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Ein Enthüllungsjournalist wird erschossen aufgefunden. Auf einem Zettel in seiner Wohnung steht der Name einer Staatssekretärin. Als diese auch noch bei Ermittlungen des BKA auftaucht, wittert Kommissarin Sarah Kobler eine Spur. Sie spürt intuitiv, dass nicht alles so ist, wie es scheint. Die Jagd nach einem aufregenden Geheimnis beginnt.
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Seitenzahl: 379
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Für
Johannes
Aller guten Dinge sind drei!
Kapitel – Montag, 08.06.2015, 22:57 Uhr
Kapitel – Dienstag, 09.06.2015, 7:32 Uhr
Kapitel – Dienstag, 09.06.2015, 8:45 Uhr
Kapitel – Dienstag, 09.06.2015, 10:12 Uhr
Kapitel – Dienstag, 09.06.2015, 12:55 Uhr
Kapitel – Dienstag, 09.06.2015, 14:19 Uhr
Kapitel – Dienstag, 09.06.2015, 16:42 Uhr
Kapitel – Dienstag, 09.06.2015, 17:34 Uhr
Kapitel – Mittwoch, 10.06.2015, 7:45 Uhr
Kapitel – Mittwoch, 10.06.2015, 8:58 Uhr
Kapitel – Mittwoch, 10.06.2015, 10:35 Uhr
Kapitel – Mittwoch, 10.06.2015, 12:02 Uhr
Kapitel – Mittwoch, 10.06.2015, 13:34 Uhr
Kapitel – Mittwoch, 10.06.2015, 14:46 Uhr
Kapitel – Mittwoch, 10.06.2015, 16:09 Uhr
Kapitel – Donnerstag, 11.06.2015, 8:01 Uhr
Kapitel – Donnerstag, 11.06.2015, 9:26 Uhr
Kapitel – Donnerstag, 11.06.2015, 15:17 Uhr
Kapitel – Freitag, 12.06.2015, 8:05 Uhr
Kapitel – Freitag, 12.06.2015, 9:56 Uhr
Kapitel – Freitag, 12.06.2015, 10:31 Uhr
Kapitel – Freitag, 12.06.2015, 11:59 Uhr
Kapitel – Freitag, 12.06.2015, 13:30 Uhr
Kapitel – Freitag, 12.06.2015, nachmittags
Kapitel – Freitag, 12.06.2015, 16:41 Uhr
Kapitel – Samstag, 13.06.2015, 7:11 Uhr
Kapitel – Samstag, 13.06.2015, 9:44 Uhr
Kapitel – Samstag, 13.06.2015, 11:45 Uhr
Kapitel – Samstag, 13.06.2015, 13:11 Uhr
Kapitel – Samstag, 13.06.2015, 20:21 Uhr
Kapitel – Sonntag, 14.06.2015, 1:17 Uhr
Kapitel – Sonntag, 14.06.2015, 5:30 Uhr
Kapitel – Sonntag, 14.06.2015, 9:39 Uhr
Kapitel – Sonntag, 14.06.2015, 11:48 Uhr
Kapitel – Sonntag, 14.06.2015, 14:09 Uhr
Kapitel – Sonntag, 14.06.2015, 15:28 Uhr
Kapitel – Epilog
Es nieselte, als Sarah Kobler und ihr Kollege Tom Rester aus dem Auto stiegen. Der Abend hatte sternenklar begonnen, nur um dann nach und nach den Wolken und dem Regen nachzugeben. Die Nacht verhieß kühl zu werden. Wind peitschte dünne Tropfen in die Gesichter der Kommissare. Aus dem Autoradio verkündete Grönemeyer „Ich trage dich bei mir“, bis er abrupt im Satz durch das Abziehen des Schlüssels unterbrochen wurde.
„Das Wetter passt zum Anlass“, brummte Tom, während er sich umdrehte und vergewisserte, dass er das Fahrzeug auch ordnungsgemäß abgeschlossen hatte. Es wäre nicht das erste Mal, dass man Polizisten im Rahmen eines Einsatzes Teile, Inhalt oder sogar das ganze Auto entwendet. Die Welt war zu einem Irrenhaus verkommen. Sarah und ihr Kollege wussten das nur zu genau.
Die beiden Kommissare gingen zum Eingang des Mehrfamilienhauses. Zwei Beamte standen vor einer blau umrahmten Tür und kontrollierten die Dienstausweise. Ein Schild neben der Einfahrt verkündete, dass die Parkplätze vor dem Gebäude nur für Anwohner gedacht waren. Ohne Parkberechtigung drohte Strafe.
Kobler und Rester zeigten wortlos ihre Dienstmarken. Dann stapften sie ohne Eile bis in den dritten Stock. Es lief ihnen nichts davon. Normale Menschen lagen um diese Zeit bereits schlafend in ihren Betten und erholten sich für den kommenden Arbeitstag. Augen auf bei der Berufswahl, dachte Sarah und seufzte, als sie vor der Wohnungstür endlich ankamen.
Sie wartete einen Moment, bis ihr Kollege mit schlurfendem, müdem Schritt zu ihr aufgeschlossen hatte. Aus der Öffnung drang Licht auf den Gang. Von innen vernahm man das Geraune von Stimmen und das Klicken von Fotoapparaten. Die gewohnte Geräuschkulisse aus Spurensicherung und Rechtsmedizin.
Sarah und Tom waren nun seit ungefähr einem halben Jahr ein Team. Am Anfang war es Tom schwergefallen, Berufliches und Privates zu trennen. Seine Kollegin hatte ihre körperlichen Reize und sie gab sich keine Mühe, diese zu verstecken. Jetzt aber schätzte er sie als jemanden mit Intuition und schneller Auffassungsgabe. Sie bemerkte Details, die andere übersahen und bewies bei allem Menschenkenntnis. Das in Gesamtheit machte einen guten Ermittler aus, auch wenn sie manchmal ihre ganz eigene Methode hatte, Dinge herauszufinden.
„Dann wollen wir mal“, gähnte Rester. Er zog ein Paar Einmalhandschuhe aus der Jackentasche, wo er immer einen kleinen Vorrat für Einsätze wie diesen aufbewahrte. Gründlichkeit war eben wichtig. Nach Toms Meinung war es möglich, jeden Mordfall zu klären, wenn man nur mit ausreichender Gewissenhaftigkeit vorging. Manche Sachlagen waren zwar komplexer als andere, aber wenn man sich alle Puzzleteile sorgfältig genug zurechtlegte, dann kam man den meisten Tätern auf die Spur.
Kobler nickte ihm zu und trat einen Schritt durch die Eingangstür. Wie immer war dies für sie ein magischer Moment, oder zumindest etwas, was ihr Gänsehaut verursachen konnte. Sie hatte sich schon oft gefragt, wie das wohl sein musste, falls es tatsächlich Geister gäbe. Müsste dann nicht die Seele des Ermordeten noch irgendwo hier sein, jetzt während sie eintrat? Würde sie ihr das Eindringen in die eigene Wohnung übel nehmen und wäre sie Sarah böse, wenn sie den Fall nicht klären und dem Opfer keine Gerechtigkeit widerfahren würde? Die Kommissarin wusste, dass das wahrscheinlich esoterischer Quatsch war, und dennoch beschlich sie immer an der Schwelle zu einem Tatort dieses komische Gefühl. Wer konnte schon sagen, was es alles gab oder nicht. Auch wenn sie sich in ihrem Beruf stets auf Fakten und Beweise und nie auf den Glauben allein stützte.
Sie blieb stehen und befühlte die Einrahmung der Tür. Langsam strich sie über die glatte Oberfläche. Die Wohnung war augenscheinlich nicht durch Gewalt geöffnet worden. Das Schloss war intakt und auch am Rahmen gab es keine Kratzer oder Spuren von körperlicher Kraft, die geholfen hatte, sich Eintritt zu verschaffen.
„Nichts kaputt“, murmelte sie in die Richtung ihres Kollegen gewandt und trat einen kleinen Schritt zur Seite, um auch ihm Platz zu machen. Rester schlüpfte an ihr vorbei und war bemüht, nichts zu verändern oder zu berühren.
„Ist die Frage, wer alles über einen Schlüssel zur Wohnung verfügt“, meinte er. „Entweder das Opfer hat selber auf gemacht und den Täter gekannt, oder aber der Täter konnte aufsperren.“
Kobler wartete, bis er an ihr vorüber war, und sah sich dann im Eingangsbereich um. Nichts deutete auf einen Kampf oder ein Handgemenge hin. Sie sah eine Gildefigur, die sie stark an eine Stellung aus dem Kamasutra erinnerte, auf dem Schuhschrank stehen. Sie vermutete, dass diese spätestens bei einer heftigen Rangelei im engen Flur verrutscht oder gefallen wäre.
Nein, der Mörder war ohne großes Aufsehen zu verursachen in die Wohnung gelangt. Auch der kleine Schuhabstreifer lag pflichtbewusst in einem rechten Winkel zur Tür, als sei es bei all dem Betrieb, der innen herrschte, das oberste Gebot, die Schuhe sauber abzustreifen. Kobler wusste um die Statistik, dass die meisten Mordopfer ihre Täter gekannt hatten und sie daher oft im direkten Umfeld oder sogar in der Familie zu suchen waren.
Sarah und Tom gingen weiter und kamen unmittelbar in einen größeren Raum mit einem Tisch, welcher offenkundig als Esszimmer genutzt worden war. Ein Teller stand unaufgeräumt auf einem Platzset neben einem geleerten Rotweinglas. In der Mitte des Tisches hatte jemand eine kleine Holzschale drapiert, die beim ersten Blick mit Äpfeln und Birnen gefüllt schien. Auf den zweiten Blick konnte man allerdings erkennen, dass das Obst wie auch die Schale aus Holz gefertigt war.
Kobler nahm den zarten Geruch von Rotwein wahr, der schon fast verflog und von einem mächtigeren, schweren Duft abgelöst wurde. Sie war sich nicht sicher, ob es sich dabei mehr um ein After Shave oder doch eher um einen wuchtigen weiblichen Duft handelte. Offenbar hatte das Opfer hier abendgegessen und war, kurz bevor er alles abräumen und zur Spüle bringen konnte, unterbrochen worden.
„Aufgewärmt!“, konstatierte Tom, nachdem er sich den Teller und die letzten Reste etwas genauer betrachtet hatte. „Keine gute Henkersmahlzeit!“
„Das kann man sich eben nicht immer aussuchen“, erwiderte Kobler und spähte in das nächste Zimmer. Wenn man sich vom Eingangsbereich nach links drehte, konnte man in die Küche sehen. Dort stapelten sich einige Teller und Gläser in und neben der Spüle. Dies ließ Sarah vermuten, dass das Opfer hier alleine und ohne Frau gewohnt hatte.
Eine Frau im Haus hätte dieses Chaos schon lange beseitigt. Nicht, weil sie es in der heutigen Zeit als ihre von Gott gegebene Aufgabe ansah. Vielmehr weil sie der ständige Anblick schlicht nervte. Allerdings musste man zugestehen, dass trotz aller Einschränkungen, was die Küche betraf die Wohnung ansonsten einen ordentlichen und sauberen Eindruck machte.
Die Schlüssel hingen an einem dafür vorgesehenen Brett und die Schuhe standen gründlich aufgereiht auf einem separaten Ableger. Nirgends lagen Unterhosen oder Socken herum, was das Klischee eines männlichen Singlehaushaltes bedient hätte. Nein, wer hier gelebt hatte, war bodenständig und pflichtgewusst gewesen.
„Du solltest deine Haare zumachen, wenn du einen Tatort begehst“, tadelte Tom seine Kollegin, die soeben eine ihrer langen dunklen Strähnen hinter ihre Ohren strich. „Du legst sonst falsche Spuren!“
„Ich bin aber nicht der Täter“, erwiderte sie kühl und drehte sich mit suchendem Blick zu einem der umherstehenden Polizisten. Rester entfernte sich etwas, um sich ohne Kobler umzusehen.
„Wer hat ihn gefunden?“, fragte sie einen Beamten in blauer Uniform, der sich neben einem massiven Holzschrank postiert hatte und das Geschehen von dort aus begleitete. Der Mann deutete auf eine Tür hinter dem Essbereich: „Seine Lebensgefährtin, Stefanie Röll. Sie hat einen Schlüssel und hat ihn tot gefunden. Sitzt im Schlafzimmer.“
Sarah nickte und konnte durch die Tür eine kleine Gruppe von Leuten erkennen, die sich um zwei auf dem Bett sitzende Frauen scharten. „Sehen wir ihn uns erst einmal an, dann gehen wir zu ihr“, entschied sie in Resters Richtung gewandt.
Dieser entfernte sich von einem aufgehängten Korkbrett, welches als Ablage für Informationen und Telefonnummern genutzt wurde. Er folgte Sarah in einen Raum, der direkt gegenüber der Küche lag. Regale, Aktenordner und ein Schreibtisch wiesen das Zimmer ohne Vorahnung als Büro aus. Ein Laptop stand auf dem Tisch und war womöglich noch benutzt worden, bis eine Kugel ihm das Licht, oder besser den Strom, ausgeknipst hatte. Ein großes Loch klaffte in der Tastatur zwischen den Buchstaben G und Z. Der Bildschirm war schwarz.
Auf dem Schreibtisch fanden sich diverse Ablagen, von denen manche beschriftet und die anderen ohne sichtbare Aufgabe mit vielen Unterlagen beladen waren. Einige Papiere lagerten auf der Seite neben dem Laptop, zu einem Stapel geformt. Alles schien seine Ordnung zu haben, oder vielmehr gehabt zu haben.
Überall auf dem Boden lagen weitere Blätter und Ordner verstreut. Diese hatten wohl bis vor Kurzem, einer ähnlichen Systematik gehorchend, irgendwo am Tisch oder in den Ablagen ihren Platz gehabt. Schubladen und ein Wandschrank waren geöffnet und Sarah vermutete, dass jemand etwas gesucht haben musste.
Sie wendete ihre Aufmerksamkeit dem Bürostuhl zu, strich sich ihre langen braunen Haare hinter die Ohren und bückte sich. Sie betrachtete den Mann der auf dem Bauch vor ihr und neben dem Stuhl lag, mit einem teils kritischen und teils traurigen Blick. Im Rücken des Opfers klafften zwei Einschusslöcher, aus denen in dünnen Fäden Blut ausgetreten war und sich in das hellgelbe Hemd gefressen hatte. Ein weiteres Loch fand sich in seinem Kopf.
„Von hinten erschossen“, betonte Rester und sah sich nach dem Rechtsmediziner um, um detaillierte Informationen zu bekommen. Den Notizblock samt Kugelschreiber hielt er bereits startklar in der Hand.
„Vielleicht wollte er dem Mörder etwas am Laptop oder in den Unterlagen zeigen! Und der hat ihn dann in einem günstigen Moment abgeknallt“, begann Tom, die ersten Mutmaßungen anzustellen.
„Viele andere Gründe gibt´s ja nicht, um ins Arbeitszimmer zu gehen.“
„War ja nur so eine Idee“, brummte Tom, da er in Sarahs Stimme einen leicht genervten Unterton ausgemacht hatte. Es war ihr noch zu früh für Spekulationen, das wusste er. Sie wollte erst die ganze Szene auf sich wirken lassen und die Atmosphäre nicht durch vorschnelle Verdächtigungen beeinflussen. Tom notierte sich seine Vermutung auf dem Block. Bei Bedarf konnte er ja darüber nachdenken, wenn sie mehr Informationen hatten.
„Zweimal Herz und einmal Kopf“, murmelte Kobler mehr zu sich selber. „Scheint ein Profi gewesen zu sein. Gezielte Schüsse aus nächster Nähe. Und wie es hier aussieht, hat der Mörder etwas gesucht!“ Sie ließ ihren Blick ein weiteres Mal über den Zimmerboden gleiten, als könne sie ihn mit ihren dunklen Augen auf verborgene Spuren scannen. Rester nickte und brummte zustimmend. In diesem Moment drängte sich ein Mann durch die Tür, den Tom als den Rechtsmediziner erkannte.
„Molte“, grüßte er in die Runde und bückte sich dann geschäftig zu einem Koffer, den er neben der Leiche abstellte. „Ich weiß, es ist spät und wir wollen alle schnell wieder raus, und ich weiß auch, dass sie den Bericht schon gestern gebraucht hätten“, startete er unvermittelt seinen Redefluss mit einer der Situation unangemessenen Heiterkeit.
„Also was haben wir? Männliches Opfer, nach dem Ausweis 39 Jahre. Äußerlich wirkt er auf mich gesund, einmal abgesehen von den Einschusslöchern.“ Er machte eine Pause, um den Witz wirken zu lassen, doch Kobler und Rester reagierten nicht.
„Nun ja, offensichtlich wurde der Mann erschossen. Wohl eher ein Kleinkaliber. Genaueres gibt es natürlich erst nach der Obduktion.“
„Haben wir eine Tatwaffe gefunden?“, wollte Sarah wissen. Tom schüttelte den Kopf. „Todeszeitpunkt?“, fragte die Kommissarin weiter, um unnötigem Gerede keinen Platz zu geben.
Der Rechtsmediziner hob die Schultern. „Ich würde sagen vor ein bis drei Stunden, also zwischen 20:00 Uhr und 22:00 Uhr. Die Leiche ist noch frisch.“
Ein Beamter betrat das Zimmer und reichte Rester einen Zettel. „Manuel Husmann, 39 Jahre. Ledig, keine Kinder. Arbeitet als Journalist für Inside Berlin“, las dieser vor.
Sarah nickte und erhob sich aus ihrer gebückten Position. Ihre Knie knackten leise, als sie sich aufrichtete. Wie immer wenn sie nachdachte, wickelte sie eine ihrer langen Strähnen gedankenverloren um ihren Finger. Sie betrachtete den toten Körper, dann den Raum.
Ganz offensichtlich hatte der Täter etwas gesucht, sonst hätte er nicht all die Schubladen geöffnet und auch nicht dieses Chaos hinterlassen. Er war nicht darauf bedacht gewesen, Spuren zu verwischen. Sicherlich hatte er Handschuhe getragen, wovon Kobler ausging. Vielleicht war er aber in der Wohnung auch ein- und ausgegangen und es war auf ein paar Fingerabdrücke mehr oder weniger nicht mehr angekommen. Sarah dachte wieder an die unversehrte Tür. Wahrscheinlich hatte das Opfer nicht einmal mitbekommen, was mit ihm passierte.
„Lass uns zu der Lebensgefährtin gehen“, entschied Kobler nach einem Moment des Nachdenkens und drehte sich auf dem Absatz um. Beide Kommissare verließen das Büro und wechselten wieder in den Essbereich. Vor dem Schlafzimmer, in dem Husmanns Freundin auf sie wartete, kam Sarah ein kräftig gebauter Mann entgegen. Die Dienstjacke und das Namensschild wiesen ihn als Dr. Mühlberg und Notarzt aus. „Machen Sie es bitte kurz“, riet er ihr mit gedämpfter Stimme, bevor sie das abgedunkelte Zimmer betreten konnte. „Frau Röll steht unter Schock. Ich werde ihr gleich etwas zur Beruhigung geben müssen.“
„Ich verstehe!“
Der Mediziner machte einen Schritt zur Seite. Kobler und Rester traten ein. Man hatte das Deckenlicht nicht eingeschaltet, sondern nur die Nachttischbeleuchtung, welche die beiden Frauen in ein düsteres Licht tauchte. Eine junge Frau, die Sarah auf Anfang bis Mitte dreißig schätzte, saß auf der Bettkante und hielt den Kopf gesenkt. Sie hatte hellblonde Haare, die sie mit einzelnen Spangen zu einer Frisur hochgesteckt hatte. Kobler bemerkte auch ihre Absatzschuhe und ihren Seidenrock, der ihr an dieser Stelle aus irgendeinem Grund als unpassend erschien. Neben Stefanie Röll saß eine ältere Frau, die versuchte sie zu beruhigen. Die Kommissarin trat auf die beiden zu und setzte sich auf einen Stuhl ihnen gegenüber.
„Guten Tag, mein Name ist Kobler. Und das ist mein Kollege Rester. Wir ermitteln in diesem Mordfall.“ Sie machte eine kleine Pause und betrachtete die Frauen, von der eine der anderen gerade ein Taschentuch reichte. „Frau Röll, ich möchte Ihnen zunächst mein Beileid aussprechen. Ich muss aber trotzdem ein paar Fragen stellen.“
Zum ersten Mal sah die junge Frau auf. Sarah erkannte ein Gesicht mit feinen Zügen, das trotz der Trauer eine bestimmte, vertrauenserweckende und freundliche Ausstrahlung hatte. Sie trug Make-up und der Mund war in einem kräftigen gedeckten Rot geschminkt. Stefanie Röll nickte.
„Frau Röll, wann haben Sie Herrn Husmann das letzte Mal gesehen?“
„Das muss so gestern Nachmittag gewesen sein“, überlegte sie mit heiserer Stimme. „Wir haben uns aus beruflichen Gründen nicht jeden Tag oder jede Nacht getroffen.“
„Wann haben Sie Herrn Husmann hier gefunden?“
„Es war so gegen 22:15 Uhr“, sagte sie leise. „Wir wollten uns treffen. Außen war alles wie immer. Die Tür war abgeschlossen. Ich hab geklingelt, aber niemand hat geöffnet. Da hab ich meinen Schlüssel aus der Handtasche genommen und selber aufgesperrt.“
„Ist Ihnen dabei etwas aufgefallen? War etwas anders als sonst?“
„Nicht, dass ich wüsste. Ich habe Manuel gesucht und ihn dann im Arbeitszimmer gefunden.“
Ihre Stimme brach und sie musste unterbrechen.
Sarah senkte respektvoll den Kopf, um Stefanie Röll ein wenig Zeit zu geben. Der Schock saß sichtlich tief. Ihr kam erneut dieser Geruch in die Nase, den sie bereits im Eingangsbereich registriert hatte. Nun wurde ihr bewusst, dass es sich dabei um Stefanie Rölls Parfüm handelte, ein schwerer Duft, den man nicht den ganzen Tag ertragen konnte. Wahrscheinlich hatten die beiden heute noch vorgehabt, zusammen auszugehen.
Koblers Augen trafen wieder Rölls Schuhe. Gras und ein wenig Dreck klebte an den spitzen Pfennigabsätzen. Sie musste über eine Wiese oder zumindest etwas Gras gelaufen sein, was bei dem feuchten Wetter unweigerlich zum Einsinken führte. Irgendetwas Undefinierbares verkrampfte sich in Sarahs Bauch. Stefanie Röll war eine Frau mit Stil, da passte es nicht zu ihr, mit derartigen Schuhen durch den Schmutz zu laufen.
„Wer hat eigentlich alles einen Schlüssel zu dieser Wohnung?“, fragte Rester weiter, nachdem Röll sich wieder im Griff hatte.
„Nur ich und Manuel!“
„Hatte er so was wie eine Putzfrau?“ Stefanie Röll schüttelte schlaff den Kopf.
„Ihr Freund war Journalist. An was hat er gerade gearbeitet?“, übernahm Sarah wieder die Befragung.
„Das weiß ich nicht. Er hat immer an irgendwelchen Storys recherchiert. Wir haben aber so gut wie nie darüber gesprochen. Er meinte nur vor einigen Tagen, seine nächste Geschichte könnte ein Riesenknaller werden.“ Kobler und Rester wechselten einen schnellen Blick.
„Gegen wen oder was hat er ermittelt?“, hakte Tom nach, ohne dabei zu energisch klingen zu wollen, doch in diesem Moment ergriff ein neuer Weinkrampf die junge Frau, und der Notarzt ging dazwischen.
„Kann ihm jemand auf die Spur gekommen sein, jemand, den er durch die Recherchen belastet haben könnte?“, setzte Sarah nach, doch der Arzt unterbrach die Vernehmung.
„Ich denke, das reicht!“, sagte er bestimmt. „Ich werde ihr jetzt etwas zur Beruhigung geben. Sie können ihre Befragung ja morgen fortsetzen.“
Der Arzt führte Stefanie Röll nach unten in den Notarztwagen, während Rester noch die zweite Frau, die sich als Manuel Husmanns Mutter herausstellte, befragte. Kobler ging währenddessen durch die Wohnung und sah sich um.
Für eine einzelne Person boten die Räumlichkeiten ausreichend Platz. Es gab eine kleine Küche, ein geräumiges Wohnzimmer mit Fernseher, ein Büro, in dem die Leiche lag, ein Schlafzimmer und ein Bad. Der Journalist hatte sein Apartment geschmackvoll und mit zahlreichen Details eingerichtet. An den Wänden hingen Bilder und Kobler vermutete, dass er einige davon auf Flohmärkten oder im Internet erworben hatte. Aus den vielen Kleinigkeiten schloss sie, dass Husmann schon länger hier gewohnt haben musste. Er war offenbar nicht häufig umgezogen.
Die Möbel waren rustikal aus schwerem Holz, wie man sie heutzutage nicht mehr in den Möbeldiscountern bekommt. Die Wohnung strahlte auf Sarah eine angenehme Ruhe aus, die es ihr erlaubt hätte, sich hier wohlzufühlen, wenn da nicht die Leiche im Arbeitszimmer gewesen wäre.
Sie ging noch einmal in das Büro und sah sich um. Zwei Beamte der Spurensicherung tappten behutsam und in weiße Überzüge gekleidet durch das Zimmer. Sie postierten kleine Täfelchen mit Nummern an einzelne Beweisstücke. Dann fotografierten sie diese und stellten anschließend neue Tafeln auf.
An der Wand rechts neben der Tür hatte Husmann einige Fotos von sich aufgehängt. Eine der Aufnahmen zeigte ihn mit seiner Freundin vor der imposanten Kulisse des Grand Canyon und eine weitere auf der Chinesischen Mauer. Das Paar war offenbar viel rumgekommen in ihrer gemeinsamen Zeit. Sarah fand, dass beide auf den Bildern glücklich wirkten. Wenigstens das, dachte sie.
Neben den Fotos mit seiner Partnerin hatte Husmann noch unterschiedliche Auszeichnungen ausgestellt. Er hatte zweimal in Folge einen Preis für investigativen Journalismus gewonnen und eine Menschenrechtsvereinigung hatte ihn 2009 zum Mann des Jahres gekürt. Kobler fragte sich, was er damals herausgefunden hatte, um sich diese Ehrung verdient zu haben.
Sie bückte sich und versuchte mit spitzen Fingern zu erkennen, welche Unterlagen da verstreut am Boden lagen. Sie hoffte eine Vorstellung davon zu bekommen, an was Husmann gearbeitet hatte. Sie hob die ersten Blätter auf und begann zu lesen. Es waren Ausdrucke von Internetseiten, die jemand jeweils in der Ecke mit einer Klammer zusammengetackert hatte. Der Inhalt bestand hauptsächlich aus Beschreibungen und technischen Einzelheiten unterschiedlicher Geländefahrzeuge.
In den folgenden Artikeln fanden sich auch Bilder von verschiedenen Kampfhubschraubern, die händisch mit Notizen versehen worden waren. Einmal las Kobler das Wort „Senegal“, wo anders „San Pablo“, wo immer das auch sein mochte. Sarah fiel auf, dass es sich bei den Fahrzeugen und auch den Hubschraubern ausschließlich um deutsche Fabrikate handelte.
Auch auf dem Schreibtisch stapelten sich mehrere ausgedruckte Artikel von Onlinemagazinen. Sarah überflog die Unterlagen. Meistens ging es dabei um Kommentare oder Hintergründe zu diversen Entscheidungen der Bundesregierung. So las sie unter anderem, dass ein Militäreinsatz in Mali vor einigen Monaten erst verlängert oder erstmalig beschlossen worden war.
Auf einem weiteren, getrennt liegenden Haufen kritisierten die Autoren den Zustand der Menschenrechte in unterschiedlichen arabischen Ländern. Aber auch die Umstände, wie in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion mit Systemkritikern verfahren wurde, missbilligten sie.
Kobler versuchte, sich alles so gut wie möglich einzuprägen. Allerdings waren sämtliche Informationen allgemeiner Natur und von jedem über das Internet in Eigenregie zu beschaffen. Nichts für was man tötete.
Sie betrachtete den Laptop, dessen Basis von einer Kugel getroffen worden war. Sie nahm nicht an, dass der Mörder auf die kurze Distanz Husmann zunächst verfehlt hatte und das Gerät sozusagen versehentlich in Mitleidenschaft gezogen wurde. So nah schoss niemand vorbei, schon gar kein abgebrühter Profi. Vielleicht hatte er versucht, die Speichereinheit des Laptops gezielt zu zerstören. Sarah hoffte, dass ihm das nicht geglückt war. Sie mussten auf jeden Fall die Festplatte in die Kriminaltechnik bringen lassen.
Offenbar durch den Aufprall der Kugel war der Laptop verschoben worden und unter ihm lugte nun ein kleiner Notizzettel hervor. Kobler bückte sich und zog das Blatt vorsichtig heraus. Sie drehte es um. „Helena Zeissner“ stand mit schnörkeliger Handschrift darauf geschrieben. Der Name war unterstrichen und mit drei Ausrufezeichen versehen.
Sarah überlegte, ob sie ihn schon einmal gehört hatte. Möglicherweise war es jemand, über den ihr Opfer eine Story schreiben wollte, oder aber sie war eine Informantin. Zumindest hatte er den kleinen Zettel wohl unter dem Laptop versteckt und nicht offen liegen gelassen, so wie die anderen Unterlagen. Sie reichte das Blatt einem Beamten der Spurensicherung, der es nahm und in einer Tüte verstaute. Dann ging sie wieder zurück zu Rester, der mit der Befragung von Husmanns Mutter fertig war.
„Wir müssen den Laptop zur KTU schicken. Außerdem will ich alle Handy- und Telefondaten überprüfen lassen. Das Übliche halt.“
„Jemand muss die Nachbarn vernehmen“, meinte Tom missmutig. Sarah nickte zustimmend.
„Hat die Zeugin etwas gesagt?“
Rester hob die Schultern. „Nichts was uns weiterhilft. Sie hatten nur losen Kontakt. Sie wohnt nicht direkt in Berlin und hat ihn nur alle vier Wochen mal gesehen. Über seinen Beruf haben sie nie gesprochen.“
„Ich hab das Gefühl, das wird ein Scheißfall“, gab Kobler ihre erste Einschätzung zum Abend ab. Wieder hob Tom die Schultern, weil er nicht wusste, was er darauf erwidern sollte. Scheißfall oder nicht, sie mussten sich um jeden Toten kümmern. Also war es nach Toms Auffassung sinnlos, die Fälle in gute und schlechte einzuteilen. „Jedenfalls haben wir noch viel Arbeit für eine Nacht!“, betonte er, um das Thema zu wechseln. „Bringen wir es hinter uns!“
Rester liebte die Ruhe, die das Büro im Präsidium in der Früh vor Dienstbeginn ausstrahlte. Man hatte Zeit seine Gedanken zu sortieren. Manchmal ertappte er sich, wie er extra früh hierherkam, um einfach noch für einen Moment zu sich zu kommen. Zu Hause war das nicht machbar. Zu viele Dinge erbrachten zu viele Möglichkeiten der Ablenkung.
Da verlor man den Blick für das Wesentliche. Handy, PC und den Fernseher nicht zu vergessen, den er gern einschaltete, nur um nicht ganz so alleine zu sein in seiner kleinen Wohnung. Irgendwie bedauerte er sich bei diesem Gedanken selber, aber was sollte er machen. Zu oft hatte er schon etwas ändern und sein Leben umkrempeln wollen, doch dann fehlten ihm zuletzt meist Ausdauer und Mut dabei.
Er legte seine Akten auf einen Haufen und räumte sie zur Seite. Er hatte gehofft, in dieser Woche wenigsten ein bisschen von dem Aktenkram erledigen zu können, wenn da nicht gestern der Tote dazwischengekommen wäre. Ja, ständig die Toten! Vielleicht sollte er zur Sitte wechseln oder zurück nach Bayern gehen, von wo er ursprünglich hergekommen war.
Es war schwer gewesen für ihn, hier in Berlin Fuß zu fassen. Alles lief anders und manchmal kam es ihm vor, als würde es keinen Unterschied machen, ob man nach Berlin oder Budapest auswanderte. Bayern war weder das eine noch das andere. Er vermisste den Wald, die gute Luft und ab und an wünschte er sich, wie früher einfach mit seinem Hund rauszugehen, um frisches Wild zu jagen. Aber das war sein altes Leben gewesen.
Nun bestand der meiste Teil seiner Zeit aus Arbeit, Akten und sehr, sehr wenig Freizeit. Gelegentlich ging eine kleine Pokerrunde mit einigen Bekannten zusammen, aber selbst das hatte sich seit längerer Zeit aus diversen Gründen nicht mehr ergeben. Er hätte sich ja schon nach anderen Stellen oder neuen Herausforderungen umgesehen wenn, ja wenn da nicht …
Die Tür rumpelte und flog mit einem Mal auf. Sarah stand darin. Sie hatte diese mit ihren Ellenbogen geöffnet. In der einen Hand hielt sie den obligatorischen Starbucks Kaffeebecher. In der anderen Hand eine Tüte. Über ihrer Schulter hingen weitere Tragetaschen.
„Grad habe ich an dich gedacht“, begrüßte Tom sie und sah ihr zu, wie sie Becher, Taschen und Zeitungen, die sie sich unter dem Arm geklemmt hatte, auf ihren Schreibtisch balancierte.
„Ich hab uns die neue Berlin Inside mitgebracht. Dachte, es hilft, einmal zu lesen, was die so schreiben.“
Manchmal musste er seine Kollegin einfach bewundern. Sie war immer gleich hundertprozentig dabei und vertiefte sich in den jeweiligen Fall. Derweil wirkte Sarah, wenn man sie auf der Straße sah, nicht als würde sie beruflich Mörder jagen. Sie war schlank und hatte ein Gesicht mit feinen Zügen und warmen dunklen Augen. Sie erweckte in jedem, den sie traf, einen unbestimmten Beschützerinstinkt. Allerdings konnte sie auch richtig zupacken und brachte bei den Selbstverteidigungskursen so manchen erfahrenen Ausbilder auf die Matte. Ja, Sarah hatte schon Klasse!
Kobler warf Rester eine Zeitung rüber. „Hier, für dich!“
„Gab es die auch beim Kaffeeröster?“ Tom spielte damit auf ihre täglichen Besuche in diversen Kaffeeverkaufsstellen der Stadt an. Sie trank Unmengen von dem schwarzen Zeugs, sodass sich manche im Büro fragten, wie diese Frau überhaupt noch schlafen konnte. Aber vielleicht tat sie das ja auch nicht, dachte Tom bei sich.
„Direkt daneben! Gibt es sonst noch etwas Neues?“
„Die Rechtsmedizin ruft jeden Moment an und gibt uns den Bericht durch.“
Kobler sah überrascht auf. „Jetzt schon?“
„Ja! Der Molte ist bei seiner Frau rausgeflogen und schläft zurzeit im Büro im Institut. Und da dachte er sich, er hat außerdem nichts zu tun und hat die Leiche gleich obduziert.“
Sarah nickte anerkennend. „Das nenne ich Einsatz!“ Sie zog die Taschen von der Schulter und hing sie über den Stuhl.
„Was hast du denn da alles?“, wollte Tom nun wissen, der sich über die ganzen Beutel wunderte. Darüber hinaus fragte er sich, ob er ihr als Gentleman nicht gleich am Anfang hätte helfen sollen.
„Ich war eben noch fotografieren. Ich steh gern etwas früher auf und sehe in die Parks oder fahre direkt vor die Stadt. Entspannt! Solltest du auch versuchen.“
Tom bewunderte die Power seiner Kollegin. Er erinnerte sich wieder daran, wie mühsam er es heute Morgen aus dem Bett und letztlich in das Büro geschafft hatte. Vielleicht schlief Sarah wirklich nie!
Wieder ging die Tür auf und Jonas Gude kam herein. „Guten Morgen!“, grüßte er und blickte in die Runde. „Ich habe gehört, wir haben eine neue Leiche?“
Rester nickte zustimmend. „Die Rechtsmedizin ruft gleich an.“
Gude lächelte. „Ist der Molte wieder rausgeflogen?“ Alle lachten. Gude war im Team der gewissenhafte Aktenfresser, der sich in alles vertiefen und die Fakten herausfiltern konnte. Dabei machte es ihm auch nichts aus, dass er manchmal bis tief in die Nacht im Büro saß und sich durch Daten- und Blätterberge kämpfte. Und das, obwohl zu Hause eine Frau und ein einjähriger Sohn auf ihn warteten. Gude lieferte die Informationen, die Kobler und Rester dann zu einem großen Ganzen zusammenfügten. Tom fand, dass sie sich gut ergänzten. Das Telefon klingelte. Tom nahm ab und stellte auf laut.
„Morgen!“, dröhnte es verschlafen aus dem Lautsprecher.
„Guten Morgen Herr Molte“, antwortete Sarah gut gelaunt. „Was haben Sie für uns?“ Sie beugte sich nach vorne in Richtung des Hörers und stützte ihren Kopf auf beide Arme ab.
Es knackte und rauschte, als ob der Arzt seine Unterlagen suchte. Schließlich sagte er: „Also, wie zu erwarten ist Herr Husmann durch die Einschüsse in Herz und Kopf zu Tode gekommen. Er war sofort tot. Kampfspuren haben wir keine gefunden. Keine Hämatome. Keine fremde DNA. Todeszeitpunkt würde ich nach allem, was wir wissen, zwischen 21:00 Uhr und 22:00 Uhr veranschlagen.“
„Tatwaffe?“, fragte Sarah nach.
„Makarow 9 mm! Ich konnte alle Kugeln bergen.“
„Russisches Militär“, meinte Gude.
„Oder Mafia“, erwiderte Kobler.
„Sicher kann man die überall am Schwarzmarkt kaufen“, mutmaßte Rester.
Jonas rümpfte die Nase. „Da hast du wahrscheinlich recht. Hilft uns also nicht wirklich weiter.“
Tom nickte zustimmend und wollte von Molte wissen:
„Gab es Hinweise auf Geschlechtsverkehr?“
„Nein!“, antwortete es aus dem Lautsprecher. „Aber warum interessiert Sie das?“
„Nur so!“
„Das Opfer ist von hinten aus nächster Nähe erschossen worden. Wahrscheinlich hat er es gar nicht mitbekommen, dass sein Trinkfreund eine Waffe gezogen hat“, führte der Arzt weiter aus.
„Wieso Trinkfreund?“, stutzte Sarah.
„Ach, das habe ich ganz vergessen“, entschuldigte sich der Rechtsmediziner. „Im Blut von Husmann fanden wir einen Alkoholspiegel von 0,9 Promille.“ Koblers Augen verengten sich und sie fing an, eine Haarsträhne um ihren Finger zu drehen.
„Auf den Tisch haben wir ein benutztes Weinglas gefunden“, sagte Rester. „Aber da war nur eins!“
„In der Spüle stand noch eins“, murmelte Sarah beiläufig, als wäre sie gerade mit den Gedanken ganz wo anders.
„Okay! Haben Sie noch etwas für uns?“, fragte Tom in den Lautsprecher.
„Nein, das war alles! Ich faxe den Bericht dann noch durch.“
Alle bedankten sich und setzten sich hinter ihre Schreibtische. Kobler ging zu der büroeigenen vollautomatischen Kaffeemaschine, schaltete sie ein und füllte sich ihren Becher neu.
„Klingt, als hätte ihn der Täter eiskalt überrascht“, begann Gude die Diskussion. „Keine Kampfspuren. Ich dachte immer, Enthüllungsreporter sind chronisch paranoid und drehen einem nie den Rücken zu.“
„Nicht, wenn du jemanden wirklich vertraust“, antwortete Rester. „Wie einem Freund oder einem guten Bekannten. Schließlich hat er die Tür auch freiwillig geöffnet.“
„Oder der Freundin!“, spann Kobler den Faden weiter, während sie wieder eine Locke um einen Finger drehte. Sie hatte, wenn sie so in Gedanken war, immer einen ganz verklärten Blick, als ob sie in eine andere Welt schauen und dort Dinge sehen konnte, die ihren Kollegen nicht zugänglich waren.
„Quatsch!“, widersprach Rester. „Nicht die Röll! Die kann so was nicht und schon gar nicht trau ich der zu, dann so eine Trauer-Show abzuziehen.“
„Der Mord kam ja nicht ganz ungeplant“, meinte Jonas wieder, während er Aktenordner auf seinen Schreibtisch auf einen Haufen schlichtete und sie dann im rechten Winkel zur Tischkante anordnete. „Ich mein, wer hat schon eine Waffe immer in der Tasche. Der Mörder ist zum Zwecke des Mordes gekommen. Emotionslos und berechnend. Er hat die Pistole mitgebracht um Husmann zu töten. Drei Schüsse! Peng!“
„Vielleicht wollte er nur sehen, was er rausgefunden hat?“, überlegte Rester.
„Oder das Ganze hat nichts mit seiner Arbeit zu tun. Wir starren nur jedes Mal schnell auf das Offensichtliche.“ Sarah hatte ihre Augenbrauen skeptisch über die Nasenwurzel zusammengezogen. Sie stand vom Schreibtisch auf und warf ihren Becher gekonnt in einen der Abfalleimer. „Warten wir die Besprechung ab!“
Die Tür ging auf und ein kleiner, aber energisch wirkender Mann betrat das Zimmer. Mit schnellen Schritten durchquerte er den Besprechungsraum des Kommissariats und setzte sich auf seinen Platz.
„Was haben wir?“
Kriminalrat Matthias Pott war Abteilungsleiter im K1. Er hatte in seinem Leben schon alles gesehen. Morde, Sexualdelikte und andere skrupellose Verbrechen waren für ihn nichts Neues, und privat hatte er zwei Scheidungen mehr oder minder unbeschadet überstanden. Pott hielt sich nie lange mit Vorreden oder Kleinkram auf. Er wollte Ergebnisse und das immer schnell. Tom Rester erzählte in knappen Worten, was sie bisher wussten und was der Rechtsmediziner ihnen mitgeteilt hatte.
„Sieht wie ein Mafiamord aus“, konstatierte Pott und blickte auffordernd in die Runde.
„So eine Waffe kann sich jeder am Schwarzmarkt besorgen“, gab Tom die Zusammenfassung der morgendlichen Diskussion wieder.
„Zweimal Herz, einmal Kopf. Sieht trotzdem nach einem Profi aus“, erwiderte sein Vorgesetzter.
„Na ja!“, klinkte Gude sich ein. „Wenn wir einmal von einem mordnaiven Täter ausgehen würden, also jemand, der das zum ersten Mal macht: Wo würden wir an seiner Stelle hinschießen?“ Er wartete einen Moment, um dann fortzufahren. „Ich denke, dass in der Bevölkerung Herz und Kopf durchaus als wichtige Organe bekannt sind. Also, wenn ich noch nie etwas mit der Sache zu tun gehabt hätte, würde ich versuchen, das Herz zu treffen. Weit kann der Täter ja nicht weggestanden haben.“
Pott verzog das Gesicht und kniff die Lippen zusammen.
„Außerdem hat Husmann dem Mörder offenbar die Tür geöffnet und wie es aussieht mit ihm noch Rotwein getrunken“, erwiderte Sarah. „Das widerspricht der These vom anonymen Auftragskiller. Er muss den Täter gekannt und ihm vertraut haben, sonst öffne ich spät abends nicht die Tür.“
„Vertrauter und Mafia muss sich nicht wiedersprechen“, beharrte Pott auf seiner Vermutung. Er mochte es zwar nicht, wenn er offen infrage gestellt wurde, aber meistens wollte er mit seinen plakativen Hypothesen nur Widerspruch und eine Diskussion anregen. Auch dieses Mal war ihm das wieder gelungen.
„Vielleicht hat er bei seinen Recherchen etwas gefunden, was nur indirekt eine Verbindung herstellt. Auf den zweiten Blick sozusagen“, mutmaßte Gude.
„Möglich ist wie immer alles! Der Teufel ist ein Eichhörnchen! Wir ermitteln in alle Richtungen!“, gab Pott knackig die Devise für die weiteren Ermittlungen aus. Die Parole war eine seiner Standartsprüche, die er bei jeder Gelegenheit zum Besten gab. Er stand auf und klebte zwei bunte Zettel an eine große Pinnwand. Auf den einen schrieb er: „Bekannter/Freund“, auf den anderen „Mafia“.
Er drehte sich wieder zu seinen drei Mitarbeitern. „Was haben wir über das Opfer?“
Tom meldete sich: „Manuel Husmann. 39 Jahre, ledig, aber mit fester Lebenspartnerin, einer gewissen Stefanie Röll. Sie hat ihn am Tatort gefunden. Er arbeitete als Enthüllungsjournalist bei Berlin Inside. Er hat diverse Preise für seine Recherchen gewonnen. Soweit wir das überblicken können, war das meiste investigatives Zeug mit Sprengstoff. Einige Leute sitzen wegen ihm hinter Gitter!“
Pott hob interessiert eine Augenbraue. „Hat jemand etwas gesehen?“
„Negativ!“, fasste Kobler die Befragungen der letzten Nacht zusammen. „Keine lauten Geräusche, kein Streit. Nicht einmal einen Schuss wollen die Bewohner vernommen haben.“
„Sonst noch Anmerkungen?“
„Na ja, Fingerabdrücke in der Wohnung sind von Husmann und Röll. Es wurden aber auch noch welche von einer unbekannten Person sichergestellt.“ Sarah schenkte sich ihr Wasserglas voll, während sie weitersprach. „Dann ist da noch ein Zettel.“
„Was für ein Zettel?“„Ich hab ihn unter der Tastatur gefunden. Der Laptop muss durch den Schuss verrutscht sein. ‘Helena Zeissner’ steht dort dick und unterstrichen drauf.“„Überprüfen!“, befahl Pott mit Blick auf Gude, weil er wusste, dass dieser lieber im Büro seinen Dienst verrichtete. Jonas nickte und notierte sich den Namen auf einem Block.
„Ich hab gestern noch die Mutter von Husmann befragt“, meldete sich noch einmal Rester zu Wort. „Sie hatten zwar Kontakt, aber über die Arbeit haben sie nicht viel gesprochen. Im Grunde wusste sie nie, über was er gerade berichtete oder an was er recherchierte. Über eventuelle Feinde konnte sie keine Angaben machen.“
„Sitzen doch genug im Knast wegen ihm“, knurrte Pott und deutete wieder auf Gude. „Überprüfen!“
Wie eben notierte dieser sich die Anweisung säuberlich auf einem Zettel und sagte dann: „Ich werde zuerst versuchen, aus dem Laptop noch etwas herauszubekommen. Der Täter hat probiert, die Datenträger mit einer Kugel unbrauchbar zu machen, woraus ich schließe, dass er nicht möchte, dass wir darauf suchen. Wenn Husmann etwas gefunden hat, was niemand wissen sollte, dann sind die Daten sicher auf seiner Festplatte zu finden.“
„Das Gleiche hat der Mörder dann wohl auch vermutet“, raunte Rester.
Alle schwiegen. Für einen Moment war nur das Geräusch des Lüfters zu vernehmen. Schließlich unterbrach Sarah Kobler die Ruhe. „Also gut! Die Tür ist nicht aufgebrochen, was darauf hindeutet, dass er den Täter gekannt hat. Außerdem wurde er von hinten erschossen, was bedeutet, dass er sich so sicher fühlte, dass er seinem Mörder den Rücken zugewandt hat. Es gibt keine Kampfspuren. Zudem wurde das Büro durchsucht und der Laptop mit einer Kugel getroffen. Daraus ist zu schließen, dass jemand etwas gesucht hat und auch Informationen vernichten wollte. Die Frage ist doch nur, was der Täter bei Husmann zu finden gehofft hat. Was hat er rausgefunden?“ Sie warf einen fragenden Blick in die Runde.
„Ja, Frau Kobler! Genau diese Problematik dürfen Sie jetzt lösen und schon haben wir einen Täter.“ Pott lächelte breit und spöttisch, auch wenn er das nicht so meinte. „Sie und Rester fahren noch einmal zu Frau Röll und bringen die Befragung zu Ende. Dann fahren Sie in die Redaktion und sehen zu, was Sie rausfinden. Herr Gude kümmert sich so lange um die Festplatte und den ganzen Rest.“ Pott klopfte mit seinen Knöcheln zweimal auf den Tisch, was für alle das Signal war, an die Arbeit zu gehen. Dann stürmte er mit energischem Schritt wieder aus dem Zimmer. Die Blätter, die vor Gude lagen, stoben auf, als sich die Tür hinter Pott schloss. Träge erhoben sich Sarah, Jonas und Tom.
„Könnt ihr vielleicht noch einmal nachsehen, ob auf dem Weinglas in der Küche irgendwelche Fingerabdrücke zu finden sind?“, bat Kobler ihre Kollegen, während sie langsam den Raum verließen.
Gude nickte und notierte sich auch das auf seinem Zettel. „Wird erledigt!“
„Ich brauche schon wieder einen Kaffee“, brummte Sarah missmutig in die Runde.
Tom grinste. „Keine Zeit! Die Arbeit ruft! Außerdem wirst du mir sonst auf dem Beifahrersitz zu unruhig.“
„Wer sagt, dass du fährst?“
Rester verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. Dann zog er langsam und mit sichtlichem Vergnügen den Schlüssel zu dem Dienstwagen der Abteilung aus der Hosentasche. Sarah sah genervt an die Decke. „Na toll!“
Wie angekündigt lenkte Rester den Wagen, nachdem er und Kobler sich auf den Weg zu Stefanie Röll gemacht hatten. Der Streit um den Schlüssel des Dienstwagens war ein altes Spiel, das beide bei jeder Gelegenheit miteinander spielten. Jeder der beiden bestand immer darauf, der bessere Autofahrer zu sein und nur selber die kürzeste und beste Strecke zum jeweiligen Ziel zu finden. Dabei fuhr Sarah, wenn sie die Wahl hatte, lieber mit dem eigenen Motorrad durch die Stadt.
Wie schon gestern Abend regnete es. Diesmal war es aber nicht dieser leise Nieselregen, der einem in jede Ritze und unter die Haut kroch, sondern es waren dicke Tropfen, die mit Vehemenz gegen die Scheiben schlugen. Allerdings versprach der Radiosprecher Besserung für den Nachmittag und stellte auch etwas Sonne in Aussicht.
Rester stoppte an einer Ampel und schaute zu seiner Kollegin auf den Beifahrersitz. Diese starrte gedankenverloren auf ihre Fingernägel. Sie hatte sie sich nach der Tatortbegehung gestern noch neu lackiert. Diesmal hatte sich Sarah für ein modernes, dunkles Rot entschieden.
Sie machte das immer, wenn sie sich nicht wohlfühlte, oder wenn es ihr schlecht ging. Wann immer sie Trost brauchte, lackierte sie sich ihre Nägel, ein Ritual, welches ihr half, mit all dem klarzukommen, was sie umgab. So wollte sie sich beweisen, dass es bei dem ganzen Übel und dem Grauen auf der Welt ihr selber noch gut ging. So hatte sie es schon immer gemacht.
Auch früher hatte sie sich nach jedem Streit mit ihrer Mutter, oder anderen Situationen, von denen sie sich lieber zurückzog, auf ihr Zimmer verkrochen und sich die Fingernägel neu lackiert. Meistens hatte sie sich dann gleich ganz umgezogen, geschminkt und war um die Häuser gezogen. Nicht selten hatte sie jemanden für einen One-Night-Stand abgeschleppt. Das war ihr Weg gewesen, um Probleme zu bewältigen. Manche Verhaltensweisen änderten sich einfach nie.
Der Wagen hielt und riss Kobler aus ihren Gedanken. Tom sprang aus der Tür und murmelte etwas von „schnell erledigen“. Seine Kollegin sah ihn in einer Passage mit vielen kleinen Geschäften verschwinden.
Tom konnte sich auch nicht auf seine Arbeit konzentrieren, dachte Sarah. Er hatte immer tausend andere Dinge nebenbei noch zu besorgen. Dabei gab es einen Mord zu klären, und was bitte war wichtiger als ein Mord?
Jeder Fall und jeder neue Tote machte Kobler innerlich zu schaffen. Es konfrontierte sie jedes Mal auf eine unangenehme Weise mit der eigenen Endlichkeit. Immer wieder stelle sie sich dann die Frage, wie das wohl war, wenn man starb. Unweigerlich fragte sie sich, wo man dann sein würde und wie es weiterging. Und überhaupt? Diese Gedankenspirale zog sie jedes Mal in einen unguten Strudel, der zwangsläufig in einer Depression enden musste, wenn man es nicht schaffte, einfach nicht mehr weiter zu denken. Und dennoch liebte sie ihren Beruf und wollte sich dieser Herausforderung jeden Tag aufs Neue stellen. Irgendwann würden sich alle diese Dinge von selber klären.
Sarah schreckte aus ihren Gedanken hoch, als Tom nach wenigen Minuten zurückkam. Schnell zündete er den Motor. „Sorry, war dringend“, brummte er entschuldigend, als er sich wieder in den Verkehr einfädelte.
Stefanie Röll wohnte in Charlottenburg, einem Stadtteil im Westen Berlins. Der Bezirk war nach der Wende verstärk ins Visier von Anlegern geraten. Überall hatten sie alte Gebäude gekauft und renoviert. Oder aber man hatte sie dem Erdboden gleich gemacht, um neue und moderne Komplexe zu errichten. Auch in letzter Zeit lag das Viertel wieder im Fokus der Investoren. Eine Vielzahl von Leuchtturmprojekten war in den vergangenen Jahren entstanden, die das Bild der Stadt nun mit prägten.
Rester und Kobler hielten und mussten froh sein, in der kleinen Seitenstraße gleich einen Parkplatz zu bekommen. Dicht an dicht parkten die Autos auf beiden Seiten der Fahrspur. Sie gingen zum Haus und Tom drückte den Klingelknopf. Sie warteten, bis es in der Gegensprechanlage knackte. Röll öffnete und erwartete sie im ersten Stock an der Tür. Sie wirkte abgekämpft und übermüdet. Dezente Augenringe schimmerten durch das Make-up. Im Gegensatz zu gestern war sie leger mit Jeans und einem Kapuzenpulli gekleidet. Die Haare hingen in wirren goldblonden Locken vom Kopf.
Röll bat die beiden Kommissare herein und führte sie in ein kleines Wohnzimmer. Im Eingangsbereich, direkt neben der Badetür, fielen Kobler die Pumps vom Vortag auf. Gleich daneben stand ein Paar Turnschuhe, welches nass vom Regen war. Es hatte sich eine schmale Pfütze um die Schuhe gebildet, die langsam zu trocknen begann und einen Dreckrand hinterließ.
Rester stellte sich vor die große Fensterfront im Wohnzimmer und betrachtete die Aussicht, während Röll Getränke brachte. Vor dem Haus war ein Balkon, auf dem ein kleiner Tisch und zwei Stühle auf ihren nächsten Einsatz warteten. Er konnte sich gut vorstellen, dass man es hier an lauen Sommerabenden durchaus gemütlich hatte. Er fragte sich, wie oft Husmann und Röll hier wohl gesessen und Wein getrunken hatten. Hinter dem Haus konnte man auf einen schlichten begrünten Innenhof schauen. Zwei Bäume und einige Blumen vertrieben die tristen Stadtfassaden für einen Moment aus den Gedanken.
„Entschuldigen Sie meinen Aufzug“, sagte Röll und verteilte Gläser. „Ich habe mich für diese Woche krankschreiben lassen. Ich fühle mich nicht in der Lage zu arbeiten, nach allem, was passiert ist.“
Rester nickte verständnisvoll: „So was ist doch selbstverständlich. Das trifft jeden!“ Man konnte Stefanie Röll die Vorkommnisse der letzten Nacht noch ansehen. Sie wirkte matt und kraftlos.
„Was arbeiten Sie denn?“, nutzte Kobler die Chance, in die Fragerunde einzusteigen. Es war immer schwer, den Anfang zu machen, zumal wenn die Befragten erst einen Verlust erlitten hatten. Natürlich machten die Kommissare nur ihren Job, aber eine innere Hemmschwelle musste Sarah trotzdem jedes Mal überwinden. „Darüber spricht man nicht!“, hatte man als Kind zu ihr in bestimmten Situationen gesagt. Und der Tod war eines dieser Dinge, über die in ihrer Familie lieber geschwiegen worden war.
„Ich bin Wirtschaftsprüferin in einer Steuerberatungskanzlei“, gab Röll zu Antwort.
Rester kam vom Fenster zu den beiden Frauen rüber und setzte sich zu ihnen. Er trank einen Schluck Wasser und es entstand eine kurze unangenehme Pause, in der niemand etwas sagte. Röll hatte die Hände im Schoß gefaltet und hielt den Kopf gesenkt. Schließlich fragte Kobler weiter: „Wie lange waren Sie und Herr Husmann schon zusammen?“
„Ungefähr fünf Jahre. Wir haben uns bei einer Benefizveranstaltung kennengelernt, die meine Kanzlei mit gesponsert hat. Er hat darüber berichtet.“ Ein kleines wehmütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Na ja, aus dem Bericht wurde dann letztlich nichts.“
„Hatte ihr Freund Feinde?“, wollte Rester wissen.
„Feinde!“, Röll entfuhr ein unterdrücktes Lachen. „Er war Enthüllungsjournalist, reicht das? Natürlich hatte er Feinde. Seine Storys haben Leute um ihre Existenz gebracht und manche sitzen wegen ihm im Gefängnis. Er hat seinen Finger immer in die Wunde, oder besser in den Dreck gelegt. Bei dieser Arbeit bleibt man nicht sauber. Wirtschaftsbosse und Politiker, glauben Sie, die lassen sich einfach in die Suppe spucken? Er hat das aufgedeckt, was hinter verborgenen Türen geschieht und von dem niemand etwas wissen soll. Wir sind doch