Auf der anderen Seite des Sturms - Gertraud Schöpflin - E-Book

Auf der anderen Seite des Sturms E-Book

Gertraud Schöpflin

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Beschreibung

1882: Als die junge Missionarswitwe Rebekka von Sassnitz mit zwei Kindern auf einem Segelschiff aus China zurückkehrt, steht sie vor einer schwierigen Entscheidung: Soll sie einem Fremden ihr Ja-Wort geben? Sie weiß: In Berlin wartet Pfarrer Friedrich Hoffman auf sie. Oder sollte sie ihren Gefühlen für Kapitän Salmas folgen, der sie im Sturm auf See gerettet hat? Als ihr bewusst wird, dass die Begegnung mit ihm nicht folgenlos blieb, ist sie gezwungen zu handeln – und entdeckt unter dem Druck der Umstände, welche Liebe durch alle Stürme trägt ...

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GERTRAUD SCHÖPFLIN

Auf der anderen SeiteDES STURMS

Der Bibeltext folgt dem Wortlaut folgender Bibelübersetzungen: Bibeltext der Schlachter. Copyright © 2000 Genfer Bibelgesellschaft.Wiedergegeben mit freundlicher Genehmigung.Alle Rechte vorbehalten.

Hoffnung für alle®, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®.Verwendet mit freundlicher Genehmigung von Fontis – Brunnen Basel.Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Witten/Holzgerlingen Lutherbibel 1912.

© 2022 Brunnen Verlag GmbH Gießen

Lektorat: Carolin Kotthaus

Umschlagfoto: trevillion.com & Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger

Satz: DTP Brunnen

ISBN Buch 978-3-7655-3703-5

ISBN E-Book 978-3-7655-7645-4

www.brunnen-verlag.de

Für meine Patentante Marianne Kleemannund ihren Mann Joachim,die viele Jahre Missionarebei der Liebenzeller Mission waren undin deren Haus die chinesische Holztafel hängt,

und für ihren Sohn Jens,der in dieser Geschichte „Jakob“ heißt.

Inhalt

Prolog

1 Du hast mir das Herz geraubt …

2 Voll zog ich aus …

3 Wer ist jener Mann …

4 Er wird mich herausführen …

5 Willst du …

6 Wenn er mich prüft …

7 Als ich es verschwieg …

8 Tu mir auf …

9 Das Los ist mir gefallen …

10 Er küsse mich …

11 Ich bin in die Irre gegangen …

12 Ein Freund liebt zu jeder Zeit …

13 Denn jedermann weiß …

14 Wie könnt ihr nur in Frage stellen …

15 Rufe mich an …

16 Erkenne doch, wem gehört …

17 Von dem Mann …

18 Joseph, ihr Mann, gedachte …

19 Ja, du wirst alle …

20 Alle, die ich lieb habe …

21 Haltet ihn nicht für einen Feind …

22 Ein jegliches hat seine Zeit …

23 Als ihr die Seele entschwand …

24 Und ob ich schon wanderte …

25 Wer wälzt uns den Stein …

26 Fangt uns die Füchse …

27 Den ganzen Tag habe ich meine Hände …

28 Denn der Mann wird nicht ruhen …

29 Ich will sie Iocken …

30 Ich bin unterwegs, …

31 Seine Wege habe ich gesehen …

32 Unsere Seele ist entflohen …

33 Wer ist sie, die da heraufkommt …

Epilog: Du Sturmbewegte …

Aus der Romanwerkstatt: Nachwort der Autorin

Prolog

Wenn du durchs Wasser gehst …

… so will ich bei dir sein.Jesaja 43,2

Elf Wochen auf See

„Mutter, ich will zu dir!“ Gefesselt an den Pfosten der Schiffskoje streckte ihr der Junge verzweifelt die Hand entgegen. Könnte sie ihn nur an sich drücken! Wer weiß, wie viel Zeit ihr noch blieb?

„Halt durch, Jakob! Bald ist es vorbei!“ Rebekka zweifelte an ihren eigenen Worten, während sie krampfhaft den Holzbalken am anderen Ende der Koje umklammerte, obwohl sie daran festgebunden war. Wieder krachte ein Brecher von außen an die Schiffswand. Die Holzplanken rutschten unter ihren Füßen weg. Das Schiff bäumte sich auf, nur um in die nächste Schlucht zu stürzen. Seit Stunden heulte der Sturmwind über ihnen, prasselte der Regen gegen den Rumpf des Frachtseglers und verwandelte den Teeklipper in einen Spielball der Hölle. Rebekka fühlte sich gefangen im Schiffsbauch wie Jona im Walfisch.

Es war ihr einerlei. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Alles, was ihr wert und teuer gewesen war, lag hinter ihr begraben in der Erde Chinas. Alles, außer ihren zwei Schätzen, für die noch ein letzter Funke Lebensmut in ihr glühte.

Sie tastete im Schummerlicht nach dem warmen Bündel. Ihre kleine Sofie, bald zwei Jahre alt, sicher festgebunden in einem Tuch an den Querholmen des Bettes. Sie schlummerte wie im Auge des Sturms.

„Mutter, hol mich!“ Vom anderen Ende der Bett-Koje starrte sie der Siebenjährige angstvoll an. Mit bebenden Lippen sprach er erneut sein Gute-Nacht-Gebet. „Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude … “ Zitternd hob er die gefalteten Hände. „… will Satan mich verschlingen, so lass die Englein singen …“

Sie streckte die Hand nach ihm aus und stimmte in den Vers mit ein: „Dies Kind soll unverletzet sein!“

Er hielt ihr seine zarten Finger entgegen. Für einen Moment flackerten ihr im Gesicht ihres Sohnes die Augen ihres Mannes entgegen. „Wilhelm“, flüsterte sie. Sie versuchte, ihn zu erreichen. Doch ihre Hand griff ins Leere.

Verzweifelt riss sie an der Schlinge um den Bauch, mit dem sie sich an den Pfosten der Koje gefesselt hatte. Wider alle Vernunft löste sie das Tau. Hart schlug die Petroleumlampe an die Decke. Das Glas klirrte und das fahle Licht tanzte zum Gurgeln der Woge, die aufs Neue draußen über das Deck schwappte.

Über das schwankende Bett schob sie sich auf ihn zu. Sie atmete den süßlichen Duft seiner Haare ein und umschlang ihn. „Jakob, Liebling!“

Ein ohrenbetäubender Schlag riss Mutter und Kind auseinander. Rebekka schlitterte über die Planken und prallte gegen die Holzvertäfelung der Kammer. Stühle, Seekiste und Waschtisch schlugen wie Wellen über ihr zusammen. Schmerz durchflutete sie, ihr Kopf dröhnte. Sie schmeckte Blut auf den Lippen und ertastete eine Wunde an der Stirn.

Über ihnen an Deck hallten die Schreie und Schritte der Seemänner. Wie ein loses Gepäckstück rutschte Rebekkas Körper erneut über den Holzboden. Haltlos war sie, wehrlos den Gewalten ausgeliefert.

„Jesus, hilf mir!“ Alles in ihr schrie. Verzweifelt ruderten ihre Arme, versuchten etwas Festes zu greifen.

Die Tür krachte auf und benommen nahm sie die Umrisse im Flackerlicht wahr. „Pierrot!“

„Halten Sie sich an mir fest!“

Sie spürte, wie sein Arm ihren Körper zu fassen bekam.

„Rebekka! Kommen Sie! Bei mir sind Sie sicher!“

Der Sturmwind röhrte.

„Meine Kinder!“

Die nächste Woge warf sie gebündelt aufs Bett. Der Kapitän zückte ein Messer und durchtrennte mit einem Ruck Jakobs Seile. Hastig presste Rebekka die Kleine an sich.

Pierrots Arme zogen sie mit den Kindern die schwankende Stiege hoch und über das Deck. Gischt und Regen peitschten ihnen heulend ins Gesicht. Das Salzwasser brannte in Rebekkas Wunden.

Mit dem nächsten Brecher strandete sie in seiner Kajüte.

Eigentlich hatte sie diese Kammer nie wieder betreten wollen. Vor ein paar Tagen erst war sie daraus geflohen. Vor seinem Charme, vor ihrer Einsamkeit.

Er schlang die Enden des Seils ineinander, das er um sie und den Pfosten seiner Koje gewunden hatte. „So! Jetzt sind sie sicher!“ Rasch band er ihr die Kleine an den Bauch. Jakob hing mit einem Seemannsknoten vertäut am Pfosten gegenüber.

Im Gehen warf er eine Tasche mit Verbandsmaterial neben sie. „Kommen Sie klar?“

Sie nickte. Schließlich war sie die Frau eines Missionsarztes … gewesen.

„Ich muss an Deck!“ Der Kapitän wankte zur Tür. Mit der Hand am Knauf drehte er sich noch einmal um. Seine Lippen formten ihren Namen, dann trat er hinaus.

Während sie von draußen hörte, wie seine Stimme den Männern Befehle zubrüllte, verband sie sich die Stirn. Sofie zappelte unruhig an ihr. Mechanisch öffnete sie die oberen Knöpfe ihres Kleides, um sie anzulegen. Papier kratzte unter ihrem Mieder.

Der Brief!

Sie berührte ihn wie einen Schimmer aus einer fernen Welt … Am anderen Ende des Meeres würde jemand auf sie warten.

Ein Unbekannter. Dort, in der Heimat. Doch wo war daheim? Dankbar umschloss sie ein paar Stunden später die Blechtasse, die der Kapitän ihr hinhielt. Vor ihr knisterte das Feuer im offenen Kamin gegenüber der Koje, in der die Kinder schliefen. Er hatte sein triefendes Ölzeug über die Seile neben ihre nassen Kleider gehängt. Es roch nach dem Seehundstran, der die Nähte abdichtete.

Mit einer zweiten Tasse in der Hand setzte er sich neben Rebekka auf das Bärenfell am Boden und lächelte ihr müde zu. „Der Sturm ist besiegt.“ Seine feuchten Locken klebten ihm bis an die dunklen Bartstoppeln herab.

„Danke, Pierrot. Für alles. Ohne Sie …“ Ihr Kopf brummte. Sie tastete nach der Wunde. Es gurgelte sanft an der Bordwand und sie lauschte den Atemzügen der Kinder. Vorsichtig setzte sie die dampfende Tasse an die Lippen. Feuer durchfloss sie. Erschrocken fuhr sie zurück. „Was ist das?“

„Grog.“

„Alkohol? Nicht für mich.“ Sie hielt ihm die Tasse hin.

Er lachte. „Das ist Tee! Mit einem Schlückchen Rum. Der wird Sie wärmen! Alle meine Männer bekommen das nach so einer Seeschlacht.“ Sorgfältig schob er ihr die Wolldecke wieder hoch zur Schulter.

Sie schloss mit der linken Hand die Öffnung bis zum Hals, um ihr Unterkleid zu verbergen. Der Durst der letzten Stunden brannte ihr in der Kehle. Zögernd betrachtete sie das Glitzern im Inneren der Tasse.

Er nickte ihr zu.

Schluck für Schluck sog ihre unterkühlte Seele die Wärme auf und Müdigkeit kroch ihr in die Glieder. Rebekkas dröhnender Kopf wog immer schwerer. Mehr und mehr lehnte sie sich gegen den starken Arm, der sich hinter sie geschoben hatte.

1

Du hast mir das Herz geraubt …

… mit einem einzigen deiner Blicke.Hohelied 4,9

Hamburg, 13. April 1882

Friedrich tastete unter dem schwarzen Mantel nach der Kette. Es war sinnlos, daran zu ziehen. Das wusste er. Es würde das Segelschiff nicht beschleunigen. Ganz gleich, wie oft er daran zog und auf die Zeiger starrte. Dennoch gab ihm das runde Metall in der Hand das Gefühl, etwas im Griff zu haben.

„Der Wind weht, wo er will …“, murmelte er und klappte mit dem Daumen den Silberdeckel auf. Fünf vor sieben. Kurz sinnierte er, wo er in der Bibel den Satz über den Wind gelesen hatte. Dabei fiel sein Blick von der Rampe aus auf das Schild über der Schleuse zum Sandthor-Hafen. Er schnaubte. „Langsam fahren!“ prangte dort in großen Buchstaben gut lesbar in der Morgendämmerung. An dieses Gebot schien sich der Segelklipper zu halten, der die Unbekannte aus China bringen würde.

Er seufzte – eine Atemwolke stieg sichtbar in die kalte Luft des Aprilmorgens. Zwei Tage spazierte er nun schon im Hamburger Hafen auf und ab! Ständig tickten die Fragen in ihm wie das Schweizer Uhrwerk in seiner Hand.

Ist sie dick? Oder hager? Abgehärmt vom Dienst in China?

Mit fahlem Haar, streng zu einem Knoten gebunden?

Aber nein, Äußerlichkeiten allein sollten ihn beim ersten Kennenlernen nicht leiten. Auf innere Schönheit wollte er achten. Hatte er sich das nicht vorgenommen? Er lockerte den weißen Kragen.

Doch was, wenn er in glanzlose Augen und strenge Züge blicken würde? Hätte er nur eine Fotografie von ihr gehabt! Warum auch hatte er sich von Bruder Daniel zu diesem Brief mit dem Heiratsantrag überreden lassen?

Nun hing er fest wie ein Fisch an der Angel.

Die Taschenuhr schnappte zu.

Neben ihm zischte es in den offenen Lagerschuppen entlang des Hafenbeckens, in denen Schauerleute Berge von Ballen, Kisten und Säcken stapelten. Ratternd senkte sich die Kette eines Dampfkrans in den Schiffsbauch eines stählernen Kolosses. Wer weiß, was er herausbefördern würde?

Wer weiß, was auf ihn zukommen würde? Vielleicht, wenn er rechtzeitig einen Blick auf sie werfen könnte …

Beißender Qualm mischte sich in den Geruch von Salz und Fisch. Schwarz verschmierte Kohlejumper fütterten die Feuerluken der Dampfkräne wie unersättliche Mäuler.

Ratlos hob Friedrich den Blick über den Sandthor-Hafen hinaus auf die Elbe. Es war ihm ein Rätsel. Wie sollte er die Ankunft der Susanna erkennen?

Dicht an dicht lagen im Hamburger Niedernhafen unzählige Segelschiffe aufgereiht wie Perlen an einer Kette und nebeneinander festgemacht an hölzernen Dalben. Wimpel und Seile flatterten im Wind. Er starrte durch das Gewirr von abgetakelten Masten an den Horizont. Es war unmöglich, einen Segelklipper zu entdecken!

Möwen kreischten höhnisch über ihm. Er beneidete die Gelassenheit der Ewerführer, die auf den flachen Lastkähnen ihre langen Stangen ins Wasser tauchten, um ihre Schuten voll Kohle, Holz oder Gemüse zwischen den großen Schiffen voranzuschieben.

Spätestens morgen müsste er den Zug nach Berlin nehmen, um am Sonntag wieder auf der Kanzel zu stehen. Man erwartete von ihm, dass er wieder heiratete. Ein evangelisches Pfarrhaus ohne Pfarrfrau … undenkbar.

Friedrich überprüfte noch einmal den Pastorenkragen und trat dann vor an die Hafenkante. Unter ihm plätscherte die trübe Wasserbrühe gegen die steinerne Wand. Mit seiner blank polierten Stiefelspitze fuhr er die Form des Metallrings nach, der an der Kaimauer auf das Tau des nächsten Frachtschiffes wartete. Auch er hatte einen Ring eingesteckt. Nur für den Fall, dass er ihn brauchen würde. Wenn sich erfüllen würde, was er hoffte – ja, wider alle Vernunft ersehnte.

Seine Finger umschlossen in der Manteltasche ein Stück Papier. Mehr als das hatte er nicht als Sicherheit. Daran hielt er sich fest, wenn Zweifel ihn überrollten. Er zog den Zettel hervor, auch wenn er wusste, was darauf stand. „Habe deine Lust am Herrn …“ Er hielt sich vor Augen, was er sich aus der Bibel abgeschrieben hatte. „… so wird er dir geben, was dein Herz begehrt!“

„Bruder Friedrich!“ Der Grauhaarige im dunklen Gehrock keuchte auf ihn zu. Er schwenkte ein Blatt in der Hand. „Sie kommt! Der Schiffsmeldedienst hat es dem Reeder heute Nacht …“ Atemlos klopfte der untersetzte Missionssekretär der Berliner Mission mit den Fingern auf die Nachricht aus Cuxhaven. „Die Susanna läuft ein! Wir müssen zu den Vorsetzen. Meine Frau ist schon dort.“ Daniel Maser grinste unter dem buschigen Schnauzer und zeigte zu der Anlegestelle, die in Richtung der Michaeliskirche lag. „Komm, ich kenne eine Abkürzung durch das Gängeviertel der Kehrwiederinsel.“

Friedrich sträubte sich. „Da hätten sie gestern fast einen Nachttopf über mir ausgeschüttet. Seuchenbrut-Quartiere nennt mein Freund Justus solche Viertel.“

„Der Arzt von der Berliner Charité?“ Bruder Daniel lachte.

Als ob sie Halt suchten, lehnten sich die mehrgeschossigen Häuser im Kehrwiederviertel mit ihren spitzen Giebeln windschief aneinander. Dazwischen wärmte die Sonne nur spärlich das Pflaster der düsteren Gassen, durch die Friedrich dem Missionssekretär folgte. Fensterflügel standen zur Straße offen, Keifen und Säuglingsgeschrei drangen heraus. Eine abgehärmte Frau befestigte Wäsche auf den kurzen Leinen vor dem Fenstersims. Ein paar Tagelöhner pafften darunter an der Hauswand. Friedrich schlängelte sich zwischen einem Fischstand und zwei Händlern hindurch, die Brennholz und Krautköpfe auf ihren Karren feilboten. Ein paar Schuljungen drückten sich an ihnen vorbei.

„Und das hier wollen die Ratsherren alles abreißen?“ Friedrich verlangsamte seinen Schritt. „Wo sollen denn die ganzen Leute hin?“

Der Alte zuckte mit den Schultern. „Sie versprechen den Arbeitern neue Viertel. Irgendwo am Stadtrand von Hamburg.“ Er zog eine Zeitung hervor. „Hier – die Altonaer Nachrichten. Ich habe sie ausgelesen.“

Friedrich blieb stehen und überflog die Schlagzeile. „20 000 Menschen umsiedeln? Und das alles für ein Stadtviertel nur mit Lagerhäusern?“

Daniel hob hilflos die Hände. „Die Speicherstadt ist der einzige Weg, um ein Stück von Hamburg zollfrei zu erhalten. Bismarck hat ja den Rest der Hansestadt dem Königreich Preußen einverleibt. Nächstes Jahr beginnen die Bauarbeiten.“

Friedrich holte Daniel auf der Niederbaumbrücke am Ende der Kehrwiederinsel mit ein paar Schritten ein. „Und das machen die Hamburger mit?“

Der Alte blieb zwischen den mannshohen Bögen stehen, die das Brückengeländer teilten. „Die Bürgerschaft ist gespalten. Keiner weiß, was richtig ist.“ Er zeigte auf ein Schiff, das mit prallen Segeln wie ein Möwenschwarm auf die Landungsbrücken zuglitt.

„Das ist sie! Los!“ Der Alte zog Friedrich am Ärmel.

Er hielt seinen Freund zurück. „Ehrlich gesagt, Daniel, ich bin auch gespalten.“

Der Alte musterte ihn überrascht. „Was ist?“

„Was, wenn sie mir nicht gefällt?“

„Du willst kneifen? Jetzt?“

„Was, wenn es so wird wie mit Roswitha?“ Friedrich umfasste die kalte Eisenbrüstung und blickte durch die Gitterstäbe aufs Wasser.

„Nun vertrau, dass Gott die Idee in mein altes Hirn gepflanzt hat. Als ich den Brief vom Tod ihres Mannes gelesen habe, da habe ich einfach an dich denken müssen.“ Die Hand des Missionssekretärs legte sich warm auf die seine. „Du kannst mit drei Kindern nicht ewig Witwer bleiben. Manchmal muss man das Alte abräumen – wie in Hamburg –, damit Neues entstehen kann.“

Friedrich zog die Hand zurück. Er ahnte, dass die Berliner Mission irgendetwas tun musste, um diese mittellose Witwe zu versorgen. Und er war Teil des Konstruktes! „Woher weißt du, dass sie meinen Brief bekommen hat, den ich ihr vor über einem halben Jahr geschrieben habe? Und was, wenn …?“

Der Alte atmete hörbar aus. „Schau sie dir an, wenn sie auf dem Steg vom Schiff herunterkommt. Gefällt sie dir nicht, stelle ich dich ihr gar nicht erst vor. Dann fährst du allein nach Hause.“

„Machen wir es so.“ Friedrich atmete auf und hielt ihm die Hand hin.

Majestätisch bahnte sich der schlanke schwarze Bug unter fünf Etagen von flatternden Segeln den Weg auf die Landungsbrücke zu. Fieberhaft musterte Friedrich die Umrisse der Gestalten, die sich auf dem Klipper immer schärfer abzeichneten – doch eine Frau konnte er nicht entdecken.

Unzählige Arme holten in schwindelnder Höhe riesige Segeltücher ein, Füße balancierten auf Wanten und Seilen. Männer in dunklen Uniformen brüllten Befehle. Die Ankerkette klirrte. Taue flogen durch die Luft und wurden von starken Händen kraftvoll um die Holzstangen an der Hafenkante gebunden.

Geschickt marschierten die ersten Seemänner den Steg vom Schiff hinunter, die Schultern beladen mit Gepäckstücken und Seekisten. Eine Handvoll Reisende schien sich oben an der Reling zu versammeln.

„Sie ist da! Freust du dich, Bruder Friedrich?“ Marta Maser eilte ihnen am Kai mit geröteten Wangen entgegen.

Der Missionssekretär nahm seine Frau sanft beiseite und flüsterte mit ihr. Der Knoten, zu dem ihr weißes Haar über dem hochgeschlossenen grauen Kleid zurückgekämmt war, wiegte bedächtig, während sie zu Friedrich hinüberschielte. Der Anblick der beiden Alten versetzte ihm einen Stich. Nach so einer Vertrautheit sehnte er sich.

An Bord wagte nun ein beleibter Herr als Erster ungelenk den Schritt auf den Steg – nach dem feinen Zwirn seines Anzugs zu urteilen, war er ein Kolonialwarenhändler. Zwei Laufburschen witzelten neben Friedrich über ihn. Ein weiterer Kaufmann folgte über die schwankende Brücke.

Dann stieg ein hagerer Junge in knielanger Hose und Wollstrümpfen mit einem Koffer vom Schiff – gehalten von einer Hand hinter sich. Jetzt kam Leben in Schwester Marta und rasch trat sie an den Schiffssteg heran.

Hinter dem Jungen schürzte eine Frau von schlanker Statur ihr schwarzes Kleid und trat auf die Brücke, auf der Hüfte ein kleines Kind.

In Friedrich begann etwas zu pulsieren.

Die Burschen neben ihm pfiffen durch die Zähne und Friedrich strafte sie eines strengen Blickes.

„Entschuldigung, Herr Pastor“, murmelte einer, und sie verzogen sich.

„Schwester Rebekka!“ Marta Maser winkte voller Freude.

Die Frau hielt inne und blickte vom Holzsteg auf. Ein Strahlen erhellte ihr Gesicht und ließ die großen Augen unter den klar gezeichneten Brauen aufleuchten.

Friedrich vergaß für einen Moment zu atmen. Ihre Haut schimmerte wie feines Porzellan und eine Brise umspielte das Kleid. Jetzt erfasste ein Windstoß ihren Strohhut. Er fiel am Band nach hinten und gab den Blick frei auf dicht gewelltes Haar, das locker zu einem Zopf geflochten war. Es schimmerte hell- und dunkelblond und schien um die Stirn von der Gischt gekräuselt. Einige Strähnen flatterten im Frühlingswind und umgaben ihre regelmäßigen Züge wie einen Heiligenschein.

Friedrich griff nach dem Arm seines Begleiters. „Stell mich vor!“

Bruder Daniel lachte leise. „Und, wie findest du sie?“

Friedrich holte tief Luft, ohne den Blick von ihr zu nehmen. „Sie ist wie das Licht des Morgens, wenn die Sonne aufgeht, ein Morgen ohne Wolken.“ Er hielt feierlich inne.

„Sehr poetisch – wo hast du das denn her?“

„Bei König David gelesen. Zweites Buch Samuel.“ Sie lachten befreit auf. „Warum hast du nicht gesagt, dass sie eine Schönheit ist?“

Friedrich beobachtete, wie ihre Gestalt zielsicher mit den Kindern über den Steg herunterbalancierte und am Ende in den Armen der mütterlichen alten Dame verschwand.

„Schwester Rebekka, wie schön!“

Die Umarmte begann zu weinen. „Schwester Marta!“

Die Alte wiegte sie sanft in den Armen. „Kind, es tut mir so leid mit Wilhelm.“ Sie strich ihr über das schimmernde Haar.

„Ich weiß nicht, ob es richtig war, China zu verlassen“, hörte Friedrich die tränenerstickte Stimme. Marta redete leise und eindringlich auf sie ein. Das kleine Mädchen, in etwa so alt wie seine Grete, ragte aus den verschlungenen Armen hervor und klammerte sich wie ein Äffchen an seine Mutter.

Der Junge stand zwischen ihr und dem Koffer. Sein langes braunes Haar war zu einem Zopf geflochten. Mit den Schuhen kratzte er sich an den Strümpfen.

„Ein langer Zopf – wie die Chinesen“, flüsterte Bruder Daniel amüsiert, zog aus der Tasche ein Bonbon hervor und hielt es dem Jungen hin. Er starrte ihn mit großen braunen Augen an und wandte sich ab zur Mutter.

Der Alte brummte und schob sich die Lakritze in den Mund.

Inzwischen nestelte Marta ein Taschentuch aus ihrem Pompadour am Handgelenk und reichte es der jungen Witwe. „Mein Mann möchte dir einen guten Freund vorstellen“, raunte sie ihr zu.

Die junge Frau drehte sich abrupt um und ihre verweinten Augen trafen Friedrichs Blick. Röte huschte über ihre Wangen. In diesem Moment war er sich sicher: Sie hatte seinen Brief erhalten.

Der alte Missionssekretär drückte sie zur Begrüßung väterlich. „Meine Liebe, ich habe jemanden mitgebracht. Er hat dir bereits geschrieben. Darf ich vorstellen: Pastor Friedrich Hoffmann.“

Friedrichs Herz klopfte bis an den engen Pastorenkragen. Er ließ die Hacken zusammenklacken, lüftete den Hut und verbeugte sich leicht.

Dann wandte sich Bruder Daniel ihm feierlich zu. „Bruder Friedrich, darf ich bekannt machen: Rebekka von Sassnitz.“

Verlegen streckte sie ihm mit einem Knicks die Hand entgegen. Er ergriff ihre Finger, führte sie in Richtung seiner Lippen und hauchte einen Kuss darüber, so wie man es ihm beigebracht hatte. Das Pochen im Hals hatte sich zur Schlinge zugezogen. Er brachte kein Wort heraus, während er für einen Wimpernschlag in ihren hellblauen Augen versank.

Bruder Daniel räusperte sich. „Ihr habt noch Gelegenheit, auf der Zugfahrt nach Berlin nähere Bekanntschaft zu machen.“

Die junge Frau schweifte mit dem Blick zur Hafenkante. „Ich hole mein Gepäck.“ Ihre Stimme klang belegt. Marta nahm ihr die Kleine liebevoll vom Arm.

„Was hast du dabei?“ Daniel Maser trat an Rebekkas Seite. Friedrich folgte den beiden.

„Nur den kleinen Lederkoffer und eine hölzerne Seekiste.“ Die junge Frau durchsuchte den Berg von Truhen, Reisekoffern, Fässern und Ballen, die sich am Kai neben der Brücke stapelten. Doch sie schien das Gesuchte nicht zu finden.

Ein Matrose mit Wollmütze und unrasiertem Gesicht kam vom Steg auf sie zu. „Frau von Sassnitz?“

Sie blickte auf.

„Der Kapitän lässt ausrichten, Sie sollen Ihr Gepäck in seiner Kajüte abholen. Er bittet um einen Abschied. Es sei noch was zu regeln.“

„Wie bitte?“ Sie zupfte sich an den abgestoßenen Ärmeln. „Etwas zum Abschied zu regeln?“ Friedrich beobachtete, wie sich die Wangen der engelhaften Person röteten und sie wie beschämt zur Seite sah, bevor sie tief Luft holte. „Nichts ist zu regeln. Und sicher müssen wir schnell weiterreisen, nicht wahr, Bruder Daniel? Ich verzichte auf mein Gepäck.“

Bruder Daniel trat beschwichtigend vor. „Aber Schwester Rebekka, das lässt sich sicher in Ordnung bringen. Bist du dem Kapitän noch etwas schuldig?“ Der Alte tastete über die Brusttasche seines Gehrocks. „Ist es ein größerer Betrag? Meine Barschaft ist nicht so groß.“

„Wenn Sie gestatten, ich hole das Gepäck!“ Friedrich trat vor und stellte mit Genugtuung fest, dass er die hellblauen Augen auf sich zog. Ihre vollen Lippen bebten, doch sie schien kein Wort mehr herauszubekommen und nickte nur.

Entschieden stieg er im Takt des schwankenden Stegs nach oben an Deck, wo ihn geschrubbte Planken und endlose Seile in sauberen Schlingen an der Reling empfingen. Die Höhe der Masten war schwindelerregend – sie waren fast so hoch wie die Länge des Schiffs. Die verzierte Tür hinten im hölzernen Achterdeck unter der Kommandobrücke musste wohl zur Kajüte führen.

Er klopfte an der Kapitänskammer und trat ein.

Ein sonnengebräunter Mann mit dunklen Locken und aufgeknöpfter Uniformjacke schrieb an einem Tisch in einem Logbuch zwischen Karten, Kompass und Navigationsinstrumenten. Überrascht blickte er auf. Dunkle Bartstoppeln umspielten sein Kinn. Er legte den Federhalter weg und lehnte sich im Sessel zurück. „Sieh an, der Pfaffe!“

Friedrich war erstaunt über die Begrüßung. „Brauchen Sie geistlichen Beistand?“

Der Mann mit dem südländischen Flair lachte höhnisch und winkte ab. „Nur wenn ich sterbe oder zum Traualtar schreite. Ist aber beides nicht der Fall.“

„Ich komme, um das Gepäck von Rebekka von Sassnitz zu holen.“ Friedrich zog seinen Geldbeutel aus der Innentasche des Mantels. „Was ist meine Braut Ihnen schuldig?“

„Ihre Braut?“ Der Kapitän schnaubte. „Kennen Sie die Dame überhaupt?“

Seit fünf Minuten – diese Antwort erschien Friedrich unpassend. „Wir standen in Briefkontakt.“

Erregt sprang der Kapitän auf. „So – das reicht euch Pfaffen wohl! Womit, meinen Sie, hätten Sie diese Frau verdient?“ Er wankte wie ein angeschossenes Tier zum Schrank neben der Koje, kramte darin herum und zog etwas Wollenes hervor. „Was haben Sie ihr zu bieten? Kirche und Kinderkriegen?“

Friedrich schüttelte befremdet den Kopf. „Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.“ Neben der Tür entdeckte er eine Holztruhe. „Das ist wohl ihr Gepäck. Also, Kapitän, bekommen Sie noch etwas?“

„Etwas, das Sie mir nicht geben können. Verschwinden Sie!“ Mit diesen Worten warf er ihm ein Wolltuch an den Kopf. Dann griff er sich eine Whiskey-Flasche aus einem Regal, das an Seilen über dem Schreibtisch baumelte. Der Korken schnalzte. Er goss das Glas voll, das zwischen Globus und Sextant stand, und stürzte es hinunter.

Der Duft des Hochprozentigen reizte Friedrichs Magen. Stirnrunzelnd rückte er seinen Zylinder zurecht, hievte die Kiste auf die Schultern und ging ohne Gruß. Ihn schauderte bei dem Gedanken, mit so einem Kerl vier Monate auf See zu sein.

Vorsichtig betrat er den schwankenden Steg mit dem sperrigen Gepäck. Ihm graute vor der Brühe unter ihm und erst unten am Kai wagte er aufzublicken. Erleichterung breitete sich in den Zügen der jungen Frau aus und beschwingt trat er auf sie zu – er spürte die Last auf der Schultern nicht mehr. „Ich trage Ihre Kiste zum Bahnsteig, wenn Sie erlauben!“

„Danke.“ Mit einem scheuen Lächeln hüllte sie sich in den gehäkelten Wollumhang, den er ihr reichte. Für einen Moment stutzte er – warum hatte sich ihr Tuch im Schrank des Kapitäns befunden?

Bruder Daniel drängte die Gruppe zur Haltestelle der Hamburger Hafenbahn, die sie zum Hauptbahnhof bringen sollte.

„Mutter, der Kapitän steht oben an der Reling!“ Der Junge blieb noch einmal stehen und winkte.

„Komm jetzt, Jakob!“ Seine Mutter ergriff hastig seine Hand und zog ihn hinter sich her, ohne zurückzuschauen.

2

Voll zog ich aus …

… aber leer hat mich der Herr wieder heimgebracht.Ruth 1,21

Rebekka bemühte sich, Schritt zu halten. Bloß nicht zurückblicken, pochte es in ihr. Sonst erstarre ich wie Lots Frau zur Salzsäule.

Wochenlang hatte sie sich nach jenem Augenblick gesehnt, an dem sie wieder festen Boden unter den Füßen hätte. Aber nun fühlten sich die ersten Schritte an Land seltsam an. Der Weg zur Hafenbahn war gepflastert, doch es war ihr, als würde sie über einen Acker stolpern.

Inständig hatte sie gehofft, die Übelkeit hinter sich zu lassen, die sie auf dem Segelschiff in den letzten Tagen gequält hatte, aber das Ziehen in der Magengrube war ihr über die Landungsbrücke nachgeschlichen. Und nun flimmerte es ihr auch noch vor Augen. Sie ließ die Hand des bockigen Jungen fahren, blieb stehen und setzte die Kleine ab.

„Geht es dir nicht gut?“ Schwester Marta kramte aus ihrem Täschchen ein Riechfläschchen hervor. „Kind, du bist so blass!“

„Ich fühle mich … etwas seekrank.“ Rebekka zwang sich, harmlos zu lächeln. Der Duft der parfümierten Ammoniaklösung stach ihr in die Nase und zwang sie, tief Luft zu holen.

Daniel lachte und bot ihr den Arm an. „Seemänner erkennt man an Land an ihrem torkelnden Gang. Warum soll es dir nach so vielen Wochen an Bord anders gehen?“

Sie presste die Lippen zusammen, strich das Kleid vor sich glatt und schielte zu dem schlanken Mann hinüber, der sie mit ihrer Kiste auf der Schulter besorgt musterte. Sie wollte die Kleine wieder hochnehmen.

„Warte, ich nehme sie.“ Marta zog das Kind an sich.

Gelehnt auf den Arm des Missionssekretärs, beobachtete Rebekka im Gehen, wie sich die hölzerne Seekiste vor ihr auf breiten Schultern und schwarzen langen Hosenbeinen bewegte. Die Muskeln der Oberarme zeichneten sich unter dem schwarzen Mantel ab. Die Knöchel der großen Hände spannten sich um das Gepäckstück. Diese Finger hatten ihr den Brief geschrieben.

Sie erinnerte sich genau daran, wie sie ihn vor fast vier Monaten kurz vor der Abfahrt am Hafen in Schanghai erhalten hatte …

Leere. Nichts als Leere. Rebekka starrte in die großen Tonnen, die vor ihr am Hafen von Schanghai gespült wurden. Eine ganze Reihe Wasserfässer wartete neben dem Landungssteg der Susanna noch darauf, vom fauligen Gestank befreit zu werden, den die letzten Wochen auf See in sie hineingefressen hatten.

Der Fuß eines kräftigen Matrosen donnerte gegen ein Fass. Die blonden Haare hingen ihm verschwitzt ins unrasierte Gesicht. Die nächste Tonne schepperte zu Boden und die Brühe ergoss sich über den Kai. Es roch modrig. Der Seemann schubste einen jungen Chinesen zu Boden, der eine Bürste in der Hand hielt. Der schmächtige Junge mit den schwarzen glatten Haaren kroch hinein und schrubbte. Kurz darauf trat der Matrose derb dagegen. „Schneller, du Nichtsnutz!“, rief er auf Deutsch. Der Junge schrie auf im Fass. Dumpf klang das Kratzen schneller aus dem Inneren des Holzes.

Um die kleine Gruppe der wartenden Passagiere schwirrten die Rufe der chinesischen Hafenarbeiter, die sich mit den harten europäischen Lauten der Schiffsmannschaft vermischten.

Rebekka verstand jedes Wort im Sprachengewirr. Jakob schwatzte aufgeregt ein Kauderwelsch von Deutsch und Chinesisch mit den Kindern der Missionare, die gekommen waren, um sie zu verabschieden. Die Jungen spielten Fangen um die Koffer, Kisten und Ballen am Kai. Eine der Missionarstöchter hatte Sofie an der Hand.

Seemänner schleppten Teekisten über einen Holzsteg auf das Segelschiff. Für einen Dampfer hatte das Geld nicht gereicht, immerhin hatte die Missionsleitung für ihre Heimreise einen Segelklipper gefunden. Von diesem Schiffstyp hatte Rebekka gehört – man hätte früher damit Wettrennen ausgetragen.

Noch waren die unzähligen weißen Segel an die hölzernen Querbalken gebunden, doch die Susanna sollte in den nächsten Stunden ablegen. Rebekka war es einerlei, wann sie in Hamburg ankommen würde. Niemand wartete auf sie – außer Ruth vielleicht. Ihre Schwester schlug sich als Gouvernante durch. Bei ihr würde sie nicht unterkommen können. Wo sollte sie nur hin mit den Kindern?

Rebekka trat an den gestapelten Fässern vorbei zur Uferkante. Wie eine schwarze Wand stand der wuchtige Rumpf des Klippers vor ihr. Die Ankerkette quoll vorne am Bug aus dem Schiffsrumpf und lenkte ihren Blick ins schlammgelbe Hafenwasser. Abfälle und toter Fisch schaukelten zwischen Ästen darauf.

Ihr Herz wog wie Blei unter dem Gewicht ihrer zerbrochenen Träume und der Ungewissheit, wie es weitergehen sollte. Keiner würde es merken, wenn sie jetzt zwischen dem Gewirr von Kisten, Seilen und Fässern nur einen Schritt vor sich setzen würde. Wenn sie hineinsinken würde in die Ewigkeit – dorthin, wo ihr Mann und ihre erste Tochter schon waren. Rebekka beugte sich über den Abgrund der Hafenkante und sah das schwarze Witwenkleid und die breite Krempe des Strohhuts im Wasser. Zur Fratze verzerrt schaukelte ihr Gesicht im Spiegel des Meeres. Mit diesem Schiff würde ihr alles entrissen werden, was sie je geliebt hatte: Wilhelm, Elisabeth – und China. Sie schluchzte, schloss die Augen und …

Ein Fass löste sich vom Stapel hinter ihr, krachte zu Boden und polterte auf sie zu. Sie schrie auf. Hektische Bewegungen und Rufe am Kai. Ein Schlag und Schmerz. Das Ungetüm riss sie mit nach vorn!

Nasse Kälte nahm ihr den Atem. Blitzschnell sogen sich ihre Kleider voll und zogen sie abwärts in die dunkle Tiefe.

Gott, hilf mir!

Mit Armen und Beinen ruderte sie dagegen an.

Ich will leben! Ich muss!

Sie sah Jakob vor ihrem inneren Auge. Sofie.

Rette mich!

Sie kämpfte gegen den Sog des Abgrunds. Ihre Hände stießen an etwas Hartes. Die Kette! Die Ankerkette. Ihre Finger umklammerten die Eisenglieder. Eine glitschige Schicht von Algen hatte sich um das rostige Metall gelegt. Ihre Lungen begannen zu brennen. Panik ergriff sie. Plötzlich tauchte inmitten von Luftblasen eine Gestalt neben ihr auf, starke Arme umschlangen sie und stießen sich mit ihr hoch ans Licht. Gierig schnappte sie nach Luft.

Mehrere Hände fassten nach ihr und zogen sie unter Geschrei über die harte Reling eines Ruderbootes.

„Bringt sie dort hinüber!“, rief ihr Retter auf Deutsch, der ihren Körper vom Wasser aus ins Boot drückte.

Vor ihren Augen wurde es schwarz …

Als sie die Augen aufschlug, beugte sich ein tropfnasser Mann mit dunklen Bartstoppeln über sie. Schwarze Locken klebten ihm bis ins Gesicht. „Sie kommt zu sich!“ Der besorgte Ausdruck wich aus seinen braunen Augen. Lächelnd tätschelte er ihr die Wange. „Na, gnädige Frau, das ist ja noch mal gut gegangen.“

Sie hörte Jakobs helle Stimme. „Mutter! – Lasst mich …!“

Der Mann richtete sich auf, wobei sich der muskulöse Oberkörper unter seinem weißen Hemd abzeichnete. „Lasst den Jungen durch!“

Jakob schlang die zarten Arme um ihren Hals. Dahinter traten die Freunde schreckensbleich heran.

Benommen versuchte Rebekka, sich aufzusetzen. Sie spürte, wie ihr seine Hand im Rücken zu Hilfe kam. Das nasse Kleid klebte ihr am Leib. Erst jetzt bemerkte sie die Menge an Schaulustigen, die sich gaffend um sie versammelt hatte.

Der Mann, der auf Deutsch die Befehle gab, hob seine trockene blaue Uniformjacke neben sich vom Boden auf und legte sie ihr um die Schultern. „Trauen Sie sich aufzustehen?“

Sie nickte und er zog sie auf die Beine. Dem Aussehen nach hätte er auch Spanier sein können.

„Ich bin Kapitän Salmas. Sie gehören zu meinen Passagieren nach Hamburg?“

„Ja.“ Verlegen wischte sie die Tropfen beiseite, die vom Haar übers Gesicht rannen.

Er griff in die Seitentasche der Uniformjacke, die an ihren Schultern baumelte, und zog eine Liste hervor. „Frau von Sassnitz?“

„Richtig.“

„Sie reisen allein mit zwei Kindern?“ Er musterte sie für einen Moment und machte eine einladende Bewegung in Richtung des Schiffs. Auf seinen Wink hin brachten Matrosen ihren Lederkoffer und die Seekiste.

„Ist das alles?“

Sie unterdrückte nickend ein Zähneklappern.

„Ich bringe Sie in Ihre Kammer. Sie müssen sich umziehen.“

Rebekka drehte sich nach ihren Freunden um. Arme streckten sich ihr entgegen und legten sich zum Abschied um sie. Warme Tränen vermischten sich mit den kalten, die von ihrer Stirn tropften. Zitternd zog sie die trockene Kapitänsjacke fester um sich.

Missionar Bahr, der Feldleiter von China, öffnete sein Gesangbuch, um zum Abschied ein Lied anzustimmen.

Brummend trat der Kapitän dazwischen. „Lassen Sie es gut sein! Sonst holt sie sich noch den Tod.“

Mit zitternden Beinen betrat Rebekka den Holzsteg, der zum Segelschiff hochführte. Jakob sprang neugierig voraus, während der Kapitän mit Sofie auf dem Arm folgte.

Das Schiffsdeck war in etwa so lang wie der Innenhof ihrer Missionsstation in Schaudschu, aber nur halb so breit. Als sie an den Masten entlang nach oben blickte, drohten ihr die Knie nachzugeben. Dies sollte für die nächsten drei bis vier Monate ihr Zuhause sein? Sie fror erbärmlich in der schwachen Wintersonne.

„Ihre Kammer!“ Der Kapitän öffnete unter Deck am Ende der Stiege die Tür zu einer winzigen Kabine. Er hätte auch „Zelle“ sagen können, dachte sie. Sofie tappte neugierig hinein.

Die Kammer enthielt zwei schmale Pritschen in einer Koje übereinander, einen aufklappbaren Waschtisch mit einer Schüssel darauf sowie einen an der Wand befestigten Tisch mit einem Hocker davor.

„Sie speisen mit den Offizieren und mir sowie den anderen beiden Passagieren im Salon. Dort können sie sich tagsüber aufhalten.“ Der Kapitän schob Rebekka sanft hinein. „Ich denke, es ist Ihnen klar, dass Sie als Frau an Deck nichts zu suchen haben.“

Sie nickte und setzte sich zitternd vor Kälte und Schauder aufs Bett.

„Um Ihren Sohn kümmert sich der Schiffsjunge.“ Er setzte Jakob die Kapitänsmütze auf den Kopf und der Junge lachte. „Willkommen an Bord, Frau von Sassnitz! Ich lasse Ihnen warmes Wasser bringen. Wenn ich noch meine Jacke haben könnte.“

Mit klammen Fingern schälte sich Rebekka heraus. „Vielen Dank für Ihre Hilfe, Kapitän!“ Lächelnd und bibbernd zugleich hielt sie ihm die Jacke hin.

Auf der Türschwelle drehte sich der Kapitän noch einmal um. „Bevor ich es vergesse – hier ist noch ein Brief für Sie.“ Er gab ihr einen Umschlag mit ihrem Namen und der Missionsadresse darauf.

„Ein Brief?“ Sie nahm ihn mit bebender Hand entgegen.

Er salutierte und schloss dann die Tür hinter sich.

Rebekka vergaß für einen Moment alle Kälte und Nässe. Wer ihr wohl aus der Heimat schrieb? Vielleicht ihre Schwester Ruth?

Eilig öffnete sie den Umschlag. Eine unbekannte Handschrift stach ihr feinsäuberlich entgegen. Ihre Augen weiteten sich, während sie die Zeilen überflog. Dann ließ sie das Schreiben sinken. Der Inhalt wirkte wie die Tonne, die sie überrollt hatte.

„Was steht da, Mutter?“ Jakob stützte sich neugierig auf ihre Knie.

Sie starrte auf die Zeilen. Halblaut las sie das Ende vor:

3

Wer ist jener Mann …

… der uns auf dem Feld entgegenkommt?1. Mose 24,65

Ein Pfiff hallte in der hohen Hamburger Bahnhofshalle. Es ruckte. Zischend rollte der Zug auf den Gleisen an – eingehüllt in eine Wolke aus Dampf. Ein Schaffner hangelte sich außen an den Waggons von Trittbrett zu Trittbrett, um in jedem Abteil die Fahrkarten zu kontrollieren. Daniel und Marta Maser lehnten sich aus dem Türfenster des benachbarten Abteils.

Rebekka hatte geahnt, dass sie etwas im Schilde führten. Ungern war sie mit dem Fremden allein in das geschlossene Abteil gestiegen, auch wenn die Kinder bei ihnen waren. Jede Kabine des Zugwaggons hatte seine eigene Außentür – im Zug selbst gab es keine Verbindung und keinen Abort. Der Pastor zeigte die Billets und lehnte sich gegenüber von Rebekka an die Holzbank. Sie zog die Knie zurück, die schwarzen Hosenbeine berührten fast ihren Rock.

Er drehte den Zylinder an der Krempe und lächelte sie erwartungsvoll an.

Sie wusste nicht, wohin sie blicken sollte. Die Luft vibrierte von Vorahnung und beklommen zupfte sie auf dem Schoß die Häkelspitzen von Sofies Kleid zurecht.

Jakob sprang ans Fenster und drückte seine Nase an die Scheibe. Das Malmen der Räder ging in Rattern über. Der Wagen schaukelte sacht und Sofie fielen die Augen zu.

Der Mann zog den dunklen Mantel aus, faltete ihn korrekt in der Mitte und legte ihn neben sich. Darunter trug er ein schwarzes Wams, an dem eine Silberkette baumelte. Am Hals blitzten zwei weiße Stoffstreifen gestärkt zwischen dem schwarzen Stehkragen hervor. Ohne Zweifel: Vor ihr saß ein protestantischer Pfarrer. Allerdings hatte sie sich den Absender des Briefes anders ausgemalt … kleiner, dickbäuchig, mit gutmütigem Blick. So wie ihr Vater.

Er räusperte sich. „Ich hoffe, Sie hatten eine gute Überfahrt, Frau von Sassnitz.“

„Ja.“ Sie blickte zu Boden und schluckte. „Das heißt eher nein.“ Sie sah auf. „Ich möchte ehrlich mit Ihnen sein, Pastor Hoffmann.“

„Ich schätze Ehrlichkeit.“ Wach und durchdringend ruhten seine Augen auf ihr.

Sie blickte in ein graues Blau, das sie an das Meer erinnerte, in das sie fast vier Monate lang geschaut hatte: Tief und schön – aber unberechenbar. „Ich habe mich wie eine Gefangene gefühlt … in all den Wochen.“

„Und ich habe Sie um diese Reise beneidet! Eine Seefahrt stelle ich mir aufregend vor – das Meer vor Augen, den Wind im Haar!“

Sie lachte bitter. „Frauen haben an Deck nichts zu suchen. Ich saß meist den ganzen Tag mit Sofie im Salon.“

„Aber du hast doch mit dem Kapitän rausgedurft.“ Jakob kletterte auf die Bank.

„Bitte sei leise und setz dich“, flüsterte sie und versuchte, ihn von der Bank zu bewegen. Sie schielte zu dem Fremden hinüber, der ihren Sohn regungslos betrachtete.

„Sie haben wohl jeden Tag an Bord gezählt?“

„Ja, jeden! 102 Tage auf 60 Meter Länge und elf Meter Breite …“

Jakob hopste auf seine Füße. „Wir haben einen Sturm gehabt! Da ist Mutter fast gestorben!“

„War es so gefährlich?“

„Es war nur eine Platzwunde am Kopf“, beschwichtigte sie. „Wir hatten mehrere Stürme, aber Mitte März war es besonders schlimm.“

„Der Kapitän hat uns gerettet!“, rief der Junge dazwischen.

Rebekka schob Jakob mit strengem Blick auf die Bank zurück.

„Der Kapitän?“ Der Pastor krempelte seine weißen Hemdsärmel in exaktem Abstand hoch. „Dieser muffige dunkle Kerl auf dem Schiff, als ich Ihre Kiste geholt habe?“

Sie presste die Lippen zusammen. „Noch einmal danke für Ihre Hilfe. Ich bin froh, dass die Reise vorbei ist.“ Mit der feuchten Hand wischte sie über das Kleid, sodass der Stoff über dem Bauch straff saß. Unauffällig schob sie eine geflickte Stelle unter den Schenkel und gähnte hinter dem Handrücken.

„Müde von der Reise?“ Er blickte sie versonnen an.

„Ich konnte heute Nacht kaum schlafen vor Aufregung.“ Sie spürte Wärme in ihre Wangen steigen.

„Ich gebe zu, mir ging es genauso.“ Ein Lächeln erschien unter dem Schnauzbart. Er kämmte mit den Fingern eine hellbraune Strähne aus der Stirn. Wohlgeordnet von einem Seitenscheitel aus, umrahmte leicht gewelltes Haar sein markantes Gesicht.

Sie wollte den Gedanken nicht zulassen … Er sah gut aus. Er glich den Zeichnungen der Männer im Modekatalog, den sie auf dem Schiff im Salon gefunden hatte. Vor allem der Bart entsprach der Mode – exakt rasierte, schmale Koteletten säumten die Wangenknochen vom Ohr hinab. Ein paar graue Haare lugten an Schläfe und Bart zwischen den hellbraunen hervor. Wie alt er wohl war? Sie wusste nur, dass er Witwer war und Vater von drei Kindern.

„Ihre Kinder – sind die zu Hause?“ Ihr fiel keine bessere Frage ein.

Aus einer dunklen Briefmappe zog er eine Fotografie hervor. „Ja. Hier … das sind meine drei.“

Sie nahm das Bild und schluckte beim Anblick der freudlosen Kindermienen. „Sie haben mir von ihnen geschrieben. Der Große ist sicher Georg.“

„Ja. Ein gehorsamer Knabe. Elf Jahre alt.“

Rebekka legte die Hand auf Jakobs Beine, mit denen er gegen die Holzbank wummerte.

„Das ist Helene. Sie ist sechs.“ Sie erschrak über seine Finger, die ihren Handrücken streiften, als er auf das Mädchen deutete.

„Und das ist Grete – etwas über ein Jahr alt.“ Er zeigte auf ein kleines Mädchen in weißem Kleid zwischen den beiden und seufzte. „Ihre Mutter ist bei der Geburt gestorben. Es ist schwierig mit ihr. Bald wird uns die dritte Amme verlassen, weil sie wieder niederkommt.“

„Das arme Kind!“ Rebekka musterte die feinen Züge der Jüngsten. Sie hatte ein eigenwilliges Näschen und krallte sich an den Ärmel ihrer Schwester. „Meine Familie sehen Sie ja: Jakob ist sieben. Sofie bald zwei.“

„Und Sie?“

Rebekka sog die Luft ein. Diese direkte preußische Art! Daran war sie nicht mehr gewöhnt nach sieben Jahren China. Dort war man stets höflich und zurückhaltend gewesen. „Siebenundzwanzig“, stotterte sie.

Er hob eine Augenbraue. „Wollen Sie auch etwas über mich wissen?“

Sie zögerte. Die Gegenfrage lag ihr auf der Zunge, aber sie wagte es nicht.

Sorgfältig verstaute er derweil die Fotografie im Mantel und faltete ihn wieder exakt in der Mitte. Dann straffte er die Schultern. „Vielleicht wollen Sie wissen, wie hoch meine Einkünfte sind?“

„Sagt das denn etwas über Ihren Charakter aus?“

Er schmunzelte. „Sie überraschen mich. Sonst ist das Frauen bei einer Eheschließung so wichtig.“

Sie schnaubte leise und unterdrückte ein Gähnen.

Er wischte über den Hut, als suchte er ein Staubkorn. „Ich habe nur eine kleine Pfarrei in der Nähe von Berlin – in Grünheide. Aber ich gebe noch Lateinstunden und schreibe im Namen meines Vaters ab und zu Rezensionen.“

Sie winkte ab. „Ich kann Ihnen finanziell nichts bieten, Pastor Hoffmann. In China habe ich alles verschenkt, was wir hatten. Ich habe nur mich – keine Mitgift.“

Er schob den Hut zur Seite. „Ich suche eine Frau, die meinen Glauben teilt. Treue und Aufrichtigkeit sind mir mehr wert als alles andere.“

Hitze durchwallte sie. Sie atmete tief durch, um ihren Magen zu besänftigen, und strich den Rock glatt. „Ich weiß, was von einer Pfarrfrau erwartet wird. Mein Vater war Pfarrer in Vorpommern.“

„Bruder Daniel hat es mir gesagt.“

„Ich bin aber nicht mehr die Pfarrerstochter vom Land, als die er mich gekannt hat. Seit der Ausreise vor acht Jahren ist viel passiert.“ Tränen traten ihr in die Augen, rasch sah sie zur Seite.

Unruhig rutschte er auf der Holzbank hin und her. „In China … Was haben Sie da gemacht?“

„Was man eben als Frau so tut: Haushalt, Kinder, Gäste, in der Klinik helfen, in der Missionsschule unterrichten und die Missionsstation leiten, wenn mein Mann auf Reisen war. Zwei Jahre waren wir allein damit beschäftigt, sie aufzubauen.“

Ihr Blick glitt in die Ferne. Sie sah wieder die grünen Berge von Schantung, roch den Mist der Zugochsen im Hof und hörte den Singsang der chinesischen Stimmen vor der Krankenstation. Vom Tempel in Schaudschu wehte der tiefe Gong über die kleinen Holzhäuser mit den geschwungenen Dächern herüber.

Um sie herum waren die vertrauten Gesichter mit den mandelförmigen Augen und den dunklen glatten Haaren. Die alte Liang fegte wie jeden Morgen gebückt mit einem kniehohen Reisigbesen die Terrasse vor dem Missionshaus. Alles war so angeordnet wie bei jeder Missionsstation der Berliner Mission: rechts die Schule, in der Mitte das Missionshaus, links die Krankenstation – wie ein Dreigestirn.

„Zur Einweihung ist sogar der Mandarin der Provinz Schantung gekommen! Er wollte unbedingt eine Bibel haben.“ Rebekka lächelte. „Wilhelm hat mich und die Kinder ihm vorgestellt. Das war sonst nicht üblich! Der Mandarin hat sogar mit mir gesprochen und wollte ein Foto von uns für seine Frauen. Am Ende hat er mich zu ihnen eingeladen – das war eine hohe Ehre. Wilhelm war ein bisschen neidisch. Aber einen weißen Mann hätten die Chinesen niemals zu ihren Frauen vorgelassen. Nicht einmal ihn als Arzt.“

Rebekka wog Sofies Füßchen in der Hand. „Die Füße dieser vornehmen Frauen in China werden mit Bandagen von Kind an zurückgebunden, sodass sie auf verkrüppelten Füßchen gehen müssen. Schrecklich, finden Sie nicht auch?“

Der Waggon schwankte knarrend in eine Kurve. Sofie schreckte weinend auf und holte Rebekka zurück in das hölzerne Abteil, das in Richtung Berlin ratterte.

„Da scheinen Sie ja gut vorbereitet für das Leben in einem Pfarrhaus.“ Der Pastor zupfte mit undurchdringlicher Miene an der Uhrenkette.

Langweilte sie ihn? Unsicher drehte Rebekka die Kleine auf dem Schoß zu sich und flüsterte ihr ins Ohr, um sie abzulenken.

Friedrich staunte, welche Frische die Frage nach „China“ in die blassen Wangen der schönen Witwe gebracht hatte. Richtig gesprächig war sie geworden. Allerdings war ihm der Schatten dieses Missionsarztes unheimlich – mit so einem Heiligen wollte er sich nicht messen müssen. Besser er vermied das Thema zukünftig.

Sie zog der jammernden Kleinen das Mützchen aus und bot ihr einen Kanten Brot an – doch das Kind schlug nur danach und drückte sein Gesicht energisch in das Kleid der Mutter. Was wollte es nur?

Friedrich bemerkte, dass die junge Frau zu ihm schielte und immer angespannter wirkte. Sie flüsterte Chinesisch mit der Kleinen, dann wieder Deutsch. Sie ließ sie auf den Knien reiten und sang ihr leise ins Ohr. Nichts half gegen die Quengelei.

Er klappte die Uhr auf, nur um der Versuchung zu widerstehen, sein Gegenüber unentwegt anzustarren. Ihr Augenaufschlag, dieses Lächeln … die Röte, die ihr ins Gesicht stieg, wenn sie verlegen war. Selbst die müden Augen und dieses abgetragene schwarze Witwenkleid taten ihrer Schönheit keinen Abbruch.

„Entschuldigen Sie, Herr Pastor Hoffmann …“ Sie zog ihren Wollumhang vom Rücken nach vorne und bedeckte sich damit. „Es geht nicht anders. Ich muss meine Tochter stillen. Sie will wegen der Reise nichts anderes zu sich nehmen.“

Seine Ohren wurden heiß. Wenn bekannt würde, dass er als Pfarrer mit einer fremden Frau in einem Abteil gesessen hatte, die ihr Kleid vorne geöffnet hatte … Gewiss, nur zum Stillen – aber das Gerede der Leute!

Er beeilte sich, im Mantel nach Daniels Zeitung zu suchen. „Ich wollte ohnehin lesen. Fühlen Sie sich frei.“ Er spannte die Altonaer Nachrichten vor sich auf. In ihm pulsierte es. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Nur mühsam überflog er die ersten Schlagzeilen. Doch er konnte sich auf keine einzige Zeile konzentrieren. Hinter der Papierwand hörte er das Kind jammern, dann schmatzte es und augenblickliche Ruhe erfüllte das Abteil.

Friedrich atmete leise auf und blickte hinter der Zeitung aus dem Fenster. Seine Gefühle glichen dem Blütenmeer der Obstbäume, das vor dem Zugfenster in der flachen Landschaft wie ein buntes Band in den Weiten der endlosen Plantagen und Wiesen an ihnen vorüberzog. Er lächelte. Eigentlich war dieses Stillen so natürlich wie alles Erblühende in der Natur. Warum nur störten sich die Leute in der Öffentlichkeit daran? Ihm gefiel, wie der Schöpfer es sich gedacht hatte.

Würde er die Zeitung nur ein klein wenig nach unten …

Er widerstand dem Drang. Langsam wurden jedoch seine Arme schwer und er stützte sich mit den Ellenbogen an den Rippen ab. Wie lange so etwas wohl dauerte? Seine erste Frau hatte nie selbst ein Kind gestillt. Stets hatten ihr die Eltern eine Amme bezahlt. Wohl auch, um ihm zu zeigen, dass seine Besoldung nicht ihren Vorstellungen entsprochen hatte. Aber mit dieser Missionarin würde alles anders werden!

Zwischen dem Rattern der Räder hörte Friedrich regelmäßige Atemzüge. Ob sie etwa …?

Vorsichtig senkte er die Zeitung. Wie ein Dornröschen war sie mit dem Kind auf dem Schoß in der Ecke der Holzbank eingesunken und schlief. Ihre Gesichtszüge waren entspannt. Als ob sie auf den Kuss des Prinzen wartete. Sein Blick glitt über den Bogen ihrer Augenbrauen hin zu ihren Lippen. Er wünschte, er könnte der Prinz sein.

Plötzlich tauchte eine kleine Hand unter dem Wollumhang auf. Der kleine Lockenschopf mit den hellblauen Kulleraugen erschien. Die Kleine war das Abbild ihrer Mutter. Sie begann sich am Wollumhang festzukrallen und daran hochzuziehen. In der nächsten Kurve schwankte sie gefährlich auf dem Schoß. Friedrich schnellte vor und fing das Mädchen auf. Etwas fiel dabei zu Boden.

Unter der Bank entdeckte er einen Brief mit geöffnetem Umschlag. Er bückte sich vorsichtig danach mit dem Kind im Arm. Das Papier war dünn, doch es schien ihm seltsam vertraut. Vorsichtig klappte er das zerlesene Blatt auf. Scharfgestochene Zeilen in seiner eigenen Handschrift blickten ihm entgegen.

Mein Brief! So nah am Herzen hat sie ihn getragen? Wie oft hat sie ihn wohl gelesen?

Vorsichtig legte er das Papier wieder zusammen.

Er hielt die Kleine an den Ärmchen fest, während Sofie auf seinem Schoß turnte und juchzte. Ihre kleinen Zähnchen blitzten hervor. Er fühlte sich unbeholfen, wie immer, wenn er kleinen Kindern ausgeliefert war. Um den Nachwuchs kümmerte er sich erst, wenn man ihm den Katechismus und Latein beibringen konnte.

Jakob hopste neben ihn ans Fenster. Endlose grüne Wälder wechselten mit Feldern, Weiden und Dörfern, in denen sich die Dächer eng aneinanderkauerten. Ab und zu lag ein Gutshof dazwischen, der sein Reetdach tief über die Backsteinmauern breitete. Bauern bestellten mit Pferdegespannen die kahlen Schollen der weiten Ebene.

„Ma!“, rief die Kleine auf seinem Schoß und zeigte hinaus.

„Ma heißt jetzt Pferd“, erklärte Jakob ihr im Lehrerton.

„Gou, gou! Wau, wau“, sagte das Mädchen und deutete wieder durchs Fenster.

„Ja, das ist ein Hund!“ Jakob zupfte an Friedrichs Ärmel. „Weißt du, was die Pferde da haben?“

„Die Egge?“ Friedrich überlegte, ob er das unangemessene „Du“ korrigieren sollte, mit dem das Kind ihn ansprach.

„Egge“, wiederholte der Junge zufrieden. Er begann die Schuhbändel aufzuziehen, streifte die abgetragenen Stiefel ab und schob sie unter die Bank. Sichtlich erleichtert bewegte er die Zehen in den mehrfach gestopften Wollstrümpfen. Mit den abgewetzten Kleidern und den langen Zottelhaaren erinnerte ihn der hagere Kerl an einen Gassenjungen aus den Armenvierteln in Berlin.

Der Zug verlangsamte seine Fahrt. Die Bremsen quietschten und die Lok kam zischend zum Stehen.

„Lu…Was steht da draußen?“ Jakob zeigte auf das Bahnhofschild.

„Ludwigslust. Eine von den fünf Stationen in Richtung Berlin.“

„Mama! Ludwigslust!“, rief Jakob.

Die junge Frau schlug die Augen auf. Die Türen klatschten an den benachbarten Abteilen. Erschrocken blickte sie Friedrich an, als sie ihr Kind auf seinem Schoß entdeckte. Sie räusperte sich und tastete hastig nach den Knöpfen unter dem Wollumhang. Eine tiefe Röte stieg in ihre Wangen. „Das ist mir sehr unangenehm, Herr Pastor Hoffmann.“ Sie nahm ihm Sofie vom Schoß. „Was denken Sie nur von mir?“

„Ich denke, dass Sie etwas müde waren.“ Er zog den Brief hervor. „Ich habe etwas gefunden. Ihre Tochter zog es heraus.“

Sie starrte auf das zerlesene Schreiben.

„Es ist mir eine Ehre, Ihnen mein Heiratsangebot noch einmal persönlich zu überreichen.“ Er streckte ihr den Brief hin.

Stumm griff sie danach.

„Und vielleicht wollen Sie mich Friedrich nennen?“ Er versuchte ein gewinnendes Lächeln.

Sie schob den Umschlag unter eine Rockfalte. „Ganz wie Sie wünschen … Bruder Friedrich.“

Er rollte innerlich die Augen. „Bis wann darf ich auf eine Antwort hoffen?“

Sie öffnete die Lippen, schien aber keine Worte zu finden.

„Ich kann die Kinder und mein Pfarramt nur noch bis morgen allein lassen. Mir wäre es recht, wenn wir möglichst bald ein Aufgebot im Berliner Rathaus …“

Sie atmete scharf ein. „Bruder Friedrich, bitte gestehen Sie mir zu, dass ich wenigstens darüber schlafe. Ich kenne Sie erst ein paar Stunden. Ich muss warten, ob …“ Sie suchte nach Worten.

„Ob?“, fragte Friedrich.

„Ob mir der Herr ein Zeichen gibt. Ich kann Sie nicht aus einer Laune heraus heiraten. Ich muss wissen, ob … es Gottes Ruf ist!“

Friedrich war sprachlos.

„Außerdem habe ich noch eine Bedingung.“

Er hielt die Luft an.

„Falls ich in Ihr Angebot einwillige, verlange ich, dass meine Kinder bei mir bleiben dürfen.“

Er ließ die Luft ausströmen. „Ist das alles? Ich habe auch Kinder, die auf eine Mutter warten.“

„Wollen wir Gott fragen? Ich meine, beten wir?“ Sie blickte ihn unsicher an.

„Jetzt?“ Friedrich schluckte. „Hier?“ Er hatte nie mit seiner Frau gebetet. Wirklich gebetet. Er nickte stumm. Fieberhaft überlegte er einen wohlklingenden Anfang. Doch bevor er ihn fand, öffnete sie schon den Mund. Ihm blieb die Spucke weg. Ob es in der Mission üblich war, dass Frauen zuerst beteten?

Eine Locke fiel ihr vors Gesicht, als sie den Kopf senkte. „Lieber Heiland, bitte zeige uns doch, ob es deine Führung ist, dass …“

Friedrich war bewegt von den einfachen Worten, mit denen sie betete.

Sie schwieg und schielte zu ihm. Nun war er dran.

„Vater unser im Himmel“, begann er zögerlich, „dein Wille geschehe.“ Er zögerte kurz, dann brach es aus ihm heraus: „Und führe uns … nur in diese Ehe, wenn wir uns lieb gewinnen. Amen.“ Er blickte auf und sah in ein überraschtes Gesicht.

An der Waggontür klickte der Eisenhebel. Bruder Daniel schob seine Frau durch die Tür des Abteils. „Na, ihr beiden!“ Er zwängte sich hinterher. „Gibt es Neuigkeiten?“

Friedrich sah, wie sich Rebekka auf der harten Bank verspannte. Ihr Blick fiel auf Jakobs Strümpfe. „Wo sind deine Schuhe?“

„Die tun mir weh!“

„Wir haben keine anderen. Also bitte, zieh sie an.“

„Nein!“ Er stampfte auf.

Stumm legte Friedrich dem Jungen neben sich die Hand auf die Schulter. Jakob fuhr zusammen und sah an ihm hoch. Dann drehte er sich um und griff nach seinen Schuhen.

4

Er wird mich herausführen …

… ans Licht.Micha 7,9

Die letzte Dampfwolke vor dem Zugfenster verflüchtigte sich am frühen Abend im Bahnhof und ließ die Buchstaben auf dem Emaille-Schild über dem Bahnsteig erkennen: Berlin.

Waggontüren schlugen, doch Rebekka rührte sich nicht.

Der Pastor setzte auf dem Bahnsteig den Hut auf und streckte ihr die Hand ins Abteil entgegen. „Wollen wir?“

Zögernd legte Rebekka die Finger hinein. „Ob sich Berlin verändert hat – in acht Jahren?“ Sie raffte das Kleid und balancierte am Waggon das Trittbrett herab.

„Das kommt darauf an, ob Sie als Touristin aus dem Zug steigen oder als jemand, der Arbeit sucht.“

Rebekka zog die Finger aus seiner Hand. „Wie meinen Sie das?“

„Für den Gast hält unsere Kaiserstadt Glanz bereit. Doch der verliert sich im Schatten der Mietskasernen. Besser, Sie verirren sich nicht in die Arbeiterviertel.“

Rebekka zog ihr Umschlagtuch fester um sich. Sie sah schmutzige Arbeiter in abgetragener Kleidung, die sich zwischen Offizieren, einfachen Soldaten, Kammerjungfern, Bürgern in Gehrock und Zylindern sowie Damen mit ausladenden Hüten und nach hinten aufgebauschten Röcken den Weg durch die Menge suchten.

Rebekka streckte Sofie die Arme entgegen, als Friedrich sie ihr aus dem Zug reichte. „Ich fürchte, ich werde auch für unser Auskommen sorgen müssen“, murmelte sie. Eine ärmlich gekleidete Frau zog einen zerlumpten Jungen an ihr vorbei. Rebekka tastete mit der Hand nach Jakob, der neben ihr auf einem Bein hüpfte.

Der Pastor beugte sich vor zu ihr. „Ein Angebot haben Sie ja.“

Sie drehte sich zu ihm um.

Er hob den Zylinder. „Es braucht nur Ihre Einwilligung.“

„Ich weiß es zu schätzen, Bruder Friedrich.“ Ihre Stimme klang heiser. „Aber … geben Sie mir noch etwas Zeit.“

Er hielt ihr die Armbeuge hin. Mit einem leisen Seufzer hakte sie sich ein und ließ sich nachdenklich durch das Gewühl in der Halle und das Gewirr der Droschken auf dem Bahnhofsvorplatz ziehen.

An diesem Arm würde ich zu den Bürgerlichen gehören. Doch der Preis dafür wäre, ihm etwas vorzumachen. Verlange ich nicht von Jakob, ehrlich zu sein? Sie biss sich auf die Lippen und fuhr über den Rockbund. Vielleicht könnte sie ja mit eigenen Händen für sich und die Kinder sorgen?

Der Missionssekretär winkte sie zu einem riesigen dunkelgrünen Kastenwagen, vor dem ein Doppelgespann Pferde auf den Pflastersteinen scharrte.

„Die Seekiste lassen wir mit der Gepäckdroschke liefern. Wir nehmen hier den Pferdeomnibus!“ Bruder Daniel zeigte auf das Schild über dem weißen Fensterrahmen mit der Aufschrift: „Friedrichstraße – Unter den Linden – Alexanderplatz“.

Er schob Marta mit Sofie und Jakob die Stufen zur Plattform am Ende der Kutsche hoch, wo eine Tür ins Innere des Wagens führte. „Du gehst hoch, Bruder Friedrich!“

Der Pfarrer schwang sich die Eisenleiter nach oben, wo auf dem Dach hinter dem Kutscher bereits vier Männer Rücken an Rücken auf einer Bank saßen.

Rebekka war erleichtert, dass sie sich nicht neben ihn in den engen Fahrgastraum quetschen musste. Doch beim ersten Schritt in die stickige Kabine war ihr klar, dass sie es hier nicht lange aushalten würde. Mit knarzenden Rädern schaukelte die Kutsche an. Schnell trat Rebekka zurück auf die Plattform vor der Tür und klammerte sich an das Eisengeländer.

„Schauen Sie an den Horizont“, hatte Pierrot zu Beginn der Seereise zu ihr gesagt, als sie seekrank geworden war. Sie suchte mit den Augen die Linie am grauen Himmel über der Stadt. Seekrank! Wenn das nur der Grund aller Übelkeit wäre …

„Und, hat sich Berlin verändert?“

Rebekka traute ihren Augen nicht. Der Pastor kletterte von der schwankenden Leiter herab und schob sich neben sie ans Geländer.

Sie starrte konzentriert auf den Straßenzug. „Ist das nicht die Friedrichstraße?“ Sie erkannte die mehrstöckigen prächtigen Häuserzüge wieder, die sich nahtlos aneinanderreihten. Verspielte Gauben grüßten von den Dächern, in der Mitte der Häuser prangten die hohen Fenster der Beletagen, umrahmt von aufwendigen Gesimsen, Stuckfiguren und zahllosen Reklametafeln. Am Straßenrand warteten Menschen, die versuchten, im Strom von Droschken, Wagen und Gespannen heil über die Straße zu kommen.

„Ist Berlin überall so?“ Rebekka zeigte mit dem Kinn auf die Kneipen, Destillen und Nachtlokale, vor denen Frauen standen und mit rauchenden und angetrunkenen Männern schäkerten.

Er schüttelte den Kopf. „Die Berliner sagen, die Friedrichstraße sei die Saufstraße. Unter den Linden ist die Laufstraße – und die Leipziger Straße wird die Kaufstraße. Warten Sie ab, bis Sie dort die Auslagen sehen!“

„Sie kennen sich aber aus!“

„Ich bin ja auch hier aufgewachsen.“

Der Pferdeomnibus bog links in die Berliner Prachtstraße Unter den Linden ein. Rebekka war geblendet vom Anblick der hell glänzenden Fassaden, der breiten Treppen, Denkmäler, Säulen und Statuen überall. Ja, sie erinnerte sich! Sie lehnte sich weit über die Brüstung hinaus, um vor der Kutsche die Universität zu erspähen, die Staatsoper, die Königswache … vielleicht sogar die Kuppel des Stadtschlosses mit der goldenen Aufschrift!

„Fallen Sie nicht über die Reling!“ Besorgt legte ihr der Pastor die Hand auf die Schulter. „Da unten ist kein Wasser zum Schwimmen.“

Sie fuhr zurück. „Ich kann nicht schwimmen. Aber die vielen Menschen hier …“

„Immer mehr ziehen nach Berlin. Die Stadt wächst und wächst.“

„Und alle haben Zeit zu flanieren?“

Er lachte. „Sie müssten erst einmal die Wachablösung sehen! Da marschieren nicht nur Unmengen von Soldaten auf – da ist ganz Berlin auf den Beinen! Manchmal ist sogar der Kaiser dabei.“

„Den Kaiser haben Sie schon gesehen?“

„Wohl mehr als mir lieb war.“ Er blickte düster an den Linden entlang den Boulevard zurück.

„Sie haben gedient?“

„Fünfte Kavallerie-Division.“

„Im Krieg gegen Frankreich?“

Er nickte schweigend.

In der Ferne erspähte Rebekka eine Figur im Streitwagen mit vier Pferden davor. „Das Brandenburger Tor!“ Freudig zeigte sie auf ihre Entdeckung.

Sie spürte, dass er hinter ihr stand und ihr über die Schulter blickte. Beklommenheit beschlich sie, so wie damals auf dem Schiff, als sie sich trotz des Verbots an die frische Luft gewagt hatte …

Vier Wochen auf See

„Was tun Sie an Deck, Frau von Sassnitz?“