Wenn wir wieder Schwestern sind - Gertraud Schöpflin - E-Book

Wenn wir wieder Schwestern sind E-Book

Gertraud Schöpflin

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Beschreibung

2022 erschien "Auf der anderen Seite des Sturms" – jetzt wird die Geschichte der Familie weitererzählt. Ein exzellent recherchierter historischer Liebesroman über die Generation der Kinder und ihre Stürme im Leben, verbunden mit authentischen Einblicken in das Leben von deutschen Missionaren in China. 1901: Die 21-jährige Sofie und ihre Schwester Grete folgen dem Ruf nach China, in die deutsche Kolonie Tsingtau, um zwei unbekannte Missionare zu heiraten. Doch das Abenteuer nimmt eine dramatische Wendung: Während der Überfahrt erkrankt Sofie schwer und wird von ihrer Stiefschwester Grete hintergangen, als diese Sofies Verlobten heiratet. Groll und Bitterkeit nisten sich im Herzen Sofies ein und auch Gretes Ehe gestaltet sich anders als gedacht. Wem soll Sofie nun ihr Herz schenken? Und welche Liebe ist stärker als der Verrat, um aus den Schwestern wieder Verbündete zu machen? Ein fesselnder Roman über Rivalität, Sehnsucht und die Suche nach Vergebung in einer fremden Welt.

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Seitenzahl: 549

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gertraud Schöpflin

Wenn Wir wieder Schwestern sind

Der Bibeltext folgt dem Wortlaut folgender Bibelübersetzungen: Lutherbibel, 1912

Die Bibelstelle auf S. 373 ist der Übersetzung Hoffnung für alle® entnommen, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung von Fontis – Brunnen Basel.

© 2025 Brunnen Verlag GmbH

Gottlieb-Daimler-Str. 22, 35398 Gießen

www.brunnen-verlag.de

[email protected]

Die Nutzung von Bild-, Sprach- und Textdaten für sog. KI-Trainings und ähnliche Zwecke ist nur nach vorheriger schriftlicher Genehmigung erlaubt.

Lektorat: Carolin Kotthaus

Umschlagfoto: Diren Yardiml/AdobeStock

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger/Brunnen Verlag GmbH

Satz: Brunnen Verlag GmbH

ISBN Buch 978-3-7655-2055-6

ISBN E-Book 978-3-7655-7748-2

Für alle, die mir Schwestern sind:

meine Schwägerinnen Renate, Ulrike, Christine

Kerstin und Kirsten

Kolleginnen der FES Böblingen

Und für meine Cousine Sonja, in deren Obhut Babys eine neue Chance bekommen.

Inhalt

Prolog: Darum fürchten wir uns nicht …

Kapitel 1: Hüter, ist die Nacht schier hin?

Kapitel 2: Wen soll ich senden?

Kapitel 3: Das Los ist mir gefallen …

Kapitel 4: Wie eine Rose unter den Dornen …

Kapitel 5: Was zum Munde eingeht …

Kapitel 6: Ich bin ausgeschüttet wie Wasser …

Kapitel 7: Warum hast du das mir getan?

Kapitel 8: Ich habe mein Haus verlassen müssen …

Kapitel 9: O hätte ich Flügel wie Tauben …

Kapitel 10: Ich hörte deine Stimme im Garten …

Kapitel 11: Du Elende, über die alle Wetter gehen …

Kapitel 12: Der Siegesbotinnen ist eine große Schar!

Kapitel 13: Aber da ich ihre Wege ansah …

Kapitel 14: Lass doch nicht Zank sein …

Kapitel 15: Und der König reckte das goldene Zepter …

Kapitel 16: Ich aber ging vor dir vorüber und sah dich …

Kapitel 17: So erwählet euch heute, wem ihr dienen wollt

Kapitel 18: Und da ich meinem Freund aufgetan hatte …

Kapitel 19: Denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist …

Kapitel 20: Denn so du durch Wasser gehst …

Kapitel 21: Da wir über die Maßen beschwert waren …

Kapitel 22: Da nahmen ihn die Jünger bei der Nacht …

Kapitel 23: Lege mich wie ein Siegel auf dein Herz …

Epilog: Es wird gesät in Niedrigkeit …

Nachwort: Fragt nach den Pfaden der Vorzeit …

Perlen aus dem Stapel meiner Rechercheliteratur

Fotos aus dem historischen China

Prolog Darum fürchten wir uns nicht …

… wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen.

Psalm 46,3-4

Kaumi, China, Oktober 1899

„Ob das der richtige Ort für uns ist?“ Verstohlen spähte Johannes neben dem Maulesel um sich. Die schmalen Augen der Chinesen waren seinem Freund und ihm gefolgt, seit sie auf der kerzengeraden Straße durch das Stadttor von Kaumi geritten waren. Mit ruhigen Handbewegungen zwang er sich, die Satteltasche zu lösen. „Etwas scheint mir hier in der Luft zu liegen …“ Sanft tätschelte er den Hals des Tieres.

„Wer wird gleich so furchtsam sein, Bruder?“ Herrmann schlang schwungvoll das Zaumzeug um den Holmen. „Komm, da drüben ist eine Teehütte, fangen wir dort an.“ Mit dem Kinn wies er in Richtung des strohgedeckten Unterstandes, der sich zwischen den dicht gedrängten Häusern an einen weiß getünchten Tempelschrein drückte. Unter dem Reetdach saßen etliche Einheimische, schwatzten und rauchten, während eine Dampfwolke verriet, dass zwischendrin ein Kessel voll Tee brodelte.

„Gib mir noch das Banner zum Ausrollen – nur falls uns die Worte ausgehen.“ Lachend streckte Herrmann ihm die Hand entgegen.

Johannes zog die Rolle aus der Wolldecke hinter dem Sattel hervor und reichte sie ihm. Rhythmisches Hufgetrappel ließ ihn aufhorchen. Eine Gruppe Soldaten in preußisch-blauen Uniformen preschte heran. Vor ihnen her ritt ein Europäer in Zivil, der neben ihnen überrascht sein Pferd zügelte. „Guten Tag, die Herren! Deutsch? Landsleute?“

Sie nickten.

„Was führt Sie ohne Leibgarde in dieses gottverlassene Nest?“

„Wir sind Missionare – evangelisch“, erklärte Johannes knapp. Der Schnösel in seinem schlammhellen Tropenanzug war ihm unsympathisch. „Wir suchen einen Standort für eine neue Missionsstation. Und Sie?“

„Friedrich Kramer mein Name, Ingenieur der Schantung-Eisenbahngesellschaft.“ Er lupfte den Hut und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Chinesen, die sie aus den offenen Ladengeschäften heraus argwöhnisch beäugten. „Nehmen Sie sich in Acht vor diesem Gesindel. Die Boxerrebellen machen Ärger wegen der Verlegung der Bahnstrecke. Die wiegeln das Volk auf und zerstören uns Dämme, Gleisanlagen sowie Telegrafenmasten.“ Nervös sah er sich um, das Pferd tänzelte. „Zum Glück hat unser Gouverneur in Tsingtau bereits eine militärische Strafexpedition ausgerüstet, um durchzugreifen.“ Hastig hob er die Hand zum Abschiedsgruß. „Besser Sie verlassen die Stadt, so wie ich. Ich empfehle mich!“ Die Staubwolke bewegte sich weiter in Richtung Stadttor.

„Na, dann los!“ Unbeeindruckt klemmte sich Herrmann das Banner unter den Arm.

Johannes zögerte. „Warte! Was, wenn …?“

„Wir setzen uns einfach zwischen die Männer in der Teehütte und sehen, wie die Stimmung ist.“ Herrmann gab dem Wirt einen Wink und ließ sich auf einer der grob gezimmerten Bänke vor einem der schmalen Tische nieder.

Mit flauem Gefühl im Magen setzte Johannes sich daneben.

Tuschelnd steckten die Einheimischen die Köpfe zusammen. „Yang Guizi“ und „Da bizi“ – „Fremde Teufel“ und „Lange Nasen“ meinte Johannes im Zischen der chinesischen Laute zu verstehen. Er fühlte den Puls am schweißnassen Hemdkragen und bereute, dass sie keine chinesische Kluft angezogen hatten.

Ein junger Bursche in schmuddeliger Schürze servierte ihnen mit erwartungsvoller Miene den Tee.

Herrmann angelte drei Käschmünzen aus der Hosentasche.

„Ist das nicht etwas übertrieben?“ Johannes runzelte die Stirn. „Wir fallen schon genug auf!“

„Hatte es gerade zur Hand. Soll es den Burschen segnen … Vielleicht hat er auch Träume, so wie wir.“ Mit einem verschwörerischen Lächeln zwinkerte er ihm zu, umfasste die Teeschale mit den großen Händen wie Puppengeschirr und nahm einen kräftigen Schluck daraus. „Wie wäre es, wenn wir unseren Brief an die Missionsleitung schreiben, während wir abwarten und Tee trinken?“ Sein Ellenbogen stupste Johannes auffordernd in die Seite.

„Jetzt?“ Ungläubig starrte Johannes seinen Freund an.

„Na, du hast doch sicher Schreibzeug dabei, Herr Lehrer!“ Herrmann grinste. „Hier haben wir Ruhe! Und unser ehrwürdiger Superintendent in Tsingtau muss es nicht mitbekommen, dass wir den Brüdern in Berlin unseren Wunsch aufs Neue vortragen.“

Murrend kramte Johannes in seiner Tasche nach Federhalter und Papier. „Ich weiß nicht, ob ich in dieser Teehütte dazu die Muse habe.“

„Mir zuliebe! Oder willst du ewig als Mönch leben?“

Entschieden schüttelte Johannes den Kopf. „Meinetwegen, versuchen wir’s!“ Er strich das Papier auf der rauen Tischplatte glatt und zückte den Federhalter. „Aber du diktierst!“ In den Augenwinkeln sah er, wie sich einzelne Köpfe reckten.

Herrmann räusperte sich. „Liebe Brüder vom Rat der Berliner Mission …“

Die Feder kratzte auf dem Holz geräuschvoll über das Papier. Der Tisch schaukelte leicht. Der Freund suchte nach Worten …

„Nach Gebet und einmütiger Beratung sind wir übereingekommen, euch demütig zu ersuchen, uns Bräute nach China zu senden – gottesfürchtige Schwestern, die ein williges Herz haben, uns als Ehefrauen in der Mission beizustehen. Lange haben wir den Dienst ohne Gehilfinnen versehen, doch nun bitten wir euch dringlich um der Sache Jesu willen …“

Herrmann stockte.

Überrascht sah Johannes auf. Um ihn herum hatte sich eine Traube von Chinesen gebildet, die interessiert jeden Buchstaben verfolgte, den er auf das blütenweiße Papier schrieb.

„Ist das eure Schrift, verehrter Fremder?“, fragte ihn ein alter Mann mit wachen blitzenden Augen auf Chinesisch.

Nickend lächelte Johannes ihm zu.

„Wie viele Schriftzeichen habt Ihr in Eurer fremden Ecke?“ Der Alte strich sich über den langen weißen Bart.

Johannes zögerte mit der Antwort, aber Herrmann platzte damit heraus. „Ungefähr 20 bis 30 Buchstaben!“

„20 bis 30?“ Der Fragesteller legte die Stirn in Falten. „Welche großen Weisheiten kann man mit so wenigen Zeichen abbilden?“

Die Männer um sie herum lachten höhnisch.

Lächelnd fuhr sich Johannes über den kurz geschorenen Bart. Er war sich sicher, dass keiner der Umstehenden alle 70.000 chinesischen Schriftzeichen beherrschte. Aber vielleicht würden sie 5.000 Zeichen kennen? Das würde zum Lesen der Bibel reichen …

„Was, denkt ihr, hat zuerst existiert: Die Welt oder das Wort?“ Fragend sah er in die Gesichter.

Die Männer diskutierten untereinander.

„Sag es uns, verehrter Fremder“, meinte der Alte, „wir finden keine Einigung.“

„Das Wort! Es ging der Schöpfung voraus!“ Schnell schob Johannes den Brief in die Jacke und holte einige Johannesevangelien aus der Satteltasche. „Seht, diese Heilige Schrift! Darin steht, dass Gott selbst das Wort ist. Das bedeutet, er will zu euch sprechen!“

Ein Raunen ging durch die Runde, während er es eifrig aufblätterte. Er hielt ihnen die erste Seite hin: „Hier …, hier ist es in euren eigenen Schriftzeichen geschrieben …“

Ein Kanonenschlag auf der Stadtmauer zerriss die Stille. Ein weiterer ließ den Boden erbeben. Die Hütte schwankte. Schreiend stoben die Männer auseinander.

Erschrocken sprang Johannes auf und rannte hinaus auf die Hauptstraße. Durch das geöffnete Stadttor erblickte er in der Ferne eine berittene Kompanie Soldaten, die sich der Stadtmauer näherte. Über ihnen wehte das schwarze Eiserne Kreuz des deutschen Kaisers.

„Die Strafexpedition!“, rief Johannes entsetzt seinem Freund zu. Panik ergriff ihn.

Herrmann eilte mit der Satteltasche herbei. „Glauben die Chinesen im Ernst, sie könnten deutsche Schutztruppen mit vorsintflutlichen Kanonen abschrecken? Damit täuschen sie Räuberbanden, aber keine Armee … Los, weg hier!“ Hektisch sprang er zur Seite.

Ein voll beladener Karren rumpelte auf einem Rad dicht an ihnen vorbei. Um sie herum schrien und stürzten Menschen im Tumult durcheinander, die Klappläden der Geschäfte fielen krachend zu, Bauern und Händler zogen Tiere und Körbe voll Waren zwischen die Häuser. Eine Handvoll chinesischer Soldaten rannte in Richtung des offenen Stadttors.

„Das Tor! Schließt das Tor!“, tönte es von allen Seiten. Donnernd fielen die Torflügel zu, während die ersten Gewehrsalven gegen die Stadtmauer prasselten.

„Wir sind gefangen!“ Wie gelähmt starrte Johannes auf die geschlossenen Holztore.

Plötzlich zerrte ihn eine Hand am Ärmel und drängte ihn mit Herrmann in Richtung des gemauerten Tempelhäuschens mit den bunt glasierten Ziegeln.

„Schnell!“, schrie der junge Chinese in seiner Sprache, der ihnen den Tee serviert hatte. Hastig schob er sie in den schmalen Spalt hinein, der die mannshohe Götterfigur in der Mitte des winzigen Schreins zwischen Mauer und Steinsockel umgab. Hinter sich klappte er die Eisentüre zu und legte den Riegel um, während sich draußen verzweifelte Schreie mit Kreischen, Blöken und Kanonenschlägen vermischten.

Stöhnend schloss Johannes die Augen vor dem grimmigen Blick der geschnitzten Götterstatue, der er auf Augenhöhe gegenüberstand. Das rote Papier des Göttermantels kitzelte ihn an der Hand. Schaudernd lehnte er sich zurück an die Mauer des Schreins und presste das Evangelium an sich, das er immer noch in Händen hielt. Sein Herz pochte darunter. Die Luft war geschwängert von Räucherwerk und aufgewirbeltem Straßenstaub. Von der anderen Seite der Stadtmauer dröhnten Hufgetrappel, Trompetensignale und das Trommelfeuer der Gewehrkugeln.

„Hier brauchen wir keine Missionsstation mehr eröffnen, Bruder.“ Seufzend ließ Herrmann die Satteltasche mit den Schriften neben sich auf den Boden gleiten. „Kein Chinese in Kaumi wird jemals mehr etwas von deutschen Missionaren hören wollen.“

„Gott ist unsre Zuversicht und Stärke“, murmelte Johannes. „Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken …“ Nur widerwillig sagte seine trockene Zunge die Worte aus Psalm 46 auf. Für einen Moment öffnete er die Augen und sah hinter der Götterstatue den wachen Blick des jungen Chinesen auf sich ruhen.

Dankbar nickte Johannes ihm zu. „Wie heißt du?“, fragte er auf Mandarin.

„Baihu.“ Der junge Mann zeigte neugierig auf das Buch.

Stumm reichte Johannes es ihm um die sperrige Holzfigur herum.

Im kargen Lichtstrahl einer Mauerritze schlug der Chinese es auf.

„Nicht zu fassen, da interessiert sich der Erste für unsere Botschaft, während wir wie Sardinen in einer Büchse eingelegt sind“, knurrte Herrmann. „Wenn uns bloß unsere eigenen Landsleute nicht abknallen …“

„Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein“, zitierte Johannes den Psalm in Lutherdeutsch weiter.

„Hast du den Brief noch?“ Herrmann lupfte eine Augenbraue.

Nickend klopfte sich Johannes auf die Jacke. „Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie festbleiben.“

„Versprich mir, Bruder, dass du ihn nach Berlin schickst, … falls wir diesen Tag überleben.“

Kapitel1Hüter, ist die Nacht schier hin?

„Wenn der Morgen schon kommt, so wird es doch Nacht sein.“

Jesaja 21,11

Berlin, 1. Februar 1901

„Kein Wort mehr, Grete! Vater kommt.“ Wütend blitzte Sofie ihre Schwester an und pfefferte den Lappen auf das schmutzige Geschirr in der Spüle.

Abgehackte Schritte hallten durch den hohen Flur der Berliner Pfarrerswohnung.

„Dann mach ich’s halt“, zischte sie, um den Streit zu beenden. Warum hielt sich Grete nie an Absprachen? Sie war mit Spülen dran! Immer noch setzte sie ihren Kopf wie in Kindertagen durch – und dabei würde sie Ende des Jahres doch ebenfalls 21 Jahre alt werden! Wann würde sie endlich vernünftig werden? Eine hitzige Dampfwolke stieg Sofie aus dem Steinbecken entgegen, während sie das kochende Wasser aus dem Topf hineingoss. Dabei entging ihr nicht, wie ihre Stiefschwester mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen nach dem Handtuch griff.

Die Küchentür flog auf. „Entschuldigt die Verspätung, aber ich bin nach der Andacht im Milchwerk bei Bolle nicht losgekommen. Ich hoffe, ihr habt mit dem Abendessen nicht auf mich …“ Stockend musterte Vater die beiden unberührten Teller auf dem Familientisch.

„Du warst nicht der Einzige, der gefehlt hat“, bemerkte Grete spitz und griff mit dem Geschirrtuch nach dem ersten nassen Teller, den Sofie auf den Spülstein legte.

„Ist Jakob etwa wieder nicht erschienen?“ Vater schnaufte durch.

Mit einem Kopfschütteln trocknete Sofie die Hände an der Schürze ab, eilte auf ihn zu und half ihm aus dem schwarzen Mantel, wobei sie den weißen Pfarrerskragen über der Weste glatt strich, so wie Mutter es stets tat.

Doch die besorgte Falte zwischen seinen buschigen Brauen glättete sich nicht. „Und wo ist eure Mutter?“ Er zog seine Taschenuhr hervor und fuhr sich durchs dichte braune Haar, in dem graue Strähnen schimmerten. „Schon bald neun!“

„Unten im Gemeindesaal beim Nähverein.“ Sofie verschwieg Mutters Tränen wegen der Sorge, wo ihr ältester Sohn trotz der Einladung zum Essen wieder abgeblieben war.

„Ich geh den Trunkenbold suchen.“ Seufzend griff Vater wieder nach dem Mantel über der Stuhllehne.

„Aber willst du nichts essen, Vater?“ Noch während Sofie auf dem Tisch die Salzkartoffeln aufdeckte, schritt er aus der Küche hinaus. Hilfe suchend wanderte ihr Blick zu Grete. Doch die stellte konzentriert den Teller ins Regal, wobei sie ihn so hindrehte, dass die Blumenranken im Lot standen.

Die schwere Eichentür klickte ins Schloss.

„Warte, ich komme mit!“ Sofie schnappte ihren Umhang und rannte ihm durchs Treppenhaus des riesigen Pfarrhauses hinterher. Dumpf klapperten ihre Schritte über die glatten Steinstufen.

Vater stand bereits ein Stockwerk tiefer, legte den Finger auf die Lippen und warf einen beschwörenden Blick auf die Wohnungstür des zweiten Pfarrers. „Der Dittrich braucht das nicht mitzubekommen – und deine Mutter auch nicht“, raunte er. „Außerdem sind die Orte, die ich absuche, nichts für eine junge Dame – das weißt du.“

„Aber ich kann doch wieder in der Droschke warten, damit sie kein anderer nimmt.“

Mit einem leisen Seufzer drehte er sich um, und sie folgte ihm lautlos ins Erdgeschoss. Aus dem Gemeindesaal waren Frauenstimmen zu hören. Behutsam öffnete er die wuchtige Haustür, die zur Kleinkinderschule und den Pfarrerswohnungen führte.

„Pastor Hoffmann, zu Ihnen wollte ich!“ Die dröhnende Stimme von Geheimrat Jäschke an der Gartenpforte ließ sie beide zusammenfahren. „Entschuldigen Sie die späte Stunde, aber mein Anliegen ist von staatstragender Bedeutung.“ Mit gewichtiger Miene bewegte sich der untersetzte Mann vom offiziellen Haupteingang des Pfarrhauses über den gepflasterten Gartenweg auf sie zu. „Ist Ihr Sohn zu Hause? Man hat mich bei der Berliner Mission an Sie verwiesen. Es hieß, der Jakob spräche fließend Chinesisch!“ Keuchend blieb er vor ihnen stehen und tupfte sich mit einem Tuch die Stirn unter dem Zylinder.

Dezent schob Vater den beleibten Mann zurück in Richtung des Hofes, der von den beiden Seitenflügeln des dreistöckigen Pfarrhauses wie ein Burghof eingerahmt wurde.

Höflich blieb Sofie am Eingang zurück und blickte am runden Turm hoch, in dem der Eingang zum Gemeindesaal lag. Durch die bunten Glasscheiben mit den gotischen Spitzbögen ertönte das Abschlusslied. War das nicht Mutters Stimme? Sicher saß sie am Harmonium. Sofies Augen schweiften an den Ziegelsteinen hoch zu den Wohnungen der Diakonissen.

Das imposante Pfarrhaus am kleinen Tiergarten in Berlin-Moabit hatte Mutter beim Einzug vor drei Jahren an eine Missionsstation in China erinnert – mit dem typischen „Dreigestirn“ aus Schule, Kirche und Hospital. Allerdings war in der Ottostraße die Schule, die einst zu Mutters Missionsstation in China gehört hatte, nur eine Kleinkinderschule und statt einer Kapelle thronte hier eine riesige Kirche weithin sichtbar über den Straßenzügen von Moabit – mit einem der höchsten Kirchtürme von Berlin. Heilandskirche hatte der Kaiser sie getauft, in der Hoffnung, dem Elend in den Arbeitervierteln Abhilfe zu schaffen. Und auch Kranke fanden in der Nähe des Pfarrhauses Hilfe: Sowohl die Arztpraxis von Onkel Justus als auch ein Hospital lagen nur wenige Straßenzüge entfernt.

Das Hoftor quietschte. Schemenhaft erkannte Sofie in der Dämmerung die Umrisse eines weiteren Hausbewohners, der sich in leicht schräg gebückter Haltung näherte.

Verspannt schob sie die Schultern zurück. Vikar Hensoldt! Der hatte ihr noch gefehlt!

Schnurstracks schritt er auf sie zu und lupfte den Hut. „Wünsche einen guten Abend, Fräulein Sofie“, säuselte er mit näselnder Stimme. „Noch zu solch später Stunde Ausgang?“

Kühl nickte sie ihm zu. „Ein dringender Besuch mit meinem Vater.“ Sie eilte ihrem Vater hinterher, vor dem der Geheimrat aufgeregt gestikulierte.

„Stehen Sie mir bei, Herr Pfarrer, wenn ich keinen Übersetzer für die chinesische Delegation beibringe, ist die ganze deutsche Kolonie in Gefahr!“

Sie hörte Vater lachen. „Na, so dramatisch wird es nicht sein, Herr Geheimrat!“

Doch der alte Jäschke war nicht zu Späßen aufgelegt. „Bedenken Sie, welch kompromittierende Situation dies bei Hofe für Seine Majestät, den Kaiser, wäre …“

Sofie folgte den Männern durch das eiserne Hoftor an die Straßenecke von Alt-Moabit, wo Vater eine Droschke herbeiwinkte und ihr die Hand zum Einstieg reichte.

„Friedrichsstraße!“, rief er dem Kutscher zu. „Wir finden eine Lösung, Herr Geheimrat. Das verspreche ich Ihnen!“ Mit diesen Worten schloss Vater die Tür hinter sich, während die Droschke anfuhr.

Mit einem tiefen Seufzer zog er den Hut vom Kopf und lehnte sich zurück in den Ledersitz. „Meint dieser Jäschke wirklich denselben Mann wie ich? Er sucht einen Übersetzer für den Kaiser – und ich … einen Taugenichts!“ Für einen Moment vergrub er das markante Kinn in den Händen. „Was habe ich nur falsch gemacht, dass der Junge nicht ins Leben findet?“

„Nichts, du warst uns der allerbeste Vater! Und jetzt, wo Jakob bald ein fertig ausgebildeter Arzt ist, wirst du sehen …“ Bewundernd sah sie an ihrem Stiefvater hoch, als sich seine große schlanke Gestalt wieder aufrichtete.

Sanft griff er nach ihrer Hand und drückte sie stumm. „Mutter hatte große Hoffnungen für Jakob! Nach China sollte er gehen – als Arzt, wie einst euer leiblicher Vater. Nur darum hat sie mit ihm unermüdlich Chinesisch gesprochen! Damit dein Bruder nicht vergisst, was er als Kind auf der Missionsstation gelernt hat.“ Mit traurigen Augen sah er Sofie an, dann lächelte er. „Aber du bist uns eine stetige Freude! Du bist deiner Mutter Rebekka so ähnlich.“

Verlegen glitt ihr Blick nach draußen, wo ein Laternenanzünder sich auf seinem Pferd reckte, um die geschwungenen Gaslaternen am Straßenrand zum Leuchten zu bringen. Durch den Park auf der linken Seite schimmerten die Fenster des Städtischen Krankenhauses.

„Erzähl mir etwas von dir, damit ich nicht weiter grüble“, forderte er sie auf.

„Onkel Justus hat mich gefragt, ob ich nicht Krankenpflege an der Charité erlernen will. Er meint, ich hätte in seiner Praxis bewiesen, dass ich das Zeug dazu habe. Stell dir vor, sie planen dort sogar eine Prüfung für Krankenpflege!“

„Und?“ Die Zustimmung in Vaters Stimme ließ sie aufhorchen.

„Ich weiß nicht so recht … Meinst du, ich könnte auch Medizin studieren wie Jakob?“

Vater lachte ungläubig auf. „Studieren? Als Frau? Ach, diese neuen Ideen!“

„Aber im Königreich Baden soll es jetzt für Frauen möglich sein!“

„Etwa in Freiburg? Das ist ja eine Weltreise von hier!“

„Aber Leni hast du doch auch erlaubt, das Lehrerinnen-Seminar zu besuchen!“

Er räusperte sich. „Ich lege dir nichts in den Weg, Sofie. Aber ist dir bewusst, dass du niemals heiraten wirst, wenn du als Frau solch einen Beruf ergreifst? Und das fände ich höchst bedauerlich. Du wärst sicher eine wunderbare Ehefrau und … willst du denn keine Kinder?“

Sie seufzte tief. Er hatte den Zwiespalt ihres Herzens ans Licht gebracht.

„Vikar Hensoldt hat übrigens ein Auge auf dich geworfen.“

Sofies war es, als würde ihr eine Schlinge um den Hals die Luft nehmen.

„Keine Bange!“ Vater lachte leise. „Niemals würde ich ihm mein Einverständnis geben. Ich beschwöre dich, keinen zu heiraten, der dir nicht zusagt!“ Beruhigend tätschelte er ihr die Hand. „Aber ich rate dir auch, die Entscheidung nicht endlos aufzuschieben. Mir ist ein junger Kollege in Prenzlau aufgefallen – durchaus stattlich und das Herz am rechten Fleck. Wie wäre es mit einer Einladung zum Kaffee bei uns?“

Entnervt winkte Sofie ab. „Vielleicht hat Grete ja Interesse.“

„Die sollte vielleicht besser auch aufs Lehrerinnen-Seminar“, murmelte er. „In der Kleinkinderschule hat sie sich doch mit diesen Basteleien recht geschickt angestellt. Oder hätte sie auch Freude daran, Krankenpflege zu erlernen? Du kennst deine Schwester besser als ich.“

Sofie zuckte schweigend mit den Achseln. Wenn ich an der Charité beginne, dann will sie es bestimmt auch. Aber sie verkniff es sich, auszusprechen, was ihr auf der Zunge lag. Grete will alles, was ich habe. Immer hat sie Angst, zu kurz zu kommen. Was kann ich dafür, dass ihr die Mutter bei der Geburt weggestorben ist und sie als Baby von Amme zu Amme gereicht wurde? Wäre ich nur weit weg von ihr … In der Ferne sah Sofie die Umrisse der goldenen Siegesgöttin über den dunklen Wipfeln des Tiergartens schweben. „Wo willst du Jakob eigentlich suchen, Vater?“

„Beginnen wir in der Nähe des Varietés. Ich hoffe, er amüsiert sich nicht hinten bei den Damen im Chambre séparée.“ Vaters Stimme klang wieder düster.

„Onkel Justus hat ihn heute zu einem bettlägerigen Patienten in die Mietskasernen bei den AEG-Werken geschickt. Vielleicht ist er dort irgendwo versumpft“, überlegte sie.

„Warum sagst du das nicht gleich?“ Sofort lehnte sich Vater hinaus, klopfte an die Droschke und teilte dem Kutscher das neue Ziel mit.

In einem steilen Bogen fuhr die Kutsche von der Bismarckstraße in die Uferstraße und nahm an der Spree den Weg zurück in die Allee Alt-Moabit.

Ratlos musterte Sofie die Kneipen, an denen sie vorbeischaukelten. Wo nur sollten sie Jakob suchen? An allen Ecken sowie in fast jedem zweiten Haus waren Schenken, Buden und Destillen – in manchen sogar mehrere.

Das Licht der Straßenbeleuchtung wurde spärlicher, als sie in das Arbeiterviertel einbogen. Die Dunkelheit verbarg in den engen Pflasterstraßen die grauen schäbigen Fassaden der dicht gedrängten Mietskasernen. Mit Schauder blickte Sofie in den dunklen Schlund der großen Tore, die in immer neue Hinterhöfe führten, als wollten sie die Menschen verschlingen, die vom Land in der Hoffnung auf ein besseres Leben in die Fabriken der Hauptstadt strömten.

Im spärlichen Schein einer Gaslaterne hielt die Droschke erneut an. „Bierhaus Zur Eiche“, las Sofie. Vater hatte bereits die „Linde“, „Knötz’sches Destille“ sowie den „Adler“ und „Bären“ erfolglos durchkämmt.

Ein Betrunkener torkelte aus dem Zigarettenqualm der offenen Türe. Sofie überflog, was in großen Buchstaben um den Eingang herumgepinselt war: Punsch, Grogk, Glühwein, Selters, Rum, Arac, Cognac und feine Likeure. Probiert hatte sie davon nur Selterswasser.

Vater nahm seinen Hut. „Warte, ich versuche es noch hier.“

Plötzlich krachte ein Schlag gegen die Tür. Sofie fuhr zusammen, der Wagen schaukelte.

„Kutscher, Kundschaft!“, lallte eine Männerstimme und riss den Verschlag auf.

Mit einem Schrei drückte sich Sofie in die Ecke. Eine säuerliche Bierfahne wehte ihr entgegen, während eine massige Gestalt versuchte, sich ins Innere des Wagens zu hieven.

„Schon belegt, mein Freund!“ Vater schob den Mann mit sich hinaus.

Voller Angst hielt Sofie ihn am Ärmel zurück. „Bitte, lass mich mit dir gehen! Ich will in dieser Gegend nicht allein zurückbleiben! Was, wenn noch ein Betrunkener klopft?“

Sorgfältig hob Sofie kurz darauf ihren langen Rock bei jedem Schritt an, während sie ihrem Stiefvater im Schummerlicht zur nächsten Destille folgte. Ihr gruselte beim Blick in die tiefen Rinnen am Straßenrand, in denen sie schemenhaft allerlei Unrat und Kot erahnen und riechen konnte. Es stank erbärmlich. An manchen Stellen hätte ein Kind darin ertrinken können, so tief waren die Löcher.

Ein Mann stand im Licht einer Petroleumlampe vor einem der offenen Holztore und studierte die zahlreichen handgeschriebenen Anzeigen, auf denen sogar Betten für einige Stunden am Tag oder in der Nacht angeboten wurden. Sofie schauderte beim Gedanken, einem Schlafgänger ihr Bett zu vermieten – es reichte ihr schon, mit Grete und Elisabeth das Zimmer zu teilen.

Aus der Kneipe an der nächsten Ecke schleppte ein Mädchen mit langen Zöpfen einen Eimer Bier heraus und drückte ihn einer Frau in die Hand. „Und wat wollt ihr morjen?“, fragte sie müde. Offensichtlich war sie die Tochter des Bierverlegers und hatte am Abend in Erfahrung zu bringen, wie viel Bier ihr Vater am nächsten Tag aus dem Fass zapfen musste.

„Tach och, Herr Pfarrer!“ Mit Verwunderung im Gesicht trat das Mädchen zur Seite, als Sofie mit ihrem Vater auf den Eingang zutrat.

An seinen Ellenbogen geklammert, schob sich Sofie dicht hinter seinen breiten Schultern in die Destille. Der Geruch von schalem Bier, verbrannten Bratkartoffeln, Sülze und verbrauchter Luft schlug ihr entgegen.

„Wat will der Pfaffe hier?“, raunte einer an den voll besetzten Tischen, an denen Vater sich vorbeidrückte. „Komm, mach’n Abgang!“, motzte ein anderer.

Vorsichtig schielte Sofie um sich. Nach der abgewetzten Kleidung zu urteilen, saßen hier zumeist Arbeiter, die ihren Wochenlohn am Freitagabend direkt von der Fabrik hierhergetragen hatten. Nur wenige Frauen quetschten sich dazwischen.

Irgendwo hinter Sofie pfiff es und eine Hand zupfte sie am Rock. „Komm her, Blonde, kriegst wat Helles bei mir!“

Erschrocken fuhr sie herum.

Grölen und Gelächter erfüllte den Raum.

Vater blieb stehen und sah streng in die Runde. Die Männer duckten sich lachend weg und feixten.

Hinter dem Zapfhahn fixierte sie ein gedrungener Mann, der mit einem schmutzigen Lappen über die Pfützen auf dem abgewetzten Holz zwischen den Biergläsern wischte. Die Regalwand hinter ihm war bis zur Decke mit allerlei Spirituosen vollgestellt. „Wat wolln’ Se?“ Misstrauisch strich er sich über die speckige Schürze.

Vater schob den weißen Pfarrerskragen zurecht. Seine hervortretenden Kinnmuskeln zeigten Sofie, wie peinlich es ihm war. „Ich suche einen jungen Mann … meinen Sohn: groß, schlank, dunkelhaarig, braune Augen.“ Seine sonst so mächtige Stimme, die mühelos die Heilandskirche durchdrang, klang brüchig.

Schlagartig breitete sich Stille an den Tischen um sie herum aus.

„Ein verlorenes Schäfchen, wat?“, lästerte ein Gast in Kutscheruniform, der am Tisch neben dem Tresen Karten spielte.

„Suchen Se den Sünder woan’ers“, blaffte der Wirt.

„War einer mit Arztkoffer hier?“ Verzweifelt versuchte es Sofie noch einmal. „Schwarzer Anzug, kurzer Schnauzer, langer Mantel?“ Sie sah in die Runde.

„Ick denke, die meent den Fatzke eben“, raunte einer der Kutscher.

„Hat mich im Spiel übers Ohr jehauen“, murrte ein anderer. „Det Geld für eene Woche Maloche is futsch.“

„Dafür haste es dem Blaffke och gegeben!“ Die Männer lachten hämisch.

„Wo ist er jetzt?“ Vater blickte sich um.

Der Wirt zeigte mit dem Daumen zu einer Hintertür, die sich quietschend in einen finsteren Hinterhof öffnete. Der nächste Häuserblock war so dicht hineingebaut, dass Sofie den schmalen Gang dazwischen nur im spärlichen Licht einer Petroleumlampe erahnen konnte, deren Schein durch eines der Fenster fiel.

„Hier ist ja der letzte Meter noch verbaut. Diese Baulöwen bereichern sich skrupellos am Leid der Menschen“, schimpfte Vater vor sich hin, während er sich vorsichtig in den düsteren Gang hineintastete. „Aber die Kirche soll es richten! Na, wenn sich der Kaiser da mal nicht verrechnet …“

Irgendwo zeterte eine Frau, brüllte ein Mann und ein Baby schrie.

„Aber den Menschen muss geholfen werden!“, rief Sofie voll Mitleid. Ihre Finger verfingen sich in klebrigen Bohnenranken, die an der Mauer an Holzstecken emporwuchsen. Vorsichtig schob sie die Füße um die Eimer herum. „Irgendetwas müssen wir doch aus Nächstenliebe tun!“ Ihr Blick fiel in ein Zimmer voller Stockflecken, in dem sich auf einem Bett fünf Kinder unter einer Leine mit aufgehängter Wäsche drängten. Dazwischen hatte eine abgehärmte Frau einen Säugling an der Brust.

„Ich fürchte, die Kirche erreicht mit ihrer Sprache diese Menschen nicht“, murmelte Vater resigniert. „Lass uns heimfahren, Sofie. Ich kann Jakob nicht retten, auch wenn ich’s gern täte.“

Vorsichtig tastete sie weiter an der Wand entlang, stets auf der Hut, mit dem Rock nicht hängenzubleiben. Vater war schneller vorangekommen, trat vor ihr durchs Tor und rief nach der Droschke. Das Knarren einer Tür an einem Abortverschlag neben ihr ließ sie erschaudern. Es roch nach Kot, Urin und teerverschmierten Wänden. So rasch wie möglich tat sie einen großen Schritt an dem stinkenden Häuschen vorbei und stolperte über etwas. Jemand stöhnte auf. Erschrocken tastete sie nach dem Hindernis und fühlte Blut an den Händen. Es war … ein Mensch! Und er stank erbärmlich nach Erbrochenem. Schnell hatte sie mit den geübten Griffen einer Krankenpflegerin Gewissheit.

„Jakob!“ Sie drehte ihn an der Schulter zur Seite und tätschelte seine Wange. „Jakob! Ich bin’s, Sofie!“

Er lallte nur.

„Vater“, schrie sie verzweifelt in die Dunkelheit. „Vater, hier ist Jakob!“

Im Halbschlaf tappte Grete aus dem Badezimmer. Die Turmuhr der Heilandskirche schlug schon zwei Uhr nach Mitternacht. Eine knarrende Zimmertüre am Ende des Flurs ließ sie aufschrecken.

Sofie! So spät?

Vorsichtig balancierte die Schwester eine Waschschüssel aus dem Zimmer der Jungen. Wie ein Engel sah sie aus mit den goldenen Locken, die sich aus dem Zopf gelöst hatten. Grete wischte eine ihrer dünnen dunklen Strähnen aus dem Gesicht. Wo waren nur ihre eigenen flachsblonden Haare aus Kindertagen hin? Sie hatten sich in ein sattes Brünett verdunkelt, ähnlich wie auf Vaters Haarschopf, bevor er begonnen hatte, grau zu schimmern …

Durch die Tür der Jungen dröhnte Schnarchen.

„Habt ihr ihn gefunden?“, flüsterte Grete in den Flur.

Nickend schlurfte Sofie im spärlichen Licht auf sie zu. Sie wirkte erschöpft und war völlig verdreckt.

Dennoch durchzuckte Grete ein eifersüchtiges Stechen. Wie beneidete sie die Schwester um diese Ausflüge mit Vater! Wie er sie ins Vertrauen zog und für wichtig nahm – als wäre sie die Lieblingstochter! Und dabei war er nur Sofies Stiefvater …

Sie rümpfte die Nase. „Meine Güte, Sofie, wie du aussiehst – und riechst!“ Kurz empfand sie Mitleid und dachte daran, ihr die volle Schüssel abzunehmen. Doch beim Anblick dessen, was darin schwamm, erschauderte sie vor Ekel.

„Ich habe ihm noch die Wunden und das Erbrochene abgewaschen“, meinte Sofie tonlos und ging weiter in Richtung Abort.

Ein leises Schluchzen ließ sie beide innehalten. Aus einem Türspalt zum Wohnzimmer drang noch hell elektrisches Licht in den Flur.

„Mutter?“, raunte Grete und schlich mit angehaltenem Atem näher, um den Spalt ein wenig weiter aufzuschieben.

Empört blinzelte Sofie ihr zu, stellte die Schüssel jedoch ab und trat ebenfalls leise hinzu.

„Wie er nur zugerichtet ist, Friedrich – wie soll er da in die Praxis gehen?“, hörten sie Mutter weinen.

„Justus hat gedroht, ihm zu kündigen, wenn er den Dienst nicht zuverlässiger versieht.“ Vaters Stimme klang besorgt. „Er ist Jakobs Ausreden leid. Da hilft auch das gute Zureden deiner Schwester Ruth nicht mehr.“

„Ich weiß mir keinen Rat mehr, Friedrich. Die Großmutter ermöglicht ihm dieses Lotterleben! Es war falsch, ihm zu erlauben, dort einzuziehen.“

„Rebekka, Jakob ist ein erwachsener Mann! Wir können ihn nicht ewig ins Kinderzimmer sperren und bewachen. Er muss die Konsequenzen für sein Handeln tragen – und wir beide müssen es ertragen.“

Wange an Wange beobachtete Grete mit Sofie durch den Spalt, wie Vaters starke Arme Mutter an sich zogen. Er wiegte sie sanft und küsste ihr Haar. „Ist nicht Jäschkes Anfrage, bei Hofe für den Kaiser zu übersetzen, ein Wunder Gottes? Diese Ehre könnte Jakob Auftrieb geben.“

Mutter nickte an seiner Brust und sah auf zu ihm.

Er küsste ihr eine Träne weg und sah sie liebevoll an.

Verlegen wendete ihre Schwester den Blick ab. „So eng verbunden durch die Stürme des Lebens zu gehen wie Mutter und Vater – davon träume ich. Das muss schön und erfüllend sein!“, wisperte Sofie mit leuchtenden Augen. „Aber wie soll man so einen Mann finden, mit dem das möglich ist?“

„Du willst doch Vater heiraten“, flüsterte Grete spöttisch und grinste bei der Erinnerung an Sofies Kinderspruch, mit dem sie die Geschwister oft aufgezogen hatten.

Aufs Neue blinzelte Grete hinein – die beiden küssten sich! Heiß kribbelte der Anblick in ihr und sie trat in den Flur. Ihre Stiefmutter Rebekka war Vaters große Liebe – im Gegensatz zu ihrer eigenen Mutter Roswitha, seiner ersten Frau, mit der er nie warm geworden war und die sie selbst nie gekannt hatte.

Mutter schniefte im Wohnzimmer. „Eigentlich habe ich die chinesische Sprache mit Jakob nicht für den deutschen Kaiser geübt.“ Grete hörte, wie die Schublade mit den Taschentüchern klappte.

„Sondern für den Kaiser von China“, versuchte Vater zu spaßen und sie schnäuzte sich. „Ich weiß, es war dein Traum, dass Jakob in die Mission geht.“

„Ja, so wie Wilhelm! Er war dort so ein Segen.“ Wieder begann sie zu weinen, dieses Mal noch bitterlicher als zuvor.

Ein Kloß zog sich in Gretes Hals zusammen; betroffen blickte sie zu Sofie hinüber – die Schwester kämpfte mit den Tränen.

„Was gäbe ich drum, wenn ich Mutter trösten und sie glücklich machen könnte! Warum nur gibt sich mein Bruder so wenig Mühe?“ Leise schluchzend nahm Sofie die Schüssel hoch, das Dreckwasser schwappte gefährlich an den Rand.

„Komm, ich mach das!“, wisperte Grete und zog ihr die Schüssel aus der Hand. „Geh du schlafen!“

Kapitel2Wen soll ich senden?

Wer will unser Bote sein? Ich aber sprach: Hier bin ich; sende mich!

Jesaja 6,8

Berlin, 2. Februar 1901

Jakobs Kopf dröhnte, als würde er im Glockenstuhl der Heilandskirche zum Mittagsgeläut erwachen. Mühsam schlug er die Augen auf und hob den schmerzenden Schädel an. Übelkeit würgte ihn, wie immer, wenn ihn ein Kater plagte, dazu schmerzte sein Leib, als hätte man ihn wie einen Teppich durchgeklopft.

Stöhnend ließ er sich ins Kissen zurückfallen: Er war daheim im Pfarrhaus, im Zimmer seiner Brüder. Wie war er nur hierher …? War er nicht gestern nach dem Besuch beim alten Kruse noch zu Petersens Destille abgebogen? Immerhin war Zahltag gewesen, da juckte den Arbeitern die volle Lohntüte in den Fingern.

Zu Hause bei der Großmutter im Nikolaiviertel hätten ihn nur medizinische Bücher und Einsamkeit erwartet – und die redselige alte Dame. Da hatte er die Kutscher in der Kneipe vorgezogen – die waren trinkfest wie er und immer für ein Spielchen zu haben. Aber dieses Mal waren ihm weder die Molle mit Korn noch die Karten bekommen.

Stöhnend leckte er über den pulsierenden Schmerz an der Lippe. Dieser feiste, humorlose Kerl hatte zugeschlagen, nur weil ihm das Ass aus dem Ärmel gerutscht war. Jakob befühlte die Schwellung über der Wange. Er fluchte. Wie würde er das Onkel Justus in der Praxis wieder erklären? Mit etwas Theaterschminke aus dem Varieté, die ihm Alice vermacht hatte, könnte er vielleicht das Gröbste kaschieren.

Ächzend schob er die schmerzenden Beine aus dem Bett und richtete sich auf – die rechte Schulter brannte. Mit einem Griff vergewisserte er sich, dass sie nicht gebrochen war.

Das nächste Problem würde sich nicht so leicht in Griff bekommen lassen: Mutter und Vater. Vor dem kleinen Spiegel neben der Tür fuhr er sich durchs hellbraune Haar, strich prüfend die Kotletten entlang und begutachtete sein blau unterlaufenes Auge, die aufgeschürfte Wange und die dicke Lippe. Ich bin ein Versager – und so sehe ich auch aus. Auf keine Frage seiner Eltern würde er eine Antwort wissen.

Warum er und wieso er …?

Er wusste es nicht. Nur eines wusste er: dass in ihm ein Durst brannte, der nicht zu stillen war, und ein Leck in seiner Seele klaffte, durch das er leerlief, ohne es zu wollen. Mit Andacht und Gebet war es nicht zuzupflastern, auch wenn Mutter es hoffte.

Am Bettende erblickte er erfreut die Arzttasche mit dem abgenutzten braunen Leder, die einst seinem verstorbenen Vater Wilhelm von Sassnitz gehört hatte. Mutter hatte ihm das Erbstück mit großen Hoffnungen überreicht. Vielleicht wog sie darum so schwer in der Hand …

Ungeduldig wühlte er nach dem Fläschchen und versuchte im Nebel seines Brummschädels die Aufschrift zu entziffern: Laudanum. Der Korken ploppte leise. Erleichtert sog er den feinen Duft ein, der an Honig erinnerte, und nahm einen kräftigen Schluck von der rotbraunen Opiumtinktur. Der bittere Geschmack schüttelte ihn. Für einen Moment genoss er das Gefühl, wie der Schmerz nachließ. Dabei dämmerte ihm vage die Erinnerung an Sofies Gesicht in der gestrigen Nacht. Hatte etwa das gute Schwesterchen ihn in der Gosse des Hinterhofs aufgelesen? Und Vater … der hatte ihn wohl zur Droschke geschleppt. Seufzend klappte er die Schnallen der Arzttasche zu. Einmal mehr war er zu Dankbarkeit verurteilt.

Wankend stieg er in die Hose, stopfte das weiße Hemd hinein, band sich den Binder am Hals zu, griff nach der Weste und hielt inne. Die Familie sang im Wohnzimmer zur Morgenandacht. Er stöhnte. Jetzt hineinzugehen, würde bedeuten, vorzeitig vors Jüngste Gericht zu treten. Sein Blick fiel vom zweiten Stock durchs offene Fenster auf die Ottostraße. Der Postbote war im Anmarsch – sein Rettungsengel!

Schwungvoll öffnete er ein paar Minuten später die Tür zur Pfarramtsstube im Erdgeschoss. „Und hier kommt der Götterbote, um die Briefe für Hoffmanns zu holen.“ Er verbeugte sich grinsend.

Erschrocken starrte ihn die junge Schreibkraft über den Bündeln an. „Meine Güte, Herr Doktor, wie sehen denn Sie aus?“

„Ein Unfall … mit einem Kutscher. Der Gaul war stärker als ich.“ Jakob nahm die Briefe entgegen, wobei er der Rothaarigen einen Handkuss zuwarf. „Wie tröstend, die Post aus der Hand einer schönen Maid zu empfangen.“

„Sie alter Charmeur!“ Erwartungsvoll blinzelte sie ihm zu.

Doch Jakob beließ es bei einem Zwinkern und ging. Dieses Mal würde er sie nicht ins Café einladen in der Hoffnung, dass sich die Dame revanchieren würde. Im Pfarrhaus durfte er sich keinen Fehltritt mehr erlauben, sonst würde ihn sein Stiefvater in Stücke zerreißen.

Außerdem beflügelte ihn der Gedanke an die neue Krankenpflegerin, die Onkel Justus in der Praxis anlernte. Jakob nahm mit der Post unter dem Arm immer zwei Stufen auf einmal nach oben. Bei dieser schüchternen Brünetten musste er strategisch klug vorgehen … Zuerst eine Einladung ins Café Kranzler, beim nächsten Mal in die mondäne Conditorei an der Hasenheide. Und war nicht Anfang Mai Tanz in Grünheide? Dort könnte er sie anschließend im Sonnenschein über den Werlsee rudern. Bislang hatte die Liebesinsel immer einen romantischen Zauber auf die Damen ausgeübt, die er dorthin entführt hatte …

Abrupt hielt er an und spähte durch die angelehnte Tür in die Küche. Alle waren sie zum Frühstück versammelt, außer Leni und Georg, die bereits wie er auf eigenen Füßen standen. Wie immer saßen rechts die drei Schwestern, gegenüber die zwei Brüder mit Mutter und Vater am Tischende.

Der klappte gerade das dicke Andachtsbuch zu. „So wollen wir uns den Barmherzigen Samariter zum Vorbild nehmen.“ Alle um den Familientisch nickten. Grete hatte heimlich auf dem Schoß aus der Serviette einen Hut gefaltet. Oder war es ein Schiff? Verstohlen blinzelten sich die beiden Schwestern zu.

„Trotz Gefahren hatte der Barmherzige Samariter die Not des Nächsten im Blick.“ Vater nickte Sofie aufmunternd zu, die ein Gähnen unterdrückte. Die Gute hatte Schatten unter den Augen. Sicher war es wegen ihm spät geworden.

Sein Gewissen begann zu pochen – besser er setzte sich in Bewegung. „Guten Morgen allerseits!“ Jakob versuchte beim Eintreten unbeschwert zu klingen, doch seine Stimme klang belegt. Schlagartig richteten sich alle Augen auf ihn.

„Sieh an, pünktlich zum Ende der Andacht auferstanden“, knurrte Vater und erhob sich, um das schwarze Andachtsbuch auf die Anrichte zu legen. Jakob wusste, dass sein Stiefvater sich als Nächstes mit gestrafften Schultern umdrehen und ihn zur Rede stellen würde. Um dem zuvorzukommen, zog er den Stoß mit den Briefen hervor. „Ich habe ein Friedensangebot mitgebracht.“

Mit grimmiger Miene griff Vater nach dem Packen Post.

„Jakob, wie du aussiehst!“, flüsterte Mutter und erhob sich. „Hätte Vater dich nicht gesucht und Sofie dich nicht gefunden … Wo warst du bloß wieder?“

„Ja, was ist passiert?“ Josef reckte neugierig den Hals und Fritz nickte neben ihm. Er blinzelte ihnen verschwörerisch zu. Die beiden waren treue Gefolgsleute, auf die er zählen konnte. „Ich habe Banditen gejagt – zwischen Jericho und Jerusalem.“

Die Brüder lachten verhalten. „Nimmst du uns das nächste Mal mit?“ Josefs Augen funkelten, während er die dunklen Locken zurückwarf. Jakob bezweifelte, dass der Bruder als Theologiestudent glücklich werden würde.

„Warst du in der Friedrichstraße?“ Fritz griff nach seiner dunkelroten Schulmütze mit der silbernen Kordel, die ihn als Oberprimaner kennzeichnete, und stand auf.

„Ich wünsche keine Gespräche darüber. Du hast ehrliche Leute um ihren Lohn gebracht, Jakob.“ Vaters Stimme klang scharf, während er die Post durchsah. „Wir sprechen uns nachher im Studierzimmer.“

Jakob schluckte und nickte kurz. „Danke dir, Schwesterchen“, flüsterte er Sofie zu und setzte sich neben Josef.

Besorgt musterte sie sein Auge. „Das wird ein Monokel-Hämatom.“

„Der hier ist für dich, meine Liebe!“ Geschäftig hielt Vater seiner Frau einen Umschlag hin, die begonnen hatte, die Teller zusammenzustellen. „Von der Berliner Mission.“

Mutter sah auf ihre klebrigen Finger. „Bitte, Sofie, mach ihn für mich auf und sieh nach, was sie wollen – einen Bericht für den Missionsfreund?“

Sofie öffnete und überflog die Zeilen, während Mutter Brot und Butter zu Jakob hinschob. „Und?“

Stumm ließ seine Schwester den Brief sinken.

„Was ist, Sofie? Du bist so bleich!“ Mutter ging um den Tisch herum. Jakob kam es gerade recht, dass ihre Sorge plötzlich Sofie galt.

„Ich … ich weiß nicht. Es ist … Sie fragen, ob …“ Sofie schien keine Worte zu finden, was für sie ungewöhnlich war.

„Na, gib mal her!“ Mutter wischte ihre Hände an der Schürze ab und zog ihr das Blatt aus den Händen. Halblaut las sie vor. „… und sind auf der dringenden Suche nach einer Missionsbraut für einen Bruder in China, der uns um eine Gehilfin gebeten hat.“ Erstaunt blickte Mutter in die Runde, alle Gespräche am Tisch verstummten.

Laut las sie weiter: „In brüderlicher Verbundenheit fragen wir an, ob eine eurer Töchter die Freudigkeit hätte, dem Ruf des Herrn in die Mission nach Tsingtau zu folgen. Einmütig dachten wir an Sofie, die ja bereits in China das Licht der Welt erblickt hat.“

Mutter sah erst zu ihrer Tochter und dann zu Vater hinüber. „Wir bitten euch, ihr unsere Anfrage zu unterbreiten, ob sie bereit wäre, mit dem Postüberseedampfer anzureisen, bevor in Schantung die Regenzeit beginnt.“ Sie ließ den Brief sinken, dann fächelte sie sich Luft damit zu. „Das kommt etwas überraschend. Der Monsun beginnt im Juni – in vier Monaten!“ Auf einmal begannen Mutters Augen zu leuchten. „Sie fragen dich, ob du nach China willst, Sofie! In die neue Kolonie des Deutschen Reiches.“

Seine Schwester nickte mit beklommener Miene. „Ich weiß nicht so recht. Einen Mann heiraten, den ich nicht kenne? So rasch? Und in China? Ich kann kaum Chinesisch und überhaupt … so ganz allein?“

„Es ist nur eine Anfrage, kein Marschbefehl“, unterbrach Vater sie in sachlichem Ton. „Bis wann hat sie Zeit, zu überlegen? So eine Reise und Heirat sollte man nicht überstürzen. Du hattest doch noch andere Pläne, oder Sofie?“

Jakob spürte die Spannung, die plötzlich in der Luft lag.

„Nächsten Sonntag will uns der Missionsdirektor persönlich besuchen, um es zu besprechen.“ Verstohlen wischte sich Mutter eine Träne weg und räusperte sich. „Natürlich musst du dir sicher sein, Sofie. Für die Mission brauchst du einen Ruf des Herrn. Aber bete doch darüber! Gott wird dir den richtigen Weg weisen. Das verspricht uns die Bibel.“ Mutter lächelte versonnen. „Nach China! Es ist eine große Ehre, dass sie dir das zutrauen.“

Zusammengesunken saß Sofie auf ihrem Stuhl und nickte brav wie immer.

„Wenn ich an meine Jahre in China zurückdenke, gehören sie zu den wertvollsten meines Lebens – auch wenn vieles schwer war.“ Mutter reichte Sofie den Brief über den Tisch. „Hier, für dich. Ich jedenfalls wäre stolz auf dich. Es ist nichts erfüllender im Leben, als sich in Gottes Plan zu wissen.“

Wie ein Skalpell bohrten sich Mutters Worte in Jakob hinein. Er war eine Enttäuschung für sie, weil er nicht als Missionsarzt in die Fußstapfen seines Vaters Wilhelm treten wollte. Wie ein verblasstes Foto hing die Erinnerung an diesen Mann in seinem Gedächtnis … Ihn wurmte diese Anfrage der Mission. Nie hatte jemand danach gefragt, wie er sich als Kind nach der Heimkehr von China gefühlt hatte – entwurzelt und heimatlos.

Sein Blick fiel auf Grete, die neben Sofie angespannt die Fingernägel studierte. Sicher nagte wie üblich der Schwesternneid in ihr. Sie war nur ein paar Monate jünger als ihre Stiefschwester und hatte von klein an eifersüchtig versucht, mit ihr Schritt zu halten. Um jeden Apfelschnitz hatte sie Sofie beneidet, den ihr Mutter gereicht hatte, ganz zu schweigen von den kleinen Gaben zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Immer hatte sie Theater gemacht und das gewollt, was ihre gutmütige Schwester bekommen hatte.

„Warum fragen die Missionsbrüder nicht Grete?“, warf er gereizt ein. „Sie wird doch ebenfalls bald 21 Jahre alt und dieses Jahr volljährig. Vielleicht hat sie auch Lust, in ein Land zu reisen, das Missionaren die Gelegenheit bietet, Märtyrer zu werden.“ Mit der Anspielung auf den Tod der Steyler Missionare stach er in ein Wespennest, das war ihm bewusst. Aber Jakob war alles recht, was von seiner eigenen Misere ablenkte. „Immerhin hat der Kaiser den Mord zu nutzen gewusst, um seinen Einfluss in China auszudehnen. Da sind sie nicht umsonst gestorben, die Katholiken …“

„Jakob!“, keuchte Mutter.

„Dein Hinweis ist korrekt, aber geschmacklos“, übernahm Vater das Wort. „Und was Grete betrifft …“, er richtete den Blick auf seine Tochter. „Sie ist von zarter Natur und Gesundheit. Was soll sie unter derart harten klimatischen Bedingungen? Ich schlage vor, Grete überlegt sich, ob sie Lehrerin wird oder Krankenpflege erlernt.“

„Warum nicht gleich Diakonisse“, stichelte Jakob. „Die haben oben sicher ein Zimmer für dich frei.“

Grete schnitt ärgerlich eine Grimasse.

Vater sah Jakob scharf an. „Natürlich steht es dir auch frei, zu heiraten, Grete.“

„Ja, Vater, gewiss. Ich denke darüber nach.“ Fahrig strich Grete eine dunkle Strähne zurück, an den schmalen Lippen erkannte Jakob, dass sie ihre Wut nur mühsam bezähmte. Ohne ein weiteres Wort erhob sie sich, schnappte ihr Häkelzeug auf der Anrichte, und verließ das Zimmer.

„Mutter, wie hört man Gottes Stimme?“ Sofie lehnte sich seufzend auf die Lehne des Küchenstuhls.

Überrascht hob Mutter das heiße Bügeleisen von Vaters Hemd, das sie auf dem Küchentisch plättete. „Ach, Liebes, ich verstehe, dass dich diese große Entscheidung quält. Findest du keine Klarheit?“

Sofie schüttelte den Kopf. In ihr toste ein Sturm, seitdem sie den Brief der Mission geöffnet hatte – und am Sonntag sollte sie eine Antwort geben! Das war übermorgen! Doch sie wusste bislang nur eines: Mutter würde es glücklich machen.

Doch war dies Grund genug, einen Unbekannten in China zu heiraten? Sicher wäre nur, dass sie der christliche Glaube mit diesem Mann verbinden würde – alles Übrige müsste sie annehmen, wie es wäre. Sie schauderte beim Gedanken, was alles nicht passen könnte. Aber war das nicht mangelndes Gottvertrauen? Verzweifelt hob sie die Hände. „Ich weiß nicht, ob ich einen Ruf Gottes in die Mission habe. Ich … ich höre einfach gar nichts.“

„Gott spricht auf viele Arten zu uns – so jedenfalls erlebe ich es.“ Mutter stellte das Bügeleisen auf den Spülstein und band die Schürze ab. „Er redet beim Lesen der Bibel zu uns. Auf einmal springt dich ein Wort an, und du weißt, Gott meint dich damit!“ Zärtlich strich sie über die geöffnete Bibel, die immer auf der Anrichte lag. „Aber das kann dir auch bei einem Liedvers oder Satz passieren, den irgendjemand zu dir sagt, oder ein Gedanke hakt sich in dir fest. Jedenfalls spürst du am Zupfen in dir, dass Gott dadurch zu dir reden will.“

Mutter hängte die Schürze an den Haken neben den Geschirrtüchern – ein sicheres Zeichen, dass sie die Arbeit trotz ungebügelter Wäsche unterbrach. „Komm, lass uns ein paar Schritte im Otto-Park gehen.“

Im Flur schwang Mutter das große Tuch um die Schultern. „Oft hat Gott auch durch Bilder zu mir gesprochen – oder durch die Natur … Blätter, Wolken, Tiere, Regenbögen. Nichts ist ohne Sprache, heißt es im ersten Korintherbrief, und so ist es.“ Liebevoll schob sie Sofie zur Wohnungstür.

„Wie war es denn bei dir, Mutter? Du hast meinen Vater Wilhelm doch auch kaum gekannt, als du mit ihm nach China ausgereist bist.“

Lachend nahm Mutter den Hut von der Garderobe. „Als ich deinem Vater im Studierzimmer des Missionsdirektors vorgestellt wurde, hatte ich sofort Freude und Friede im Herzen. Das ist für mich das wichtigste Zeichen, wenn ich Gottes Willen herausfinden will: der Friede! Der ist wie ein Schiedsrichter im Herzen, schreibt der Apostel Paulus im Philipperbrief.“ Vor dem Spiegel neben dem Eingang drapierte sie den Hut auf dem Kopf.

„Hattest du auch diesen Frieden, als du mit uns von China als Witwe heimgekommen bist und Vater geheiratet hast?“

Mutters Hände hielten am Hut inne. „Nein, da war es anders. Kein Friede, um ehrlich zu sein. Trotzdem hat Gott es gut gemacht.“ Sie zwinkerte ihr zu. „Er schreibt auch auf krummen Linien gerade. Komm, ich erzähle es dir im Park.“

Wie elegant sie in ihrem schlichten Kleid wieder aussah. Bewundernd musterte Sofie ihre Mutter von der Seite. Der taubenblaue Stoff schmiegte sich eng um ihren Oberkörper und öffnete sich unten zu einem langen Glockenrock. Nur ein paar fröhliche Falten um die blauen Augen sowie die ersten grauen Haare in ihren hochgesteckten Locken verrieten, dass sie sechs Kinder geboren und neun groß gezogen hatte und ein turbulentes Leben als Pfarrersfrau lebte. Stets empfand es Sofie als Kompliment, wenn sie zu hören bekam, sie sei Mutter so ähnlich.

„Am besten, Sofie, du erzählst mir jetzt deine Zweifel und was –“

Die Wohnungsglocke läutete hell durch den hohen Flur der Pfarrerswohnung, zudem klopfte es drängend. Erstaunt sahen sie sich an, dann öffnete Mutter die Tür.

„Frau Pfarrer, entschuldigen Sie, aber ich habe hier ein völlig verzweifeltes Geschöpf aufgelesen, das unbedingt zu Ihnen gebracht werden wollte.“ Verlegen blickte ihr Schwester Elsas Gesicht umrahmt von der weißen Haube entgegen, die mit zwei anderen Diakonissen über dem Gemeindesaal wohnte. Hinter ihr stand eine junge Frau in einfacher Kleidung mit gesenktem Kopf, die vergeblich versuchte, unter einem weiten Umhang ihren runden Bauch zu verbergen. Die Gemeindeschwester trat zur Seite und schob sie vor – sie war jünger als Sofie.

„Ick steck in’ner Bredouille, Frau Pfarrer.“ Die junge Frau brach in Tränen aus. „In’ner Bäckerei hab ick gehört, dat Sie een Herz haben für Leute wie mir … Ick wollt des nich, janz ehrlich!“

Mutter umfasste die weinende Frau und zog sie über die Türschwelle hinein. Mit einem Nicken dankte sie der Gemeindeschwester und gab Sofie das Zeichen, die Wohnungstür zu schließen.

„Wenn Sie mir wegschicken, geh ick ins Wasser, Frau Pfarrer“, schluchzte die Frau, während Mutter sie in die Küche schob.

Vater öffnete vorsichtig die Tür seiner Studierstube am Ende des Flurs und hob die Brauen. Vielsagend sah er Sofie an. „Na, da wird das Gästezimmer wieder belegt sein. Sieht so aus, als würden wir langsam zum Rettungshafen für gestrandete Mädchen.“

„Dies ist eben Mutters Missionsstation.“ Anerkennend und enttäuscht zugleich schielte Sofie zur Küchentür, hinter der die Frauenstimmen dumpf zu hören waren. „Eigentlich wollte ich gerade mit Mutter in den Park.“ Sie seufzte und spürte dabei, wie Vaters Blick mitfühlend auf ihr ruhte. „Kann ich den Schlüssel für den Kirchturm haben? Irgendwie muss ich dem Himmel ein Stück näherkommen, bevor die Herren von der Mission übermorgen dastehen.“

Auf dem Weg zur Heilandskirche musterte Sofie im Otto-Park jeden Baum und Vogel, in der Hoffnung, einen Wink Gottes darin zu entdecken. Doch durch nichts schien er zu ihr zu sprechen. Die Vögel zwitscherten wie immer auf der kleinen grünen Insel, die sich zwischen den Stadthäusern, Mietskasernen und Fabriken von Moabit behauptet hatte. Sie sah zum schlanken Kirchturm auf, der mit seiner langen Spitze wie ein Leuchtturm in den Himmel ragte. Manchmal zog sich Vater dorthin zurück. Da oben, so meinte er, sei er dem Herzen Gottes ein Stück näher und habe die besten Eingebungen. Ob das auch bei ihr funktionierte?

Erwartungsvoll drückte sie das schwere rote Portal mit den Eisenbeschlägen auf. Das prachtvolle Kirchenschiff ließ sie stets ehrfürchtig innehalten. Alles schien von der Größe Gottes zu zeugen – bis ins Detail der Rauten und Ranken an den Wänden. Ihr Blick schweifte über die riesigen spitzen Gotikfenster mit den Rosetten, weiter über die Emporen bis vor zum Altarraum. Durch drei Fenster unter der Kuppel flutete buntes Licht herein und beleuchtete den Mittelpunkt der Kirche: das Altarbild mit dem Heiland darauf, das der Kirche seinen Namen gegeben hatte.

Sie lächelte. Wie oft hatte sie während der Predigt diesen Heiland studiert, statt aufzupassen. Voller Erbarmen war sein Gesicht – voller Bereitschaft, jede Wunde in ein Wunder zu verwandeln. Wie er sich zu dem kranken Kind im Schoß der Mutter hinabbeugte, ihm die Hand auflegte und dabei noch die Frau im Blick behielt! Ob sie selbst lieber das Kind oder die Mutter wäre? Auch heute war sie sich unschlüssig. Auf jeden Fall wollte sie diese Hand spüren und sehen, in welche Richtung sein Finger zeigte …

Das Portal knarrte und der Küster trat ein. Um nicht mit ihm reden zu müssen, eilte Sofie zur Orgelempore hoch, wo sie leise die Türe zum Turm aufschloss.

Langsam begann sie den Aufstieg über die schmale Eisentreppe, die sich am Mauerwerk entlang offen den Turm hochwand. Bei 87 Metern Höhe galt es, die Kräfte einzuteilen, das wusste sie aus Erfahrung. Keuchend erreichte sie das Uhrwerk, sah mit Herzklopfen auf die großen Glocken unter sich herab und stellte sich dann auf die Zehen, um durch das zugige Rundfenster hinauszublicken.

Wie ein graues schmutziges Meer breiteten sich Mietskasernen, Stadthäuser, rauchende Schlote und Fabriken unter ihr aus. Dort an der Spree war Bolles Meierei! Wenigstens war dieser fromme Unternehmer ein Lichtblick für seine Arbeiter. Weiter drüben erstreckte sich das große Areal von Siemens, von AEG, der Hafen, Kanäle, der Güterbahnhof … und da, auf der anderen Seite, das Criminalgericht und das Gefängnis. Wie Vater sich hier Gott näher fühlte, war ihr schleierhaft. Sie fand die Aussicht trostlos.

Tief unter sich hörte sie Schritte auf der Treppe stapfen und blickte hinunter. „Vater!“

Lächelnd sah er nach oben. „Ich dachte, ich schau nach dir. Aber ich gehe auch, wenn du allein –“

„Nein, steig hoch“, rief Sofie erfreut.

Kurz darauf trat er neben sie ans Fenster und blickte stumm hinaus.

„Moabit – warum heißt der Ort so komisch?“, fragte sie.

„Der König überließ dieses Land einst französischen Hugenotten, die um ihres Glaubens willen geflüchtet waren. Es heißt, diese Protestanten benannten das Gebiet nach dem Land Moab in der Bibel. Du kennst doch die Geschichte von Naomi und ihrer Familie? Sie flohen dorthin vor einer Hungersnot. Jahre später kam Naomi verwitwet mit ihrer Schwiegertochter Ruth in die Heimat Israel zurück. Der Auftakt einer schönen Liebesgeschichte …“

Sofie versuchte, mit den Augen durch den Rauch der Schlote zum milchigen Grau des Horizonts durchzudringen. „Vielleicht sollte ich auch in ein fernes Land aufbrechen. Mutter sagt, Hingabe an Gott öffnet die Türen zu dem, was wir uns wirklich wünschen.“ Ihr Blick wanderte zum kleinen Tiergarten hinüber, an dessen Ende die Johanniskirche stand. „Sie hat auch gesagt, dass Frauen auf einer Missionsstation mehr Freiheiten hätten als hierzulande …“

Vater lachte leise. „Da hat sie wohl recht. Dort gibt es Aufgaben, die nur Missionarinnen übernehmen können, wie etwa die Chinesinnen zu erreichen. Darum traut man den Frauen weit mehr zu als hier in der Heimat. Klingt verheißungsvoll, oder?“

Seufzend blickte sie wieder in die Ferne. „Ich weiß nicht, ob ich einen Ruf habe.“

„Warum ist dir das so wichtig?“

„Mutter meint, in schweren Zeiten hätte ihr diese Gewissheit Halt gegeben.“

„Dann mach es doch wie die Missionare früher im alten Herrnhut bei der Brüdergemeine. Sie haben den Herrn durch Lose befragt, wenn sie von Gott Wegweisung wollten.“

Überrascht schüttelte Sofie den Kopf. „Lose wie auf dem Jahrmarkt? Eine seltsame Vorstellung!“

„Gott kann durch alles zu uns sprechen. Der Hohepriester trug im Alten Testament auch Lose in seiner Brusttasche.“

„Na ja, ich kann es ja mal versuchen.“

Kapitel3Das Los ist mir gefallen …

… aufs Liebliche; mir ist ein schön Erbteil geworden.

Psalm 16,6

Berlin, 9. Februar 1901

Was tat Sofie da? Grete sah ihrer Schwester neugierig an ihrem Schreibtisch im Mädchenzimmer über die Schulter. Aus dem, was die Schwester auf Zettelchen schrieb, wurde sie nicht schlau. Einer lag bereits zusammengefaltet in einer Schale. Nein, stand auf einem offenen Stück Papier. Warte ab, entzifferte sie auf dem nächsten. Leise stellte sich Grete auf die Zehenspitzen. Bleib, schrieb Sofie gerade in ihrer etwas unförmigen Schrift. Nun wiederholte sie das Ganze auf vier weiteren Zetteln und faltete sie zusammen.

„Was machst du da?“, fragte Grete in die Stille.

Ihre Schwester schrak zusammen. „Grete, was spionierst du mir hinterher?“

„Ich wohne zufällig in diesem Zimmer“, antwortete sie spitz. „Wird das ein Spiel?“

Sofie schüttelte den Kopf. „Nein, ich schreibe Lose. Nachher ziehe ich eines. Ich brauche eine Antwort von Gott, sonst weiß ich nicht, was ich morgen dem Missionsdirektor sagen soll.“

„Und du glaubst, da spielt Gott mit?“ Grete lachte ungläubig und ließ sich aufs Bett neben Sofie fallen.

„Die Herrnhuter Missionare haben es so gehalten, wenn sie Gottes Führung gesucht haben. Und mir bleibt keine andere Wahl – und Gott auch nicht, wenn er mir was sagen will.“ Ratlosigkeit spiegelte sich in Sofies Augen, während sie ein weiteres Los faltete.

Grete half ihr bei einem Zettel. Exakt legte sie die Kanten aufeinander. „Dein Blatt ist nicht sauber geschnitten. Die Ecken passen nicht aufeinander.“

„Egal, Grete, bei mir passt ohnehin nichts zueinander. Meine Gefühle sind so durcheinander, als hätte ich sie an der Kurbel durch die Waschtrommel geschleudert. Wie soll ich da Gottes Stimme hören?“

Grete empfand etwas Mitleid mit Sofie, wenngleich sie die Schwester um diese Anfrage beneidete. „Immerhin ist jemand an deiner Mitarbeit interessiert. Und China! Das klingt doch spannend! Nach mir dagegen fragt niemand. Ich werde wohl als alte Jungfer enden.“

„Grete, sag das nicht!“ Sofie legte die Hand auf ihre. „Du warst doch eine Perle im Haushalt von Tante Ruth, als du dort in Stellung warst. Bis heute jammert sie, dass du gekündigt hast.“

„Den ganzen Tag nur Hausarbeit! Das ist so stumpfsinnig!“, maulte Grete. „Ich würde auch gerne etwas Aufregendes erleben.“

„Na, über Langeweile kannst du doch nun in der Kleinkinderschule nicht klagen. Keine der Diakonissen kann so basteln wie du!“, ermutigend lächelte Sofie ihr zu. „Vater bietet dir ja sogar an, dass du Lehrerin werden könntest – oder Krankenpflegerin.“

Grete seufzte – diese Aussichten versetzten sie nicht in Begeisterung. „Ach, das Kindergeschrei nervt mich. Und offene Wunden sind mir zuwider. Irgendwie ziehst du immer das bessere Los als ich, Sofie.“ Sie rührte mit dem Finger in der Schale.

„Ach, Grete, jede von uns muss ihren eigenen Weg finden und den Platz, den Gott für uns hat. Aber warum ist das nur so schwierig?“

Grete zuckte mit den Achseln. Sie verstand Gott ohnehin oft nicht. Sicher, er war da, so wie ihr Vater allgegenwärtig war. Und doch blieb Gott ihr irgendwie genauso fremd wie er. „Er könnte uns doch mal im Traum erscheinen, wie König Salomo oder Jakob in der Bibel … Der sah wenigstens eine Leiter in den Himmel.“

„Und, kommt ihr mit?“ Jakob steckte den Kopf durch die Tür. „Die Parade ist nicht alle Tage im Tiergarten. Sogar die kaiserliche Kutsche wird erwartet! Übrigens habe ich die Ehre, demnächst bei Hofe zu übersetzen – eine Delegation aus China. Was sagt ihr dazu, Mädels?“

„Was? Beim Kaiser?! Und heute fährt er durch den Tiergarten? Wie aufregend!“ Grete sprang auf – mit Jakob und den Brüdern auszugehen, verhieß Abwechslung.

Doch Sofie schüttelte den Kopf. „Nein, mir ist nicht danach.“ Sie nahm die Schale in die Hand.

Jakob zog die Nase kraus. „Wirst du jetzt langweilig, nur weil die Mission bei dir angeklopft hat?“