Wenn unsere Welt kippt - Jandy Nelson - E-Book

Wenn unsere Welt kippt E-Book

Jandy Nelson

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Beschreibung

Drei Geschwister. Ein geheimnisvolles Mädchen. Eine schicksalhafte Begegnung. Willkommen in Paradise Springs – einer Kleinstadt voller Hitze, Staub und Magie inmitten des Wine Country Kaliforniens und Heimat der Fall-Familie. Die 12-jährige Dizzy Fall ist eine grandiose Kuchenbäckerin, sieht Geister und wäre am liebsten eine Romanheldin. Der 17-jährige Miles Fall ist zugleich hochbegabt und Sportskanone, Hundefanatiker und unfassbar schön. Aber auch verloren und auf der Suche nach dem Jungen seiner Träume. Wynton Fall brilliert als 19-jähriger Geigenvirtuose und fährt sein Leben dabei konsequent gegen die Wand.  Als Cassidy, ein geheimnisvolles Mädchen mit regenbogenfarbigem Haar in Paradise Springs auftaucht, wirbelt sie die Welt der drei Geschwister durcheinander. Doch bevor Dizzy, Miles und Wynton herausfinden, wer Cassidy wirklich ist, passiert die Katastrophe. Nur Cassidy kann die Fall-Familie wieder zusammenführen … Ein kaleidoskopisch erzählte Coming-of-Age-Familien-Roman voller Rivalitäten, Geheimnisse, Roadtrips, Leidenschaft, Verrat und Liebe. Eine moderne Familiensaga, die mitten ins Herz trifft und sofort nach Erscheinen auf die New-York-Times-Bestsellerliste sprang.

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Seitenzahl: 807

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Jandy Nelson

Wenn unsere Welt kippt

 

Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara König

 

Über dieses Buch

 

 

Drei Geschwister. Ein geheimnisvolles Mädchen. Eine schicksalhafte Begegnung.

 

Willkommen in Paradise Spring – einer Kleinstadt voller Hitze, Staub und Magie inmitten des Wine Country Kaliforniens und Heimat der Fall-Familie. Die 12-jährige Dizzy Fall ist eine grandiose Kuchenbäckerin, sieht Geister und wäre am liebsten eine Romanheldin. Der 17-jährige Miles Fall ist zugleich hochbegabt und Sportskanone, Hundefanatiker und unfassbar schön. Aber auch verloren und auf der Suche nach dem Jungen seiner Träume. Wynton Fall brilliert als 19-jähriger Geigenvirtuose und fährt sein Leben dabei konsequent gegen die Wand.

Als Cassidy, ein geheimnisvolles Mädchen mit regenbogenfarbigem Haar in Paradise Spring auftaucht, wirbelt sie die Welt der drei Geschwister durcheinander. Doch bevor Dizzy, Miles und Wynton herausfinden, wer Cassidy wirklich ist, passiert die Katastrophe. Nur Cassidy kann die Fall-Familie wieder zusammenführen …

 

Ein kaleidoskopisch erzählte Coming-of-Age-Familien-Roman voller Rivalitäten, Geheimnisse, Roadtrips, Leidenschaft, Verrat und Liebe. Eine moderne Familiensaga, die mitten ins Herz trifft und sofort nach Erscheinen auf die New-York-Times-Bestsellerliste sprang.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter www.fischer-sauerlaender.de

Biografie

 

 

Jandy Nelson ist die New-York-Times-Bestsellerautorin von »Ich gebe dir die Sonne«, das mit dem Printz Award ausgezeichnet wurde, den Stonewall-Honor-Book-Preis erhielt und das die TIMES zu den 100 Best Young Adult Books of All Time zählte. Ihr bejubeltes Debüt »Über mir der Himmel« wurde auf AppleTV+ verfilmt. Beide Romane haben sich weltweit über 1 Mio. Mal verkauft, wurden in mehr als 38 Sprachen übersetzt, von der Presse gefeiert und sind bis heute internationale Bestseller. Jandy Nelson lebt und arbeitet in San Francisco, Kalifornien, nicht weit von den Schauplätzen ihrer Romane.

Impressum

 

 

Erschienen bei Fischer Sauerländer E-Book

 

Copyright © 2024 by Jandy Nelson

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »When The World Tips Over«

bei Dial Books for Young Readers, The Penguin Group (USA), Inc.

Published by arrangement with Pippin Properties, Inc. through Rights People, London.

 

Covergestaltung und -abbildung: Annabelle von Sperber

ISBN 978-3-7336-0894-1

 

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

 

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Inhalt

[Widmung]

[Motto]

[Fantasie, die (Substantiv)]

TEIL EINS

Dizzy

Dizzy

Ausschnitte aus der Paradise Springs Gazette:

Dizzy

Dizzys Testament (am Kühlschrank)

Aus Bernadette Falls Sammelsurium nicht abgeschickter Briefe

Miles

Aus Miles’ Sudelheft

Miles, der so tut, als wäre er ein Mensch, der ein Gespräch mit einem tatsächlichen Menschen in der Schule führt

Miles im Gespräch mit der Frau von der Telefonseelsorge

Aus Bernadettes Sammelsurium nicht abgeschickter Briefe

Miles

Miles

Ein Auszug aus dem 1956 erschienenen Roman »Das wiedergefundene Paradies« von Celena Jake-Adams, der in Paradise Springs, Kalifornien spielt

Ausschnitt aus der Paradise Springs Gazette:

Miles’ E-Mails an seinen verschollenen Vater in dem Hilf mir!-Ordner auf seinem Computer

Aus Bernadettes Sammelsurium nicht abgeschickter Briefe

Wynton

Ausschnitt aus der Paradise Springs Gazette:

Aus Bernadettes Sammelsurium nicht abgeschickter Briefe

Wynton

Wynton

Notruf

TEIL ZWEI

Wynton

Cassidy

Aus Marigolds Wörtertüte unter Cassidys Matratze

Dizzy

Aus Bernadettes Sammelsurium nicht abgeschickter Briefe

Miles

Cassidy

Cassidy

Wynton

Gespräch zwischen den Nachtschwestern im Krankenhaus von Paradise Springs

Cassidy

Wynton

Cassidy

Aus Marigolds Wörtertüte unter Cassidys Matratze

Dizzy

Aus Bernadettes Sammelsurium nicht abgeschickter Briefe

Miles’ E-Mails an seinen verschollenen Vater in dem Hilf-mir!-Ordner auf seinem Computer

Wynton

Dizzy

Ein Gespräch zwischen Cassidy und Felix auf dem Weg nach Paradise Springs, eine Woche vorher:

TEIL DREI

Die Geschichte der verwunderlichen Geburt von Alonso Fall und der Ursprung des Familienfluchs

Miles

Miles

Die herzzerreißende Liebesgeschichte von Alonso Fall und Sebastian Ortega nimmt ihren Anfang

Miles

Cassidy

Cassidy

Cassidy

Wynton

Miles

Aus Bernadettes Sammelsurium nicht abgeschickter Briefe

Miles

Die Geschichte von Alonso Falls furchtbarer Entscheidung zwischen seinem Herzen und seinem Schicksal

Miles

Die Geschichte vom Ende eines Traums und dem Beginn eines anderen

Miles

Der Fluch der Familie Fall

Der Stammbaum der Familie Fall

Wynton

Miles

Aus Bernadettes Sammelsurium nicht abgeschickter Briefe:

Dizzy

TEIL VIER

Cassidy

Aus Marigolds Wörtertüte unter Cassidys Matratze

Cassidy

Cassidy

Wynton

Dizzy

Aus Bernadettes Sammelsurium nicht abgeschickter Briefe

Miles

Cassidy

Miles

Miles

Aus Bernadettes Sammelsurium nicht abgeschickter Briefe

Cassidy

Aus Bernadettes Sammelsurium nicht abgeschickter Briefe

Cassidy

Aus Bernadettes Sammelsurium nicht abgeschickter Briefe

Wynton

Der Zettel, den Theo für Bernadette hinterlassen hat

E-Mail vom Dexter Brown Wines an das Wine Magazine

Aus Bernadettes Sammelsurium nicht abgeschickter Briefe

Der Mann, der als Geist lebte

Dizzy

Miles

Cassidy

TEIL FÜNF

Miles

Dizzy

Wynton

Der Stammbaum der Familie Fall

Die erste Mahlzeit, die Theo Fall im The Blue Spoonful isst

Danksagung

Für meine Familie,

die gleichzeitig meine allerbesten Freunde sind,

und

für meine Freunde,

die gleichzeitig eine wunderbare Familie sind

Am Ende sind wir alle Geschichten.

Margaret Atwood

 

Wie können wir leben ohne unser Leben? Wie können wir wissen, dass wir es sind, ohne unsere Vergangenheit?

John Steinbeck

 

Bisweilen lebt man, ohne wirklich zu leben und dann drängelt sich das Leben in eine einzige Stunde.

Oscar Wilde

 

Tag für Tag und Nacht für Nacht waren wir zusammen – alles andere habe ich längst vergessen.

Walt Whitman

 

Es gibt eine andere Welt, doch sie ist in dieser.

Paul Éluard

 

Suchst du mich?

Ich sitze neben dir.

Kabir

Fantasie, die (Substantiv)

Fan|ta|sie \ fantaˈziː

 

1: Kompositionsform, frei improvisiertes, formal ungebundenes Musikstück

2: Erzeugnis, Gebilde der Gedankenwelt

3: Etwas Versponnenes, Wundersames oder Unglaubliches

TEIL EINS

Dizzy

Begegnung Numero eins mit dem Regenbogenmädchen

An dem Tag, an dem die zwölfjährige Dizzy vor einen viel zu schnell fahrenden Sattelschlepper lief und dem Mädchen mit dem Regenbogenhaar begegnete, ging auch wirklich alles schief. Die Scheidung von ihrem besten Freund Lizard – der jetzt seinen richtigen Namen Tristan trug – hatte Lizard-jetzt-Tristan Beliebtheit, einen coolen Haarschnitt und eine Freundin namens Melinda beschert.

Dizzy hatte sie gar nichts beschert.

Seit der ersten Klasse waren die beiden unzertrennlich gewesen, wanderten in jeden noch so verborgenen Winkel ihrer gegenseitigen Gedanken und Gefühle, backten sich Rezept für Rezept durch die erlesensten Nachspeisen im Pastry Magazine, ganz zu schweigen von ihrer gemeinsamen Lieblingsbeschäftigung: auf der Suche nach sachdienlichen Hinweisen in Bezug auf das Dasein durchs Internet zu surfen. Wetter und Naturkatastrophen waren Lizards Fachgebiet, Dizzy war zuständig für alles, was cool war.

In letzter Zeit war Folgendes cool gewesen: Geschichten von Heiligen, die ekstatisch verzückt in der Luft schweben; von im Himalaya lebenden Yogis, die ihren Körper in Stein verwandeln können; und von Buddha, der sich vervielfachen und aus seinen Fingerspitzen Feuer schießen konnte (Ja!). All diese Wunderdinge waren so was von total Banane, dass sie Dizzys Seele schwirren ließen und Dizzy wollte eine schwirrende Seele. Sie wollte ganz und gar schwirren.

Außerdem hatten sich Dizzy und Lizard vor Kurzem, vor der Scheidung, drei Sekunden lang geküsst. Sie wollten überprüfen, ob sie diese Endorphine fühlen würden, über die Lizard im Internet gelesen hatte oder vielleicht sogar spontane innere Explosionen, von denen Dizzy aus den Kitschromanen erfahren hatte, die ihre Mutter hinter den literarischen Werken im Bücherregal aufbewahrte; besonders aus Jetzt für immer und ewig, mit Samantha Brooksweather in der Hauptrolle, Dizzys Lieblingsbuch. Lizard fand Kitschromane völlig überflüssig, doch Dizzy lernte so viel aus ihnen. Das Tor zu ihrer wilden Weiblichkeit sollte endlich aufschwingen, ihre brennende Begierde erwachen, ihr glühender Glutofen in Flammen aufgehen, und obwohl sie, anders als Samantha Brooksweather, noch nie einen echten Penis gesehen hatte, wusste sie durch diese Bücher jede Menge über Liebeskolben, Lustmusketen und Freudenstäbe. Bedauerlicherweise hatte jedoch keiner von beiden während dieses Drei-Sekunden-Kusses Endorphine oder spontane innere Explosionen verspürt.

Jedenfalls, an diesem besagten Tag der ersten Begegnung, saß Dizzy den ganzen Morgen lang im Unterricht und musste zusehen, wie ihr Ex-Bester-Freund Lizard-jetzt-Tristan heimlich mit seiner schrecklichen neuen Freundin Melinda Nachrichten austauschte, bestimmt über all die spontanen inneren Explosionen, die sie erlebt hatten, als sie sich drei Wochen vorher bei der Party geküsst hatten. Dizzy hatte zugesehen, als es passierte, mit zugeschnürter Kehle, während Lizard seine Hand in Melindas Nacken legte, kurz bevor ihre Lippen aufeinandertrafen. Seit diesem Moment sprach Dizzy – dafür bekannt, ohne Punkt und Komma zu reden – in der Schule kaum noch und wenn doch, hatte sie das Gefühl, ihre Stimme würde aus ihren Füßen kommen.

Aber was blieb Dizzy noch zu sagen? Ihre Mutter hatte ihr einmal erklärt, dass die große Liebe nicht unbedingt immer romantischer Natur ist. Dizzy hatte eigentlich gedacht, dass sie bereits dreimal die große Liebe gefunden hatte: ihren besten Freund Lizard; ihre Mom, Chefköchin Mom; und ihren ältesten Bruder Wynton, der dermaßen fantastisch war, dass er Funken sprühte. Doch was jetzt? Sie wusste nicht, dass Menschen einfach aufhören können, jemanden zu lieben. Sie dachte, Freundschaft wäre für immer, wie Materie.

Nach der Mittagspause – die Dizzy im Computerraum damit verbracht hatte, über eine Gruppe Menschen in Osteuropa zu lesen, die davon überzeugt waren, jemand oder etwas hätte ihnen psychisch die Zunge geraubt – durchquerte sie die halbe Schule, um zu den Toiletten zu gehen, die niemand benutzte. Sie versuchte Lizard-jetzt-Tristan und Melinda aus dem Weg zu gehen, die in letzter Zeit ständig vor dem Wasserspender bei dem näheren Klo rumhingen, Hände und Seelen zusammengeschweißt. Nur, als sie die Tür aufschwang, stand Lizard da, in der einzigen Unisex-Toilette der Schule.

Er stand allein vor dem Spiegel, schmierte sich irgendein Gel in die neue Frisur und sah jetzt aus wie alle anderen Jungs, nicht wie der Lizard von vor einem Monat, mit der Wirbelsturmfrisur, genau wie sie, im Stil Nerdiger-Typ-bei-Jugend-forscht, auch genau wie sie. Er hatte sich sogar Kontaktlinsen besorgt, sodass sie jetzt nicht mehr die gleiche schwarze zehn Tonnen schwere Clark-Kent-Brille trugen. Sie wollte den alten Lizard zurück, den Jungen, der ihr von Lichtsäulen und Nebelbögen erzählte und mindestens fünfhundert Mal am Tag: »So geil, Diz« sagte.

Das Neonlicht in dem nacktschneckenfarbenen Bad flackerte. Seit einer gefühlten Ewigkeit waren sie nicht mehr allein miteinander gewesen, und Dizzy fühlte sich ganz leer. Lizard warf ihr einen Blick im Spiegel zu, mit ausdrucksloser Miene, und widmete sich dann wieder seinem Haar, das die Farbe von einem Kürbis hatte. Seine Haut war blass mit ein paar vereinzelten Sommersprossen im Gesicht – nicht ganzen Galaxien wie bei Dizzy. Als Tony Spencer, Dizzys Peiniger seit Anbeginn der Zeit, Dizzy in der fünften Klasse mal einen hässlichen Streuselkuchen genannt hatte, war Lizard am nächsten Tag mit einem Haufen eigener Galaxien, die er sich ins Gesicht gemalt hatte, zur Schule gekommen.

Dizzy erhaschte einen Blick auf ihr Spiegelbild und wie jedes Mal, wenn sie ihre Erscheinung sah, verspürte sie einen Stich: Sie sah aus wie ein Frosch mit Perücke. Sie konnte nicht fassen, dass es das war, was die Leute zu sehen bekamen, wenn sie sie anguckten. Würden sie doch nur was Besseres erblicken, wie zum Beispiel Samantha Brooksweathers Kopf. Samantha Brooksweather entflammte die Herzen der Männer mit ihren samtweichen, seidenen Locken, ihrem sinnlichen Schmollmund und ihren glitzernden saphirblauen Augen.

Dizzy richtete ihre ganz gewöhnlichen, nicht glitzernden braunen Augen wieder auf ihren Ex-Besten-Freund, diesmal auf die richtige Version, nicht die im Spiegel. Sie wollte so gerne seine Hand halten, wie sie das jahrelang heimlich unter Tischen getan hatten. Sie wollte ihn daran erinnern, wie sie ihre Haare früher immer zu einem einzigen Zopf geflochten hatten, damit sie so tun konnten, als wären sie eine Person. Sie wollte ihn fragen, warum er nicht auf ihre Nachrichten oder Anrufe reagierte, nicht an sein Fenster kam, sogar nachdem sie siebenunddreißig Kieselsteine hintereinander dagegengeschmissen hatte. Stattdessen verschwand sie in der Klokabine und hielt so lange den Atem an, wie sie konnte, und als sie wieder rauskam, war er verschwunden.

Auf dem Spiegel stand mit schwarzem Filzstift geschrieben: Lass mich in Ruhe.

Dizzy hatte das Gefühl, weggeblasen zu werden.

Dann kam Sport. Völkerball. Stunde des Grauens und des Schreckens. Auf dem glühend heißen Sportplatz schwitzte sie ihr T-Shirt durch, versuchte sich unsichtbar zu machen und so zu tun, als würde sie nicht bemerken, wie Lizard und Tony Spencer die Köpfe zusammensteckten. Iih. Bäh. Dizzy hätte sich am liebsten ein Loch gebuddelt. Warum hatte sie nie daran gedacht, dass es im Leben mehr als einen einzigen Freund braucht? Aber sie hatte keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn Tony Spencer hatte sich von Lizard abgewandt und stürmte jetzt auf sie zu, den Ball in der Hand, mit einem cartoonhaften fiesen Grinsen im Gesicht. Und mörderischen Absichten. Ihr Herz plumpste in die Hose. Sie versuchte, ihm psychisch die Zunge zu rauben, und brach dann den Vorgang ab, weil: ekelig.

Aus ihrem Mund kam ein seltsames peinliches Quieken, als Tony den Ball in die Luft hob und ihr in den Bauch schmetterte, ihr den Atem und die Würde raubte. Als sie – wie ein Fisch auf dem Trockenen – schnaufend und nach Luft ringend auf dem Boden lag und sich den Bauch hielt, drehte er sich um, hockte sich über sie, schob ihr seinen verschwitzten Sporthosenhintern ins Gesicht und furzte.

Dizzys Verstand fror ein. Nein, flehte sie, mach, dass das gerade nicht passiert ist. Löschfunktion. Escape drücken. Ausschalten.

»Und, welche Farbe hat er, Dizzy?«, fragte Tony voller Schadenfreude. Lizard musste ihm von ihrer Synästhesie erzählt haben, dass sie Gerüche als Farben wahrnahm.

Um sie herum wurde gelacht und gelacht, doch Dizzy konzentrierte sich allein auf Lizards Wiehern, der lachte, als wäre sie nicht bereit, eine Badewanne voller Spinnen verspeisen, um ihm jeglichen Schmerz zu ersparen.

Deswegen musste Dizzy weinen. Deswegen befahl sie ihren nackten, knochigen, dünnen Beinen, über den Sportplatz zu rennen, über den Zaun der Paradise Springs Middle School zu klettern und einen Weinberg nach dem anderen zu durchqueren, bis sie sich in einem unbelebten Teil der Stadt wiederfand, mitten an einem Schultag und in einer Hitzewelle, in ihren Sportsachen. Am liebsten wäre sie aus ihrem blöden verschwitzten Körper gesprungen und hätte ihn zurückgelassen.

Denn Tony Spencer hatte in ihr Gesicht gefurzt! Vor allen anderen! Und Lizard hatte gelacht! Hatte sie ausgelacht! Gott! Von jetzt an würde sie eine Tarnung brauchen, eine ganz neue Identität. Niemals würde sie wieder zurück in die Schule gehen, das stand fest. Sie würde die Kreditkarte ihrer Mutter klauen und einen Flug nach Südamerika buchen. In der Savanne mit den Wasserschweinen leben, denn bei einer ihrer Marathonrecherchen im Internet hatte sie erfahren, dass Wasserschweine von allen Säugetieren die nettesten sind.

Nicht gehässig wie Leute aus der siebten Klasse.

Und hallo? Ihre Synästhesie war nicht einmal etwas, für das Dizzy sich schämte, so wie für ihr Frosch-mit-Perücke-Aussehen oder ihre Atompilzfrisur oder ihre Sommersprossen, die jeden Zentimeter von ihr besiedelt hatten, bis hin zu ihren Zehen und ihrem glühenden Glutofen. Oder wie für alles andere. Dafür, wie klein und ungewölbt sie war und dass sie noch an keiner aufregenden Stelle ein einziges Haar aufzuweisen hatte oder dafür, dass sie sich oft wie ein Staubkorn fühlte. Ganz zu schweigen davon, wie groß ihre Angst war, zu sterben oder einzuschlafen oder allein im Dunkeln zu liegen oder ein Zimmer zu verlassen, in dem ihre Mutter sich aufhielt, oder für immer hässlich zu sein. Oder sogar dafür, wie viel Zeit sie wirklich im Internet verbrachte, auf der Suche nach sachdienlichen Hinweisen in Bezug auf das Dasein, oder für so viele andere Dinge, die Dizzy das Gefühl gaben, dass das Leben von einer Demütigung zur nächsten hüpfte, ob privat oder öffentlich.

Sie taumelte den verlassenen, glühend heißen Gehweg hinunter, vollkommen gedankenverloren und bekam gar nichts mit; nicht den bernsteinfarbenen Duft in der Luft, nicht, dass die Läden wegen der höllischen Hitze zugemacht hatten, nicht die sonnenversengten Hügel in der Ferne, nicht die seltsam knarzende Stille, weil alle vier Flüsse in Paradise Springs versiegt waren. Sie bekam noch nicht einmal den leeren Himmel mit, ohne einen einzigen Vogel, weil keiner Lust hatte zu fliegen, während die Teufelswinde durch das Tal streiften und für die schlimmste Hitzewelle seit Langem sorgten.

Blindlings machte sie einen Schritt auf die Straße.

Dann ein Kreischen, als würde die Welt auseinandergerissen.

Unter ihr bebte die Erde, die Luft wurde erschüttert. Dizzy hatte keine Ahnung, was los war.

Sie drehte sich um und sah das riesige Metallgesicht eines Sattelschleppers auf sich zurasen. Oh nein oh nein oh nein oh nein. Sie konnte sich nicht bewegen, nicht schreien, nicht denken. Sie konnte nichts tun. Ihre Füße waren wie einbetoniert, während die Zeit immer langsamer wurde und dann mit einem Mal vollkommen stillstand mit der Erkenntnis: Das war’s jetzt.

War’s wirklich.

Das Ende.

Oh, hoffentlich wurde sie ein Geist. Ein Geist, der den ganzen Tag lang zusammen mit Chef Mom in ihrem Restaurant The Blue Spoonful backte.

»Ich will bitte sofort zurückkommen, bitte«, flehte Dizzy eindringlich, an Gott gewandt. »Ein Geist, der sprechen kann, Sir«, ergänzte sie. »Nicht so ein stummer, bitte.«

Sie schluckte, Trauer erfüllte sie, ein eindeutiges Ich-bin-nicht-bereit. Sie würde sterben und hätte nur drei Sekunden von den durchschnittlich zwei Wochen damit verbracht, die ein Mensch in seinem Leben mit Küssen verbringt. Sie würde sterben, ohne sich je verliebt zu haben, ohne mit der Seele eines anderen zu verschmelzen, so wie Samantha Brooksweather und Jericho Blane. Bevor sie dem heißen Drängen von jemandem begegnen, in gemeinsamer Ekstase im Feuer der Leidenschaft verbrennen oder bevor sie all die anderen epischen Sexszenen in Jetzt für immer und ewig erleben konnte. Noch schlimmer war, dass sie sterben würde, ohne selbst je einen Orgasmus gehabt zu haben – sie bekam es einfach nicht hin oder war vielleicht missgebildet, keine Ahnung.

Und das Allerschlimmste war: Sie würde sterben, bevor der Vater, den sie nie kennengelernt hatte – weil sie an dem Abend, als er gegangen war, noch im Mutterleib gewesen war –, zurückkehrte. Sie wusste aber, dass er nicht tot war, so wie manche Leute behaupteten – weil sie ihn oben auf dem Bergrücken in seinem Cowboyhut gesehen hatte, und er genauso ausgesehen hatte wie auf all den Fotos, nur dass ihr das keiner glaubte (abgesehen von Wynton und Lizard), bedingt durch die Tatsache, dass sie regelmäßig die stummen Geister im Weinberg erblickte und ihr auch das niemand glaubte (abgesehen von Wynton und Lizard). Oh, Wynton. Und ihr anderer Bruder, der Vollkommene Miles. Ihre Mutter! Panik ergriff sie. Wie konnte sie die alle verlassen? Die Welt verlassen? Sie verließ noch nicht einmal gerne den Frühstückstisch. Wie konnte sie sterben, bevor sie sich alle – Wynton, der Vollkommene Miles, Chef Mom, Ent-entschwundener Dad, ihr komischer betrunkener Onkel Clive – auf dem uralten roten Samtsofa im Wohnzimmer zusammengequetscht hatten, ein Glücksgewühl von Menschen mit Dizzy genau in der Mitte und alle zusammen Harold und Maude oder Babettes Fest (die Lieblingsfilme ihrer Mom und nun auch ihre) gesehen hatten. Oh, hoffentlich würden sie im Gedenken an sie diese beiden Filme gucken, anstatt Blumen mitzubringen.

Nicht dass ihre Familie je etwas in einem Glücksgewühl geguckt hatte oder überhaupt je besonders glücklich gewesen war, Punkt. Aber jetzt konnte man diese Möglichkeit völlig vergessen.

Sie würde sterben, bevor überhaupt irgendetwas möglich wurde.

Und das Schrecklichste daran war noch nicht einmal, dass das Letzte vor ihrem Tod der Gesichtsfurz von Tony Spencer oder der Verrat von Lizard war. (Ach, vergesst die Filme. Statt Blumen bewerft lieber die Häuser der beiden mit Eiern und wickelt sie in Klopapier ein.) Das Schrecklichste war, dass sie sterben würde, bevor etwas wahrhaft Wundersames in ihrem Leben geschehen war.

Und dann geschah etwas wahrhaft Wundersames in ihrem Leben.

Zwei Hände griffen stark und entschlossen nach ihren Hüften. Sie drehte sich um und sah ein Mädchen. Ein leuchtendes, strahlendes, eine Sternschnuppe von einem Mädchen. Dizzy hob die Hände, um das Gesicht zu berühren, das von Regenbogenlocken umrahmt war, eine märchenhafte, farbenfrohe Pracht, die dem Mädchen bis zur Taille reichte; doch ehe Dizzy die lichte Wange berühren konnte, sagte das Mädchen etwas, stupste Dizzy auf die Nase, gab ihr dann einen gewaltigen Schubs, und Dizzy flog durch die Luft. Flog, flog, flog. Der Himmel kippte weg, während Dizzy aus ihren Gedanken geschleudert wurde, aus Zeit und Raum und schließlich in einem Wirrwarr aus Armen, Beinen und Bestürzung auf dem heißen Gehweg landete.

Heilig heilig heilig.

Dizzy bewegte sich einen Moment lang nicht. Äh. Was war da gerade passiert? Ihr Herz wie ein wildes Tier in ihrer Brust, lag sie mit dem Gesicht auf dem glühenden Schotter. War sie ein Geist? Sie wackelte mit zwei Fingern. Nein, noch immer fleischlich. Sie versuchte, den Kopf zu heben, aber alles war verschwommen – wo war ihre Brille? Sie rollte sich auf den Rücken und eine Gestalt ragte über ihr auf, ein Mann, das konnte sie auch ohne Brille erkennen, – nicht das Mädchen, das sie erwartet hatte –, und verdeckte die Sonne, streckte ihr seine Hand hin und redete wie ein Wasserfall.

»War das knapp. War das knapp. Jesus, Maria und Josef. Aber sieh dich an. Wie neu. Nicht ein einziger Kratzer. Gott sei Dank.« Er half Dizzy mit zitternden Armen auf die zitternden Beine. Trotz der Steinchen in ihrem Gesicht und ihren Handflächen, den Schürfwunden an den Knien, ihrem pochenden Herzen, war sie okay. Was den Mann anging, war sich Dizzy da allerdings nicht so sicher, er schien kurz vor der Schnappatmung zu sein. Schweißflecken breiteten sich auf seinem T-Shirt aus, sein Geruch schlug ihr entgegen, ein kürbisoranges Aroma, die Farbe, die Dizzy mit Männern verband, mit Männerschweiß. Mädchen und Frauen rochen meistens grün. Doch nicht alle, wie sie inzwischen wusste. Das Regenbogenmädchen, das ihr gerade das Leben gerettet hatte, duftete nach Purpur, genau wie Blumen.

»Ojemine. Oh Gott«, sagte der Mann. »Wie alt bist du, neun, zehn? Ich habe eine Enkeltochter in deinem Alter. Leicht wie eine Feder, genau wie du.«

»Ich bin eine zwölf Jahre alte Feder«, sagte Dizzy abwehrend. Weil ja, es war ärgerlich, dass sie immer noch gebeten wurde, als Elfe bei der Paradise-Springs-Sommerparade mitzumachen, vielen Dank auch. Sie bückte sich nach ihrer Brille, nur um festzustellen, dass sie in ihrem Haar steckte, das auch als ihr persönliches Fundbüro diente. Sie befreite sie und setzte sie auf, um zu erkennen, dass der Mann mit seinem großen, verschwitzten, freundlichen Gesicht im Grunde genommen ein sprechendes Walross war.

Das Mädchen hingegen war nirgendwo zu sehen.

»Okay, dann zwölf. Lag ich wohl falsch«, sagte der Mann. »Puh, puh. Bin so froh, dass dir nichts passiert ist. Dachte schon, das war’s.«

»Ich auch«, sagte Dizzy, während ihr Verstand wieder auf Touren kam. »Ich habe gehofft, dass ich dann wenigstens als Geist wiederkomme, aber ich wollte nicht so ein stummer sein, wissen Sie?« Sie spürte Worte, Worte, Worte in sich anschwellen, eine Flutwelle davon, die sich aus ihr ergießen wollte wie in den guten alten Zeiten vor der Scheidung. Klar, manche Leute, die hier nicht genannt werden, waren der Meinung, dass Dizzy viel zu viel redete und ihre Stimmbänder entfernt bekommen sollte, aber diese Leute waren nicht hier, also: »Das wäre furchtbar. Da zu sein, alles und alle beobachten zu können, aber nicht sprechen, niemandem etwas sagen zu können, nicht einmal meinen Namen. Wie die in unserem Weinberg.«

»Ich glaube, du wärst als stummer Geist schrecklich«, sagte der Walross-Mann.

»Ja. Eben.« Sie sah sich um. »Ich muss dem Mädchen danken, Sir. Wo ist sie hin?«

Der Mann verzog das Gesicht, sodass seine Augenbrauen eine buschige Linie bildeten. »Wo ist wer hin? Alles, was ich gesehen habe, ist die Sonne, wie du da im Licht standst, ganz erstarrt und zum Himmel aufgeschaut hast, wie so eine heilige Statue. Und dann bin ich in die Eisen gestiegen, volle Pulle, und in der nächsten Sekunde bist du aus dem Weg geflogen. Du musst sportlich sein, denn du bist echt geflogen. War das ein Anblick!«

»Gar nicht sportlich. Nicht wie mein Bruder, der Vollkommene Miles. Ich hasse Sport. Egal welchen. Ich bin nicht mal gerne draußen.« Sie holte Luft, um ihre Gedanken zu verlangsamen, die gerne wie eine Lawine über sie hereinbrachen. »Ich bin so geflogen, weil ein Mädchen mich geschubst hat. Und wie, sie hat mich einfach nach oben in die Luft gestoßen. Sie haben sie nicht gesehen?« Dizzy blickte noch einmal die Straße rauf und runter. Nirgendwo war irgendjemand zu sehen. Keine Touristen. Noch nicht mal ein Auto. Die Teufelswinde hatten Paradise Springs in eine trockene, staubige Geisterstadt verwandelt.

»Sie hatte lauter bunte Wörter eintätowiert«, Dizzy berührte ihren Arm an der Stelle, wo das Mädchen Schicksal stehen hatte, »und sie war wunderschön, ihr Gesicht …«

»Sind nur wir, Herzchen. Muss die Hitze sein. Kann keiner mehr klar denken.«

 

Als sie unter der brennenden Sonne durch die Weinberge nach Hause ging, ihre Kleidung schweißnass an ihr klebte, konnte sie nicht aufhören, an das Mädchen zu denken. Diesen Purpurduft. Die Art, wie sie Dizzy direkt angeguckt hatte, Auge in Auge.

»Keine Sorge. Alles wird gut«, hatte das Mädchen mit seltsam heiserer Stimme gesagt, bevor sie Dizzys Nase mit dem Finger berührt hatte – Stups. Dizzys Ängste wegen dem immer näher kommenden Sattelschlepper hatten sich in Luft aufgelöst. All ihre Ängste und Unsicherheiten wegen allem hatten sich in Luft aufgelöst. Überall auf dem Mädchen war Licht gewesen, ein Strahlenkranz hatte ihren Kopf umströmt, diese endlosen Regenbogenlocken, wie ein Heiligenschein.

Wie ein Heiligenschein.

Und dann hatte sie Dizzy in die Luft gestoßen.

Dizzy

Am nächsten Morgen saß Dizzy am Frühstückstisch – sie lebte, sie atmete, sie dachte Gedanken und war einem Engel begegnet! Sie konnte kaum an sich halten, wollte es dem Vollkommenem Miles zurufen, der ihr gegenübersaß, aber er hatte sein Zutritt-verboten-Schild aufgestellt, was bedeutete, dass er in irgendeinen Roman vertieft war, so wie immer, während sich seine rabenschwarzen Ringellocken rabenschwarz um sein prinzliches Antlitz ringelten.

Dizzy und ihr ältester Bruder Wynton hatten beide keine Ahnung, wo der Vollkommene Miles hergekommen war. Er hatte ein Sportstipendium an einer noblen Privatschule drei Orte weiter (Wynton, genau wie Dizzy, rannte regelmäßig irgendwo dagegen). Er war still, ernst und erschreckend schön (Wynton, genau wie Dizzy, sah aus wie ein Frosch mit Perücke und beteiligte sich ebenso gerne an unseriösen Kissenschlachten wie an unüberhörbaren Wortgefechten). Er ging am liebsten in der Natur laufen (Wynton, genau wie Dizzy, liebte Wände, Dächer, schnödeln vor dem Fernseher).

Und dann war der Vollkommene Miles auch noch gut, verbrachte seine freie Zeit damit, dreibeinige Hunde auszuführen oder blinde Pferde im Tierheim zu striegeln (Wynton war immer böse, war sogar vor ein paar Wochen ins Gefängnis geworfen worden, und Dizzy war darauf spezialisiert, bösartige Gedanken über ihre Altersgenossen zu haben). Und das Sahnehäubchen auf dem Eisbecher, den der Vollkommene Miles nie essen würde, weil er sich nie etwas Süßes genehmigte (kein Kommentar): Er wurde zwei Jahre hintereinander im Jahrbuch sowohl zum heißesten Typen seiner Stufe gewählt als auch zum Schüler, der am ehesten erfolgreich sein wird.

Der Vollkommene Miles sorgte dafür, dass sich Dizzy besonders warzig fühlte.

Sie knuffte ihn in den Arm. »Ich bin gestern einem Engel begegnet.«

Er guckte weiter in sein Buch.

»Sie hat mir das Leben gerettet.«

Nichts.

»Vielleicht, weil sie mich auf die Nase gestupst hat.«

Nichts.

»Miles!«

»Ich lese«, sagte er, ohne den Kopf zu heben.

Nur weil Dizzy die Jüngste war und so klein und jetzt obendrein auch noch ein Mädchen, das keine Freunde hatte und gesichtsgefurzt wurde, schienen gewisse Mitglieder der Familie wie der Vollkommene hier, es in Ordnung zu finden, so zu tun, als würde sie nicht existieren.

»Ein Engel, wirklich, in echt, Miles. Ein supercooler mit Tattoos und allem.«

Er blätterte um.

Dizzy studierte seine bewimperten Augen, seine geschwungenen Lippen, seine lockeren lockigen Locken, die glänzten und sich nie krausten (genau wie Samantha Brooksweathers!) und die übrigen Merkmale des heißesten Typen seiner Stufe. Mal im Ernst, wie konnte es sein, dass sie, die Gesichtsgefurzte und der Vollkommene zur selben Gattung gehörten, geschweige denn zur selben Familie?

»Die Sache ist die, Miles«, sagte sie. »Du weißt nicht, ob heute vielleicht dein letzter Tag ist. Du könntest von einem Laster überfahren oder von einem Asteroiden getroffen werden, ein Krater könnte sich unter dir auftun. Es ist so grauenvoll, dass man absolut keine Kontrolle darüber hat, wann man sterben wird, findest du nicht auch? Es ist so was von schwer, sterblich zu sein.«

Miles verschluckte sich an seinem trockenen Toast aus braunem Reis (kein Kommentar), erholte sich wieder, ohne den Blick von seinem Buch abzuwenden.

Menno!

Wir sollten alle versuchen, wie Miles zu sein, pflegte ihre Mutter zu sagen. Er verschwendet nie eine Sekunde. Dizzy verschwendete alle Sekunden. Weil die Zeit für sie schneller lief als für andere Leute. Wie war es sonst zu erklären, was passierte, wenn sie im Internet surfte? Oder aus dem Fenster guckte? Oder was auch immer. Sie schnüffelte oft in den kleinen Heftchen rum, die Miles bei sich trug und in der untersten Schublade seiner Kommode aufbewahrte. Früher waren sie immer voller To-do-Listen gewesen, aber in letzter Zeit waren die Einträge völlig entgleist. Einer der neusten war: Jemanden finden, mit dem ich Köpfe tauschen kann.

»Ich will überhaupt nicht sterben« fuhr Dizzy unbeirrt fort. »Also, so überhaupt überhaupt nicht. Ich will unsterblich sein. Viele Leute sagen, dass sie es langweilig fänden, jahrtausendelang zu leben, oder dass es zu deprimierend wäre, wieder und wieder mitzuerleben, wie alle, die sie lieben, sterben. Ich aber nicht. Wie geht’s dir damit?«

Erwartungsvoll sah Dizzy Miles an.

Er blätterte um.

Sie guckte sich an, wie seine Haut schimmerte.

Sie guckte sich an, wie seine Wimpern klimperten.

Sie guckte sich an, wie er immer vollkommener wurde.

Dieses Geschwisterdings zwischen ihnen funktionierte nicht. Sie waren furchtbare Frühstückspartner. Erst neuerdings verbrachte sie Zeit allein mit Miles. Früher war er nie zum Frühstück runtergekommen (oder zum Abendessen oder Filmegucken oder zu spontanen Tanzpartys oder Backmarathons oder Wortgefechten oder Kissenschlachten), wenn Wynton da war, was ja jeden Tag der Fall war, bis vor ein paar Wochen, als Mom Wynton rausgeschmissen und die Schlösser ausgewechselt hatte. (Allerdings schlief Wynton in diesem Augenblick auf dem Dachboden, weil Dizzy ihm illegalerweise die Schlüssel hatte zukommen lassen.)

Dizzy wusste, dass sie dem Vollkommenen Miles auf die Nerven ging; auf einer Skala von eins bis zehn war sie jetzt schätzungsweise bei sieben, aber hallo? Nicht beachtet zu werden, ging einem auch auf die Nerven. Und wie.

»Also, rat mal, was?«, sagte sie, ein letzter Versuch. Sie hatte schon ein paar Sachen in der Hinterhand, die ein Gespräch mit einem Felsbrocken in Gang bringen könnten.

»Du wirst es nicht glauben, Miles, aber in Pennsylvania gibt es eine Frau, die einen Orgasmus bekommt, wenn sie sich die Zähne putzt.« Das hatte sie von einer Webseite, die sie gestern Abend entdeckt hatte, bei dem Versuch herauszufinden, warum sie das mit der Selbstbefriedigung nicht hinkriegte. Mit einer theatralischen Geste nahm Dizzy eine Gabel in die Hand und tat so, als würde sie sich die Zähne damit putzen. Wenn es doch nur Lizard wäre, dem sie diese großartige Geschichte erzählen könnte. Schön wär’s.

Als er einen soliden Genervtheitsgrad von zehn erreicht hatte, stand Miles auf – er war so groß geworden, es war, als hätte man einen Telefonmasten in der Familie –, nahm sein Buch und ging zur Haustür raus auf die Veranda, um der Hitze zu trotzen. Der Zahnputz-Orgasmus hatte nicht die gewünschte Wirkung gehabt. Der Vollkommene schien seinen Sinn für Humor verloren zu haben. Dennoch stand Dizzy auf, um ihm nachzugehen, weil sie nicht anders konnte, doch dann hörte sie die Hundemeute heranstürmen und beschloss, im klimatisierten Haus zu bleiben.

Miles war eine artenübergreifende Sensation. Wenn sie die Haustür nicht zumachten, verwandelte sich sein Zimmer in eine Hundewiese. Sie hatte in Verdacht, dass er mit ihnen so sprach wie der Heilige Franziskus. Dizzy mochte keine Hunde. Warum um alles in der Welt steckten sie ihre Schnauzen immer in ihren glühenden Glutofen? Sie zog grasende Kühe und Pferde vor, vernünftige Tiere auf fernen Weiden, die keine Perversen waren. Sie setzte sich wieder hin, schnitt in den warmen Gewürzkuchen, den sie gestern Abend gebacken und nun wieder aufgewärmt hatte. Dampf stieg auf, zusammen mit einer Duftmischung aus Nelken und Sirup – ein Kornblumenblau, das Dizzys Blickfeld vernebelte, während sie tief einatmete und weiter über den Vollkommenen Miles nachdachte.

Als sie klein war, hatte sie geschlafwandelt, einmal sogar bis in Mrs Bells Haus nebenan, aber das Zimmer von Miles war im Haus ihr liebstes Ziel gewesen. Nacht für Nacht wandelte sie in sein Zimmer und kuschelte sich in den braunen Sitzsack unter dem Fenster. So hatte sie erfahren, dass der Vollkommene Miles im Schlaf weinte. Von seinem Schniefen wurde sie wach und ging dann zu ihm rüber und berührte ihn am Arm. Ihre Berührung sorgte jedes Mal dafür, dass er aufhörte. Aber was seltsam war, noch seltsamer als das: Egal, wie dunkel es im Zimmer auch war, sie konnte ihn immer sehen. Er wachte nie auf, und sie erzählte nie jemandem davon, weder von dem Weinen noch von der Tatsache, dass er irgendwie im Dunkeln zu leuchten schien. Doch sie hatte oft das Gefühl, dass der echte Miles dieser weinende Junge in der Dunkelheit war, der dieses seltsame Traumlicht ausstrahlte, und nicht der Vollkommene, der mehr Gast war als Bruder.

Ehrlich, manchmal vergaß Dizzy, dass Miles existierte. Wenn es darum ging, einen Bruder zu haben, war das für sie nur ihr ältester Bruder Wynton. Und Wynton sagte, der Vollkommene Miles wäre ein Snob oder hätte einen Stock im Arsch oder würde sich für was Besseres halten oder wäre ein verdammter Heuchler oder Unmengen von anderen Gemeinheiten, die Dizzy ein mulmiges Gefühl gaben.

Sie schnitt sich ein Stück Lavendelbutter ab (aus dem Restaurant von Chef Mom) und strich es auf ihren Gewürzkuchen, beobachtete, wie es auf der Scheibe zerlief. »Bist du da?«, fragte sie in den Raum, unsicher, ob Engel die Fähigkeit haben, sich unsichtbar zu machen, was bedeuten würde, dass ihr Engel vielleicht neben ihr saß. »Wenn du da bist, wunderschöner Engel, danke, dass du mich gestern gefunden hast, mich gerettet hast. Ich würde so gerne …«

»Dizzy!«, hörte sie und sprang von ihrem Stuhl auf. Es war eine barsche Stimme, die Stimme eines Mannes, aber das hatte nichts zu bedeuten, oder? Engel konnten bestimmt jederzeit das Geschlecht und das Alter wechseln. Oder vielleicht war ihr ein anderer geschickt worden.

»Ja«, sagte sie und legte die Scheibe Gewürzkuchen auf ihrem Teller ab. »Ich kann dich heute gar nicht sehen.«

»Hier drüben. Ich bin’s.«

Dizzy drehte sich um und sah Onkel Clive am Fenster stehen, der ihr bedeutete, zu ihm zu kommen. Was zum Himmel! Sein Kopf war zur Seite geneigt, um besser durch den schmalen Spalt des Fensters mit ihr sprechen zu können. Es ließ sich nicht ganz schließen – das Haus war über hundert Jahre alt –, sogar wenn die Klimaanlage an war.

»Ich dachte, du wärst ein Engel«, sagte sie.

»Das höre ich zum ersten Mal. Pass auf, ich habe von Wynton geträumt.«

Dizzy ging zum Fenster, öffnete es ganz, und ihr Onkel richtete sich auf. Ein ofenheißer Luftstoß, durchtränkt mit seinem Geruch – eine Mischung aus Zigaretten, Schweiß und Alkohol, in der Farbe von Rost –, fiel sie an. Er sah aus wie der haarige Riese Bigfoot. Er hatte ein schlaffes Gesicht, seine blonden Haare und sein blonder Bart waren lang und strähnig, seine Kleidung war abgenutzt und passte nicht zusammen, und sein Leibesumfang schien von Stunde zu Stunde größer zu werden. Trotz der Hitze trug er ein Flanellhemd und matschverkrustete Jeans. Sein rotes Gesicht glänzte vor Schweiß. Es ging das Gerücht um, dass er vor langer Zeit mal ein Playboy gewesen war, doch es war schwer, sich das vorzustellen. Mom bat sie immer wieder, ihrem Onkel aus dem Weg zu gehen, wenn er getrunken hatte, was allerdings stets der Fall war. Sie sagte, dass Menschen manchmal zerbrechen und dann nicht mehr zusammengesetzt werden können, aber Dizzy war da anderer Meinung. Sie glaubte, dass alle Menschen wieder zusammengesetzt werden konnten. Ihr Onkel war einsam. Dizzy konnte das spüren, wie einen Sog, wenn sie bei ihm war. Und sie erzählte nie ihrer Mutter oder irgendjemand anderem, dass sie oft beobachtete, wie er nachts in ihr Haus schlüpfte, um zu schlafen, sich auf dem roten Samtsofa zusammenrollte wie ein trauriger, alter Berglöwe.

Onkel Clive lehnte sich vor und sagte: »In dem Traum hat Wynton Geige gespielt, nur kam kein Ton raus. Dann hat er den Mund aufgemacht, um zu singen und … nix. Dann hat er mit den Füßen gestampft und man konnte nichts hören. Verstehst du?«

Dizzy nickte. »Es war keine Musik mehr in ihm drin.«

»Ganz genau. Wusste, dass du es kapierst, Schnups. Das ist ein Omen. Er muss vorsichtig sein.«

»Das sage ich ihm.«

Onkel Clive strich sich über seinen Bart und blickte Dizzy mit trüben, ernsten Augen forschend an. »Okay. Gut. Komm bald wieder vorbei, ja?« Er wandte sich ab, um zu gehen. Natürlich erzählte Dizzy ihrer Mom auch nicht, dass sie ihren Onkel in seinem braunen Haus auf dem Hügel besuchte. Sie hörte ihm gerne zu, wenn er Klavier spielte, ab und zu auch Trompete, guckte gerne seine Zeichnungen und Fotos von Kühen an, ließ sich gerne von seinen Träumen erzählen und von David Bowie. Am liebsten mochte sie es aber, wenn er von ihrem verschollenen Vater erzählte, seinem großen Bruder Theo – was er immer machte, bis er sich dann irgendwann zu sehr aufregte und sie wegschickte. Dizzy wusste, dass der Vollkommene Miles Onkel Clive auch besuchte. Aber Wynton besuchte ihn nie. Wynton war der Meinung, dass der Fluch des Versagers auf Onkel Clive lag und das höchst ansteckend war.

Dizzy sah zu, wie ihr Onkel durch den jetzt ausgetrockneten Bach davonstapfte, der das Grundstück zwischen ihm und ihnen trennte, dann den Hügel hinauf, um sich aufs Geratewohl durch die versengten Weinberge zu begeben, die er vor langer Zeit an andere Winzer verpachtet hatte. Es hatte wohl mal eine Zeit gegeben, da hatten die Weinberge und die Weine der Familie Fall als die besten im Tal gegolten, aber das war, bevor ihr Dad in der Leichenhalle des Krankenhauses von den Toten auferstanden (Ja!) und in der Nacht verschwunden war. Oder abgehauen. Oder wer weiß, was mit ihm passiert war. Dizzy vermisste ihn, obwohl sie ihn nie kennengelernt hatte – als hätte sie Durst, und das ständig.

Sie wollte einen richtigen Vater, damit sie aufhören konnte, heimlich so zu tun, als wäre Wynton ihr Dad.

Sie legte ihre Hände auf das Fenster und sah zu, wie ihr Onkel kleiner und kleiner wurde und versuchte, sich Wynton ohne Musik in ihm drin vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Das war unmöglich. Andere Menschen machten Musik; Wynton war Musik. Sie tat das Omen ab, während sie zusah, wie ihr Onkel über den Hügel verschwand. Dann kniff sie die Augen zusammen, legte den Kopf zur Seite und entspannte ihre Gedanken, in der Art, wie sie das immer machte, um die nicht lebendigen Bewohner der Fall Weinberge zu sehen – sie benutzte ihren Seelenblick.

Und … voilà.

Da, über dem Sauvignon-Blanc-Weinberg sah sie die küssenden Geister. Zwei schimmernde alte Männer, einer dunkel, einer blond, flackerten im Morgenlicht. Die Geister waren ineinander verliebt und jedes Mal, wenn sie sich küssten, schwebten sie ein Stück nach oben. Dizzy wünschte, sie wäre nicht die Einzige, die sie sehen konnte, aber sie hatte längst aufgehört, sie irgendjemandem gegenüber zu erwähnen (abgesehen von Wynton und Lizard). Sie hatte es satt, auf ihre zu lebhafte Fantasie angesprochen zu werden, was eigentlich nur eine nette Art war, ihr zu sagen, sie würde lügen oder wäre nicht ganz dicht.

Dizzy hatte schon lange den Verdacht, dass der Geist mit den dunklen Haaren ihr Urgroßvater Alonso Fall war, weil er wie die Statue auf dem großen Platz aussah. Auf der Tafel an der Statue stand allerdings, dass Alonso Fall mit einer Frau verheiratet gewesen war, deswegen verstand Dizzy nicht, warum er im Jenseits ständig diesen anderen Typen küsste.

Trotzdem, sie war ganz verrückt nach den beiden flackernden Männern und wollte mit jemandem genau wie sie sein, nur dann lebendig und nicht stumm, aber vielleicht redeten die beiden ja in Geistersprache miteinander, und sie konnte sie nur nicht hören. Sie liebte auch die beste Freundin der beiden, eine ältere Geisterfrau, die Männerkleider trug und barfuß durch die Weinberge rannte, Blumen im roten Haar, das sich hinter ihr aufbauschte wie ein roter Blütenfluss.

»Hey, Jungs«, rief sie den schwebenden Männern zu. »Wisst ihr irgendwas über Engel?« Aber natürlich bekam sie keine Antwort. Sie waren mitten in einem Kuss, mitten in der Luft, miteinander verschlungen und wie immer entrückt.

Ihre Ewigkeit war nur der andere.

Ausschnitte aus der Paradise Springs Gazette:

Die Wiederauferstehung des Winzers Theo Fall

Paradise Springs – War es ein Wunder oder eine Fehlfunktion medizinischer Gerätschaften am vergangenen Montag im Krankenhaus von Paradise Springs? Diese Frage stellen sich die Einwohner von Paradise Springs angesichts der scheinbaren Wiederauferstehung von den Toten des gefeierten Winzers Theo Fall. Fall war plötzlich an einer Lungenentzündung erkrankt und letzten Donnerstag ins Koma gefallen. Er starb vier Tage später. Der Tod trat um 18:45 Uhr ein. Doch ein paar Stunden danach trank Theo Fall zusammen mit Jose Rodriguez in der Leichenhalle des Krankenhauses Tequila. Die beiden Männer sind unten auf dem mit Datum und Uhrzeit versehenen Foto zu sehen. Rodriguez hat der Gazette berichtet, dass er mit seinem Kollegen Tom Stead gerade Schach spielte, als spitze Schreie aus dem Leichensack auf dem Tisch zu hören waren. Laut Rodriguez rannte Stead kreischend aus der Leichenhalle, in dem Glauben, der tote Mann wäre wieder lebendig geworden. Später teilte er der Gazette mit, dass er seinen Job nicht wieder aufnehmen wird.

Rodriguez öffnete den Reißverschluss des Leichensacks und hieß Theo Fall mit einem Glas Tequila zurück im Leben willkommen. Die Bezirksklinik hat den Herzmonitor, der Theo Falls Herzschlag nicht angezeigt hatte, in den Ruhestand geschickt und bittet nun um Spenden für ein neues Gerät.

Das Verschwinden des Winzers Theo Fall

Paradise Springs – Der allseits geschätzte Winzer Theo Fall, der jüngst von einer Lungenentzündung genesen oder von den Toten auferstanden ist (je nachdem, wen man in der Stadt fragt), scheint seine Familie, sein Zuhause, seine Heimat, sein preisgekröntes Weingut verlassen zu haben und davongefahren zu sein. Laut einer Quelle, die der Familie nahesteht, ist Theo Falls Ehefrau, Chefköchin und Besitzerin des Restaurants The Blue Spoonful (schwanger mit ihrem dritten Kind) mit ihrem Latein am Ende. Sie hat unserer Quelle verraten, dass ihr Ehemann einen Zettel hinterlassen hat. Sie war nicht bereit, den Inhalt preiszugeben, hat jedoch gesagt, dass ihr Ehemann ganz bestimmt nicht nach Paradise Springs zurückkehren wird. So langsam wird die Sache interessant, wie man so schön sagt.

Die Stadt wollte Winzer Theo Fall nicht gehen lassen

Paradise Springs – Die meisten langjährigen Einwohner von Paradise Springs werden bestätigen, dass es bisweilen eine Herausforderung sein kann, Paradise Springs zu betreten oder zu verlassen. Seit ihrer Erfindung haben Autos ohne ersichtlichen mechanischen Grund an der Stadtgrenze eine Panne, als würde Paradise Springs selbst verhindern wollen, dass gewisse Leute in die Stadt kommen oder sie verlassen. Davor waren es Pferde, die sich geweigert haben, ihre Hufe über die Stadtgrenze zu setzen, sodass Kutschen und frustrierte Insassen im Motel und der Bar, die passenderweise Better Luck Next Time heißt, festsaßen. Ein Augenzeuge berichtet nun, dass alle vier Reifen von Theo Falls Truck geplatzt sind, als er vor einer Woche die Stadtgrenze überquert hat, kurz nachdem er eine Lungenentzündung bekommen hatte und für tot erklärt wurde.

»Er ist einfach weitergefahren, als könnte ihn nichts aufhalten«, sagte der Einheimische Dylan Jackson, der am Rand der Straße seinen Reifen wechselte, nachdem ihn ein ähnliches Schicksal ereilt hatte. »Der Mann sah aus wie sieben Tage Regenwetter. Hatte gerade ein Leuchtsignal gestartet, also konnte ich seinen Gesichtsausdruck genau erkennen, als er vorbeigerast ist. So habe ich Theo noch nie gesehen. Der kommt nicht zurück, wenn ihr mich fragt.«

Dizzy

Wenn der Engel sie gestern nicht gerettet hätte, dachte Dizzy, die sich wieder an den Frühstückstisch gesetzt hatte und gerade abbiss, dann würde sie nicht hier sitzen und warmen Gewürzkuchen mit Lavendelbutter essen. Ihre Mutter betrat die Küche. »Morgen, chouchou«, sagte Chef Mom wie jeden Morgen.

»Ich will nie sterben«, sagte Dizzy zu ihrer Mutter. »Wirklich nie, du musst dir also keine Sorgen machen, dass ich mich umbringe.«

»Dizzy!« So rief ihre Mutter oft ihren Namen aus, als wäre er ein Kraftausdruck. »Der Gedanke ist mir nie gekommen.« Sie schüttelte den Kopf, als wollte sie die Vorstellung wieder loswerden. »Bis jetzt.« Das Gesicht ihrer Mutter war genauso mit Sommersprossen übersät wie Dizzys, und sie hatte auch eine Krisselbombe auf dem Kopf, aber sie sah nicht aus wie ein Frosch und war auch nicht leicht wie eine Feder.

Ihre Mom stellte ihre Tasche auf der Küchentheke ab. Dizzy konnte das Notizbuch darin sehen. Das war Moms sonderbare Version eines Tagebuchs, voller Briefe, die sie nie abschickte. In Dizzys Alter hatte sie damit angefangen, nachdem ihr Bruder Christophe gestorben war – weil sie so dringend mit ihm sprechen musste. Zuerst hatte sie nur Christophe geschrieben, doch mit der Zeit schrieb sie an alle, einschließlich ihrer toten Eltern, Dizzys verschollenem Vater und sogar Dizzy selbst. Diese Information hatte Dizzy sich angeeignet, weil sie auf der Suche nach ihrem Namen vielleicht mal darin rumgeschnüffelt hatte. Größtenteils war es Schnulzkram darüber, wie sehr sie Dizzy liebte, trotz ihrer Schrulligkeiten und Wortschwälle. Sie entdeckte auch einen Brief an einen Apfel. Und einen an eine Mahlzeit, die Chef Mom in San Francisco gegessen hatte. Aus diesem Notizbuch hatte Dizzy auch erfahren, dass Chef Mom für Dizzys seit Langem verschwundenen Vater jeden Abend eine Mahlzeit kochte und im Restaurant unter eine Wärmelampe stellte. Abend. Für. Abend. Wirklich voll seltsam.

»Weißt du, was ich mir überlegt habe?«, sagte Dizzy zu der voll Seltsamen. »Nie mehr das Haus zu verlassen, damit mir nichts Schlimmes passieren kann. Ich würde mich nicht langweilen. Ich könnte backen und Filme gucken und Serien und weiter im Internet recherchieren. Also das, was ich eigentlich sowieso tue, aber ohne das Risiko, in einen katastrophalen Unfall verwickelt oder von meinen Altersgenossen gedemütigt zu werden.«

»Gedemütigt zu …? Ist was passiert? War das der Grund, dass du gestern aus dem Sportunterricht abgehauen bist?« Nach Dizzys dramatischem Abgang hatte die Schule Chef Mom im Restaurant angerufen und Chef Mom wiederum Dizzy. Sie hatte ihrer Mutter gesagt, dass sie die Hitze nicht mehr ausgehalten hatte, alles aber wieder in Ordnung sei, seit sie zu Hause war und Gewürzkuchen backte.

»Nein«, log Dizzy. »Nichts ist passiert. Es war nur so heiß und …« Dizzy laberte und laberte, bis der Blick ihrer Mutter glasig wurde. Es war nicht das erste Mal gewesen, dass Dizzy aus der Schule abgehauen war.

»Du kannst nicht einfach so abhauen, Herzchen«, sagte sie. »Geh das nächste Mal zur Schulschwester, okay?!«

Dizzy nickte und rutschte auf ihrem Stuhl rum, damit sie Chef Mom besser sehen konnte. Ihre Mutter war eine große, auffällige Erscheinung. Wenn sie nicht bei der Arbeit war, trug sie geblümte Kleider und hohe Schuhe. Sie behauptete gerne, dass sie das Patriarchat zerschlagen würde, indem sie sich nicht den soziokulturellen Normen skelettartiger weiblicher Schönheit anpasste, und hatte Kühlschrankmagneten, um das zu beweisen: Riots not diets; Traue nie einem dünnen Koch; Ich bin Feministin, was ist deine Superkraft? Dizzy fand ihre Mutter wunderschön. Das taten alle.

Wohlbekannte Tatsache: Dizzy war noch nie, nicht für eine Minute ihres Lebens, schön gewesen und würde es auch nie sein. Was ihr Aussehen anging, hatte sie keinen Sechser im Lotto gewonnen. Die einzigen Menschen, die behaupteten, dass Aussehen keine Rolle spielt, waren die schönen, wie der Vollkommene Miles oder Mom. Natürlich spielte Aussehen eine Rolle. Hallo? Das war ja wohl so was von offensichtlich. Dizzy würde wohl einen mystischen, weltabgewandten Jungen finden müssen, um ihre Seele mit seiner zu verschmelzen, einer, der nur ihr gutes Herz sehen würde.

Ihre Mutter war gestern Abend erst spät nach Hause gekommen, nachdem Dizzy schon schlafen gegangen war, also wusste sie es noch nicht. Von so einem bedeutsamen Lebensereignis hatte Dizzy ihr nicht am Telefon erzählen wollen. »Mom, ich muss dir was sagen, was Unglaubliches …«

Und … ihre Mutter rief gerade jemanden an, weil, im Ernst jetzt, Dizzy existierte für diese Leute nicht. Sie war nicht mal ein Staubkorn, sie war ein Atom in einem Staubkorn.

»Bin so froh, dass wir den Jungen als Saucier eingestellt haben, wie hieß er noch mal … stimmt, Felix Rivera«, sagte Mom mit ihrer Chefstimme ins Telefon. »Dieses Gericht, das er gekocht hat – hervorragend. Alles an ihm hat mir gefallen … Ja, besonders der Fedora.« Dizzy konnte erkennen, dass es Finn war, ihr Sous Chef.

»Okay, so machen wir es … Nein, nein, besorg lieber Chicorée oder Puntarelle. Warte mal, kein Heilbutt! Der kommt mir zu den Ohren raus! Nimm die Forelle. Dann machen wir …« Dizzy schaltete ab. Sie stand auf, lehnte sich an die Küchentheke und verlieh ihrem Mienenspiel so viel Dramatik wie möglich, um klarzumachen, wie dringend ihr Redebedarf war. Vergeblich. Der Telefon-Einkaufsbummel mit Finn nahm kein Ende. Dizzy fing an, mit den Händen vor dem Gesicht ihrer Mutter herumzufuchteln, was nur dazu führte, dass Mom ihr den Rücken zukehrte und ihr Gespräch vor dem Herd fortführte. »Eine kalte Suppe, keine Gazpacho. Wie wäre es mit Gurke und Avocado. Okay, ja, gute Idee, dazu noch Crudo. Gut, Heilbutt …«

Dizzy brüllte: »Mutter, ich bin schwanger!«

Ihre Mom schnellte herum und ließ das Telefon fallen. »Was?« Ihr war alle Farbe aus dem Gesicht gewichen. Uäh. Dizzy ruderte zurück. »Nein, nein. Nicht wirklich, natürlich nicht, hab das aus einem Film, aber ich muss dir echt was erzählen.«

»Dizzy, wie kannst du mir das antun? Im Ernst, mir ist das Herz stehen geblieben.« Sie drückte nun beide Hände auf ihre Brust. »Bitte, mach so was nie wieder. Versprichst du mir das?«

»Versprochen.«

Ihre Mutter bückte sich, um das Telefon aufzuheben. »Und wir haben uns ja schon darauf geeinigt, dass du niemals Sex haben wirst. Weißt du noch?« Sie guckte auf das Telefon, seufzte und legte es auf die Theke. »Ich gehe davon aus, dass der Keuschheitsgürtel noch richtig sitzt? Nicht zu unbequem unter deiner Jeans?« Da musste Dizzy lachen, was ihre Mutter lächeln ließ und dazu führte, dass ihr Silberblick noch silberner wurde. Sie und Chef Mom waren Lachpartnerinnen.

»Okay, was ist so wichtig, mein nicht schwangeres Kind? Ich bin ungeteilt dein.«

»Ich habe gestern einen Engel gesehen.« Dizzy legte sich die Hände auf ihr Herz, so wie ihre Mutter das eben getan hatte, um zu demonstrieren, wie ernst es ihr damit war. »In echt, Mom. Ein Engel ist zu mir gekommen.« Den Teil, wo sie fast von einem Sattelschlepper überfahren wurde und der Engel ihr Leben gerettet hatte, ließ sie aus, weil ihre Mutter ihr ständig damit in den Ohren lag, mehr auf ihre Umgebung zu achten, vor allem, wenn sie die Straße überquerte. »Das war ein sehr tiefgründiges Gefühl, ich fühle es immer noch, etwas …«

»Das kann nicht dein Ernst sein.« Die Hände ihrer Mutter schossen in die Luft. »Das ist ja das Gleiche wie mit den stummen Geistern. Und was kam dann noch mal? Gott höchstselbst in deinem Schrank?« Dizzy hatte den Fehler gemacht, ihrer Mutter eines Abends zu erzählen, dass sie da so eine Ahnung hatte. »Und jetzt ein Engel. Dafür hast du mich vom Telefon geholt – Dizzy!« Sie nahm ihr Handy in die Hand, tippte eine Nummer ein und hielt es sich ans Ohr. »Finn, tut mir leid, meine Tochter hat einen an der Marmel, liegt in der Familie … Im Ernst, wer braucht schon Marmeln?« Sie warf Dizzy einen bedeutsamen Blick zu und sagte ins Telefon: »Okay, weiter. Ach, weißt du was? Ich komme zu dir. Wir treffen uns in fünfzehn Minuten am Stand der Lady Luck Farm.«

Sie beendete das Gespräch und drohte Dizzy mit dem Finger: »Lass unter keinen Umständen deinen Bruder zurück ins Haus, hörst du?«

»Ich höre.« Dizzy ging zur Haustür, öffnete sie einen Spalt und rief dem Vollkommenen Miles auf der Veranda zu: »Mom sagt, du darfst nicht zurück ins Haus kommen! Tut mir leid!«

»Sehr lustig.« Sie knöpfte ihre Kochjacke zu. »Ich meine es ernst.«

Dizzy wollte nicht lügen, also sagte sie: »Du hast doch die Schlösser austauschen lassen, weißt du noch?« Eine wahre Aussage, die jedoch den Umstand ausließ, dass Wynton, dank Dizzy, längst wieder im Haus war. »Mom, falls ich zufällig durch einen Unfall ums Leben komme, bevor wir uns wiedersehen, solltest du wissen, dass ich dir nicht verzeihen kann, wie du mit ihm umgehst. Wyn hat gesagt, er hat den Ring gar nicht genommen. Und jeder baut mal einen Unfall.«

»Was ist bloß heute mit dir los? Du stirbst nicht zufällig bei einem Unfall«, sagte ihre Mutter und wollte ganz offensichtlich mit Dizzy nicht über den Abend reden, an dem Wynton ihren Truck zu Schrott gefahren, sternhagelvoll in die Statue von Alonso Fall gekracht war, ihren Urgroßvater, der nun enthauptet auf dem großen Platz stand. Die Rechnung von der Stadt belief sich auf zwanzigtausend Dollar, und Wynton war im Gefängnis gelandet.

»Tja, falls ich doch sterbe, da ist mein Testament«, sagte Dizzy und zeigte auf den Zettel, den sie heute früh am Kühlschrank befestigt hatte. »Ich finde es wichtig, dass du es hast.«

Chef Mom warf Dizzy einen Von-welchem-Planeten-kommst-du-Blick zu, aber die amüsierte Version. »Chouchou, warst du schon immer so sonderbar?«

»Ja«, sagte Dizzy. »Und, wohlbekannte Tatsache, Mom: Juden glauben total an Engel. Deine spirituelle Tradition. Dein Volk.« Sie gingen nicht in die Synagoge, aber Mom feierte den Seder, und an Jom Kippur machte sie das Restaurant zu und fastete. Am höchsten Feiertag blieb Dizzy immer mit ihr zu Hause, wartete auf Gott und tat so, als würde sie auch fasten, aber in Wirklichkeit versteckte sie sich, wenn nötig, hinter der Kühlschranktür und schaufelte alles in sich hinein, was greifbar war.

Chef Mom verdrehte die Augen. »Ach, bitte. Nein, tun wir nicht. Wir sind ein praktisch veranlagter Haufen.«

»Eigentlich ist die jüdische Religion pickepackevoll mit Engeln«, beharrte Dizzy. »Nach meiner Begegnung habe ich das gestern Abend nachgeguckt …«

»Deiner Begegnung!« Ihre Mutter lachte. »Dizzy! Komm schon. C’est folle!« Französische Wörter waren nur gelegentlich von Mom zu hören.

»Es ist nicht folle …« Dizzy hörte auf zu reden, denn Wynton stampfte in seinen Motorradstiefeln die Treppe runter. Er hatte seine Sonnenbrille aufgesetzt, und das schiefe Grinsen auf seinem Gesicht stellte den abgeplatzten Zahn zur Schau, den er sich bei irgendeiner Prügelei in der Jugendstrafanstalt eingehandelt hatte. Er trug zerrissene schwarze Jeans und ein schwarzes T-Shirt, auf dem das Markenzeichen seiner Band The Hatchets zu sehen war: ein Beil. In seinem Mundwinkel hing eine nicht angezündete Zigarette. Seinen ramponierten Geigenkasten trug er unterm Arm. Er sah aus, als gehörte er auf ein Albumcover. Das tat er immer. Die Frosch-mit-Perücke-Optik funktionierte viel besser bei ihm, bei Jungs im Allgemeinen, besonders bei Musikern.

Wohlbekannte Tatsache: Jungs waren sexy-hässlich, nicht einfach nur hässlich.

»Habe ich eben aufgeschnappt, dass ein himmlischer Bote meine Frizzy besucht hat?«, sagte er, und Entzücken breitete sich in Dizzy aus wie ein Feuer.

»Ja, hast du!«, rief Dizzy. Wenigstens ein Mensch in der Familie hörte ihr zu, glaubte ihr, schätzte sie!

»Großartig«, sagte er, stellte seinen Geigenkasten ab und steckte sich die Zigarette hinters Ohr. Dann, in rascher Abfolge, knuddelte er Dizzy, hob sie hoch, als wäre sie aus Luft, wirbelte sie herum, während er das Beatles Lied »Dizzy Miss Lizzy« sang (laut ihm ihre Erkennungsmelodie). In genauso rascher Abfolge errötete Dizzy, quietschte, lachte los und war dann Lichtjahre entfernt von der traurigen, langweiligen, gesichtsfurzenden, Lizard-losen Welt. Wyntonisiert innerhalb von fünf Sekunden.

Ihre Mutter – deren Blick sie auswich, wegen der ganzen Wynton-die-Schlüssel-zukommen-lassen-Sache – hatte Dizzy mal erzählt, dass man früher glaubte, weiße Trüffel würden entstehen, wenn ein Blitz einen gewöhnlichen Pilz traf. So sah Dizzy Wynton – anders als gewöhnliche Pilze wie sie, war der Blitz in ihn eingeschlagen.

»Also gut dann«, sagte er mit seiner rauen Stimme, während er sie auf den Boden runterließ. »Wurde auch Zeit, dass wir beim Allmächtigen weiterkommen.« Er wuschelte durch Dizzys Haar. »Schick deinen Engel unbedingt auch bei mir vorbei. Ich kann Gottes Hilfe gebrauchen.« Er sah sie an und strahlte übers ganze Gesicht, jeder Zahn, jede Sommersprosse, jedes Fältchen. »Hab dich vermisst, Frizzy«, sagte er, und ihr Herz schwoll zur doppelten Größe an.

»Der Engel hatte lange Regenbogenlocken und überall Tattoos«, erzählte sie ihm. »Du kannst sie gar nicht übersehen.«

Wynton öffnete seinen Geigenkasten und holte ein paar welke Wildblumen heraus. Dizzy konnte Ameisen auf den Blütenblättern sehen. Wynton pflückte unterwegs immer Blumen. Wenn er zu Hause war, starben stets handgepflückte Blumensträuße auf allen Möbeln.

Wynton atmete aus und wandte sich an Chef Mom, die mit roten Wangen an der Küchentheke stand und ihn mit ihrem Blick durchbohrte. Sie zitterte.

Sie ist richtig wütend, dachte Dizzy, außergewöhnlich für ihre Mutter, die täglich in der chaotischen Restaurantküche Ruhe bewahrte. Wynton ging auf sie zu, die Arme in einer ergebenen Geste erhoben, in einer Hand die sterbenden Blumen mit gebrochenem Rückgrat.

Chef Mom sah Dizzy mit einem harten Ausdruck im Gesicht an. »Du hast ihn reingelassen?« Dizzy tat so, als wäre sie mit einem Mal taub geworden. Chef Mom wandte sich wieder an Wynton. »Bitte hör auf, das große Herz deiner Schwester auszunutzen, um an mich ranzukommen. Wenn ich vom Markt zurückkomme, möchte ich dich hier nicht mehr sehen.« Dizzy versuchte, nicht zu lächeln. Sie hatte nicht gewusst, dass ihre Mutter der Meinung war, sie hätte ein großes Herz. Sie hatte nicht gewusst, dass sie ein großes Herz hatte.

»Schon verstanden«, sagte Wynton, griff in seine Tasche und zog etwas heraus. Dizzy stellte sich auf die Zehenspitzen, damit sie es sehen konnte. Es war der Saphir-Verlobungsring mit Diamanten! Oje. Dann hatte er ihn doch gestohlen.

»Es tut mir leid«, sagte er und legte ihn Chef Mom in die Hand. »Verzeih mir, okay? Ich brauchte einen neuen Bogen für den Gig heute Abend. Es tut mir echt leid, Mom.« Dizzy sah, wie ihre Mutter schluckte, während sie den Ring in ihrer Handfläche betrachtete. Sie sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Er sagte: »Du hattest recht. Ich habe ihn genommen, aber ich habe gestern mein Motorrad verkauft, damit ich ihn im Pfandhaus wieder auslösen konnte.« Dizzys Schock spiegelte sich im Gesicht ihrer Mutter wider. Sein geliebtes Motorrad?

»Okay«, sagte ihre Mom und zog das Wort in die Länge.

»Ich habe nicht richtig nachgedacht, als ich ihn genommen habe.«

»Du denkst nie richtig nach – das ist das Problem!«

»Alles wird sich für mich ändern, Mom. Das habe ich doch versucht, dir zu sagen. Heute Abend kommt so ein Typ, um mich zu sehen …«

»Hast du das alles auch schon einmal gehört, Dizzy? Ich schon. Da ist dieser Typ. Da ist dieser Gig. Dann ist da mein Truck mit Totalschaden. Die Polizei an der Tür …«

»Ich werde dir das alles zurückzahlen. Wirst schon sehen. Dieses Mal ist es anders.« Er hielt inne und lächelte dann das Lächeln, bei dem den Mädchen der Kopf explodierte.

Ihre Mutter seufzte müde. »Wegen diesem Grinsen bist du im Leben mit viel zu viel durchgekommen, Wynton. Nichts davon ist irgendwie komisch. Ich will nicht, dass du am Ende …«

»Wie Onkel Clive wirst?«, sagte Wynton.

»Ich wollte sagen, ich will nicht, dass du in der Gosse endest.« Sie begann die tägliche Suche nach ihrem Schlüsselbund. Dizzy sah ihn auf der Theke liegen, sagte aber nichts. Sie mochte es nicht, wenn ihre Mutter ging. Hätte ihre Mutter doch bloß einen Beutel wie ein Känguru, in dem sie den ganzen Tag lang abhängen konnte.

»Du hast mich rausgeschmissen, falls du dich noch erinnerst.«

»Du hast mein Restaurant bestohlen, falls du dich noch erinnerst.«