aufwendig, sie trug ihre dunkelblonden Haare einfach schulterlang und offen.

Ruth begann mit den Fingern auf die hölzerne Schreibtischplatte zu trommeln.

»Interessiert es dich denn überhaupt nicht?«

»Doch, schon«, gab Eva zurück und verkniff es sich, ihre Schublade aufzuziehen und ihre Schreibutensilien zurechtzulegen. »Hat dich Friedrich nun endlich bemerkt?«

Georg Friedrich war die rechte Hand des Chefs, Manfred Stromeyer. Der hatte noch zwei Söhne mit in der Firma, aber die waren mit anderen Aufgaben betraut und quasi unerreichbar. Friedrich dagegen war allgegenwärtig und schien vor Kraft und Elan nur so zu strotzen, wobei Eva fand, dass er mit seinen über 40 Lenzen den jugendlichen Elan nur vortäuschte. Aber wie fast alle weiblichen Angestellten fand Ruth ihn hinreißend.

Ruth machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ach der, nein«, nun flüsterte sie, »der holt mich nie zum Diktat. Der hat doch sein Fräulein Anneliese.« Den Namen flötete sie. »Nein, ich habe jemanden kennengelernt. Am Hörnle!« Sie richtete sich auf. »Eigentlich wollte ich mir dort am Kiosk nur eine Fanta holen, da kam er aus dem Wasser.« Sie hob bedeutungsvoll die Augenbrauen. »Aus dem Wasser! Stell dir vor! Das ist doch noch richtig kalt!«

»Na, dann hast du ja gleich alles gesehen!« Nun zog Eva doch die Schublade auf, nahm ihren Schreibblock heraus und spannte einen Bogen Papier in ihre Schreibmaschine.

»Und ob!« Ruth lächelte. »Ein echter Kerl. Breite Brust, schlanke Hüfte, schwarze Haare …« Sie kicherte. »An der richtigen Stelle … ich sage dir, das ist …«

Die Tür ging auf, Georg Friedrich stand im Türrahmen.

»Guten Morgen«, sagte er knapp, Ruth erschrak heftig und drehte sich nach ihm um. »Schon bei der Arbeit?«, fragte er und warf ihr einen kritischen Blick zu. Ruth lief rot an, aber Friedrich beachtete sie nicht weiter.

»Fräulein König«, sagte er stattdessen zu Eva, »wenn Sie mitkommen würden?«

Eva schluckte und griff nach ihrem Block und einem ihrer angespitzten Bleistifte.

»Nein, das ist nicht nötig.« Er nickte ihr zu, und sein Ton wurde freundlicher. »Es geht um etwas anderes.«

Eva stand auf, strich ihr knielanges, gemustertes Etuikleid glatt, stieß im Vorbeigehen gegen die Kante ihres Schreibtisches, war aber so aufgeregt, dass sie es nicht wahrnahm. Sie spürte nur noch Ruths Blick in ihrem Rücken, als sie hinter Friedrich hinausging.

Sie gingen den engen, von nur wenigen Lampen erhellten Gang entlang. Eva sah seinen Rücken, roch das Bohnerwachs, ging an den Türen vorbei, die in andere Büros führten, und überlegte die ganze Zeit, was das bedeuten konnte. Hatte sie etwas falsch gemacht? Fehler im Diktat? Briefe nicht rechtzeitig abgeschickt? Termine falsch gelegt? Sie war sich keiner Schuld bewusst.

Im weiträumigen, durch große Fenster erhellten Treppenhaus angekommen sah er sich kurz nach ihr um.

»Wir gehen in mein Büro!«, bestimmte er und schritt die Treppen zügig hoch. Nun wurde es Eva doch mulmig. Im zweiten Stock war sie noch nie gewesen, dort hatten die leitenden Herren und die Chefsekretärin ihre Büros. Sie selbst war damals von der Personalabteilung eingestellt worden. Es musste etwas Schwerwiegendes sein. Wieder dachte sie über sich nach, während sie sich bemühte, mit ihm Schritt zu halten. Ihr Kleid war für so große Schritte einfach zu eng.

Würde er ihr kündigen? Aber nein, das würde die Personalabteilung machen. Wurde sie befördert? Schön wär’s, aber dazu gab es leider keinen Anlass. Sie hatte eigentlich noch nichts Besonderes vorzuweisen.

Oben angekommen sah er sich nach ihr um.

»Bin ich zu schnell?« Seine breite Stirn zog sich kurz in Falten, dann warf er ihr ein aufmunterndes Lächeln zu. »Gleich sind wir da.«

Seine Vorzimmerdame, Fräulein Anneliese, wie Ruth geflötet hatte, nickte ihnen beim Eintreten freundlich zu.

»Fräulein Schwarz, bringen Sie uns bitte zwei Kaffee, und sorgen Sie dafür, dass wir in der nächsten Viertelstunde nicht gestört werden.«

Eva mochte keinen Kaffee, aber sie traute es sich nicht zu sagen. Friedrich ging auf eine gepolsterte Tür zu, die angelehnt war, und hielt sie für Eva auf.

»Bitte«, sagte er.

Eva trat an ihm vorbei ins Zimmer und holte erst mal tief Luft. Ein solch großes und edel eingerichtetes Büro hatte sie noch nie gesehen. Ein gewaltiger Schreibtisch, eine Sitzgruppe aus dunkelbraunem Leder und an den Wänden moderne Malerei. Die Fensterfront zeigte zum Rhein und dem gegenüberliegenden Ufer.

»Bitte«, sagte er erneut und wies zu der Sitzgruppe. Eva ging zögernd zu einem der tiefen Sessel und setzte sich auf die Kante. Friedrich nahm ihr gegenüber Platz. Er griff sich an seinen Krawattenknoten, der akkurat unter seiner dunkelblauen Weste am weißen Hemdkragen saß, dann betrachtete er kurz seine Hände, bevor er seinen Blick auf Eva richtete.

»Fräulein König«, begann er schließlich, unterbrach sich aber gleich wieder, weil seine Sekretärin den Kaffee brachte.

»Bitte sehr«, sagte sie, schenkte Eva einen aufmunternden Blick und zog sich zurück.

Eva wurde es ganz anders. Was war los?

»Fräulein König«, begann Friedrich erneut und sah sie über den kleinen Tisch hinweg einen Moment forschend an, bevor er weitersprach. »Ich wollte Sie persönlich sprechen, weil ich ein Aufsehen vermeiden will. In Ihrem und in unserem Interesse.«

Eva entgegnete nichts, ihre Anspannung wuchs so sehr, dass sie zu frieren begann.

»Nehmen Sie doch erst einmal einen Schluck.« Friedrich wies auf die feine blau-weiß gemusterte Porzellantasse, die vor ihr stand. Eva befürchtete, ihre Hände könnten zittern, aber sie griff folgsam danach und trank einen kleinen Schluck. Es schmeckte bitter.

»Nun«, Friedrich hatte seine Tasse wieder abgestellt, »es ist etwas Tragisches passiert. Etwas, das ich Ihnen selbst sagen will. Deshalb habe ich die Polizeibeamten abgehalten, wie schon gesagt, in unserem und in Ihrem Interesse.«

»Polizeibeamten?«, fragte Eva und spürte die Kälte ihren Rücken hinaufkriechen.

»Ja, es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen«, er holte tief Luft, »dass Ihr Vater heute Morgen aufgefunden worden ist. Tot.«

»Tot?« Eva sprach es nach, verstand es aber nicht. »Wieso denn tot?«

»Die genauen Umstände sind noch unklar. In der Altstadt. Wie und von wem, das ermittelt die Polizei noch.«

»Mein Vater? Tot?«

Friedrich nickte.

Eva schluckte. »Und da gibt es keinen Zweifel?«

»Die Polizei hat hier angerufen, sie wollten kommen, um Ihnen … Aber das habe ich ja schon gesagt. Und um Sie zu verhören.«

»Aber wieso … warum denn mich?« Eva fasste mit beiden Händen an ihren Bauch. »Das kann doch gar nicht sein.«

Friedrich sagte zunächst nichts, dann legte er den Kopf etwas schief.

»Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass er die Nacht nicht zu Hause war? Oder Ihrer Mutter?«

»Ich … wir … er hat sein Schlafzimmer … und meine Mutter ist im Sanatorium. Und er frühstückt später als ich … morgens sehen wir uns nie«, sagte sie zögernd, mit den Gedanken ganz woanders.

»Aber gestern Abend?«

»Wir haben zusammen abendgegessen, dann ist er … dann bin ich ins Bett.« Sie musste ja nicht sagen, dass er abends gern zum Kartenspiel zu Küfers Fritz ging und dort auch gern mal ein Gläschen mehr trank.

»Tja!« Friedrichs eisgraue Augen suchten ihre. »Mein herzliches Beileid, Fräulein König.« Er zögerte. Dann sprach er weiter. »Es ist wohl angemessen, wenn Sie den Rest der Woche zu Hause bleiben. Sie werden aufs Polizeirevier müssen, Sie werden einiges zu erledigen haben, heute ist Dienstag, ich habe das mit Herrn Stromeyer besprochen, wir geben Ihnen für den Rest der Woche frei, damit Sie Ihre Angelegenheiten entsprechend regeln können.«

Er trank noch einen Schluck, dann stand er auf, während Eva wie angewurzelt sitzen blieb. Langsam sah sie an ihm hoch.

»Ist das wirklich wahr? Wirklich wahr? Mein Vater …?«

»So leid es mir tut, Fräulein König.« Er blickte auf sie hinunter. »Wenn ich irgendetwas für Sie tun kann?«

Eva schüttelte den Kopf.

Als sie von dem Sessel aufstand, fühlte sie sich tonnenschwer. Kein Muskel schien ihr mehr zu gehorchen, nicht einmal ihr Gehirn wollte noch arbeiten, sie konnte keinen Gedanken fassen, alles fühlte sich dumpf an, wie eine Marionette, die kein eigenes Leben hat.

Wie sie hinausgekommen war, wusste sie nachher nicht mehr. Auch nicht, was sie zu Ruth gesagt hatte, als sie ihre Handtasche holte. Sie kam erst wieder zu sich, als sie in der Tirolergasse vor ihrem kleinen Geschäft stand.

»Geschlossen«, verkündete das Schild hinter den Gitterstäben.

Geschlossen, dachte sie, während sie um die Hausecke herum in die schmale Feuergasse zur Haustüre ging und aufsperrte. Geschlossen, das schien der einzige Gedanke zu sein, den ihr Gehirn noch zuließ. Auf der dunklen Holztreppe, die vom Geschäft hinauf in die Wohnküche und zu ihrem Zimmer führte, blieb sie erst stehen, dann ließ sie sich auf eine der schmalen Holzdielen sinken und schlug die Hände vors Gesicht.

Wie konnte das sein?, hämmerte es in ihrem Kopf. War das wirklich wahr? Einem Impuls folgend stand sie auf, ging die Treppen wieder hinunter, öffnete die Tür zum Verkaufsraum, durchquerte den kleinen Vorraum mit den vollgestopften Regalen, dem großen Tresor und den Geschäfts- und Kontobüchern und blieb vor dem Vorhang stehen. Dann schob sie ihn langsam beiseite. Alles wie immer. Nur düster, denn ihr Vater schaltete morgens stets die Lampen ein, auch im Sommer, weil die gegenüberliegenden Häuser das Licht nahmen.

So blieb sie eine Weile stehen.

Und plötzlich lief die Szene von vor ein paar Tagen vor ihren Augen ab. Dieser Kerl. Seine Drohung. Was hatte er gesagt? Schaff sie herbei oder … oder was? Gnade dir Gott, wenn … Gnade dir Gott. Sie hatte damals schon Angst gehabt, ihr Vater hatte sie beschwichtigt. »So etwas passiert immer wieder«, hatte er gesagt.

Aber nun, nun ist es passiert!

Sie musste sich aufraffen, sie musste zur Polizei, bevor Robin aus der Schule kam. Hoffentlich hatten sie ihn nicht … aber nein, das war unwahrscheinlich. Sie hatten sie, die Ältere, ausfindig gemacht. Sie musste sich Klarheit verschaffen. Und vor allem musste sie erzählen, was sich vor ein paar Tagen hier zugetragen hatte.

Kurz entschlossen griff sie nach ihrer Handtasche, die noch auf der Treppe lag, steckte den Haustürschlüssel ein und verließ das Haus.

Eva radelte durch die Stadt zum Lutherplatz. Auf der Laube wäre sie fast mit einem Wagen zusammengestoßen, den sie zu spät hatte kommen sehen. Auf der gesamten Fahrbahn, die sie überqueren musste, parkten kreuz und quer die Autos der Konstanzer Messebesucher, die keinen Parkplatz mehr gefunden hatten.

Eva sprang von ihrem Fahrrad ab, der Fahrer des Autos entschuldigte sich per Handzeichen, dann schlängelte er sich mit seinem Kleinwagen weiter durch die stehende Blechlawine. Eva holte tief Luft, bevor sie ihr Fahrrad am Lenker nahm und es vorsichtig auf die andere Straßenseite schob. Unglaublich, dachte sie, es war ja schon lebensgefährlich, hier einfach nur die Straße zu überqueren. War ihr Vater einem Verkehrsunfall zum Opfer gefallen?

Wenig später stand sie vor dem Kriminalkommissariat, einem lang gestreckten Gebäude, und spürte ihr klopfendes Herz. Sie wollte da nicht rein, sie wollte nicht hören, dass ihr Vater tot war. Am liebsten wäre sie einfach weitergeradelt. Irgendwohin. Weg.

Stattdessen lehnte sie ihr Fahrrad an die Hausmauer, strich ihr Kleid glatt und ging hinein. Wo sollte sie überhaupt hin? Sie entdeckte einige kleine Hinweisschilder an der Wand, doch bevor sie sie lesen konnte, hörte sie Schritte und sprach den Beamten an, der um die Ecke bog.

»Ihr Vater?« Er musterte sie, und seine Uniform flößte ihr Respekt ein. »Heute Morgen?«

Auf Evas leises »Ja« nickte er ihr zu.

»Na, dann kommen Sie mal.«

Sie folgte ihm durch den Gang bis zu einer Bürotür, ein Ornamentglas war in den oberen Teil der massiven Holztüre eingelassen. Im Näherkommen starrte Eva auf den viereckigen Lichtfleck wie ein Vogel, der dahinter Freiheit wittert.

Der Beamte vor ihr klopfte nur kurz und öffnete die Tür.

»Besuch für dich«, erklärte er in das Zimmer hinein, bevor er Eva an sich vorbei eintreten ließ. »Es scheint sich um den Fall von heute Nacht zu handeln.«

Eva straffte sich und blieb nach wenigen Schritten vor der hölzernen, hüfthohen Barriere stehen, die quer durchs Zimmer lief. Eine Schwingtür führte in den Bereich, aus dem ihr ein Polizist, die Mütze vor sich auf dem Schreibtisch, entgegensah.

»So«, sagte er, »da sind Sie. Fräulein König?«

Eva bestätigte und grüßte mechanisch.

»Dann kommen Sie mal herein und setzen Sie sich.« Er wies auf den Stuhl auf der anderen Seite seines Schreibtisches. »Zunächst mein herzliches Beileid zum Tode Ihres Vaters.« Er schenkte ihr einen kurzen, verhangenen Blick und legte einen Stapel Papiere auf die Seite. »Wir brauchen ein paar Angaben. Ihren Ausweis haben Sie dabei?«

Eva nickte, öffnete die Schwingtür behutsam und ging zu dem angewiesenen, in die Jahre gekommenen Stuhl.

»Kriminalhauptmeister Brunner«, stellte er sich vor, »nehmen wir erst einmal Ihre Personalien auf. Wenn Sie also so freundlich wären?« Er streckte die Hand aus, und Eva nestelte ihre Handtasche auf, um nach ihrem Ausweis zu suchen.

Während Brunner zwei weiße Blätter mit Pauspapier in seine Schreibmaschine spannte, ließ Eva ihren Blick durch das schmucklose Zimmer bis zum Fenster gleiten und von dort zurück auf den Schreibtisch, wo er an dem metallenen Bleistiftverlängerer hängen blieb, der glänzend neben einigen angespitzten Bleistiftstummeln lag.

»Dann«, begann Brunner, nachdem er ihre Personalien im Zweifingersystem eingetippt hatte, »fangen wir mal an.«

Eva beantwortete seine Fragen automatisch und dachte die ganze Zeit, sie müsse ihm vorschlagen, die Plätze zu tauschen, denn es ging alles quälend langsam. Offensichtlich hatte auch das Farbband der alten Adler ein Problem, immer wieder blieb es an einem der Buchstaben hängen. Schließlich sagte sie: »Nichts für ungut, Herr Oberwachtmeister …«

»Kriminalhauptmeister«, korrigierte Brunner und sah mit einem Stirnrunzeln auf.

»Ja, Entschuldigung, Herr Kriminalhauptmeister, aber nun wissen Sie, wer ich bin und wo ich heute Nacht war, aber ich weiß noch nichts über meinen Vater. Mir wurde nur gesagt, er sei tot … aber.« Ihre Stimme brach ab, weil ihr die Bedeutung ihres Satzes plötzlich bewusst wurde, sie spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Ist es denn … ich kann es einfach nicht glauben. Was ist ihm denn zugestoßen? Und wo ist er jetzt? Ich muss doch zu ihm!«

Brunner ließ seine Hände sinken, dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Seine Kiefermuskeln hörten auf zu arbeiten, seine ganze Mimik wurde weicher. »Es wurde Ihnen noch nichts gesagt?«

»Nein. Mein Chef bei Stromeyer sagte nur, dass mein Vater tot sei und ich direkt zur Polizei fahren solle. Das habe ich mit dem Fahrrad getan …«, sie stockte. »Auf der Laube wäre ich noch fast überfahren worden.«

»Jaja.« Brunner nickte. »Die Messe muss dringend verlegt werden. Mitten in der Stadt ist das ein Wahnsinn, die Autofahrer sind außer Rand und Band, sie parken kreuz und quer, wir kommen mit den Strafzetteln kaum noch nach. Aber morgen werden Parkuhren aufgestellt, die ersten in Konstanz, dann wird sich das …«, er unterbrach sich, richtete sich etwas auf, sammelte sich und fuhr in getragenem Tonfall fort, »ja, dann, Fräulein König, muss ich Sie wohl über die traurige Tatsache aufklären, dass Ihr Vater heute Morgen in der Niederburg tot aufgefunden worden ist. Ein Anwohner fand ihn heute Morgen auf dem Weg zur Arbeit in der Tulengasse, er dachte zunächst, da schlafe jemand seinen Rausch aus. Er ging zuerst weiter, kehrte aber dann doch zurück, weil ihn irgendetwas stutzig gemacht hatte. Dann rief er die Polizei. Ihr Vater wurde zur weiteren Klärung der Todesumstände in die Gerichtsmedizin überführt.«

»Also weiß man nicht, woran mein Vater gestorben ist?« Tausend Möglichkeiten schossen Eva durchs Gehirn, zu starker Rausch? Gestolpert? Schlaganfall? »Weiß man denn, ob er gleich tot war? Oder dort gestorben ist? Vielleicht nach einem Unfall?« O Gott, dachte sie, wenn er dort alleine gestorben ist. Nachts. Auf der Straße. Niemand da, der ihm hätte helfen können …

Brunner schüttelte den Kopf. »Es gab wohl Fremdeinwirkung.«

»Also …« Eva starrte ihn an. »Mord? Jemand hat ihn ermordet?«

Brunner zog die beschriebenen Blätter aus der Schreibmaschine und spannte zwei neue ein. Eva sah ihm zu, wie er dazu die alte Walze drehte, aber in ihrem Kopf ging alles durcheinander. »Wer sollte denn …?«

»Ja«, Brunner nickte freundlich, »das ist der zweite Teil meiner Befragung. Er hatte seinen Personalausweis in der Jacke und etwas Kleingeld, weiter nichts. Meine Kollegen waren wohl bei Ihnen zu Hause, trafen Ihre Mutter aber nicht an. Die Nachbarin wusste, dass Sie bei Stromeyer arbeiten – und, ja, dass Ihre Mutter krank ist. Nach deren Auskünften gehört die Pfandleihanstalt in der Tirolergasse Ihrem Vater. Ist das richtig?«

Eva nickte. »Aber warum ist er ermordet worden?«

»Das versuchen wir gerade herauszufinden. Aber Näheres wissen wir noch nicht.«

»Und da lag er einfach so auf der Gasse – und keiner hat ihm geholfen?«

»Das wissen wir eben alles nicht, Fräulein König, der Pathologe muss das herausfinden, und wir hier stehen ja auch erst am Anfang unserer Ermittlungen.« Er rückte die Schreibmaschine auf der grünen Filzunterlage zurecht, dann sah er nochmals auf, bevor er zu tippen begann: »Hatte er Feinde?«

»Nein, er war beliebt. Alle mochten ihn.«

Während das monotone Tippen, abgelöst vom Ratschen und Klingeln des Wagens, wenn Brunner eine neue Zeile begann, den Raum erfüllte, ließ Eva ihren Blick durch den Raum schweifen. Modern war es hier nicht, dachte sie. Mit welchen Methoden sie wohl ermittelten?

»Welcher Tätigkeit gehen Sie bei Stromeyer denn nach?«, unterbrach Brunner seine Arbeit und riss Eva aus ihren Gedanken.

»Ich arbeite im Büro. Als Sekretärin.«

Brunner sog kurz die Luft ein, was ein pfeifendes Geräusch gab, und sah sie an. »Aber dann …«, er machte eine kurze, entschuldigende Handbewegung über seine Schreibmaschine, »es gibt auch modernere Modelle, allerdings sind die …« Das schwarze, klobige Telefon unterbrach mit einem schrillen Ton seinen Satz. Er meldete sich mit Dienstgrad und Namen, dann sah er Eva bedeutungsvoll an.

»Ja, sie sitzt gerade bei mir.« Er lauschte. »Ja, wir sind fast fertig. Es fehlt nur noch ihre Unterschrift.«

Die dunkle Stimme aus dem Hörer drang bis zu Eva, und plötzlich kam ihr in den Sinn, was sie ja vor allem erzählen wollte und nun doch fast vergessen hätte.

»Halt!« Sie hob die Hand. »Da gibt es noch etwas. Vielleicht ist es wichtig!«

Brunner verharrte, dann gab er ihren Satz an seinen Gesprächspartner weiter.

»Gut. Das mache ich! Selbstverständlich, Herr Kriminalkommissar Lindner.«

Er legte den Hörer langsam auf. »Das war mein Chef, Kriminalkommissar Lindner.«

Eva nickte. »Mir ist ein Vorfall eingefallen. Die Drohung eines Kunden. Ich habe es zufällig gehört, mein Vater meinte, das sei nichts Ungewöhnliches, aber es klang alles sehr ernst.«

Sie erzählte Kriminalhauptmeister Brunner, was sich vor wenigen Tagen im Geschäft zugetragen hatte, und sah geduldig zu, wie er die beiden beschriebenen Seiten aus der Schreibmaschine zog, das Pauspapier entnahm, zwischen zwei frische Seiten legte und wieder einspannte.

Und was mache ich jetzt?, fragte Eva sich, als sie eine Stunde später aus dem Gebäude trat. Die Sonne blendete sie, sie kniff die Augen zusammen, dann fuhr ihr der Schreck in die Glieder. Ihr Fahrrad war nicht mehr da. Geklaut? Am Kriminalkommissariat? Das Geschenk ihrer Mutter. Sie hatte ihr hoch und heilig versprochen, darauf aufzupassen. Das konnte doch wohl nicht wahr sein. Sie ging den kleinen Weg zwischen den Hecken hindurch zur Straße und sah den Gehsteig hinauf und hinunter. Keine Spur.

Ihr Herz klopfte. Nun musste sie wieder hinein und den Diebstahl melden. Sie holte tief Luft und ging zurück. Gerade als sie die Tür öffnen wollte, ging sie auf. Ein älterer Beamter musterte sie.

»Ihr Fahrrad?«

Eva antwortete nicht.

Er ging an ihr vorbei und klopfte mit dem Fingerknöchel auf ein verwittertes Emaille-Schild, das in Augenhöhe an der Hausmauer hing.

»›Abstellen von Fahrrädern verboten‹«, las er vor und beschrieb mit seiner Hand einen schwungvollen Bogen übers Dach. »Der Fahrradständer ist hinter dem Haus.«

Eva nickte.

»Fürs nächste Mal«, sagte er, bevor er wieder hineinging.

Hoffentlich nicht, dachte Eva, während sie am Gebäude entlangging, hoffentlich kein nächstes Mal.

Sie radelte so schnell sie konnte zum Heinrich-Suso-Gymnasium. Sie musste ihren Bruder abfangen, bevor der es von einem der Nachbarn oder sonst wem erfuhr. Wahrscheinlich raste die Nachricht schon wie auf einem Hexenbesen durch die Stadt.

Mit seiner Säulenstruktur auf beige-roter Fassade hatte ihr das historische Gebäude schon immer Respekt eingeflößt. Bisher war sie nur zu Robins Einschulung im Suso gewesen, damals mit echter Eifersucht im Herzen. Warum er und warum nicht sie?

Das schlechte Gefühl beschlich sie nun wieder. Vor den breiten Treppen, die direkt vom Gehsteig hinauf zur Eingangstüre führten, fragte sich Eva, wie sie ihn finden könnte. Am Gebäude gab es keine Uhr, aber ihrem Gefühl nach musste es kurz vor zwölf sein. Würde sich das Problem von alleine lösen? Sie lehnte ihr Fahrrad an die Mauer und war gerade alle Treppen hinaufgegangen, als tatsächlich eine schrille Glocke durchs Gebäude klang. Eva stellte sich etwas zur Seite, und gleich darauf kamen die ersten Schüler aus dem Gebäude gestürmt. Nun durfte sie Robin nicht übersehen, was gar nicht so einfach war, denn es wurden immer mehr Schüler. Da erkannte sie Anton, einen seiner Freunde, der es offensichtlich eilig hatte. Sie rannte ihm nach.

»Anton, halt, Toni! Wart doch mal.«

Er drehte sich um und sah ihr mit offensichtlichem Erstaunen entgegen. »Was machst denn du hier?«

»Weißt du, wo Robin ist?«

Er grinste und strich sich mit einer lässigen Handbewegung eine rotblonde Strähne aus dem Gesicht. »Also hier jedenfalls nicht.«

»Das sehe ich auch. Kommt er noch?« Sie wies zur Eingangstüre.

»Wieso willst du das wissen?«

»Wieso, wieso«, fuhr sie ihn an, »ich stehe nicht zum Spaß da!« Sie schloss kurz die Augen. »Entschuldige. Anton, bitte! Wo ist er? Noch im Klassenzimmer?«

Anton musterte sie, bevor er antwortete. »Eher nicht. Ich denke mal, dass er gar nicht da war.«

»Er war nicht da?« Sie starrte ihn an. Blaue, offene Augen in einem gebräunten Jungengesicht. Er log nicht. »Was heißt das? Wo ist er?«

»Na ja.« Während weiterhin Schüler an ihnen vorbeiströmten, schien er nachzudenken, was er verraten konnte.

»Anton!«, bat Eva nachdrücklich. »Es ist mir egal, wo er ist. Ich muss ihn finden. Es ist etwas passiert!«

»Er war die erste Stunde da. Das macht sich gut fürs Klassenbuch, da werden alle anwesenden Schüler eingetragen. Dann ist er ans Hörnle.«

»Ans Hörnle?«, wiederholte Eva entgeistert. »Was macht er denn am Hörnle?«

»Na«, Anton zeigte nach oben zur strahlenden Maisonne, »in die Sonne legen. Ich muss meinem Vater noch im Geschäft helfen, dann fahre ich auch hin.«

»Danke, Anton, das hilft mir sehr!«

Niedergeschlagen lief Eva zu ihrem Fahrrad zurück. Was war, wenn er oft schwänzte, wenn er das Abi zum Schluss gar nicht schaffte? Sie blieb an ihrem Fahrrad stehen und spürte Übelkeit aufsteigen. Der Vater tot, sie konnte es noch immer nicht glauben. Die Mutter krank im Sanatorium, Robin ein Schulschwänzer, wie sollte es weitergehen? Wie konnte es überhaupt weitergehen? Vaters Geschäft? Ihre Arbeit – und niemand, der ihr beistand.

Und wieder radelte sie los, diesmal in Richtung Hörnle, dem Strandbad am äußersten Ende von Konstanz. Sie fand immer, dass diese Region auf der Karte wie eine Hundeschnauze aussah, aber jetzt hatte sie keinen Sinn dafür. Und was sie sonst auch so genoss, nämlich seine Größe, angeblich das größte Strandbad am Bodensee, fand sie jetzt nur schrecklich. Überall konnte er sein – vor allem gab es gleich links hinter dem Eingang viele Ringtennisplätze. In Konstanz fanden dort häufig Turniere und Meisterschaften statt – und weil die Konstanzer ständig trainierten, waren sie fast jedes Jahr unter den Siegern. Auch dort konnte er also sein. Sie beobachtete einige Spieler, die sich die Ringe in rasendem Tempo zuwarfen, sie auffingen, wieder zuwarfen und so auf dem Platz hin und her hetzten. Aber Robin? Spielte er überhaupt Ringtennis? Sie wusste es nicht. Von den Spielern sah jedenfalls keiner aus wie Robin.

Wie sollte sie ihn finden?

Aber es war Dienstag, und offensichtlich hatten nicht alle Konstanzer so viel Zeit wie Robin, denn das Bad war ziemlich leer. Wo sonst bunte Decken dicht nebeneinanderlagen, waren nur vereinzelte Picknicktücher zu sehen. Alle verlassen. Am Ufer warfen ein paar Kinder Steine ins Wasser und kreischten, wenn eine Welle ihre nackten Beine erfasste, die Mütter waren vermutlich oben beim Kiosk, jedenfalls nicht hier. Eva sah sich genauer um.

Irgendwo musste er doch sein.

Dann entdeckte sie ihn.

An dem kleinen Eisstand, den die Familie ihrer besten Freundin Ingrid betrieb, sprach er gerade, ein Eis in der Hand, mit Ingrids kleiner Schwester.

Eva war versucht, nach ihm zu rufen, unterließ es aber und zog stattdessen ihre Schuhe aus, um sie auf der Wiese nicht zu ruinieren, und lief zu ihm hin.

»Hallo, Eva«, sagte die Kleine, die sie kommen sah. »Magst du auch ein Eis?«

Robin drehte sich zu ihr um.

»Eva!« Sein Tonfall glich dem von Anton. »Wo kommst du denn her?« Und gleich darauf scherzend: »Rosi ist noch so klein, wenn sie ein Eis aus der Eistruhe holt, muss sie jedes Mal aufpassen, um nicht hineinzufallen.« Er lachte und blinzelte ihr zu.

»Ich bin ja auch erst acht«, konterte die Kleine.

»Ich mag kein Eis«, wandte sich Eva an Rosi, »danke. Ich muss mit Robin reden.«

»Spielverderberin!« Robin verzog sein Gesicht, und es war klar, dass er sich ertappt fühlte.

»Es geht nicht ums Schwänzen«, sagte Eva und dachte, dass dies später sehr wohl zur Sprache kommen würde. »Es ist leider sehr viel ernster.«

Sie winkte Rosi kurz zu und forderte ihren Bruder auf, ihr zu folgen. »Wo liegst du?«

Er machte eine unbestimmte Handbewegung. »Überall und nirgends.«

»Dein Handtuch?«

»Dort.« Sein Blick folgte seiner ausgestreckten Hand, ein verkrumpeltes Etwas lag nahe am Ufer.

»Warst du im Wasser?« Sie musterte ihn kurz, seine Badehose war trocken.

»Bin ich verrückt? Es ist eiskalt!«

Kurz dachte Eva an ihre Kollegin und den Knaben, der sie so begeistert hatte, weil er aus den kalten Fluten gestiegen war, dann zeigte sie zu den Plastikstühlen am Kiosk. »Lass uns dort hinsetzen.«

»Was ist denn los?«, fragte Robin und schleckte hastig an seinem Schokoeis, das mittlerweile über den Holzstiel und seine Finger hinunterlief.

Eva winkte ab.

»Was tust du überhaupt um diese Zeit hier?«, fuhr er fort, während er neben ihr herging. »Musst du nicht arbeiten?«

»Und du?«, fragte sie zurück.

»Und im Kleid?«

Sie warf ihm einen Blick zu, und er verstummte. Am Kiosk angekommen nahmen sie sich am äußersten Ende ein kleines Tischchen. Robin betrachtete seine vom Eis verschmierte rechte Hand. »Ich müsste mir irgendwo die Hände waschen. Es klebt.«

Eva holte tief Luft.

»Und? Was gibt es jetzt so Wichtiges?« Er fuhr mit der Zungenspitze den Zeigefinger entlang.

»Es ist …«, Eva brach ab, sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte, »etwas passiert. Etwas Schlimmes.«

Robin starrte sie an und ließ seine Hand sinken. »Sind wir pleite? Muss ich aus der Schule?«

Klar, dass er nur an sich dachte. Der Kronprinz, dem etwas abgehen könnte, dachte Eva.

»Vater ist tot«, sagte sie deshalb schonungslos.

»Was?«, fragte er entgeistert. »Vater tot? Das kann doch nicht sein. Ich soll doch das Geschäft übernehmen, wieso ist er denn tot?«

Eva betrachtete ihn. Seinen rotblonden Wuschelkopf, seine Haare standen in alle Himmelsrichtungen. Sie hatten die unglückliche Länge zwischen lang und kurz, und völlig unpassend ging Eva durch den Sinn, wie ihr Vater mit ihm vor einem Jahr zum Friseur gegangen war. Robin war freudestrahlend wieder zurückgekommen, der Friseur hatte ihm die Haare nur wenig gekürzt, dafür einen modernen Schnitt verpasst. Daraufhin packte ihr Vater seinen Sprössling an der Schulter und ging gemeinsam mit ihm zum Friseur zurück. »Schneiden Sie das bitte ordentlich. Ich will nicht in vierzehn Tagen schon wieder hier stehen und bezahlen müssen.« Daraufhin schnitt der Friseur, während Robins Tränen flossen, die Haare so kurz, dass er eine HJ-Frisur hatte. Damit traute sich Robin eine ganze Weile kaum noch in die Schule. Inzwischen trug er, wenn er sich morgens Mühe gab, eine flotte Elvis-Tolle. Nur hielt sie nicht den ganzen Tag. Es fehlte ihm die Brillantine. Die Antwort ihres Vaters: »Die Haare sind sowieso zu lang! Kein anständiger junger Mann läuft so herum, du machst dich doch zum Gespött der Nachbarschaft!«

Nun saß er ihr also gegenüber und klagte über sein Leid.

»Willst du gar nicht wissen, was passiert ist, bevor du in Selbstmitleid zerfließt?«, fragte Eva ihn.

Robin sah ihr in die Augen, und sie wusste, dass er vor der Antwort Angst hatte. »Was ist denn passiert?«, fragte er schließlich.

Abends saßen sie in der kleinen Wohnküche zu Hause und versuchten gemeinsam, einen Weg zu finden. Eva hatte Brot, Butter und Käse auf den Tisch gestellt, und Robin, der ihr gern den reichhaltig gedeckten Tisch bei seinem Freund Anton vorhielt, wenn es ums karge Abendessen ging, kritisierte mit keinem Ton. Er saß nur da, den Kopf in die Hände gestützt, und fragte ein ums andere Mal. »Und jetzt?«

»Und jetzt«, sagte Eva und fühlte sich ganz als ältere Schwester, die Verantwortung übernehmen muss, »müssen wir einige Dinge besprechen. Erstens: Willst du wirklich das Geschäft übernehmen? Das würde für mich bedeuten, falls du dein Abitur zu Ende machst, dass ich es bis dahin führe …«

»Kannst du das überhaupt?«, unterbrach Robin sie.

»Ich war lange genug mit Vater im Geschäft. Ich habe die Handelsschule absolviert, kenne mich in Buchhaltung und auch in der Buchhaltung von Papa aus, wer, denkst du denn, hat hier ständig mitgearbeitet, wenn du mit deinen Freunden unterwegs warst oder die Schule geschwänzt hast? Ich war fürs Büro und für den Haushalt zuständig! Und nebenbei habe ich noch bei Stromeyer gearbeitet!« Es war ihr schärfer herausgerutscht, als sie es beabsichtigt hatte. Robin zog den Kopf ein.

»Also, Robin«, fuhr sie fort, »ich bin noch nicht volljährig. Wenn ich das Geschäft hier weiterführen soll, brauch ich Muttis Erlaubnis und Unterschrift. Es ist nicht mein Lebenstraum, sei dir darüber im Klaren. Sollte ich das also tun, mach ich das für dich! Und dann erwarte ich, dass du dich im Geschäft einarbeitest und ein blitzsauberes Abitur hinlegst, denn sonst bleibe ich bei Stromeyer, und nach mir die Sintflut!«

Robin sah sie erschrocken an. Und plötzlich sah sie in ihm wieder den sechsjährigen Jungen, mit überaus großen, blauen Augen, einem offenen Mund und einem Ausdruck im Gesicht, als käme etwas Schreckliches, Unausweichliches auf ihn zu. Damals war es der erste Schultag gewesen. Und heute?

»Robin?«, fragte sie sanft und legte ihre Hand auf seine, die er sofort zur Faust ballte.

»Wie kann das sein?«, fragte er tonlos. »Wie kann das sein? Gestern hat er mir noch wegen irgendwas eine Standpauke gehalten, und heute … heute soll er tot sein?«

Eva nickte. Und dann erzählte sie ihm alles von Anfang an.

Mittwoch, 18. Mai 1960

Eva konnte nicht schlafen. Vom Münster hörte sie jeden Glockenschlag und rechnete nach vorn, wie viele Stunden sie bis zum Tagesanbruch noch hatte, aber es nützte nichts. Sie war hellwach. Die ganze Nacht über hatte sie gegrübelt, was sie alles zu tun haben würde. Zudem die Ungewissheit, wie ihr Vater gestorben war. Wie sollte sie das ihrer Mutter beibringen? Wie sollte das Sanatorium weiterhin bezahlt werden, wenn die Einnahmen aus dem Geschäft wegfielen? Hatte ihr Vater ein Sparbuch? Sie war sich nicht sicher. Sie würde danach suchen müssen. Vielleicht wusste Mutter davon. Ach, Mama. Sie musste möglichst bald zu ihr fahren. Aber was sollte sie ihr sagen? Sie wusste doch selbst noch nichts.

Als sie um drei Uhr die Münsterglocke schlagen hörte und kurz danach das Knarzen der Treppe, wusste sie, dass sich Robin dieses Mal nicht die Stufen in den zweiten Stock zu seinem Schlafzimmer hochschlich, sondern runter. Bereitwillig schlug sie ihre Decke zurück. Und als er sich zu ihr legte, nahm sie ihn wie früher in den Arm.

»Sind wir nun ganz alleine?«, fragte er, und sie spürte, wie er am ganzen Körper zitterte.

»Ja«, sagte sie, »das sind wir. Jetzt tragen wir die Verantwortung. Aber wir sind beide alt genug.«

»Du bist alt genug«, sagte er und schlief kurz danach in ihrem Arm ein.

Ihr erster Weg an nächsten Morgen war zu dem dicken Buch mit den von ihrem Vater penibel aufgelisteten Kundeneinträgen. Sie blätterte zurück, eine Tasse schwarzen Kaffee neben sich. Echter Bohnenkaffee, wie gestern bei Friedrich. Kein Muckefuck. Sie mochte ihn nicht, aber sie hoffte, dass er ihr bei ihrer Konzentration half, denn sie war hundemüde. Der lang ersehnte Schlaf war erst kurz vor dem Aufstehen gekommen und hatte sie in einen tiefen, dunklen Strudel hinuntergerissen, aus dem sie kaum aufwachen, sich kaum befreien konnte. Nun war es kurz nach sieben, und sie fühlte sich noch immer bleischwer. Aber sie wollte unbedingt diesen Namen finden, den Namen des Mannes, der ihren Vater so bedroht hatte. Sie hatte Brunner versprochen, danach zu suchen. Vielleicht war er der … den Rest blendete sie aus. Das Wort »Mörder« wollte sie noch nicht einmal denken.

Nein, an diesem Tag hatte er nichts dokumentiert.

Eine goldene Uhr. Bei der letzten Versteigerung hatte sie ein Schweizer gekauft, hatte ihr Vater gesagt. Und er hatte dem Fremden das für die Uhr erlöste Geld angeboten, sie hatte es ja selbst gehört. Es musste also irgendwo vermerkt sein.

Eva nahm sich das Buch der letzten Auktion vor. Die Handschrift ihres Vaters war zwar penibel, aber klein, die Buchstaben eng beieinander, manchmal ineinanderfließend und deshalb schwer zu lesen. Eva nahm das Buch und trug es die Stiegen hoch zum Küchentisch, dort war es heller.

Es gab mehrere goldene Uhren, die alle weggegangen waren. Und somit mehrere Käufer und ebenso viele Verkäufer. Nun musste sie nur den richtigen finden.

Zwei Stunden später fuhr sie mit dem Namen zum Kriminalkommissariat, lehnte ihr Fahrrad erneut an die Hauswand, ging hinein und den Flur entlang zum Büro von Kriminalhauptmeister Brunner, klopfte, und als er nicht antwortete, öffnete sie und legte im verwaisten Büro ihr Schreiben quer über seine Schreibmaschine. Sie hatte ihn gefunden. Nun war er an der Reihe.

Sie schloss die Tür und dachte, während sie auf dem Weg zurück zum Eingang war, als Nächstes musste sie eine Zugfahrkarte nach Sankt Blasien lösen, um ihrer Mutter endlich vom Tod des Vaters zu erzählen. Der Gedanke brachte sie dazu, noch einmal umzukehren, in Brunners Büro einen der angespitzten Bleistiftstummel zu nehmen und handschriftlich auf einem seiner weißen Blätter zu vermerken: »Ich muss morgen meine Mutter unterrichten. Bitte teilen Sie mir schnellstmöglich den neuesten Stand der Ermittlungen mit. Und ebenso, wann wir unseren Vater beerdigen dürfen.«

Auch dieses Blatt legte sie auf seine Schreibmaschine. Als sie auf dem Hinausweg dem Beamten vom Vortag begegnete, sagte sie nur: »Jaja, ich weiß, hinten sind die Fahrradständer, aber ich bin quasi das Blaulicht. Ich habe es eilig!« Und damit ließ sie ihn stehen und ging an ihm vorbei hinaus.

Im Bahnhof löste sie am Schalter eine Fahrkarte für den nächsten Tag, und dann stand sie vor dem Bahnhofsgebäude und rührte sich nicht. Und jetzt?, fragte sie sich. Wohin? Was tun? Sie fühlte sich so gelähmt, dass sie erst wieder zu sich kam, als eine ältere Frau sie am Arm berührte. »Geht es Ihnen nicht gut?«

Eva blickte in das Gesicht dieser Frau, und in dem Moment kam sie ihr wie ein Engel vor. Sie fragte. Sie kümmerte sich.

»Ja«, sagte sie und hielt die Tränen der Rührung zurück, »es ist alles gut. Aber danke, dass Sie nachfragen.«

Donnerstag, 19. Mai 1960

Donnerstag, dachte Eva, als sie sich im Zug auf einen Fenstersitz setzte. Morgen ist Freitag. Am Montag muss ich wieder arbeiten. Wie soll das gehen?

Sie sah am Fenster die Landschaft an sich vorbeiziehen und dachte über sich und ihren Weg nach. War es richtig, das schwierige Geschäft ihres Vaters zu übernehmen? Wirtschaftlich ja, dachte sie, denn als Sekretärin verdiente sie zu wenig, um die Familie durchbringen zu können. Ihre Mutter durfte sich nicht beunruhigen, sich keine Sorgen machen. Sie musste gesund werden, da war Aufregung nicht zu gebrauchen. Vaters Tod war schrecklich, aber dazu dann noch finanzielle Sorgen, das durfte nicht sein.

Und Robin? Er hatte ihr gestern Abend in die Hand versprochen, das Geschäft nach seinem Schulabschluss zu übernehmen. Und nun alles für einen guten Schulabschluss zu tun.

Es ginge auch anders, hatte Eva vorgeschlagen: Das Geschäft verkaufen. Dann wäre er mit seinen beruflichen Aussichten frei und sie ebenfalls. Außerdem bräuchte er für ein Geschäft, das schon in Händen der Familie lag, sowieso kein Abitur. Doch das wollte er sich plötzlich nicht mehr nehmen lassen. Man gelte halt mehr, meinte er. Und er hätte es ja Vater versprochen. Das Abitur und die Nachfolge.

Eine Handelsschule wäre als Vorbereitung natürlich besser, hatte sie eingewandt. Betriebswirtschaftslehre, kaufmännisches Rechnen, Buchführung, Bürokunde, Maschinenschreiben. Was willst du mit guten Noten in Griechisch und Latein, Physik und Chemie, wenn es um Pfandleihe, um ein handfestes Geschäft geht«, hatte sie Robin gefragt. Aber er war nicht von seinem Weg abzubringen gewesen. Es bräuchte auch einen guten Ruf, meinte er, und da mache so ein Abitur eben schon was her.

Abitur, hatte sie eingeworfen, aber keine Ahnung vom Geschäft. Na, das kann was werden!

Aber du, hatte er gesagt und seine Hand auf ihre gelegt, du bist doch meine große Schwester. Du kannst das doch. Und wenn Mama wieder nach Hause kommt, ist es fast wie früher.

Fast wie früher, dachte sie jetzt und sah die Landschaft vorbeifliegen, fast wie früher. Nichts wird mehr wie früher sein. Nur zwei Tage trennten sie von früher, von ihrem Leben, wo es um die ersten Flirts, um Tanzcafés, um Mode und die neuesten Platten aus Amerika ging. Früher – das war so weit weg, dass es schon kaum mehr wahr war.

Sie musste in Waldshut aussteigen, hatte ihr der Beamte am Fahrkartenschalter gesagt, und dann den Bus nach Sankt Blasien nehmen. Die Stadt habe keinen eigenen Bahnhof. Und Eva erinnerte sich daran. Und auch daran, wie sie das letzte Mal noch als Familie gereist waren. Obwohl das Geld knapp war, hatte ihr Vater vier Tickets gekauft. Alle sollten Mutter begleiten und ihr Mut machen. Es würde alles wieder gut werden, hatten sie ihr gesagt, und Vater hatte ihren Koffer schwungvoll den Berg hinauf bis zu dem prachtvollen Sanatorium getragen, das majestätisch über Sankt Blasien thronte.

»Wie eine Königin«, hatte er gescherzt.

»Wie werdet ihr bloß ohne mich zurechtkommen?«

»Mach dir keine Gedanken, du weißt doch, es ist für alles gesorgt. Eva und ich werden abends ein Hoppelpoppel in die Pfanne werfen, dein Sohn wird ordentlich lernen, und Frau Weißer sorgt für unsere Wäsche, das hat sie mir hoch und heilig versprochen.«

Ihre Mutter hatte nur den Kopf geschüttelt. »Alles meine Schuld!«, sagte sie, bevor sie durch die Anstrengung am Berg husten musste.

»Sag doch so etwas nicht, Emma. Keiner kann etwas für eine Krankheit. Und du bist die beste Ehefrau, die beste Mutter der Welt!«

Das hatte er gesagt, ihr Vater, den ihre Mutter sonst so oft einen »unmöglichen Stoffel« schalt.

Und nun war er tot. Wie sollte sie das nur ihrer Mutter beibringen?

Vom Bahnhof bis zur Bushaltestelle war es nicht weit. Fünf Minuten zu Fuß, das hatte sie ebenfalls noch in Erinnerung. Sie sah auf ihrem Fahrplan nach. Wenn alles gut ging, müsste der Bus demnächst kommen, und sie würde in einer Dreiviertelstunde in Sankt Blasien sein. Zeit genug, sich die richtigen Worte zurechtzulegen. Aber eigentlich hatte sie nicht nur Angst, weil sie die Nachricht überbringen musste, sondern auch, ihre Mutter wiederzusehen. Ob sie sich durch ihre Krankheit sehr verändert hatte? Sie war immerhin schon 45 Jahre alt, und Krankheiten konnten Menschen zeichnen, das wusste sie. Ihr Vater hatte die Mutter zwar alle drei Monate besucht und anschließend erklärt, sie sähe prächtig aus, aber vielleicht war das ja nur die Wahrheit gewesen, die er ihr und ihrem Bruder zumuten wollte? Oder vielleicht hatte sie ihm die gesunde, glückliche Frau ja auch vorgespielt.

Das konnte sie gut. Auch als es ihr schon richtig schlecht ging, war sie die arbeitsame, fleißige Hausfrau, Ehefrau und Mutter gewesen. Hätte der Arzt nicht eingegriffen, würde sie wahrscheinlich noch immer auf Knien die alten Holzböden schrubben und ihr blutiges Taschentuch vor Vater verstecken.

Eva seufzte. Abhängig vom guten Willen eines Mannes, das war das Letzte, das sie sich für ihre Zukunft vorstellte. Sie wollte nur von sich selbst abhängig sein und sonst von niemandem.

Als der Bus kam, setzte sie sich auf den vordersten Sitzplatz, um die Straße vor ihr im Auge zu behalten. Sie spürte die Augen des Busfahrers über den großen Innenspiegel und gab seinen Blick zurück. Er nickte und lächelte kurz, sagte: »Na dann«, und fuhr los. Der Bus war gut besetzt, und bei ihrer Nachbarin sah sie ein Blumensträußchen, das sie sich auf den Schoß gelegt hatte. Ob sie alle zum Sanatorium fuhren? Konnte gut sein, es war kurz nach zwei, so war die Zeit möglicherweise günstig für einen Nachmittagskaffee. Sie hatte für ihre Mutter in der Schweiz noch drei Tafeln Schokolade gekauft, an Blumen hatte sie nicht gedacht. Vielleicht gab es noch die Möglichkeit, ein Sträußchen auf dem Weg nach oben zu pflücken, irgendwo in einer Wiese vielleicht. Es war Mai, alles blühte – und Wiesenblumen waren sowieso die schönsten.

Eva hatte ein leichtes, geblümtes Sommerkleid angezogen, eines, das ihre Mutter liebte, und immerhin hatte sie es vor zwei Jahren noch selbst geschneidert. Es lag oben eng an, hatte einen breiten Gürtel, und der Rock fiel glockig bis zum Knie. Sie mochte zwar inzwischen die kurzen Röcke mehr, einfach mit einem leichten Pullover oder einer kurzärmeligen Bluse, und zudem liebte sie auch ihre Nietenhose, die ihre Kollegin Ruth aufgetrieben und die sie ihr weitergegeben hatte, weil ihr das gute Stück zu eng war.

»Darauf zu warten, da jemals hineinzupassen, macht keinen Sinn. Du kannst sie mir abkaufen, ich habe Beziehungen und kann mir noch eine besorgen.«

Das war gar nicht so leicht, denn die Beziehungen zu den Amerikanern hatten eher die Bewohner der Städte, die amerikanisch besetzt gewesen waren. In Konstanz waren es Franzosen, die noch immer hier waren, auch wenn sie nun den Status befreundeter Mächte hatten und keine Besatzer mehr waren. Sie waren nett, es gab auch schon Ehen zwischen Deutschen und Franzosen, aber sie hatten eben keine Beziehungen nach Amerika, wo es so viele Dinge gab, die die jungen Deutschen sehnsüchtig wollten. Nicht nur Jeans, sondern eben vor allem Schallplatten, denn die gute Musik kam natürlich aus den USA.

Ruth besaß sogar einen Plattenspieler. Davon konnten Eva und Robin nur träumen, aber wie hatte ihr Vater immer so schön gesagt, »macht eure Musik selbst, dann braucht ihr keine Hottentottenmusik«.

Musik selbst machen. Womit denn? Und Musikunterricht konnten sie sich auch nicht leisten.

»Du hast eine schöne Stimme«, war sein Kommentar, »sing halt was.«

Sing halt was, das tat der Busfahrer, der die ganze Fahrt über irgendeine Melodie durch die Zähne pfiff, die aber doch am Zielpunkt auseinanderkriegte und »Haltestelle, aussteigen«, nach hinten zu seinen Fahrgästen rief. Eva nahm ihre Tasche und wollte an ihm vorbei zur Tür, doch er lächelte ihr zu.

»Hübsches Kleid, hübsches Fräulein«, sagte er, und Eva wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Eigentlich war es ja ein nett gemeintes Kompliment, deshalb gab sie sein Lächeln zurück.

»Hübsche Melodie, guter Busfahrer«, sagte sie.

»Aus der Zauberflöte«, erklärte er. »Ich liebe Musik.«

»Nur böse Menschen haben keine Lieder«, sagte Eva und hörte hinter sich eine unwillige Männerstimme: »Können Sie nicht weitergehen?«

»Kann sie nicht«, sagte der Busfahrer und wandte sich dem Mann zu. »Und Sie zeigen mir jetzt mal Ihre gültige Fahrkarte.«

Eva verkniff sich ein Grinsen, hob grüßend die Hand und stieg aus. Vielleicht würde sie ihn ja auf der Rückfahrt wieder treffen, das würde sie freuen. Die Muchenländer Straße, das wusste sie noch, zweigte von der Hauptstraße ab und führte den Berg hinauf direkt zum Sanatorium. Aber auch ohne diese Erinnerung war das Ziel gut zu sehen, das mächtige Gebäude mit unzähligen Balkonen thronte unübersehbar oben am Berg.

Eva ging zunächst beschwingt die Straße hinauf, dann wurde sie langsamer. Es war ein heißer Maitag, und ihre Haare lagen warm und schwer über ihrem Nacken und den Schultern, sodass sie zu schwitzen begann. Sie blieb stehen und suchte in ihrer Handtasche nach einer Schleife, fand ein ausgefranstes Modell, und band sie zu einem Pferdeschwanz. Dabei suchten ihre Augen die vielen Balkone ab. Doch noch war sie zu weit entfernt, um etwas ausmachen zu können. Dafür wuchsen an der Steinmauer, die die Straße einfasste, tatsächlich ein paar Blümchen. Sie wollte sich gerade danach bücken, um noch ein kleines Sträußchen zu pflücken, als eine Stimme hinter ihr sagte: »Das würde ich nicht machen.« Erschrocken drehte sie sich um. Ein junger Mann schüttelte den Kopf.

»Jedes Kind hier in Sankt Blasien weiß, dass man nichts entlang der Wege pflücken sollte. Auch nicht auf den Waldwegen. Keine Beeren, keine Blumen.«

»Und warum nicht?« Eva richtete sich auf. Sie suchte nach Gegenargumenten, denn sie vermutete eines der Hausmeisterverbote.

»Es hat mit dem Auswurf der Kranken zu tun, wenn sie spazieren gehen. Ich bin im Sana Pfleger. Und einen infektiösen Auswurf sollte man nicht unbedingt berühren.«

»Oh«, sagte sie hastig. »Gut, dass Sie mich gewarnt haben. Ich hatte keine Ahnung.«

»Sie sind wohl nicht von hier?« Er trat neben sie, und Eva musterte ihn. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig, ein junger, sportlicher Mann mit dunklen Haaren und einem Schmunzeln im sonnengebräunten Gesicht.

»Nein«, sie schüttete den Kopf, »ich besuche meine Mutter. Sie ist seit einem Jahr hier, und ich war nur ein einziges Mal …«

»Da wird sie sich aber freuen. Wenn Sie mir den Namen Ihrer Mutter verraten, kann ich Sie zu ihr bringen.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Ich habe noch Zeit, mein Spätdienst beginnt erst um vier.«

»Ja, gern!« Eva nickte und war froh darüber, jemanden getroffen zu haben, der sich auskannte. »Sie heißt Emma König, und wir kommen aus Konstanz.«

»Was für eine schöne Stadt. Ich hatte das Glück, im letzten Jahr das Seenachtsfest zu genießen. Ich kenne Ihre Mutter natürlich, wir können gleich den Portier fragen, wo sie sich aufhält.«

Nebeneinander gingen sie hinauf und unterhielten sich so lebhaft, dass Eva erst im Empfangsbereich des Sanatoriums verstummte. Die große Halle mit dem breiten Treppenaufgang, der Pförtnerloge, den Zeitungsständen, dem marmorierten Boden, das war wirklich sehr beeindruckend.

»Das ist ja unglaublich luxuriös«, fand sie. »Ich habe es nicht mehr so groß in Erinnerung, fast wie ein Schloss!«

Ihre Begleitung, die sich inzwischen als Peter vorgestellt hatte, lachte. »Ja, so geht es fast jedem, der hier zum ersten Mal hereinkommt. Die Patienten sollen hier ja auch Freizügigkeit erleben, Luft zum Atmen spüren!«

Eva nickte und dachte an die beengten Zustände zu Hause. Ob sich ihre Mutter hier gleich wohlgefühlt hat? Oder doch eher verloren? Sie blickte Peter nach, der zur Portiersloge ging und dort nach ihrer Mutter fragte. Evas beklemmendes Gefühl wuchs. Sie spürte, wie flach sie atmete, und versuchte Peter ein fröhliches Lächeln entgegenzuschicken, als er wieder auf sie zu kam. Anscheinend war es misslungen, denn seine Augen blickten fragend.

»Stimmt was nicht?«

Eva biss sich auf die Lippen. Und plötzlich wollte ihr fröhliches Frühlingskleid so gar nicht mehr zu ihr passen. Sie kämpfte mit den Tränen.

»Oh«, Peter trat näher, »was ist denn los mit Ihnen?«

Und dann lag sie einem völlig fremden Menschen mitten in der Eingangshalle des Sanatoriums in den Armen. Er hielt sie fest, während sie den Kopf an seine Schulter lehnte und sich gleich darauf wieder frei machte.

»Es ist nur«, stammelte sie, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen, »es hat mich noch niemand gefragt, wie es mir eigentlich geht … es ist …«, sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab und trat einen Schritt zurück, »tut mir leid, irgendwie sind gerade die Nerven mit mir durchgegangen!«

Peter legte seinen Arm um ihre Schultern und dirigierte sie zu einer kleinen Sitzecke.

»Ich glaube, wir setzen uns besser einen Moment.«

Eva blieb aber stehen.

»Nein«, sagte sie bestimmt. »Ich muss es hinter mich bringen. Und dann muss ich ja auch den Bus wieder erwischen und den Zug. Ich habe nicht so lange Zeit.«

»Was müssen Sie denn hinter sich bringen?«

Seine Stimme war so mitfühlend, aber auch so bestimmt, dass Eva zu ihm aufblickte. Er tat ihr gut, sie wusste nicht, warum das so war, aber sie hatte Vertrauen zu ihm. Sie holte tief Luft.

»Ich habe meine Mutter seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Mein Vater kam meistens alle drei Monate zu Besuch. Danach sagte er jedes Mal, es ginge ihr gut. Ich weiß es aber nicht.« Sie machte eine kurze Pause. »Und nun muss ich ihr die Nachricht bringen, dass Vater tot ist. Vor zwei Tagen lag er tot in einer Gasse. In Konstanz.«

Kurz war es still.

Peter beugte sich etwas zu ihr hinunter. »Ihre Mutter liegt im Moment draußen auf der Terrasse, hat mir der Portier gesagt. Sie ist auf dem Weg der Besserung, meinen die Ärzte, aber wir können sie mit einer solchen Nachricht nicht überfallen. Das wird möglicherweise ihre Genesung sehr ungut beeinflussen.«

Eva hielt den Atem an.

»Aber«, sie zeigte auf ihre Tasche, »sie muss mir das hier unterschreiben. Ich muss das Geschäft meines Vaters übernehmen, um weiterhin das Sanatorium und überhaupt alles bezahlen zu können. Mein Bruder geht noch zur Schule, und ich bin noch nicht volljährig!«

Peter sah ihr in die Augen, schüttelte dann leicht den Kopf.

»Sie sind eine ungewöhnliche junge Frau. Sehr mutig.«

»Ich kämpfe«, entgegnete Eva, »weil mir nichts anderes übrig bleibt. Das haben im Krieg viele Frauen getan, hat mir meine Mutter erzählt. Was soll ich auch sonst tun?«

»Ja.« Er nickte. »Ich weiß das von meiner Familie auch. Gehen wir erst mal zu ihr. Wenn Patienten neben ihr liegen, gehen wir mit ihr in den Garten, dort gibt es genug Sitzgelegenheiten. Danach lasse ich Sie mit Ihrer Mutter allein.«

»Vielleicht ist es besser, Sie bleiben dabei? Sie sind doch Pfleger? Medizinisch ausgebildet?«

»Natürlich!«

»Vielleicht fällt sie in Ohnmacht?«

»Wir müssen das behutsam angehen.«