Wenn Vertrauen verdirbt - Alexander Ried - E-Book

Wenn Vertrauen verdirbt E-Book

Alexander Ried

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Beschreibung

Larissa entdeckt eine ganz neue Welt, als ihr eine Freundin von einer geheimen und mysteriösen Schwesternschaft berichtet. Um als Schwester aufgenommen zu werden, wirft Larissa so einige ihrer Prinzipien über Bord. Sie lässt sich auf den Geheimbund ein und lernt schnell, wem sie trauen kann und wem nicht. Doch hat sie am Ende den Richtigen vertraut? Ein Kampf um Leben und Tod beginnt!

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Marietta

Danke an Monika Krauß

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Kapitel 1

„Die Erfahrung ist wie eine Laterne im Rücken: Sie beleuchtet stets nur das Stück Weg, das wir bereits hinter uns haben.“

Konfuzius

Langsam blinzelnd öffnete ich meine Lider. Dunkelheit drang an meine Augen. Nach und nach formten sich Umrisse aus den Schatten. Gedämpftes Licht strahlte von irgendwoher, ansonsten war es still. Kein einziges Geräusch war zu hören. Ich hätte erwartet zu frieren, fast nackt, wie ich war, jedoch das Gegenteil war der Fall. Eine wohlige Wärme umgab mich, hüllte mich ein und machte mich leicht müde.

Der kleine Raum, in dem ich stand, verströmte eine einnehmende Atmosphäre und machte mich sonderbarerweise ruhig und gelassen. Ich spürte keinerlei Angst oder Zweifel. Unglaublich! Nichts, was mich ängstigte, obwohl ich zweifellos Anlass dazu gehabt hätte. Teufel auch!

Meine Hände waren mit festen Lederbändern gebunden und über meinem Kopf befestigt worden. Sie lagen schwer in den Fesseln, aber das störte mich nicht. Ich stand inmitten des kleinen Raumes, von dem ich nicht wusste, wo er war und wem er gehörte. Ich hatte ihr einfach vertraut und vertraute ihr immer noch. Mein Herz schlug schneller bei diesem Gedanken. Nicht aus Angst, sondern vor Aufregung. Aufregung über das, was kommen sollte, und natürlich vor Neugier. Für mich war es ein Abenteuer.

Zuvor hatte ich mich bis auf BH und Slip ausgezogen. Freiwillig und alleine. Ohne Hast war ich der Aufforderung von ihr nachgekommen und hatte alle meine Anziehsachen säuberlich zusammengelegt. Dann hatte ich mich hier, in der Mitte des Raumes, an den Händen festbinden lassen. Jetzt war alles bereit, aber bereit wofür?

Langsam fand mein Atem einen gleichmäßigen Takt. Auch mein Herz erkannte, dass es später noch genügend Grund für schnelle Schläge haben würde, nun aber noch nicht die richtige Zeit gekommen war. Die Hände wurden mir mit der Zeit zu schwer. Ich ließ sie sanft in die Fesseln sinken, die sie über meinem Kopf festhielten.

Teufel auch! Wie war ich nur hierher gelangt? Es war interessant, dass ich mir diese Frage erst jetzt stellte, jetzt, wo ich keine Chance mehr hatte, meine Lage zu verändern. Jetzt, wo ich gefangen war. Egal, was jetzt kam oder zu welchem Schluss ich fand, ich würde alles über mich ergehen lassen müssen. Ich hatte vertraut. Jetzt hatte ich keine Wahl mehr, denn jetzt saß ich hier fest.

Ich sah mich mit leichten Kopfbewegungen im Raum um. Die Wände waren mit schwarzem Samt ausgelegt, aber ansonsten vollkommen kahl. Keine Bilder, keine Regale. Zu meiner Rechten war ein Spiegel angebracht, in dem ich mich von der Seite sehen konnte. Fast nackt und die Hände über dem Kopf gefesselt, betrachtete ich mein Ebenbild. Bei diesem Anblick begann mein Herz wieder schneller zu schlagen.

Wie war ich hierher gekommen? Die Frage war, wie gesagt, zu spät gestellt, aber trotzdem wert, beantwortet zu werden. Eine Antwort war auf jeden Fall völlig klar: Ich war freiwillig hier. Wenn ich mich zurückerinnere, muss ich weiter ausholen, um an den Beginn der Geschichte zu kommen.

Wahrscheinlich begann alles, als ich mich entschloss, von zu Hause wegzugehen und aus der beschaulichen Oberpfalz in die Metropole München zu ziehen. Ich hatte mein Abitur in der Tasche. Die Welt stand mir offen. Freiheit war unendlich, zumindest dachte ich das. Anders als von meinen Eltern erwartet, entschied ich mich gegen ein Studium und begann mich in München mit kleinen Gelegenheitsjobs in Kneipen und Lokalen über Wasser zu halten. Zeitweise schrieb ich als freie Reporterin für diverse Münchner Zeitungen, aber alles ohne nachhaltigen Erfolg oder von Dauer.

Der einzige Gewinn bestand darin, nicht mehr zu Hause zu wohnen und mir mein kleines, aber eigenes Zimmer in München finanzieren zu können, was schwierig genug war. Ich erfasste, dass ich langfristig etwas Solideres brauchte, und entschied mich, eine Ausbildung zur Krankenschwester zu beginnen.

Soziale Berufe hatten mich schon immer interessiert. Außerdem hätte ich, falls ich diese Lehre nicht zu Ende machte, dabei viel an Lebenserfahrung gewonnen. So war ich also zum ersten Mal abhängig beschäftigt. Was ich später genau machen wollte, wusste ich immer noch nicht, aber ich hatte mit meinen 21 Jahren noch ausreichend Zeit.

Der eigentliche Grund, warum ich von zu Hause raus wollte, waren nicht meine Eltern oder meine Geschwister, es war mehr die Sehnsucht, etwas zu erleben und das Leben zu genießen. Dabei meinte ich ausdrücklich nicht Drogen, Alkohol und Sex. Ich wollte in die Großstadt eintauchen und alles mitnehmen, was ich konnte. Neue Dinge spüren und Grenzen überschreiten. Ich wollte meinen Horizont hinausschieben, soweit es möglich war, und dem Leben eine Chance geben, mir zu zeigen, was es alles für mich bereithielt.

So war ich immer, wenn ich die Möglichkeit hatte, in den diversen Münchner Kneipen, Clubs und Discos unterwegs. Mich beeindruckten die Leute, die sich hier trafen, die aus der ganzen Welt zusammenkamen. Die vielen verschiedenen Lebensläufe und das, was dahintersteckte. Das war es, was ich erleben wollte. Die grenzenlose Freiheit ging mir über alles.

Es war wohl auch eine Frage von Freiheit oder Schicksal, als ich eines Tages in einem dieser Clubs Vanessa traf. Sie war groß, sportlich und machte auf mich schon vom ersten Augenblick an einen selbstbewussten Eindruck. Im Nachhinein kann ich nicht mehr genau sagen, woran das lag. Ich empfand es damals einfach so und sah in ihr eine Frau, die wusste, was sie wollte, und das beeindruckte mich.

Ich wusste nicht, was ich wollte, aber ich wusste, dass ich gerne so wäre wie sie. Sie war groß, hatte langes, schwarzes Haar, das ihr in weichen Locken bis auf den Rücken fiel. Sie trug es offen, was ihr ein wildes, ungezähmtes Aussehen verlieh. Sie hatte ein glänzendes, knappes rotes Top an und trug dazu eine enge, schwarze Lederhose. Darunter waren schwarze High Heels zu erkennen, was ihr nochmal einiges an Größe hinzugab.

Ihr Gesicht war markant und schön, mit einem auffällig großen Mund, der von sinnlichen Lippen umrahmt wurde. Sie sah gut aus, gut und sexy, was nicht nur mein Eindruck war, sondern sich auch durch die Blicke und Reaktionen der Männer um mich herum immer wieder bestätigte. Es gibt Personen, seien es Männer oder Frauen, die hervorstechen, wenn sie einen Raum betreten. Wenn sie kommen, verändert sich das Flair im Zimmer und alles ist anders. So jemand war Vanessa.

Zufällig standen wir an der Bar nebeneinander und warteten auf unsere Getränke. Sie machte eine kleine Bemerkung über die Trägheit des Barkeepers in meine Richtung und ich lachte darüber. Schnell waren wir im Gespräch und verließen nach Kurzem die Bar gemeinsam Richtung Tanzfläche.

Auch dort schaffte sie es, alle in ihren Bann zu ziehen. Es mag nur mein Eindruck gewesen sein, aber ich fühlte mich, als ob tausend Augen nur auf uns schauten, und war froh, dass die Blicke mehr ihr als mir galten. Teufel auch, sie hatte eine unglaubliche Präsenz.

Dabei war ich mit mir auch nicht unzufrieden. Natürlich war ich eine Frau, was bedeutete, dass ich niemals ganz zufrieden sein konnte, aber ich dachte, ich hätte es schlechter erwischen können. Auch ich hatte langes braunes Haar, welches etwas kürzer war als Vanessas, aber auch meine Schultern weit bedeckte. Von Natur aus hatte ich mehr Locken als sie. Meistens band ich sie mir, wie auch in diesem Moment, in einem Pferdeschwanz zusammen.

Über mein Gesicht möchte ich mich nicht groß auslassen. Ich denke, dass Ästhetik und Schönheit Ansichtssache sind. Ich fand es schön, so wie es war, und freute mich über jedes Kompliment, das ich erhielt. Vielleicht waren die Wangenknochen etwas zu markant geraten, aber ich hätte es weder ändern können, noch wäre ich jemals bereit gewesen, mich dafür unter ein Messer zu legen.

Wahrscheinlich hätte ich mich nicht als sexy beschrieben, vor allem nicht, wenn ich mich neben Vanessa betrachtete, aber das Attribut attraktiv ließ ich ohne Weiteres für mich gelten. Ich achtete auf meine Figur, meine Kleidung und versuchte Stil und Geschmack walten zu lassen, ohne zu flippig oder billig zu wirken. Ich würde sagen, ich fand mich diesbezüglich normal, aber was ist das schon. Da ich mich schlecht selber einschätzen kann, sage ich einfach, dass ich regelmäßig von Männern angesprochen wurde und demnach nicht sonderlich abstoßend auf sie gewirkt haben kann.

Vanessa und ich trafen uns von da ab öfters und unternahmen nächtliche Touren durch die Clubs, aber auch ins Kino oder einfach nur kurz in den Park. Wir freundeten uns an und ich begann, ihr zu vertrauen. Und darum war ich hier! Ich vertraute ihr immer noch, auch wenn ich in diesem Moment fand, ziemlich leichtsinnig gewesen zu sein.

Irgendwann fragte sie mich, ob ich bereit sei, mehr über die Geheimnisse der Stadt zu erfahren. Ob ich bereit sei, mich neuen Dingen zu öffnen, und ob ich ihr vertraute. Ich fand es natürlich am Anfang sonderbar. Alles klang so geheimnisvoll und zunächst dachte ich, sie übertreibe. Am nächsten Tag fragte sie mich noch einmal. Als ich wissen wollte, um was es gehe, sagte sie nur, es sei ihr größtes Geheimnis. Wenn ich wollte, würde sie es mit mir teilen.

Einige Tage später willigte ich ein, getrieben mehr von Neugier als von echter Erwartung. Sie holte mich zu Hause mit einem Auto ab und ich musste mir die Augen verbinden. Dann fuhren wir los. Natürlich kam mir alles verrückt vor, keine Frage. Alles war so geheimnisvoll, aber ich fühlte instinktiv, dass von Vanessa für mich keine Gefahr ausging. Es wäre auch unnormal, wenn ich mir nichts dabei gedacht hätte, aber ich vertraute ihr eben.

Sie ließ mich aussteigen und führte mich hierher, in diesen Raum, in dem ich nun stand und wartete. Ich sollte jemanden kennenlernen, hatte sie gemeint. Ich war einer Freundin an einen Ort gefolgt, um ein Geheimnis zu erfahren oder jemanden zu treffen, von dem sie behauptete, er oder sie sei es wert. Ich hatte mich ihr aus Neugier angeschlossen, hatte mich ausgezogen und fesseln lassen. Jetzt war es zu spät für weitere Fragen. Also wartete ich.

Nach einiger Zeit, ich kann nicht mehr sagen, wie lange, hörte ich unvermittelt Schritte. Es waren klare, deutliche Schritte hinter mir. Ich sah in den Spiegel zur Seite, konnte aber nichts erkennen. Behutsam näherten sie sich mir von hinten. Ich überlegte, von wem diese Schritte stammen konnten. War es eine Frau oder ein Mann? Wieder hörte ich ein Klacken, das sich anhörte wie Absatzschuhe auf Holz. Also eine Frau?

Abermals ein Schritt. Auch auch Männerschuhe konnten ähnliche Geräusche von sich geben. Ich würde abwarten müssen. Langsam merkte ich, wie sich mein Atem beschleunigte, meine Brüste sich immer schnell hoben und senkten. Ich wusste immer noch nicht, warum ich genau hier war, aber ich wusste, dass ich es jetzt bald erfahren würde.

Die Person kam näher. Jeden Moment erwartete ich eine Berührung oder einen Satz von ihr. Dann umgab mich plötzlich ein Geruch von Vanille und Lavendel. Ein Parfüm! Und in diesem Augenblick wusste ich, dass hinter mir soeben eine Frau den Raum betreten hatte. Ich glaubte, die Wärme ihres Körpers bereits zu spüren. Mein Herz raste.

Die Schritte hielten inne, als ob sie auf etwas wartete. Plötzlich merkte ich, wie eine Hand mich an meiner linken Schulter berührte. Warm und sanft strich sie mir über den Rücken. Dann hörte ich wieder Schritte. Jetzt sah ich, wie sie mich langsam von der linken Seite her umrundete. Ich konnte ihre hohen, schwarzen Schuhe erkennen, ihren langen, dunklen Spitzenrock und ein dunkelviolettes Korsett, das ihre schlanke Taille umgab.

Ihr Gesicht war im Dämmerlicht des Raumes nicht gut zu erkennen. Ihre dunklen Haare waren an ihrem Hinterkopf aufgesteckt, was einen strengen Eindruck von ihrem Antlitz vermittelte. Ihre ebenfalls dunklen Augen musterten mich funkelnd im schwachen Licht. Gelassen trat sie einen Schritt auf mich zu. Nun war ihr Gesicht trotz der kärglichen Beleuchtung deutlicher wahrzunehmen. Sie mochte so Mitte dreißig sein. Ihre Züge waren weich und schön, mit einer leichten südamerikanischen Note. Obwohl ich immer noch gefesselt vor der mir unbekannten Frau stand, hatte ich keine Angst. Mein Vertrauen reichte bis hierher und ich war eher nervös als ängstlich.

Langsam streckte sie ihre Hand aus und griff mir mit ihren dunkel lackierten Fingern unter mein Kinn, um mein Gesicht anzuheben und dann nach rechts und nach links zu drehen. Ihre rechte Hand ging zu meiner Brust und strich behutsam darüber.

„Wunderbar!“, sagte sie leise und der Raum schien ihre Stimme zusätzlich zu dämpfen. Noch einmal streifte ihre weiche, warme Hand über meinen Busen. Ich fühlte eine Erregung, die ich nicht zuordnen konnte. Eine Mischung aus sexueller Berührtheit und Nervosität. Ich hatte noch nie etwas Ähnliches gespürt, aber ich wollte mehr. Ich wollte, dass es weiter ging, dass sie weiterging. Aber sie machte keine Anstalten. Langsam trat sie einen Schritt zurück und fuhr fort, um mich herumzugehen.

Als sie an meiner rechten Seite angekommen war, begann sie, mit leiser Stimme zu erzählen: „Du fragst dich sicher, was du hier machst? Wer ich bin und warum das alles so ist, wie es ist.“

Ich wollte etwas erwidern, brachte aber keinen Ton heraus. Mein Mund war vor Aufregung trocken und ich wollte die Stille und die Stimmung im Raum nicht mit meiner Stimme zerstören.

Also fuhr sie nach einer kurzen Pause fort: „Natürlich fragst du dich das. Ich würde mich das auch fragen. Ich habe dich nun gesehen, dich gespürt. Das war der Grund, dass du hier hergebracht wurdest. Vertrauen ist das Wichtigste in unserer Schwesternschaft. Ich kann dir nicht alle deine Fragen beantworten. Ich kann dir nicht alles erzählen, was du wissen willst. Ich kann dir nur sagen, dass ich dir erlaube, weiter zu gehen, wenn du es wünschst. Der Rest liegt bei dir.“

Mit diesen Worten hörte ich Schritte auf dem Holzboden, die sich diesmal entfernten. Sie waren nicht schnell oder gehetzt. Sie waren genauso ruhig wie zuvor. Erneut stand ich alleine im Raum und wartete. Unvermittelt überkam mich eine Müdigkeit, gegen die ich mich nicht wehren konnte. Ich versuchte noch, meine Augen offen zu halten, dagegen anzukämpfen und nicht einzuschlafen, aber nach Kurzem fiel die Welt um mich ins Dunkel.

Kapitel 2

„Wenn du eine weise Antwort verlangst, musst du vernünftig fragen.“

Johann Wolfgang von Goethe

Die Sonne schien bereits am Vormittag so kräftig, dass sie die Menschen in großer Zahl vor die Türe lockte. Fast magisch angezogen war auch ich dem Drängen des schönen Wetters gefolgt und hatte mich in ein Café begeben, um dort zu entspannen. Ich spürte die warmen Strahlen in meinem Gesicht und schloss die Augen. Jetzt nahm ich den Straßenlärm und die Geräusche der Unterhaltungen um mich herum deutlicher wahr. Tassen klirrten, Handys klingelten. Dennoch fühlte ich mich in diesem Moment entspannt.

Seit meiner sonderbaren Begegnung waren einige Tage vergangen. Ich war zu Hause in meinem Bett aufgewacht. Ein Blick auf die Uhr hatte mir gezeigt, dass ich ungefähr zehn Stunden geschlafen hatte. Irgendwas musste mich dort eingeschläfert haben. Ich schlief sonst nie so lange.

Natürlich hatte ich sofort versucht, Vanessa auf ihrem Handy zu erreichen. Allerdings kam ich nur bis zur Mailbox. Ich probierte es weiter. Schließlich hob sie ab und wir vereinbarten ein Treffen für heute und hier. Sie wirkte beschäftigt und gestresst und war nicht bereit, mir meine drängenden Fragen gleich zu beantworten.

Konnte sie sich nicht denken, dass ich nach so einem Erlebnis gerne mit ihr darüber gesprochen hätte? War das nicht normal? Ich hätte damit gerechnet, dass sie mich anruft und mich nicht stundenlang versuchen lässt, sie zu erreichen. Oder erwartete ich da zu viel? Ich dachte noch einmal drüber nach. Von links trat ein Kellner an mich heran und servierte mir einen Cappuccino.

Nein, dachte ich bei mir. Ich erwartete nicht zu viel von ihr. Sie hätte verdammt nochmal auch selber anrufen oder warten können, bis ich wieder wach gewesen war. Wie war sie überhaupt bis in meine Wohnung gekommen? Mich erstaunte, dass ich mir diese Frage erst jetzt stellte. Ich kam aber zu dem Schluss, dass wohl mein Schlüssel in meiner Handtasche gewesen sein musste. Teufel auch!

Ich sah über die Straße, aber von Vanessa war weit und breit nichts zu sehen. Was hatte das alles zu bedeuten? Ich weiß nicht mehr, wie oft ich mir diese Frage schon gestellt hatte. Alleine die Erinnerung an die Begegnung mit der dunkelhaarigen Frau bewegte und erregte mich immer noch. Ich spürte ihre Berührungen auf mir und ihr Geruch klang in meinem Gedanken nach wie eine eingängige Melodie.

Um mich abzulenken, nahm ich den Löffel, der auf der Untertasse des Cappuccinos lag, und füllte ihn mit Zucker. Dann gab ich diesen langsam auf den Schaum und beobachtete, wie er nach unten wanderte. Ich rührte um und begann, den Restschaum von oben wegzulöffeln. In was war ich da nur hineingeraten?

Zufällig richtete ich meinen Blick wieder auf die andere Straßenseite, und da sah ich sie stehen. Vanessa stand da und wartete, bis der Verkehr ihr das Überqueren der Straße möglich machte. Sie hatte ihre in der Sonne glänzenden, schwarzen Haare wieder offen, was ihr ein wildes, ungezähmtes Aussehen verschaffte. Mit der rechten Hand hielt sie ihr Handy ans Ohr und telefonierte offenbar mit jemandem intensiv. Die Augen waren von einer dunklen Sonnenbrille bedeckt. Ich wusste nicht, ob sie mich gesehen hatte, aber als gerade kein Auto kam, lief sie direkt auf mich zu, ohne dabei das Telefonat zu beenden.

Auch sie hatte die Gelegenheit des warmen Tages genutzt und einen knappen dunklen Minirock und ein enges rotes Top angezogen, was wunderbar mit ihren Haaren harmonierte. Sie kam näher und ich ertappte mich dabei, dass ich mich kurz von ihrem Hüftschwung hatte gefangen nehmen lassen. Sie war eine Waffe!

Schnell blickte ich zur Seite und versuchte zu sehen, ob andere Gäste im Café von ihrem Anblick ebenfalls in Beschlag genommen worden waren. Ich musste mich nicht lange umsehen, bis ich zu meiner Linken einen Mann erspähte, welcher zuvor noch ruhig seine Zeitung gelesen, nun aber den Blick über die Schlagzeilen genau auf Vanessa gerichtet hatte. Unglaublich!

Sie schien von alledem nichts mitzubekommen und beendete ungefähr fünfzehn Meter vor mir ihr Telefonat. Sie kam, umarmte mich zur Begrüßung und setzte sich. Dann nahm sie ihre Sonnenbrille ab und begann ohne Umschweife, die Karte zu studieren. Neuerlich schielte ich verstohlen zur Seite. Dabei konnte ich sehen, wie der Mann mit der Zeitung immer wieder knappe Blicke zu uns hinüberwarf. Der Kellner kam und sie bestellte ein kleines Sandwich sowie einen Kaffee. Dann blickte sie mich an und lächelte.

„Na, wie geht’s? Du wolltest mich sprechen. Um was geht´s denn?“

Ich war verdutzt. Konnte man sich das nicht denken? Sie hatte mir die Augen verbunden, mich fast nackt in einem Raum festgemacht, und dann war ich irgendwann wieder zu Hause aufgewacht. Hallo! Um was wird’s wohl gehen? Im ersten Moment war ich so perplex, dass ich erst das sagte, was mich gerade am allermeisten beschäftigte. „Hast du gesehen, wie der Typ links von mir dich anglotzt?“

Sie warf nicht einmal einen kurzen Blick zur Seite, als sie antwortete: „Das tun sie immer! Larissa, was erwartest du? Er ist ein Mann und ich bin heiß, aber deshalb wolltest du mich nicht sprechen. Also, was ist?“

„Na, wegen neulich natürlich“, raunte ich jetzt über den Tisch und dachte, damit wäre alles erklärt. Als sie mich nur weiter anstarrte, schob ich nach: „Was sollte das?“

Sie sah mich immer noch verständnislos an und ließ sich in ihren Stuhl zurücksinken. Der Kellner kam und brachte ihre Bestellung. Sie nahm einen Süßstoff und Milch und rührte den Kaffee um. Dann schaute sie wieder auf und sagte: „Ich wollte, dass du sie kennenlernst.“

„Sie?“

„Ja, sie! Ich kann dir nicht alles sagen, nur so viel: Du kannst wiederkommen, wenn du willst!“

„Wenn ich was will?“ Ich fragte mich neuerlich, ob etwas an mir nicht normal war. Ob ich eine lange Leitung oder einen Trend verschlafen hatte, welcher gerade in den Clubs von München total angesagt war.

„Wer ist sie und was macht sie – oder ihr?“ Ich merkte, wie ich langsam ungeduldig wurde. Musste man ihr alles aus der Nase ziehen?

Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und sah wieder auf. „Pass auf! Wir sind so etwas wie eine kleine, geheime Gruppe. Bei uns kommt nicht jede rein. Ich dachte, du passt zu uns. Darum habe ich dich zu ihr gebracht.“ Sie war wieder näher an den Tisch gekommen und redete nun sehr leise zu mir.

Jetzt war ich baff. An so was hatte ich bisher nicht gedacht. An geheime Partys, Swinger Clubs oder sonst was hatte ich schon geglaubt, aber einen Geheimbund hatte ich nicht auf meiner imaginären Liste.

„Und warum seid ihr so geheim?“, fragte ich weiter.

„Warum nicht?“, antwortete Vanessa knapp. „Es geht nicht um das Geheime an der Sache. Es ist eben so etwas wie eine alte Tradition. Ich sag dir nur so viel: Wir sind ein Zusammenschluss von Frauen und wir nehmen nicht jede auf. Du bist eingeladen bei uns mitzumachen, wenn du möchtest.“

„Und um was geht’s bei eurem Zusammenschluss?“ Ich machte mit meinen beiden Händen ein imaginäres Gänsefüßchen in die Luft.

„Ach, um was geht’s bei den Rotariern oder in Studentenverbindungen? Es geht um Verbindungen, Connections und natürlich um Spaß.“

„Und warum nehmt ihr nur Frauen? Wären da nicht auch paar Männer gut? Meistens sind doch die am Drücker in der Wirtschaft oder Politik.“

Wieder nahm Vanessa einen Schluck und biss kräftig von ihrem Sandwich ab. „Guter Punkt“, sagte sie, nachdem sie geschluckt hatte. „Es gibt auch eine parallele Bruderschaft, hervorgegangen aus einer alten Studentenverbindung. Aber unsere Schwesternschaft soll gerade den Zusammenhalt unter den Frauen fördern und so Karriereoptionen öffnen. Bei uns gibt es einige sehr erfolgreiche Sängerinnen, Schauspielerinnen, aber auch Managerinnen und Politikerinnen.“

„Das ist ja wie bei den Skulls“, erwiderte ich und Vanessa nickte sanft.

„So ähnlich.“

Ich sah, wie der Mann neben uns erneut über seine Zeitung direkt auf Vanessas Brüste starrte. Sie folgte meinem Blick. „Lass ihn gucken. Er kann ja nichts dafür. - Wenn du etwas erreichen willst im Leben, hast du bei uns die besten Chancen!“

Ich überlegte. Für mich klang das alles nicht sehr vertrauenserweckend, aber hatte ich ihr nicht bereits mehr vertraut, als für Menschen normal oder gesund war? Im Grunde war ich das größte Risiko schon eingegangen. In dem Film „The Skulls“, den ich eben erwähnt hatte, lautet ein Satz, dass etwas, was geheim und verborgen ist, nie etwas Gutes sein kann. Ich weiß nicht, ob das im Film genauso gesagt wird, aber sinngemäß stimmt‘s.

Andererseits hatte Vanessa auch wieder recht. An jeder Uni gab es Verbindungen. Viele Vereine und Clubs wurden nur gegründet um sich gegenseitig kennenzulernen und zu helfen, wenn es nötig war.

„Warum würdet ihr mich aufnehmen? Was hab ich, was andere nicht haben?“, wollte ich jetzt von Vanessa wissen, die mich meinen Gedanken überlassen hatte und weiter ihr Sandwich aß.

„Wir haben halt so eine Vorstellung“, war ihre lapidare Antwort zwischen zwei Bissen. Ich merkte, wie in mir die Neugier und auch das Verlangen nach einer weiteren Begegnung mit der unbekannten dunkelhaarigen Frau langsam aber sicher die Oberhand gewann.

„Gibt es Regeln?“

Vanessa nickte. „Loyalität, Gehorsam und Vertrauen! Wenn du dich auf uns einlassen willst, bist du eine von uns. Das beruht dann aber auf Gegenseitigkeit.“

Ich sah, wie sie ihren Teller leer gegessen hatte und aus ihrer Handtasche Geld zum Bezahlen holte. Mir wurde klar, dass sie nicht hierbleiben und auf meine Antwort warten würde. Der Kellner kam und sie bezahlte. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und richtete ihre nun verdeckten Augen noch einmal auf mich.

Ich war hin- und hergerissen. Aber was hatte ich schon zu verlieren? Mehr Risiko als zuletzt konnte ich eh nicht eingehen. Wenn sie mich an einen Mädchenhändlerring hätten verkaufen wollen, hätten sie das bereits gemacht. Ich erinnerte mich noch einmal an die Situation in dem Zimmer zurück und fühlte neuerlich die Berührung auf meiner Brust, die mich innerlich erzittern ließ. In diesem Moment traf ich meine Entscheidung.

„Gut, ich bin dabei!“, strahlte ich Vanessa an.

Ich konnte ihre Augen nicht sehen, welche von ihrer Sonnenbrille verdeckt waren, aber ich glaubte, einen Anflug eines Lächelns um ihre Lippen wahrzunehmen. „Gut!“, sagte sie. „Ich meld mich, wenn wir uns wieder treffen!“ Dann stand sie auf und ging davon. Der Mann zu meiner Linken blickte ihr nach.

Kapitel 3

„Wie schön ist alles erste Kennenlernen. Du lebst so lange nur, als Du entdeckst.“

Christian Morgenstern

Die Musik war laut! Um mich herum dröhnte Latino-Pop aus den Boxen. Dampfige Luft umgab mich wie ein stickiger Mantel, erfüllt vom Schweiß der tanzenden und feiernden Menge. Tief in meinem Bauch konnte ich die Beats rhythmisch spüren. Spanische Texte drangen bruchstückhaft an mein Ohr und verloren sich im Gewühl.

Ich konzentrierte mich und versuchte, in dem Gedränge der Tanzfläche Vanessa, die sich anmutig wie immer einen Weg durch die Menge bahnte, nicht aus den Augen zu verlieren. Diese schien wie durch Geisterhand vor ihr zu weichen, sodass sie und somit auch ich nahezu unbedrängt in Richtung der Treppe vor uns gehen konnten. Ihr tief ausgeschnittenes, dunkelgoldgelbes, knielanges Kleid bewegte sich sanft im Takt ihres Schritts. Kleine Steine darauf reflektierten das Licht, sodass Vanessa mir funkelnd den Weg wies.

Ich war in diesem Club noch nie zuvor gewesen. Das „Corazón“ war einer der angesagtesten Clubs in der Landeshauptstadt. Ohne Beziehungen kam man hier sowieso nicht rein. Teufel auch! Aber ich war drin! Ich folgte Vanessa weiter, so gut ich konnte. Immer wieder schloss sich die tanzende Menge zwischen uns. Trotzdem schaffte ich es, den Anschluss zu halten. Vanessa sah sich kein einziges Mal um, ob ich Schritt hielt, sondern ging unbeirrt weiter.

Für mich war ihr Anruf heute überraschend gekommen. Sie hatte sich gemeldet und gemeint, dass sie mich in ungefähr zwei Stunden abholen würde. Wir würden in einen Latino Club gehen und ich solle mir was Schickes anziehen. In aller Eile hatte ich versucht, mir etwas Passendes aus meinem Kleiderschrank auszusuchen. Aber meine Auswahl war begrenzt. Letzten Endes hatte ich mich für ein rotes Stretchkleid entschieden, was jedoch nach meiner Auffassung mit Vanessas Outfit und dem vieler anderer um mich herum nicht im Entferntesten mithalten konnte

Für mich war ihr Anruf deshalb so überraschend gekommen, da sie sich einige Tage gar nicht bei mir gemeldet hatte. Ich war meiner Ausbildung weiter nachgegangen und hatte die Erlebnisse um ihre geheime Schwesternschaft schon fast wieder vergessen. Mein Leben in der letzten Woche hatte sich mehr in verdreckten Windeln auf einer geriatrischen Station und weniger im Glamour der Münchner High Society abgespielt. Doch jetzt war ich hier – mittendrin!

Sie hatte mich mit einem Taxi abgeholt und wir waren direkt zum „Corazón“ gefahren. Eine lange Schlange hatte sich vor dem Eingang gebildet und ich dachte schon, ich müsste in meinem knappen Kleid stundenlang auf den Einlass warten. Vanessa jedoch hatte mich ohne Zögern angewiesen, ihr zu folgen, und war an der Reihe der Wartenden vorbeigestöckelt.

Der ansonsten strenge Türsteher hatte nur einen kurzen Blick auf uns geworfen und war dann milde beiseitegetreten. Offenbar kannte er meine Begleiterin, welche ihn im Gegenzug keines Blickes gewürdigt hatte, ganz so, als wäre er Luft. Immer wenn sie das machte, wirkte sie sehr herablassend auf ihr Umfeld.

Als wir drinnen angekommen waren, schlug uns eine Wand aus Musik und Schweiß entgegen. Ohne Zeit zu verlieren, war Vanessa auf die große Treppe am Ende der einen Tanzfläche zugelaufen und hatte mich nur noch einmal angewiesen, ich solle ihr einfach folgen. Die Stufen wiesen in eine andere, über der ersten Tanzfläche liegende Area, wo sich mehrere, durch dunkelblaue Vorhänge verdeckte, private Lounges befanden. Dort wollten wir also hin.

Ich hatte keine Zeit, nervös zu werden oder mir Gedanken zu machen, welche Leute ich jetzt gleich dort treffen würde und wie sie auf mich reagieren würden. Vielleicht ist es eine zutiefst menschliche Eigenschaft, die eigene Wirkung auf andere stets zu hinterfragen. Im Grunde sollte es mir eigentlich egal sein, was sie von mir dachten, aber soweit konnte ich, wie gesagt, nicht denken. Vanessa ging rasch voran.

Wir erreichten die Stufen und gingen hinauf bis vor eine der Lounges. Vanessa streifte mit einer sanften Handbewegung den schweren Vorhang zur Seite und wir traten ein. Dahinter lag ein abgetrennter Raum mit bequemen Sofas und einigen Stehtischen. Am hinteren Ende war eine Bar nur für diesen Raum und ein separater Barkeeper erfüllte die privaten Wünsche der Loungegäste. Die Musik war hier nur noch gedämpft zu hören.

Vanessa hielt kurz inne und ließ ihren Blick flüchtig über die Leute wandern. Einige standen um einen der Stehtische. Mitten im Raum gruppierten sich vier Männer um eine Frau und lachten, als wir eintraten, offenbar über einen guten Witz von ihr. Die Frau hatte langes, glattes, kastanienbraunes Haar, welches im Licht der gedämpften Beleuchtung gepflegt glänzte. Sie trug es offen und verdeckte so ihr Gesicht.

Auf einem der Sofas saß eine andere Frau in einem teuer aussehenden, silberfarbenen Jerseykleid und nippte an einem Cocktail. Vanessa, und somit auch ich, gingen zielstrebig auf sie zu. Als die Frau uns sah, lächelte sie und erhob sich fröhlich. Vanessa und sie umarmten sich, dann drehte sich meine Freundin zur Seite und machte den Weg zu mir frei.

Sie hatte mir vorher im Taxi erklärt, dass es natürlich einige interne Grußformeln gab, welche aber nicht in der Öffentlichkeit angewendet wurden. Wenn man sich intern begegnete, war ich als Anfängerin eine Novizin und die festen Mitglieder der Schwesternschaft wurden mit „Lady“ angesprochen.

Da wir uns jedoch an einem öffentlichen Ort befanden, reichte ein knapper Gruß, bei dem ich kurz nicken und meine Augen respektvoll senken sollte. Dies wären die allgemeinen Respektsbekundungen innerhalb der Gruppe. Was sollte ich auch lange über Sinn und Unsinn von solchen Ritualen nachdenken, dazu war ich jetzt viel zu aufgeregt. Darum befolgte ich einfach Vanessas Anweisungen. Diese übernahm für mich die Vorstellung.

„Das ist unsere Neue. Sie heißt Larissa und ist 21. Und das ...“, sie deutete auf die Frau mir gegenüber „ ... ist Anja – Anja Weißmann, vielleicht sagt dir das was?“

In mir gingen nicht nur ein Licht, sondern ganze Scheinwerfer an. Anja Weißmann war eines der Topmodels in Deutschland. Natürlich war mir ihr Gesicht bekannt vorgekommen, aber ich hatte nicht gewusst, wo genau ich sie zuordnen sollte. Verdammte Scheiße, war das geil! Sie strahlte eine innere Schönheit und Freundlichkeit auf mich aus, sodass sie mir gleich sympathisch war.

„Hallo!“, sagte sie und reichte mir ihre Hand. „Schön, dich kennenzulernen. Nehmt Platz!“ Sie streifte ihr Kleid zurecht und ließ sich auf der Couch nieder. Vanessa setzte sich neben sie und ich mich zu ihnen. Sofort kam der Barkeeper und nahm unsere Bestellungen auf. Vanessa wählte ein Glas Sekt, und um nicht aufzufallen, schloss ich mich ihr an. Anja nahm ihr Glas wieder zur Hand und wir stießen zusammen an. „Auf uns!“, rief Vanessa und wir tranken.

Ich sah sie verstohlen von der Seite an. Ich hatte nicht erwartet, so jemanden hier zu treffen. Ich kannte sie nur vom Fernsehen und da wirkte sie meistens wie aus einer anderen Welt. Wenn ich sie jetzt so vor mir sah, war sie sicherlich unwahrscheinlich schön, aber auf eine ganz andere, natürlichere Art als auf dem Bildschirm. Sie war nur dezent geschminkt, was ihr ein extrem frisches Aussehen verlieh. Ihre blonden, mit dunklen Strähnen versetzten Haare waren geföhnt und ohne großen Aufwand gestylt. Sie erinnerte mich an die Mädchen in den 70er Jahren, obwohl ihr dafür noch ein Band im Haar fehlte. Ihre Gesichtszüge waren sanft, makellos und weich.

Sie wandte sich mir zu. Als sie bemerkte, dass ich ihr Kleid musterte, sagte sie freundlich: „Hale Bob! Hab ich nach einer Show bekommen. Ich find‘s total schick.“

„Ich auch!”, stimmte ich ihr schnell zu, um nicht unhöflich zu wirken. Kurz saßen wir zu dritt da und niemand sagte etwas. Vanessa schien die anderen Personen im Raum zu mustern oder jemanden zu suchen. Sie nippte gedankenverloren an ihrem Sekt. Jetzt ließ auch ich meine Augen kurz über die Leute in der Lounge wandern. Zu meiner Überraschung erkannte ich noch einige bekannte Gesichter.

Da war ein Musiker, welcher zwar bisher den großen Durchbruch noch nicht geschafft hatte, aber schon Chartplatzierungen vorweisen konnte. In München hatte er zuletzt ein Konzert gegeben und ich kannte ihn von seinen Werbeplakaten. Ein weiterer Mann fiel mir auf. Ich wusste, dass es sich um einen regionalen Landtagsabgeordneten handelte. Er hatte das Klinikum, in dem ich arbeitete, besucht und sich erst vor Kurzem über die aktuellen Arbeitsbedingungen in der Krankenpflege erkundigt. Anderen Frauen und Männer, die ich nicht zuordnen konnte, standen zusammen und unterhielten sich. Das hier war die High Society von München und Umgebung und ich war mitten drin!

Zuletzt erregte eine kleine Gruppe meine Aufmerksamkeit. Es war die gleiche Frau, welche bereits bei unserem Eintreten einen herrlichen Witz gemacht haben musste. Nun stand sie wieder von einigen Männern umringt und alle brachen erneut in Gelächter aus.

Sie trug, anders als die übrigen Damen im Raum, kein Kleid, sondern ein modisches, schwarzes Kostüm. Ich erkannte, da ich jetzt ihr Gesicht sah, in ihr eine SAT1-Moderatorin, Carmen Heffner, und überlegte, ob sie vielleicht direkt von ihrer Abendsendung hierher gekommen war. War ja möglich. Während die anderen sich noch über ihren Witz amüsierten, ließ sie ebenfalls die Augen durch die Runde schweifen und kurz, für einen Moment, trafen sich unsere Blicke.

Ich glaubte zu erkennen, dass sie für einen Atemzug innehielt, weil sie mich offensichtlich nicht kannte, ließ sich aber nichts weiter anmerken und widmete ihre Aufmerksamkeit schnell wieder ihren Zuhörern. Obwohl sie die ganze Zeit lächelte, hatten ihre Gesichtszüge etwas Lauerndes, Falsches an sich, ohne dass ich es näher beschreiben konnte. Ihr perfektes Make-up verdeckte zu viel von dem, was ich von einem Menschen sehen musste, um ihn für mich besser einschätzen zu können.

„Wie gefällt‘s dir hier?“, fragte mich plötzlich Anja von der Seite und riss mich aus meinen Gedanken. Ich sah, dass Vanessa zu einem der Stehtische gegangen war und uns alleine gelassen hatte.

„Gut!“, sagte ich knapp. Was hätte ich auch antworten sollen. „Es sind nur ...“

„ ... viele neue Gesichter!“, vervollständigte Anja meinen Satz und lächelte. „Das kenn ich! Als ich das erste Mal dabei war, kannte mich noch keiner. Für mich war auch alles neu. Jetzt kennt mich jeder, aber früher wäre ich in so einen Club nie reingekommen.“

Ich nickte zustimmend. Dann raffte ich mich auf und versuchte, in ganzen Sätzen mit dem freundlichen Topmodel neben mir zu sprechen. „Ich hätte nur nicht erwartet, so viele Promis hier zu sehen!“

„Promi, was ist das schon“, erwiderte sie lapidar, aber gut gelaunt. „Sind auch alles nur Menschen. Nur weil der da drüben im Landtag sitzt und wahrscheinlich bald Staatssekretär wird, geht er auch nackt aufs Klo.“

Sie sah mir in die Augen, und bei der Vorstellung musste ich lachen. Sie fiel mit in mein Gelächter ein. „Stimmt!“, sagte ich. „Da hast du wohl recht.“ Ich fasste mehr Vertrauen. „Man kennt euch eben nur aus dem Fernsehen. Wenn man dann ein so bekanntes Gesicht sieht, ist man erstmal abgeschreckt. Vielleicht ist es auch nur, dass ich meine, ihr habt so viel Stress und steht immer im Licht der Öffentlichkeit und wollt dann nicht von Unbekannten angequatscht werden, sondern lieber eure Ruhe haben.“

Sie nippte erneut von ihrem Cocktail. „Wie gewinnst du denn neue Freunde?“, fragte sie trocken. „Kennst du immer alle vorher? Wenn man neue Bekanntschaften machen will, ist es notwendig, auch mal von Fremden angequatscht zu werden. Denk dir nichts dabei. Deine Privatsphäre ist genau so wichtig wie meine. Nur weil mir die Fotografen vor dem Club auflauern, bin ich noch kein besserer Mensch.“ Sie legte eine Hand auf meinen Oberschenkel. „Du kannst jederzeit zu mir kommen, wenn du ein Problem hast“, bot sie mir an. „Darum geht’s in unserer Schwesternschaft.“

Von ihren Worten war ich tief beeindruckt und ließ das Gesagte in mir sacken. Ich hatte nicht erwartet, so offenherzig hier aufgenommen zu werden. Schon gar nicht von einem echten Weltstar. Ja, was hatte ich eigentlich erwartet? Wenn es das war, was Vanessa mir versprochen hatte, dann wollte ich unbedingt mehr. Ich trank mein Glas Sekt aus und merkte, wie es mir bereits zu Kopf gestiegen war. Trotzdem bestellte ich, da der Barkeeper prompt zur Stelle war, gleich ein Neues. Ich wollte nicht ohne herumsitzen.

Die Musik wurde wieder lauter und ich schaute zum Vorhang, der uns von denen draußen trennte. Der schwere, blaue Stoff bewegte sich und eine groß gewachsene Frau mit glatten, strohblonden Haaren betrat die Lounge. Ihre Größe wurde durch ihre Absätze noch verstärkt. Sie schien den ganzen Raum sofort in Beschlag zu nehmen. Auch sie war sehr attraktiv, und ich begann zu ahnen, welche Kriterien man für diese Schwesternschaft erfüllen musste. Es hieß immer die Reichen und Schönen würden sich treffen. Hier waren die Zweiten deutlich in der Überzahl.

Suchend sah sie sich im Raum um. Sie trug ein knappes, weißes Kleid, das ihr am rechten Bein bis zum Knie reichte und dann zur linken Hüfte hin schief zulief. Der Stoff betonte ihr üppiges Dekolleté und zwei feine weiße Träger hielten das Kleid um ihren Hals fest. Sie hatte die blonden Haare an der rechten Schläfe mit einer Haarklammer aus dem Gesicht genommen, auf der eine große Lotusblüte befestigt war. Sie war auf keinen Fall drall oder gar dick, aber auch nicht so dürr wie manch andere hier. Sie hatte einladende Kurven, die so manches versprachen, und es hätte mich nicht gewundert, sie in einer Playboyausgabe wiederzufinden.

Ich betrachtete sie näher. Ihr Gesicht war etwas markanter als das von Anja. Sie hatte sich auch stärker geschminkt, wirkte aber dennoch selbstbewusst und attraktiv. Ihre Augen waren schwarz umrandet und ihre Lippen zierte zartes Rosa. Sie kam mir nicht bekannt vor und so konnte sie wohl weder Schauspielerin, Moderatorin noch Model sein – zumindest kein prominentes.

Ich schaute Anja zu meiner Rechten fragend an. Als sie sah, wohin ich blickte, sagte sie: „Das ist Bibiana.“ Ihr Tonfall verriet nicht unbedingt Begeisterung, als sie den Namen aussprach.

„Kenn ich sie auch irgendwoher?“, wollte ich interessiert wissen.

„Denke eher nicht!“, war Anjas kurze Antwort. „Man muss auch nicht jeden kennen.“ Ich merkte, dass die beiden sich offensichtlich nicht gut verstanden, und beschloss daher, nicht weiter nachzuhaken.

Nachdem sie die Anwesenden begutachtet hatte, ging Bibiana in Richtung von Carmen und stellte sich neben sie. Die beiden Frauen begrüßten und umarmten sich herzlich. Augenscheinlich verstanden sie sich besser als Bibiana und Anja. Der Barkeeper brachte ihr etwas zu trinken und meine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf andere Dinge.

Für mich war das alles so neu und, ich musste gestehen, auch irgendwie aufregend. Mir war inzwischen klar, was diese Schwesternschaft ausmachte. Es ging nach allem, was ich gesehen hatte um Schönheit, Stil und Klasse. Wenn ich mit meiner Vermutung recht hatte, durfte ich mich wohl geschmeichelt fühlen. Alle Frauen, die ich bisher hier erblickt hatte, entwickelten eine Ausstrahlung und Anziehungskraft, dass man sie einfach wahrnehmen musste.

Ich nippte an meinem Glas Sekt und merkte wieder, dass ich langsamer trinken sollte. Ich hatte noch nicht viel gegessen und offenbar gab es hier auch nichts mehr. Also war es ratsam, sich den Alkohol gut einzuteilen. Ich erschrak und zuckte kurz zusammen, als sich zu meiner Linken jemand setzte. Ein junger Mann mit kurzen, braunen Locken und unwahrscheinlich hellen, blauen Augen hatte neben mir Platz genommen.

„Hi, ich bin Peter. Ich hab dich hier noch nie gesehen und dachte, ich sag mal Hallo.“

„Hallo!“, grinste ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst machen sollte, und nippte wieder an meinem Sekt. Seine Augen waren so blau, dass man befürchten musste, in ihnen zu versinken. Um das Schweigen zu brechen, sagte ich schließlich: „Bist du wohl öfters hier?“

Er wiegte mit dem Kopf hin und her und meinte dann: „Manchmal! Ihr trefft euch ja immer woanders!“

Ich nickte und versuchte, eine wissende Miene aufzusetzen. Offenbar wusste er über die Leute hier mehr als ich. Peter passte in diesen Raum voller schöner und wichtiger Menschen irgendwie nicht hinein. Sicher, auch er war attraktiv, aber sein einfaches Hemd und die abgetragene Jeans harmonierten nicht mit dem Hochglanzglamour, den der Rest um uns herum versprühte. Ich wunderte mich plötzlich, wie er überhaupt an dem Türsteher vorbeigekommen war. Allerdings traf das Gleiche wohl auch auf mich zu.

Um nicht unhöflich zu wirken, fragte ich weiter: „Und was machst du so beruflich?“

Er lächelte mich an und seine Augen schienen dabei noch mehr zu strahlen, als sie es ohnehin schon taten. „Ich bin freier Reporter. Journalist! Ich schreibe mal für die und mal für die. Je nachdem, was sich ergibt!“

Ich erzählte ihm, dass ich das auch versucht hatte, aber leider davon nicht leben konnte. „Ist schwer“, erklärte er schließlich. „In München kannst du ab und an noch nette Promifotos machen, und wenn du Glück hast, kauft die wer. Carmen und Anja lassen mich ab und zu ein paar Exklusivfotos schießen. Damit komm ich dann wieder ein bisschen über die Runden.“

„Man hilft sich also!“, sagte ich etwas altklug und abermals nickte er.

Ich schaute mich nach Vanessa um, die mich von Anfang an hier alleine gelassen hatte, konnte sie aber nicht finden. Sie war gegangen, um sich mit den anderen zu unterhalten. Jetzt war sie verschwunden. Eine gewisse Unruhe stieg in mir auf, aber ich dachte, solange ich neben Anja saß, konnte ich eigentlich nichts verkehrt machen. Sie würde mir schon sagen, wenn etwas passierte, auf das ich achten musste. Auch zu ihr hatten sich inzwischen einige Frauen und ein Mann in Sakko gesetzt und unterhielten sich angeregt. Peter auf meiner anderen Seite betrachtete mit mir schweigend die Lounge.

Plötzlich tat sich am Vorhang etwas. Man sah, wie der Stoff sich bewegte und die Musik kurz lauter zu uns durchdrang. Dann war eine Hand zu sehen, mit der der blaue Stoff zur Seite gehalten wurde. Im Eingang stand sie.

Es war die dunkelhaarige Frau, die ich von meinem ersten Treffen her kannte. Sie wirkte schön und anmutig, obwohl ich sie nur zum Teil sehen konnte, da sie mitten im Zwischenbereich stehen geblieben war. Ihre Augen waren dunkel geschminkt und ihre schwarzen Locken umrahmten ein südländisch aussehendes und sanft gebräuntes Gesicht. Sie trug ein hellgelbes Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte und von zwei Trägern an den Schultern gehalten wurde. Der Stoff umspielte ihre Beine.

Sie machte keine Anstalten, den Raum zu betreten, hielt den Kopf leicht gesenkt und fixierte mit ihren Augen einige der Leute im Raum wie eine Löwin ihre Beute. Sie vermittelte mir unwillkürlich den Eindruck von Temperament, Leidenschaft und Feuer. Auf einmal lag Tango in der Luft. Ich konnte meinen Augen nicht von ihr nehmen. Auf ihrer Reise durch den Raum trafen ihre Blicke kurz die meinen. Für einen Moment veränderte sich ihr Ausdruck und Erkennen flackerte in ihrem Gesicht auf.

Dann suchte sie weiter. Als sie offenbar den- oder diejenige gefunden hatte, machte sie eine kurze Kopfbewegung zur Seite, die andeutete, dass man ihr folgen solle. Sie trat einen Schritt zurück und der Vorhang fiel in die Ausgangsposition. Sie war wieder verschwunden. Ohne zu zögern erhoben sich einige Frauen und Männer und folgten ihr. Jetzt sah ich auch Vanessa, die gemeinsam mit dem Landtagsabgeordneten die Lounge verließ.

„Wer war das?“, fragte ich mehr mich als meine Umgebung, merkte aber, da ich sofort eine Antwort bekam, dass ich die Frage laut ausgesprochen hatte.

„Leonora!“, raunte Peter. Er kam näher zu mir und flüsterte: „Absolut heiße Frau, oder?”

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und entschied mich deshalb, nicht darauf einzugehen. Durch ihren Namen schloss ich, dass ich mit dem südländischen Eindruck, den sie mir vermittelt hatte, nicht so verkehrt gelegen war. Man konnte das Feuer in ihr spüren. Offenkundig war sie so etwas wie die Anführerin hier.

Es verging einige Zeit, und ich wandte mich gemeinsam mit Peter der Unterhaltung um Anja zu. Einer der Männer war offensichtlich ein Verleger einer Modezeitschrift und wollte sie überreden, für ihn günstige Aufnahmen machen zu lassen. Die beiden scherzten und schäkerten, und ich wusste nicht, wie viel Ernst jeweils bei dem dabei war, was sie sagten. Es schien wie ein Spiel zwischen den beiden, das sie schon oft gespielt hatten.

Ich holte mein Handy aus der Handtasche und sah, dass es spät geworden war. Aber ohne Vanessa konnte ich wohl kaum aufbrechen. Irgendwann verabschiedete sich auch Peter und verließ die Lounge. Ich wurde unruhig, als ich merkte, wie sich Anja ebenfalls neben mir erhob und das Gespräch mit den Leuten um sie herum beendete. Jetzt, da sie stand, konnte ich ihre perfekten Modelbeine vor mir betrachten. Ich glaubte, bald alleine hier zu sitzen, als sich am Vorhang wieder etwas tat und Vanessa und einige andere in den Raum zurückkehrten.

Sie kam direkt auf mich zu und deutete mit einer knappen Kopfbewegung an, dass wir uns auf den Weg machen würden. Ich stand auf, verabschiedete mich kurz von Anja, welche mich zum Abschied in den Arm nahm, und ging dann Vanessa entgegen. „Wir sollten abhauen“, sagte sie, als ob wir den ganzen Abend gemeinsam verbracht hätten. „Die meisten anderen sind schon weg.“

Wir gingen zusammen Richtung Vorhang, wo einige Leute im Durchgang standen und leise diskutierten. Als wir gerade durch den Ausgang der Lounge getreten waren und von oben auf die große Dance Area blickten, hielt Vanessa noch einmal an. Ich sah zu meiner Überraschung, dass Leonora auf uns, oder besser sie, gewartet hatte.

Die beiden dunkelhaarigen Frauen unterhielten sich kurz. Leonora redete energisch auf Vanessa ein und fixierte mich während des Redens mit ihren dunklen, geheimnisvollen Augen, ohne ihren Redefluss zu stoppen. Ihr Blick fesselte mich. Es wirkte, als würde sie über etwas im Zusammenhang mit mir nachdenken. Dann wandte sie ihren Kopf und ihre Aufmerksamkeit wieder Vanessa zu. Die Musik war laut und ich verstand nicht, über was sie sprachen.

Als das Gespräch beendet war, bedeutete mir Vanessa mit einem kurzen, leicht sorgenvollen Blick, dass wir jetzt gehen würden. Ich machte mich auf und ging an Leonora vorbei. Wir erreichten die Treppen, und gerade, als ich Leonoras Geruch schon fast wieder verloren hatte, hörte ich sie hinter uns über die Beats hinweg rufen: „Lass sie das doch machen!“

Abrupt hielt Vanessa inne, drehte sich aber nicht um. Auch ich traute mich nicht, mich zu bewegen. Einen Moment verharrten wir auf unserer jeweiligen Stufe, dann gingen wir zügig Richtung Ausgang. Wir drängten uns durch die spärlicher gewordenen Tänzer, und Vanessa rief vor dem Club ein Taxi, welches mich nach Hause bringen sollte. Sie sagte, sie werde direkt zu sich fahren und nicht mit mir mitkommen. Sie zahlte den Taxifahrer und wir umarmten uns zum Abschied.

Kapitel 4

„Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen!“

Oscar Wilde

Zeit ist eher etwas Subjektives. Man kann schlecht sagen, ob das, was man fühlt, viel Zeit war oder wenig. Meistens lässt es sich retrospektiv besser einschätzen, obwohl man dabei auch dem Fehler unterliegt, es wäre viel Zeit vergangen nur, weil man viel zu tun hatte. Ich hatte viel zu tun und darum merkte ich kaum, wie die nächste Woche verging. Es regnete einige Tage und dann freuten wir uns alle wieder über herrlichen frühsommerlichen Sonnenschein.

Da ich gefühlt schon lange Zeit nichts mehr mit meinen Freunden – ausgenommen Vanessa – unternommen hatte, verabredete ich mich mit Laura, Martin und Dominik, um mit ihnen gemeinsam auf ein italienisches Filmfestival zu gehen. Es fand unter freiem Himmel statt. Große Leinwände waren aufgestellt worden und die Besucher tummelten sich auf der Wiese eines kleinen Parks. Wir setzten uns an einem Hügel auf eine Decke und genossen den Abend. Es war nicht kalt, aber später wurde es doch frisch. Ich bekam Hunger, als ich den Geruch von Pizzen und Nudeln roch, die in der Nähe zubereitet und verkauft wurden.

Mein Italienisch war spärlich und daher verstand ich nur sehr wenig, um nicht zu sagen nichts, von dem, was auf der Leinwand geschah. Ich sah Bilder und freute mich über Landschaftsaufnahmen, konnte aber der Handlung nicht folgen. Trotzdem schätzte ich das Beisammensein mit meinen Freunden, den normalen, bodenständigen, welche mich wieder fest in der Realität verorteten. Ich glaube, jeder braucht solche Freunde. Auf dem Heimweg teilten wir uns je zwei Pizzen.

Natürlich hatte mich der Besuch im Corazón noch länger bewegt. Es wäre auch an meinen Maßstäben gemessen sehr ungewöhnlich gewesen, wenn mich so ein Ereignis nicht berührt hätte. Ich hatte die Luft der gesellschaftlichen Spitze geschnuppert, war unter ihnen gewesen und hatte mit ihnen Sekt getrunken. Mit ihnen, den Unnahbaren, Unerreichbaren. Und trotzdem war ich ihnen nahe gekommen. Teufel auch! Larissa, das glaubt dir keiner!

Mein echtes Leben war der größtmögliche Kontrast zu der Welt aus Glamour, die ich betreten hatte. Ich hatte das Gefühl, dass ich dort nicht dazu passte. Ich war Krankenschwester, oder zumindest lernte ich das. Da gab es keine Partys, schönen Kleider und Cocktails, sondern Krankheit, Blut und Kacke. Ich gehörte weder zu den Reichen noch zu den Bekannten noch zu den Leuten mit Einfluss. Also musste es wohl mein Aussehen gewesen sein, welches Vanessa oder Leonora dazu bewogen hatte, mich aufzunehmen. Ich beschloss, Vanessa bei Gelegenheit direkt danach zu fragen.

Dann erinnerte ich mich an Anjas Worte, dass jeder nur ein normaler Mensch sei. Natürlich hatte sie damit recht, wenn man von dem ganzen weltweiten Ruhm einmal absah. Mich bewegte es nur, dass ich Leute, die ich durch das Fernsehen gut kannte – wie ich glaubte – nun in echt getroffen hatte.

Ich wollte mehr! Definitiv! Es war ein Drang in mir, eine Ungeduld, endlich mehr über diese Schwesternschaft zu erfahren. Es musste für mich weitergehen! Ich wollte wieder unter ihnen sein, mit ihnen reden, wollte Leonora wiedersehen. War sie der eigentliche Grund für mein Verlangen nach dem nächsten Schritt? Ich wusste es nicht.

Mit Laura und den anderen sprach ich nicht darüber. Sie hätten es zwar furchtbar aufregend gefunden, aber irgendwann hätten sie sich nicht weiter dafür interessiert. Oder aber, sie hätten mir gleich gar nicht geglaubt. Wie sollte ich auch zu Anja Weißmann kommen? Die Geschichte mit geheimer Schwesternschaft und dem ganzen Zeug klang nicht einmal in meinen Ohren plausibel. Also verzichtete ich auf Diskussionen. Wenn ich wollte, konnte ich ihnen zu einem späteren Zeitpunkt immer noch alles erzählen. Der Abend mit meinen Freunden tat mir gut, und als er vorbei war, beschlossen wir, ihn bald zu wiederholen.

Was wäre ein Mensch ohne Ziele, ohne Herausforderungen? Wenn ich stets nur das machte, was ich konnte, dann würde ich nie herausfinden, was ich noch könnte. Und darum probierte ich gerne Neues aus. Da sich meine Ausbildung stupide hinzog und ich auch langsam die Lust an der Krankenpflege zu verlieren glaubte, hatte ich mir eine neue Herausforderung gesucht. Marathon!