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Eine Kreuzfahrt nur für Lesben? Zusammen mit den Freundinnen? Kostenlos? Da kann Pauline nicht Nein sagen. Noch dazu bietet sich die Gelegenheit, ihre Oma in Spanien zu besuchen. Als eine ihrer Begleiterinnen wegen eines Unfalls ausfällt, soll Pauline Ersatz suchen. Wie wäre es mit der geheimnisvollen Ronja, der sie täglich im Café begegnet und für die sie heimlich schwärmt? Für Ronja ist die Aussicht auf eine Gratis-Kreuzfahrt Mittel zum Zweck, um nach Spanien zu gelangen. Denn den lukrativen Auftrag, den sie von ihrer Chefin erhalten hat, kann sie nur in andalusischen Gefilden ausführen. Sechs Frauen auf einem Kreuzfahrtschiff, eine Reise durch das westliche Mittelmeer, ein echter und ein falscher Kunstgegenstand und eine sich anbahnende Liebe: "Wenn sich der Kompass dreht" ist ein lesbischer Wohlfühlkrimi.
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Seitenzahl: 288
Veröffentlichungsjahr: 2025
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KAPITEL 1 - PAULINE
KAPITEL 2 - RONJA
KAPITEL 3 - IRIS
KAPITEL 4 - PAULINE
KAPITEL 5 - IRIS
KAPITEL 6 - RONJA
KAPITEL 7 - PAULINE
KAPITEL 8 - RONJA
KAPITEL 9 - IRIS
KAPITEL 10 - RONJA
KAPITEL 11 - RONJA
KAPITEL 12 - PAULINE
KAPITEL 13 - RONJA
KAPITEL 14 - PAULINE
KAPITEL 15 - RONJA
KAPITEL 16 - IRIS
KAPITEL 17 - PAULINE
KAPITEL 18 - RONJA
KAPITEL 19 - IRIS
KAPITEL 20 - PAULINE
KAPITEL 21 - RONJA
KAPITEL 22 - RONJA
KAPITEL 23 - PAULINE
KAPITEL 24 - RONJA
KAPITEL 25 - RONJA
KAPITEL 26 - IRIS
KAPITEL 27 - RONJA
KAPITEL 28 - PAULINE
KAPITEL 29 - RONJA
KAPITEL 30 - PAULINE
KAPITEL 31 - RONJA
KAPITEL 32 - RONJA
KAPITEL 33 - IRIS
KAPITEL 34 - PAULINE
KAPITEL 35 - RONJA
KAPITEL 36 - RONJA
KAPITEL 37 - RONJA
KAPITEL 38 - IRIS
KAPITEL 39 - PAULINE
KAPITEL 40 - RONJA
KAPITEL 41 - PAULINE
KAPITEL 42 - RONJA
DANKSAGUNG
Die Kerzen auf Biancas Geburtstagstorte flackerten um die Wette und Pauline konnte es kaum erwarten, dass ihre Gastgeberin den Kuchen endlich anschnitt.
»Lasst mich eine kurze Rede halten, bevor wir die Kalorienbombe vertilgen«, bat Daphne die fünf Freundinnen, die sich um sie und ihre Frau Bianca versammelt hatten. Pauline hätte mit ihren neunundzwanzig Jahren als Tochter der anwesenden Frauen durchgehen können. Tatsächlich fühlten sich Daphne und Bianca für sie wie Familienmitglieder an, denn sie kannten Paulines vor zwei Jahren verstorbene Mutter seit ihrer Studienzeit.
»Ich möchte erst ein paar Fotos schießen.« Jenny zeigte auf die Kamera, die um ihren Hals hing. »Dann kann ich das schwere Ding loswerden. Bianca, stell dich bitte direkt links neben den Tisch mit den Geschenken. Daphne? Dorthin.« Jenny dirigierte beide zu dem kleinen Möbelstück, auf dem unter anderem einige Vasen mit Blumensträußen standen. »Und ihr beide stellt euch auf die andere Seite!« Flugs kamen Pauline und Daphnes Schwester der Aufforderung nach.
»Meine Frau benötigt wieder eine Extra-Einladung«, scherzte Jenny und winkte zuletzt Michaela hinzu, ehe sie sich in Position brachte und zigmal den Auslöser betätigte.
»Wunderschön! Und schick seht ihr aus! Hat euch mal jemand gesagt, dass ihr die geborenen Models seid?« Als professionelle Fotografin wusste Jenny, wie sie ihre Motive zum Lächeln animierte. Pauline fühlte sich wie ein Filmstar auf dem roten Teppich.
»Achtung, hier spielt die Musik! Jetzt bitte einmal küssen!«, forderte Jenny Bianca und Daphne auf, doch das wäre gar nicht nötig gewesen. Daphne war längst selbst auf die Idee gekommen. Ihre Gastgeberinnen verloren sich in einem innigen Kuss und vergaßen augenscheinlich für einen Moment ihre Gäste.
»Wir gehen dann mal.« Daphnes Schwester drehte sich in Richtung Wohnzimmertür, als wollte sie sich verabschieden. Trotz des offenkundigen Scherzes hatte Daphne ein Einsehen und ließ von Bianca ab. Sie und ihre Frau lachten verlegen und alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf die Torte, die allzu verlockend aussah.
»Gut«, bemerkte Michaela, »dann erlöst uns von den Hungerqualen und lasst uns den Kuchen essen.«
»Noch nicht, tut mir leid.« Daphne grinste und schob Bianca auf den nächstbesten Stuhl. »Wie angekündigt, möchte ich noch ein paar Worte loswerden.«
Ihre Rede war gespickt mit einigen Anekdoten aus der langjährigen Freundschaft der Frauen, mit kleinen Späßen zwischendrin und einer rührenden Erinnerung an Paulines Mutter, die diesen Geburtstag leider nicht mehr mitfeiern konnte. Es folgte – da Bianca und Daphne auf den Tag genau 25 Jahre zusammen waren – ein Liebesschwur, der nicht nur Bianca zu Tränen rührte und zum Klatschen animierte.
Die beiden haben miteinander ein Superlos gezogen, fand Pauline.
»So, jetzt können wir uns voll und ganz dem Kuchen widmen. Heute soll es uns egal sein, wie viele Kalorien wir zu uns nehmen«, forderte Daphne ihre Liebste auf. Sofort erhob sich Bianca und half ihrer Frau, die Kuchenstücke auf die Teller zu verteilen und Kaffee einzuschenken.
»Bianca, möchtest du uns nicht von dem tollen Geschenk von deiner Frau erzählen? Oder ist es zu persönlich?« Pauline war neugierig, was Daphne sich dieses Mal hatte einfallen lassen. Außergewöhnliche Präsente waren ihre Spezialität.
»Nein, gar nicht. Und euch betrifft es auch«, antwortete Bianca und erntete prompt erstaunte Blicke.
»Schieß los, spann uns nicht auf die Folter«, forderte Michaela die Freundin auf.
Flüchtig sah Bianca zu Daphne hinüber, die ihr zunickte. »Schatz, erklär es ihnen.«
»Wir machen im Frühsommer eine Kreuzfahrt.«
»Eine Kreuzfahrt nur für Lesben«, betonte Daphne mit erhobenem Zeigefinger. »Und ihr begleitet uns!«
Gelächter brandete durch den Raum, doch nach und nach wurde es still.
»Das war ein guter Witz.« Jenny wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln.
»Nein«, antwortete Daphne ruhig, »ganz und gar nicht. Das ist unser voller Ernst.«
Es herrschte peinliches Schweigen. Pauline sah, wie bei jeder der anwesenden Frauen das Kopfkino losging. Sie selbst fühlte sich auch ganz mulmig. Wobei diese Reise vermutlich ohnehin nur für die älteren Freundinnen gedacht ist. Sie selbst war viel zu jung für so was, sicher waren lediglich betagtere Frauen auf so einem Schiff unterwegs. Ganz abgesehen davon, dass sie sich die Reise schlicht und einfach nicht leisten könnte. Selbst wenn: In dem Café, in dem sie arbeitete, ging im Frühsommer die Hauptsaison los. Da würde sie nie Urlaub bekommen.
»Äh, habt ihr nicht verstanden? Wir machen alle zusammen eine Kreuzfahrt. Ihr dürft euch ruhig ein bisschen freuen«, wunderte Daphne sich.
»Tja, das könnte ich mir schon vorstellen …«, setzte Michaela an.
»… aber wir haben nicht das nötige Kleingeld dafür«, ergänzte Jenny und Biancas Schwester nickte zustimmend.
»Schwamm drüber, genießt die Zeit zu zweit und lasst uns mit schönen Fotos in unserer neuen ›Chatgruppe‹ an der Reise teilhaben.« Jenny lächelte entschuldigend. Pauline unterdrückte ein Kichern. Obwohl die Freundin ein Ass in digitaler Bildbearbeitung war und ihre Website mit Hingabe pflegte, waren Social Media und Chatgruppen für sie Neuland, ebenso wie das Posten von Statusmeldungen. Erst kürzlich hatte Pauline ihr und Michaela eine Nachhilfestunde dazu gegeben und ihnen gezeigt, wie ein Gruppenchat eingerichtet wurde. Seitdem musste Jenny die neuen Kommunikationswege immer wieder mit Betonung erwähnen.
»Außerdem lassen wir unsere Katze nur ungern allein«, fügte Jenny hinzu.
»Bullshit!«, stieß Bianca aus und Pauline zuckte zusammen. »Letztes Jahr wart ihr für vier Wochen zum Campen in Cuxhaven und hattet kein Problem damit, euren Stubentiger in der Katzenpension abzugeben.«
»Außerdem habt ihr das falsch verstanden: Selbstverständlich seid ihr eingeladen und müsst keinen Cent zuzahlen«, ereiferte sich Daphne. Ihre Schwester Konstanze setzte zum Protest an, doch Daphne erhob resolut die Hand. »Nein, keine Widerworte! Wir sind alle seit unserer Jugend befreundet und gemeinsam durch dick und dünn gegangen. Gerne möchten wir euch für eure Freundschaft danken und was zurückgeben.« Ihr Gesichtsausdruck wurde ernst. »Versteht mich nicht falsch. Wenn ihr euren Urlaub bereits anders verplant habt, möchten wir da nicht reingrätschen. Allerdings habt ihr bisher nichts über etwaige Reisepläne verlauten lassen und normalerweise sind wir immer die Ersten, denen ihr davon berichtet. Deshalb kam ich auf die Idee mit der Kreuzfahrt. Wir kennen das Schiff von einer anderen Reise und sind sicher, ihr würdet es mögen. Doch natürlich gehen eure Pläne vor.«
»Wir haben noch keine Reise gebucht«, meldete sich Jenny nachdenklich zu Wort. »Nur … im Frühsommer finden die meisten Hochzeiten statt und das Geld für die Fotos und Filme, die ich erstelle, können wir gut gebrauchen. Wobei«, überlegte sie laut, »ein Tapetenwechsel auch nicht schlecht wäre. Ich müsste bloß gucken, wann die Kreuzfahrt ist und ob ich für die Zeit eventuell schon irgendwas zugesagt habe. Die Planung mache ich ja weit im Voraus.« Unsicher sah sie Michaela an.
Diese zuckte mit den Schultern. »Für mich ist es unproblematisch.«
»Als ich nach einem passenden Geschenk gesucht habe«, setzte Daphne erneut an, »fiel mir ein, wie wir Freundinnen vor fünf Jahren den runden Geburtstag von Paulines Mutter gefeiert und beschlossen haben, alle wieder einmal gemeinsam zu verreisen. So wie früher in unserer Studienzeit. Nur etwas komfortabler als damals.«
Alle nickten bedächtig und Pauline dachte sentimental an die lustigen Schilderungen ihrer Mutter von Urlauben im Zelt, in Jugendherbergen oder sogar Übernachtungen auf einem Rastplatz in einem geliehenen Bulli.
»Und wie es so ist, fanden wir nicht den richtigen Zeitpunkt. Tja, und dann ist das Leben manchmal nicht fair und …«
»… meine Mutter ist nicht mehr unter uns«, beendete Pauline mit wässrigen Augen den Satz.
»Wir sollten endlich diese gemeinsame Reise unternehmen. Und das auch gerne mit dir zusammen, liebe Pauline.« Daphne lächelte sie wohlwollend an.
Alle Augenpaare richteten sich auf sie. Pauline schoss das Blut in die Ohren. Ich glaub es nicht. Ich soll tatsächlich mit ihnen mitfahren.
»Also?« Daphne guckte in die Runde. »Vielleicht ändert ihr eure Meinung, wenn ihr wisst, wohin es gehen soll und welche Häfen wir anlaufen.« Sie gestikulierte auffordernd zu Bianca, damit jene die Reiseziele benannte.
»Nach Southampton«, begann diese zögernd. »Also könnten wir einen Ausflug nach London machen oder nach Stonehenge …«
Pauline wurde ganz zappelig. Den Steinkreis von Stonehenge wollte sie schon ewig sehen.
»Weitere Ziele sind Lissabon …«
»Das kostet Unsummen, wenn ich das so nebenbei bemerken darf«, mischte sich Konstanze ein. »Fahrt mit Jenny, Michaela und Pauline dorthin, aber ich bleibe hier.«
Daphne schüttelte den Kopf. »Schwesterherz, du musst es schon mir überlassen, wofür ich mein Geld ausgebe. Die Reise ist gebucht, es ist alles bezahlt und wir wären enttäuscht über eure Absage. Ihr habt nichts anderes zu tun, als euch zu freuen und mit uns viel Spaß zu haben.«
Betreten sah Pauline auf ihren Teller – auf dem flugs ein zweites Tortenstück landete.
»Mach dir keine Gedanken, deine Mutter wäre begeistert gewesen und hätte zugesagt. Es gibt auch für jüngere Frauen genügend Möglichkeiten an Bord, du wirst nicht die ganze Zeit mit uns Alten verbringen müssen«, sagte Bianca ruhig. »Und keine Sorge: Du und Konstanze, ihr bekommt jede eine Einzelkabine. Die vorletzte Station unserer Reise wird übrigens Cádiz sein.«
»Wirklich das Cádiz in Spanien?«, platzte es aus Pauline heraus. Das wäre großartig!
»Ja, du liegst uns doch immer in den Ohren, dass du deine Oma wiedersehen möchtest. Dazu wirst du jetzt Gelegenheit haben. Wir dachten, die Route passt gut.«
Pauline glaubte zu träumen. Viel zu lange war sie nicht mehr bei ihrer geliebten Oma Leonore gewesen, die als junge Frau einen spanischen Kapitän geheiratet und sich mit ihm nach seiner Berentung in Cádiz niedergelassen hatte. Als sie sich zuletzt in Deutschland getroffen hatten, war der Anlass ein trauriger gewesen – die Beerdigung ihrer Mutter.
Schon sah Pauline sich in Spanien, wie sie mit ihrer Oma über die Strandpromenade spazierte oder mit ihr auf dem Balkon einen Sherry trank, ehe sie gemeinsam köstliche Tapas, gegrillten Fisch und frittierte Auberginen mit Honigsauce verspeisten.
»Eh, Bianca?« Michaela räusperte sich. »Danke, wir sind unheimlich gerührt und nehmen euer Angebot an.« Mit glänzenden Augen schaute sie zu Jenny, die sie breit angrinste.
»Schwägerin?«, fragte Bianca mit herausforderndem Blick. »Bist du nun auch dabei?«
Laut seufzend hob diese die Hände. »Also gut, ihr würdet ja sowieso keine Ruhe geben.«
Daphne wandte sich Pauline zu. »Was ist mit dir?«
»Die Frage ist, ob ich zu der Zeit mehr als zwei oder drei Tage freibekomme.«
»Du hast so lange keinen Urlaub gemacht«, warf Bianca ein.
»Und soweit ich mich erinnere, hast du deinen Kolleginnen und Kollegen immer den Vortritt gelassen«, schob Daphne hinterher und Pauline nickte zustimmend. Damit hatte sie durchaus recht. »Wenn dein Chef ablehnt, dann weise ihn darauf hin, dass er eine Fürsorgepflicht dir gegenüber hat. Er ist gesetzlich verpflichtet, die Gesundheit, Sicherheit und das Wohlbefinden seiner Mitarbeitenden zu schützen. Dazu gehört auch, dass mindestens ein Urlaub zehn Tage am Stück betragen muss. Rechnen wir die Wochenenden mit ein, dann hättest du vierzehn Tage Zeit für eine Kreuzfahrt«, endete Daphne triumphierend.
»Tja, also bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als das morgen früh als Erstes zu klären, damit ich mit euch allen zusammen in See stechen kann«, sagte Pauline spitzbübisch. Der Zwischenstopp in Cádiz war das Zünglein an der Waage: Sie musste unbedingt mit.
»Wunderbar!« Daphne und Bianca stand die Vorfreude ins Gesicht geschrieben. »Daphne, hol doch bitte mal den Champagner – und dann stoßen wir alle gemeinsam auf eine abenteuervolle, lustige und schöne Reise an!«
Fröstelnd blieb Ronja vor der Hafenklause stehen, die Karla Lang, ihre Chefin, als Treffpunkt genannt hatte. Warum sie gerade diesen Ort ausgewählt hatte, anstatt sie in ihr schickes Büro zu bestellen, war Ronja schleierhaft. Lautes Stimmengewirr und Akkordeonmusik drangen durch die schmierigen Holzfenster. Die Leuchtreklame an dem alten Gebäude flackerte und Ronja brauchte einen Augenblick, um die Tür der Spelunke auszumachen.
Sie atmete noch einmal tief durch, bevor sie in die Kneipe trat. Sofort krochen die Rauchschwaden in ihre Lunge und sie musste husten. Ihre Augen fingen an zu tränen. Rechts am Tresen vorbei, der letzte Tisch, erinnerte sie sich an die Beschreibung, die Karla ihr gegeben hatte.
Zielstrebig ging Ronja auf die Theke zu und wandte sich zur beschriebenen Seite. Etwas versteckt waren drei kleinere Nischen in die Wand eingelassen. In der letzten saß ihre Chefin und zog an einer Zigarette. Vorihr auf dem Tisch standen eine Tasse Kaffee und ein Schnapsglas. Gibt es bei ihr was zu feiern?
»Du bist ja mal pünktlich«, knurrte Karla anstelle einer Begrüßung. »Willst was trinken?«
»Nö. Ich bin hier, um einen Auftrag zu erhalten, nicht, um mich zu besaufen.«
»Haha, ich liebe deine Schlagfertigkeit.« Karlas Stimme triefte vor Sarkasmus. »Du solltest Komikerin werden.«
»Schieß schon los, um was geht es diesmal?«
»Möchtest du nach wie vor ein großes Ding drehen?«
»Auf jeden Fall möchte ich endlich mehr Kohle verdienen. Ich habe diese kleinen Aufträge so satt. Nur billige Schnüffeleien im Privatleben anderer Menschen … Immer bloß gucken, ob Frau Müller ihren Mann betrügt, und Fotos von den Rendezvous schießen …«
»Meine Leute fangen alle klein an. Schließlich müsst ihr erst mal mein Vertrauen gewinnen.«
»Du musst doch nach fünf Jahren inzwischen wissen, dass du dich auf mich verlassen kannst.«
»Eben. Darum habe ich jetzt etwas Schönes für dich«, betonte Karla. »Du musst mir eine Marmorskulptur besorgen, welche eine Unbekannte unserer neuen Auftraggeberin vor der Nase weggeschnappt hat.«
»Eine Unbekannte?« Ronja bekam einen Lachanfall, der aber nicht lange anhielt, denn Karla schlug mit der Hand dermaßen auf den Tisch, dass ihr Löffel im Kaffeebecher klirrte und Ronja vor Schreck laut aufschrie. Schlagartig war es still im Schankraum, nur die Hintergrundmusik plärrte weiter.
»Entschuldige, das war ein guter Witz.« Ronja fing sich wieder und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Du weißt schon, was das Wort ›Unbekannte‹ bedeutet? ›Unbekannte‹ wie ›eine Frau ohne Namen‹?«
»Bist du mit deinem Gekicher fertig?«, fragte Ronjas Chefin genervt. »Was ich sagen wollte: Das ist nicht irgendeine Skulptur und es braucht ein wenig Feingefühl, sie mir unbeschädigt zu besorgen. Es handelt sich«, sie sah sich um, doch die Leute scherten sich wieder einen Dreck um die beiden, widmeten sich dem Dartspiel oder ihren Getränken und Diskussionen, »um die Grazie Euphrosyne, eine der drei Töchter des Zeus. Das Entscheidende an dieser Skulptur-Nachbildung ist«, sie machte eine kurze Pause, drückte ihre Zigarette in einem übervollen Aschenbecher aus und zündete sich eine neue an, »dass es nur zwei Exemplare von dieser kleineren Version gibt. Sie sind von dem Künstler aus demselben Marmor hergestellt worden wie das große Original, das in der Eremitage steht und Euphrosyne und ihre Schwestern Thalia und Aglaia zeigt.« Karla machte eine Pause und fixierte Ronja mit ihren Augen.
Die nickte verständig. Bis hierhin konnte sie ihrer Chefin folgen, wobei sie sich die Namen der Skulpturen kaum würde merken können.
»Der Clou ist, dass bei der Nachbildung die drei Göttinnen so erschaffen wurden, dass sie auseinandergehakt werden und somit für sich allein stehen können. Eine Ausfertigung der Imitate steht gut bewacht in der Antikensammlung im Skulpturen-Museum unserer Bundeshauptstadt. Die andere ist im Besitz unserer Auftraggeberin, nun ja, unvollständig, sie hat auf nicht ganz legalem Wege nur Aglaia und Thalia ergattern können. Euphrosyne, die Dritte im Bunde, ist endlich wieder auf dem Kunstmarkt aufgetaucht und seit der letzten Versteigerung im Auktionshaus Banditore und Martillero in Privatbesitz. Jemand anderes war schneller als unsere Auftraggeberin.« Karla verzog das Gesicht. »Du musst wissen, dass diese drei Grazien während des Zweiten Weltkriegs einst von Kunsträubern gestohlen wurden und sie lange Zeit als verschollen galten.«
Das waren eine Menge Informationen, die Ronja erst einmal verdauen musste. Viel relevanter war aber ohnehin die erste Aussage, an der sie nach wie vor festhing. »Äh, noch mal, du meinst, ich soll dir eine Marmorskulptur besorgen, ohne dass die Besitzerin bekannt ist? Ich schätze mal, es gibt Zigtausende Antiquariate, Museen sowie interessierte Kunstsammler überall auf der Welt, die diese Skulptur ersteigert haben könnten«, ereiferte Ronja sich. »Ohne mich. Die Aufgabe ist schier unmöglich zu lösen. Hast du keinen anderen, vernünftigen Job für mich?« Fassungslos schüttelte Ronja den Kopf. »Lass das wen anders machen, bestimmt gibt es noch jemanden, der oder die genauso lange wie ich auf ein größeres Ding wartet.«
»Ich wollte meine Schwester damit betrauen.« Karla blies Ringe aus Zigarettenrauch in die Luft. »Sie wohnte bis vor ein paar Tagen bei mir …«
»Na also!« Erleichtert stand Ronja auf. »Dann führ du einfach diesen Auftrag gemeinsam mit deiner Schwester aus und überleg dir für mich einen neuen.«
»… aber sie hat mein Vertrauen missbraucht.« Karla grunzte abschätzig. »Setz dich wieder! Ich habe sie rausgeworfen, nachdem ich sie beim Stehlen erwischt habe.«
Zu gern hätte Ronja nach dem Grund für den Diebstahl gefragt. Karla und ihre Schwester schienen finanziell gut aufgestellt zu sein. Warum mussten sie sich beklauen? Anscheinend ließ sich ihre Neugier von ihrem Gesicht ablesen.
»Sie meint, ihr stünde noch was vom Familienerbe zu«, ergänzte Karla mit verzogener Miene. »Und sie hat sich tatsächlich getraut, mein Büro zu verunstalten, bevor sie das Weite gesucht hat.« Für einen Augenblick fiel ihre Fassade und Enttäuschung machte sich auf ihren Zügen breit. »Der Maler hat gerade ordentlich damit zu tun, die Wände zu überpinseln. Deswegen treffen wir uns auch hier.« Sie straffte ihre Schultern und setzte ihre undurchdringliche Karla-Maske wieder auf. »Aber zurück zu Euphrosyne. Du kannst sie dir anschauen, damit du ihren Wert zu schätzen lernst.«
»Nein, werde ich nicht. Ich mach mich nicht auf den irrsinnigen Weg, eine Unbekannte zu finden.« Trotzdem setzte Ronja sich wieder hin.
»Du Dummchen«, knurrte Karla. »Natürlich habe ich inzwischen herausgefunden, wer sie ersteigert hat. Das war nur meine Einleitung. Es ist eine alte Bekannte, für welche die Skulptur einen hohen ideellen Wert hat.« Sie holte ihr Handy hervor und zeigte Ronja allen Widerständen zum Trotz ein Foto der drei nackten Göttinnen in inniger Umarmung. Dann eines von zwei der Grazien, ohne die Dritte im Bunde, sowie ein weiteres Foto, auf welchem die lange Zeit als vermisst gegoltene Euphrosyne abgebildet war. Darunter stand der Name des Auktionshauses.
Wider Erwarten konnte Ronja sich den Damen auf den Fotos nicht entziehen, nahm Karlas Handy in die Hand und studierte die Haltung der drei Grazien, prägte sich Letztere besonders ein. Auf irgendeine Weise war sie beeindruckt von der Geschichte der Figuren.
»Wie groß ist sie?«
»Ungefähr zwanzig Zentimeter. Passt noch gut in einen Rucksack oder eine Reisetasche, kein Ding«, antwortete Karla wie aus der Pistole geschossen.
»Und du kannst die alte Bekannte ni…«
»Sie ist eine alte Bekannte, die ich nicht wiedersehen möchte«, konterte Karla.
Ronja fand es schlauer, nicht nach dem Warum zu fragen. »Wenn das so ist, dann gib mir den Namen. Wann soll ich dir die Skulptur besorgen?«
»So schnell wie möglich. Die Dame heißt Alita Sánchez. Und sie wohnt in Cádiz.«
»Oh, in Spanien? Auf einer Insel?«
»Spanien, ja. Insel, nein. Cádiz liegt auf dem Festland, in Andalusien.«
Ronja legte ihre Hand unters Kinn. »Hm, wie soll ich da hinkommen? Soll ich meinen Privatjet nehmen? Oder doch lieber das Wohnmobil?«
»Ach, wenn das so ist, dann benötigst du keinen Vorschuss von mir.« Karla zwinkerte ihr zu. »Für einen Augenblick dachte ich, du hättest tatsächlich einen Privatjet oder ein Wohnmobil.«
»Du glaubst nicht wirklich, dass ich bei der Anita …«
»Alita«, korrigierte Karla sie.
»… Alita auftauchen und die Grazie einfach mitnehmen kann, oder? Wie soll ich das anstellen? ›Guten Tag, Sie haben was, was ich meiner Chefin besorgen soll. Und übrigens ist sie eine alte Bekannte von Ihnen‹?«
»Lass dir was einfallen.«
»Soll ich ihr Geld unter die Nase halten?«
»Sinnlos, das wird sie nicht jucken. Sie wird Euphrosyne für kein Geld der Welt herausrücken.«
»Soll ich Alita betäuben und mir die Skulptur schnappen, während sie bewusstlos ist?«
»Meinetwegen.« Karla zuckte mit den Achseln.
»Oder zusammenschlagen?«
»Ronja, Liebling, das ist mir egal. Meinetwegen kannst du sie auch umbringen. Hauptsache, du beschaffst mir diese Statue.«
Fassungslos starrte Ronja ihre Chefin an. Diese Aufgabe schien eindeutig eine Nummer zu groß für sie zu sein.
»Ach, was reden wir hier überhaupt? Ich kann den Auftrag sowieso nicht annehmen, weil ich kein Spanisch spreche.«
»Da kann ich dich beruhigen. Sie ist keine Spanierin. Sie hat den Namen vor ein paar Jahren angenommen, ist aber von Haus aus Schweizerin. Schweizerin, die Hochdeutsch spricht, wenn du es genau wissen willst«, präzisierte Karla ihre Angaben. »Vielleicht versüßt dein Gehalt dir die Aufgabe? Unsere Auftraggeberin lässt hundertfünfzigtausend Euro springen.«
»Hundertfünfzigtausend Euro? Ich glaube, ich brauche doch was zu trinken.« Das war der Großauftrag schlechthin. Die Summe ist der Hammer! Ronja war beeindruckt, dass Karla ihr das zutraute und sie damit beauftragte.
»Dann haben wir einen Deal?«
»Äh … ich … äh …« Ronja hatte plötzlich Fusseln im Mund. »Ja, ich werd’s machen.«
»Hand drauf!«
Ronja schüttelte die Hand ihrer Chefin, ehe Karla dem Barkeeper zubrüllte: »He, Fiddi, bring mal zwei Kurze und zwei Wasser rüber, aber zacki!«
Zugleich ließ Ronja ihre Fantasie spielen. Endlich eine größere Wohnung. Am besten Dachgeschoss anstelle ihrer jetzigen Souterrainwohnung mit den gammeligen Wänden. Mindestens vier oder fünf Zimmer. Tiefgarage, in welcher ein auf ihren Namen zugelassenes Cabrio der Extraklasse parken würde. Jede Woche schick essen gehen. Und damit war nicht gemeint, am Monatsende abends beim Supermarkt zu containern. Jede Nacht eine andere hübsche Frau in meinem Queen-Size-Bett. Ihr Hirn lief auf Hochtouren und schien angesichts der sich ihr bietenden Möglichkeiten schier überzukochen.
Doch das Wichtigste überhaupt: Sie könnte Theresa zusätzliche Physiotherapiestunden bezahlen. Hauptsache, ich kriege jetzt mit meinen jungen zweiunddreißig Jahren keinen Herzinfarkt oder Schlaganfall wegen Überforderung meiner Synapsen. Hundertfünfzigtausend Tacken. Damit würde sie eine Ewigkeit auskommen. Na ja, mindestens ein halbes oder sogar ein Jahr. Es war unmöglich, jetzt schon die Kosten abzuschätzen, die für die Behandlung ihrer Schwester anfallen würden.
Der Unfall war vor zwei Wochen geschehen und seitdem lag Theresa im Koma. Laut den behandelnden Ärztinnen und Ärzten konnte noch keine eindeutige Prognose abgegeben werden. Sie hatten Ronja gegenüber angedeutet, dass es sehr lange dauern könne, bis irgendwelche Fortschritte erkennbar seien. Das hieß, wenn – ja, wenn! – Theresa überhaupt aus dem Koma erwachen würde, was nicht vorhersagbar war. Alltagsreize und zusätzliche Physiotherapiestunden vermochten jedoch eventuell positive Reaktionen bei ihr in Gang zu setzen. Diese Ungewissheit war für Ronja nervenaufreibend, aber am Geldverdienen kam sie nicht vorbei. Obendrein kann ich nicht jede Minute neben Theresas Bett hocken, das schaffe ich mental nicht.
Karla schnippte mit den Fingern vor ihrer Nase. »Wollen wir nicht anstoßen?«
Verblüfft starrte Ronja auf die Schnäpse und Wassergläser auf dem Tisch. Wann hat dieser Fiddi die denn hier abgestellt?
Karla prostete ihr zu. »Auf die schöne Euphrosyne!«
»Zum Wohl!« Ronja schluckte den Alkohol, der wie Feuer brannte, in einem Zug runter. Sie schüttelte sich. »Was ist das denn für’n Rattengift?«
»Harmlos, der hat nur 35 Prozent, ist Fiddis Lieblingsmarke«, tat Karla Ronjas Bemerkung ab und zeigte auf den Namen der Kornmarke, der auf dem Glas eingraviert war. »Und noch mal zum Mitschreiben: Wenn du mir die Euphrosyne bringst, heile, springen hundertfünfzigtausend für uns dabei raus. Fünfzigtausend für dich. Duerhältst von mir einen Vorschuss in Höhe von fünftausend Euro.«
Schwups, da war er hin, Ronjas Traum. Nix Wohnung mit vier, fünf Zimmern plus Tiefgarage.
»Du sagtest doch vorhin hundertfünfzigtausend Euro?«
»Für uns beide. Hunderttausend für mich, da ich die Verantwortung trage und die ganze Recherchearbeit nach der Unbekannten geleistet habe. Zudem besorge ich ein Duplikat der Skulptur, welches du Alita unterschmuggeln kannst. Das wird nicht einfach und auch nicht ganz billig zu bekommen sein. Solche Kunstfälscher gibt es schließlich nicht wie Sand am Meer. Ich schätze, es wird noch ein paar Wochen dauern, bis du dich auf den Weg machen kannst. Im Frühsommer voraussichtlich. Vielleicht bin ich gnädig und gebe dir einen Bonus, wenn du zurück bist. Wegen Theresa. Ich bin ja schließlich kein Unmensch. Wir werden sehen.«
Ronja konnte den Auftrag gar nicht ablehnen, ganz abgesehen davon, dass sie bereits zugesagt hatte. Fünfzigtausend waren immerhin eine ganze Menge Geld. Und wer weiß? Wenn sie sich geschickt anstellte, würde der nächste Auftrag womöglich sogar ein wenig mehr einbringen.
Iris rieb sich die Nase und starrte auf den Laptop-Bildschirm. Hundertfünfzigtausend für die Skulptur? Es hat sich gelohnt, Karla hinterherzuspionieren. Auch wenn sie sich dafür in die äußerste Ecke der Kneipe, zwischen die Rückwand der letzten Sitzbank und den Toilettenzugang hatte quetschen müssen.
Ein überdimensionaler Zigarettenautomat diente ihr vorzüglich als Sichtschutz, während sie Karlas Worten wiederum einigermaßen gut folgen konnte. Und dann war da noch Hafenklause-Fiddi, der Wirt, der für ein paar Scheine darauf achtgab, dass ja niemand sie blöd anquatschte, während sie Karlas Gespräch mit dieser Ronja belauschte.
Wieder zurück zu Hause hatte Iris sich sofort an ihren Laptop gesetzt, um nach Bildern dieser Skulptur zu suchen. Sollte Karla doch ruhig den schwierigeren Anteil der Recherchearbeit leisten und sie so zur schönen Euphrosyne und deren neuer Besitzerin führen.
Denn natürlich stand nirgendwo geschrieben, wer die Skulptur ersteigert hatte, und sie hatte den Namen in der Kneipe nicht verstanden. Jetzt musste Iris bloß Ronja wachsam auf den Fersen bleiben. Und ihr das Duplikat, von welchem Karla gesprochen hatte, abluchsen.
»Bald schon kralle ich mir die Euphrosyne. Ich werde Karla vorführen, diese miese Kröte!«, sprach Iris sich lautstark in Rage und ihre betagte Meerschweinchen-Dame stob aufgeschreckt quiekend durch ihren Käfig.
»Genau, Schätzchen, sie hat uns einfach aus der Wohnung geschmissen. Nur weil ich sie ein allerletztes Mal um Geld gebeten und der geizigen Schrulle die Meinung gegeigt habe.« Jetzt hockte sie mit der kleinen Susi in einer Eineinhalbzimmer-Butze, die sie in ihrer Not für teures Geld angemietet hatte.
Wütend klickte sie sich durch die Website des Auktionshauses Banditore und Martillero und den Katalog der versteigerten Kunstgegenstände, ohne wirklich ein Auge dafür zu haben.
»Jahrelang habe ich für sie die Drecksarbeit gemacht!«, brüllte sie den Bildschirm an. »Immer wieder hat sie mich vertröstet, mir gesagt, dass eines Tages der große Auftrag für mich kommen werde. Dass ich ihn erhalten solle, sonst niemand. Denn Blut sei bekanntlich dicker als Wasser. Pah!«
Als ihre Schwester vor einer Woche die Order, eine Skulptur zu besorgen, von dieser steinreichen Dame bekommen hatte – mit der Aussicht auf weitere lukrative Geschäfte –, hatte sie teuren Champagner gekauft, mit Iris gefeiert und ihr versichert, wie sehr sie ihre Arbeit schätze. Hatte gesagt, dass sie einzig ihrem kleinen Schwesterlein vertrauen würde. Und am nächsten Tag hatte Karla-Schlampe ihr sang- und klanglos mitgeteilt, dass die Arbeit von dieser Lesbe Ronja erledigt werden solle. »Iris, ich fühle einfach, dass du noch nicht reif dafür bist.«
Klar, sie war an Karlas Safe gegangen und hatte sich das Geld, das jene ihr nicht hatte geben wollen, genommen. Karla hatte sie dabei erwischt. Aber erlaubte ihr das, so mit ihrer Schwester umzuspringen? Denn schließlich handelte es sich bei den Scheinen in Karlas Safe um das gemeinsame Erbe, das die Eltern ihnen hinterlassen hatten. Die Hälfte davon gehört mir!
»Dafür wird sie büßen. Ich werde ihr das Geschäft vermiesen und vor ihr dort sein. Dann staube ich das Geld von ihrer Auftraggeberin ab.« Iris rieb sich die Hände und funkelte das Meerschweinchen an, das erneut laut quiekte. »Beruhig dich, Susi!«, blaffte sie und tatsächlich verstummte die alte Dame. »Braves Tierchen. Weißt du was? Ich freue mich schon auf Karlas Gesicht, wenn sie feststellt, dass ich ab diesem Moment mit der Auftraggeberin zusammenarbeiten werde und der Zug für sie abgefahren ist. Ich werde sie schon davon überzeugen, dass ich die bessere Wahl bin«, grollte sie.
»Ohne die Arbeit für diese gut betuchte Frau wird Karla ihr teures Leben nicht mehr finanzieren können und bald auf der Straße leben. Vielleicht sollte ich aus Rache ihre Luxuswohnung übernehmen? Und wenn sie bettelnd vor meiner Tür aufkreuzt, werfe ich ihr keinen Cent zu. Keinen Cent! Verwandtschaft hin oder her! Sie kann mich mal.«
Das Café war rappelvoll und Pauline wünschte, ihre Frühschicht wäre endlich vorbei. Sie war furchtbar fahrig und unaufmerksam, ständig am Grübeln, nachdem sie von Bianca erfahren hatte, dass sie nach einem Ersatz für Daphnes Schwester suchen solle. Die Unglückliche lag nach einem Fahrradunfall im Krankenhaus und war operiert worden. Somit fiel für sie die Reise aus. Mit aufgeblasenen Wangen und in die Hüfte gestemmten Händen blickte Pauline über den Tresen.
Alle Tische waren besetzt, die um die Ecke gelegene Universität versprach während der Vorlesungszeit ein volles Haus. Dozierende und Verwaltungsangestellte bevölkerten die Tische auf der Empore im hinteren Teil des Cafés, im vorderen Bereich hatten sich Seniorengruppen niedergelassen und draußen waren die Tische und Bänke von den Studierenden besetzt.
»Na, schon einen Ersatz für die Kreuzfahrt gefunden?«, fragte ihr Kollege Martin und stellte ein großes Tablett mit schmutzigem Geschirr vor der Durchreiche zur Küche ab.
»Nee. Karin ist zu der Zeit mit ihrer Tante in Amerika, Tina geht bald für ein halbes Jahr ins Ausland, Anke wechselt gerade ihren Job und Babsi darf mit Frau und Töchterchen ihren Urlaub auf Schloss Bergfels verbringen«, zählte Pauline auf. »Stell dir vor, auf einem richtigen Schloss! Da ist eine Kreuzfahrt nix dagegen. Das zieht nicht.« Sie pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und warf Martin einen hilflosen Blick zu. »Sonst wüsste ich nicht, wen ich fragen könnte.«
»Mich.« Martin deutete auf seine Brust. »Wie viele Städte werden noch mal angefahren? Vier oder fünf?«
»Es sind sogar sechs: Southampton, Le Havre, La Coruña, Lissabon, Cádiz und Barcelona. Habe ich vergessen zu erzählen, dass die Kreuzfahrt nur für Lesben ist?«
»Und wenn ich mich verkleide?« Martin tippte sich an die Wange und machte einen nachdenklichen Gesichtsausdruck. »Obwohl … zwei Wochen, sagst du? Lass mal, das halte ich nicht durch.«
Pauline verdrehte die Augen.
»Aber hier sind ja genug hübsche Frauen.« Martin zeigte in den Raum, erntete aber von Pauline lediglich ein Schnauben.
»Ich kann doch keine wildfremde Frau fragen, ob sie eine Kreuzfahrt mit mir und meinen Freundinnen machen möchte.«
»Was ist denn mit deiner Professorin?«, hakte er nach. »Das wäre eine gute Gelegenheit, sie näher kennenzulernen. Außerdem hast du doch von einer Einzelkabine für jede von euch gesprochen. Ist nicht so, als müsstet ihr euch ständig auf der Pelle hocken.«
»Meiner ›Professorin‹? Wer, bitte schön, soll das denn sein?«
»Na, die, die einzig bei dir ihren Cappuccino bestellt und mit dir flirtet? Die du jedes Mal anschmachtest und für die du immer eine Extraportion Milch über den Tresen schiebst, wenn sie ihr Getränk ordert?«
Ein paar Wochen, nachdem Pauline vom städtischen, etwas altbackenen Kaffeehaus ins Café direkt neben der Uni gewechselt war, war diese dunkelhaarige Butch aufgetaucht. Sie kam beinahe jeden Tag vorbei. Bestellte fast immer dasselbe. Sah umwerfend aus. Balancierte ihren Kaffee nonchalant und verschüttete ihn niemals, obwohl sie meist noch eine Akten- oder Laptoptasche in der anderen Hand trug. Sie wirkte so, als könnte sie nichts und niemand aus der Ruhe bringen. Unaufgeregt. Schaute nicht genervt auf ihre Uhr, wenn die uralte Kasse mal wieder hakte und drei Angestellte gleichzeitig an ihr rumruckeln mussten, um sie in Gang zu bringen. Die mysteriöse Frau begegnete Pauline stets mit einem Lächeln auf den Lippen.
Martin stieß Pauline in die Rippen. »He, ich meine die, die dir jedes Mal ins Ohr zwitschert, dass sie gar keinen Zucker in ihrem Cappuccino oder Kaffee braucht, da du so süß bist und sie stattdessen einfach dich anschaut.«
»Jetzt übertreibst du aber. So was hat Ronja noch nie zu mir gesagt. Außerdem weiß ich gar nicht, ob sie überhaupt eine Professorin ist. Wir haben nicht wirklich privat geredet. Fast ausnahmslos holt sie ihren Kaffee oder mal einen Cappuccino to go.«
»Und woher kennst du dann ihren Namen? Sie hat ja kein Namensschild wie wir auf der Brust kleben. Ich finde, ihrem Getue nach könnte sie eine Professorin sein.«
»Pah, woher weißt du denn, wie Professorinnen sich benehmen? Ihren Namen kenne ich bloß, weil sie ihren Cappuccino mal mit der Kreditkarte bezahlt hat.«
»Nur Süßholz raspelnde Professorinnen bezahlen ihren Koffeinschub mit Kreditkarte oder einem Fünfziger, weil sie es nicht klein haben.«
Entnervt drehte sich Pauline der nächsten Kundin zu – Ronja! Hatte sie was mitbekommen von der Unterhaltung?
»Hallo, Pauline, grüß dich. Heute ausnahmsweise einen großen Becher Kaffee zum Hiertrinken, ohne Süßholzgeraspel und Extraschuss Milch. Ich kann auch anders.«
»Äh … ja, klar. Mach ich«, stammelte Pauline und rieb verlegen über ihre Schürze.
»Und sag deinem oberschlauen Kollegen, dass er sich um seinen eigenen Dreck kümmern soll. Ich setze mich neben die Tür, um meine Tagesdosis an Koffein hinunterzustürzen.« Sie war im Begriff, sich umzudrehen, stoppte jedoch und fügte hinzu: »Ich werde später bar zahlen.«
Fast hätte Pauline salutiert, so bestimmt hatte Ronja ihre Bestellung aufgegeben. Kaum war diese auf dem Weg zu ihrem angepeilten Tisch, raunzte Pauline Martin an: »Der Kaffee geht auf dich! Wenn unser Chef mitbekommen hätte, wie unhöflich du mit unseren Stammgästen umspringst, könntest du eine Schicht umsonst machen oder das Geld an den Tierschutzverein spenden.«
Martin grummelte etwas vor sich hin, aber Pauline hörte ihm nicht mehr zu. Schnell kümmerte sie sich um Ronjas Bestellung, legte einen Donut auf eigene Rechnung dazu und schritt zu Ronjas Tisch.
»Hier, einmal Kaffee plus Donut, geht beides aufs Haus.«
Ronja blickte von ihrem Handy auf und zeigte auf den Donut. »Zahlt er den oder du?«
»Woher …?« Ronja musste mitgehört haben, dass der Kaffee auf Martin gehen sollte. Habe ich so laut geredet?
Ronja grinste, wurde aber schnell wieder ernst. »Lass ihn für den Donut auch noch blechen. Und hol dir ebenfalls einen Kaffee. Ich spendiere ihn dir.«
»Das geht nicht, ich bin hier auf der Arbeit«, antwortete Pauline. »Mir ist es nicht erlaubt, mich außerhalb meiner Pause zu den Gästen zu setzen. Und ich habe erst in einer Woche Urlaub«, entfuhr es ihr. Als ob das Ronja interessieren oder sie überhaupt etwas angehen würde.