Wer bist du, schöne Fremde? - Laurie Paige - E-Book

Wer bist du, schöne Fremde? E-Book

Laurie Paige

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Beschreibung

Die verführerisch schöne Honey stellt Zack Dalton vor ein Rätsel. Wer ist sie wirklich, wenn sie nicht – wie anfangs gedacht – seine lang verschollene Cousine ist? Er weiß nur eins: Seit er sie aus Las Vegas mit zu sich genommen hat, verzehrt er sich mit jedem Tag mehr nach ihr …

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Seitenzahl: 180

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IMPRESSUM

Wer bist du, schöne Fremde? erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2003 by Olivia M. Hall Originaltitel: „SHOWDOWN!“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA EXTRA, Band 57 Übersetzung: Patrick Hansen

Umschlagsmotive: Soft_Light, Veronika Zimina / Getty Images

Veröffentlicht im ePub Format in 10/2022

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751520621

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

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1. KAPITEL

„Letzter Versuch“, versprach Zack Dalton seiner imaginären Glücksgöttin, obwohl er nicht viel Hoffnung hatte, dass sie es sich anders überlegte.

Auch was Frauen betraf, war die Göttin ihm in letzter Zeit nicht gerade freundlich gesinnt gewesen. Der bittere Nachgeschmack auf seiner Zunge erinnerte ihn an guten Wein, der sauer geworden war. Er ignorierte ihn. Ebenso wie den Stich ins Herz, der ihn begleitete. Sein Herz – das hatte er einer Frau anvertraut und es letzten Sommer zurückerhalten, nachdem seine Verlobte Angehörige in Denver besucht, dort irgendeinen reichen Typen kennengelernt und ihn auf der Stelle geheiratet hatte.

So viel zu Vertrauen, Treue und wahrer Liebe.

Zacks Onkel Nick sagte immer, dass man aus allem das Beste machen sollte. So gesehen war er wahrscheinlich noch gut davongekommen. Herz und Stolz waren lädiert, aber reparabel.

Er fütterte den Automaten mit seinem letzten Vierteldollar und starrte auf die Walzen, bis sie zum Stillstand kamen. Nichts. Okay, also war es ihm nicht bestimmt, reich zu werden. Und das hatte vermutlich seine guten Gründe, philosophierte er und schmunzelte über seinen Galgenhumor.

Zack schaute auf die Uhr. Mitternacht. Dass er an einem Spielautomaten saß, hatte einen einfachen Grund: Las Vegas war wirklich eine Stadt, die nie schlief, und auch ihn ließ sie kein Auge zutun. Zu viele Lichter, zu viele Menschen, zu viel Lärm rund um die Uhr.

Er hatte seinen Job hier erledigt und konnte sich morgen auf den Heimweg machen. Vielleicht sollte er sich vorher etwas ausruhen. Vorausgesetzt, er fand den Fahrstuhl, der ihn vom Kasino zu seinem Zimmer brachte, das hoch über dem Neonglitzern des berühmten Strips lag. Zack sah sich um und suchte nach einem Hinweisschild.

„Sie haben eine Münze fallen gelassen“, sagte eine höfliche, sehr weibliche und sehr sanfte Stimme hinter seiner linken Schulter.

Er drehte sich auf dem Hocker um und blickte in zwei Augen mit so langen falschen Wimpern, dass er sich fragte, wie die Kellnerin es schaffte, die Lider zu heben. Die Wimpern warfen dunkle Schatten, sodass er ihre Augenfarbe nicht erkennen konnte. Der Rest ihres Make-ups war ebenso übertrieben; sie verdankte ihm offensichtlich künstliche Bräune und rosige Wangen. Ihr blondes Haar hatte dunkle Ansätze.

Obwohl er eher auf natürliche Frauen stand, weckte der Schönheitsfleck an ihrem Mundwinkel sein Interesse. Dieser und ihr voller, weicher Mund mit dick aufgetragenem Lippenstift ließen sie überraschend verletzlich wirken.

Noch überraschender war sein plötzliches Bedürfnis, sie zu berühren, als müsste er sich davon überzeugen, dass sie wirklich existierte. Hinzu kam der genauso starke Wunsch, sie zu küssen.

Wow! So viel Bier hatte er doch gar nicht getrunken. Jedenfalls nahm er das an.

„Sir?“, sagte sie mit der sanften Stimme, die überhaupt nicht zu ihrer verlebten Erscheinung passte.

Er nahm den Vierteldollar, schob ihn in den Schlitz und drückte auf die Taste, während er beobachtete, wie sie einem Mann drei Automaten weiter einen Drink servierte. Ihr provokant geschnittenes Outfit ließ reichlich Haut frei. Sie hatte glatte Schultern und eine schmale Taille, schlanke Hüften und feste Oberschenkel in einer Netzstrumpfhose.

Er nahm sich einen Moment, um die Beine zu bewundern.

Eine Glocke ertönte, und Münzen fielen mit lautem Klirren in den Ausgabeschacht. Andere Spieler starrten ihn an, einige neidisch, manche lächelnd. Mit gerunzelter Stirn schaute er auf das Gerät. Als er sich wieder umdrehte, war die Kellnerin verschwunden.

Über der Ausgabe blinkte eine Zahl. Sein Gehirn war wie in Watte gehüllt, als er versuchte, sechshundert durch vier zu teilen und seinen Gewinn zu errechnen.

„Junge, Junge, hundertfünfzig Scheine“, half der Mann zu seiner Linken ihm auf die Sprünge. „Nicht schlecht für zwei Stunden Arbeit, was?“

Angesichts der Tatsache, dass er einen entflohenen Häftling aus Idaho nach Vegas zurückgebracht hatte, war das wirklich ein angenehmer Bonus. Die Deputies hatten am Montag ausgelost, wer den Auftrag übernehmen sollte, und er hatte gewonnen. Oder verloren, je nachdem, wie man es betrachtete.

Aber jetzt hatte er eindeutig gewonnen, und deshalb schuldete er der Kellnerin ein großes Trinkgeld. Als er aufstand, drängten sich vier fröhliche Paare an ihm vorbei. Ein Mann stieß gegen seinen Arm. Sechshundert Vierteldollarmünzen landeten auf dem Fußboden.

„Ups, Entschuldigung“, sagte der Fremde, ohne es zu meinen. „Hey, toller Gewinn.“

Fünf Minuten lang herrschte Chaos, während die acht Touristen seine Münzen aufsammelten und zurück in den Eimer warfen. Irgendwie erinnerten sie ihn an die Hühner, die sein Onkel Nick auf der Seven Devils Ranch hielt.

Geduldig wartete er, bis die lärmenden Pärchen fertig waren und davongingen. Als er zur Seite blickte, befand sich ein reizvoller Po direkt vor ihm. Die Kellnerin kniete vor den gegenüberliegenden Automaten und holte Münzen darunter hervor.

Zacks Augen wurden erst groß, dann schmal, als er auf ihren linken Oberschenkel unterhalb des knappen, eng sitzenden Kostüms starrte. Er machte drei Schritte und bückte sich, als würde er ebenfalls nach Vierteldollars suchen. Aus der Position konnte er sehen, wo der Oberschenkel in eine hinreißende Hüfte überging.

Ja, unter dem Netz war eine Narbe zu erkennen. Er ging in die Hocke. Die Narbe war gezackt, mit drei Spitzen. Ihm stockte der Atem, während sein Puls sich beschleunigte.

„Meine Güte“, murmelte er blinzelnd. Heute Abend hatte er wirklich unglaubliches Glück. Er hob eine Hand und strich mit einem Finger über …

Die Kellnerin schrie auf und richtete sich ruckartig auf.

„Finger weg, Buddy“, befahl ein Mann vom Sicherheitsdienst, packte ihn am Kragen und zog ihn unsanft hoch. Sein Partner stand neben ihm und ließ Zack nicht aus den Augen.

„Alles gut“, versicherte Zack dem Mann. „Sie ist meine Cousine.“

Der Wachmann sah die Kellnerin an.

„Ich habe ihn noch nie im Leben gesehen“, versicherte sie schockiert und wich zurück.

„Das stimmt, aber ich kenne dich“, erklärte Zack so ruhig wie möglich. „Die Narbe an deinem … Po ist ein eindeutiges Erkennungszeichen.“

„Wir kümmern uns um ihn“, sagte der Wachmann zu ihr.

Sie verschwand in der Menge, während Zack festgehalten und verhört wurde. „Wohnen Sie in diesem Hotel?“, fragte der ältere.

„Ja.“

„Brauchen Sie Hilfe, um Ihr Zimmer zu finden?“

„Ich will nicht auf mein Zimmer“, entgegnete Zack. „Ich habe Onkel Nicks Tochter gefunden und muss sie jetzt nach Hause bringen. Auf die Ranch“, fügte er vorsichtshalber hinzu. „Seven Devils Mountain. Idaho.“

„A-Zelle“, sagte einer der beiden.

„Richtig. Soll ich den Bericht schreiben?“, fragte der andere. „Es ist Freitag. Du hast heute Abend früher frei.“

Der erste Mann seufzte. „Ich erledige das, bevor ich verschwinde.“

Zack begriff, dass Protest sinnlos war, als sie ihn in einen Raum am Ende eines schmalen Korridors führten. Plötzlich musste er an mögliche Schlagzeilen denken: Auswärtiger Cop in Kasino festgenommen, nachdem er eine Frau …

Der Rest des Gedankens ging verloren, als die Tür hinter ihm knallte und verriegelt wurde. Zwei Dinge wurden ihm klar. Erstens, die A-Zelle war ein Ort, an dem betrunkene Gäste ihren Rausch ausschliefen. Zweitens, die Wachleute glaubten, dass er in die Ausnüchterungszelle gehörte. Offenbar hatte er die Situation nicht gut genug erklärt.

Ein Ledersofa und ein Sessel waren die einzigen Möbel hier. Er setzte sich, den Eimer mit den Vierteldollars noch in der Hand.

Eins fiel ihm sofort auf: Es war still hier drin. Kein Verkehr. Keine Sirenen. Kein Gelächter oder fremde Stimmen vor seiner Schlafzimmertür. Einfach nur herrliche Stille.

Er gähnte. Seit vier Tagen hatte er keine Nacht mehr durchgeschlafen.

Hannah „Honey“ Carrington beendete ihre Schicht um zwei Uhr morgens. Sie gab ihr Bargeld ab und ging in den Umkleideraum. Sie verstaute die Geldschürze in einem Regal, wechselte die Schuhe und zog ein Shirt und einen langen Rock über ihrer Arbeitskleidung an. Dann schnappte sie sich ihre Handtasche und eilte hinaus.

„Hey, Bert“, sagte sie zu dem Mann vom Sicherheitsdienst, der auch gerade Feierabend machte.

„Hey, Honey.“

„Sag mal, was ist aus dem Typen geworden?“, fragte sie. „Der Kerl, der behauptet hat, er sei mein Cousin.“ Sie hatte sich im Kasino schon so manchen Spruch anhören müssen, aber der hier war neu.

Bert runzelte die Stirn. „Keine Ahnung. Bill hat sich darum gekümmert.“ Plötzlich sah er besorgt aus. „Oh.“

„Was?“

„Bill ist vorhin noch angerufen worden. Seine Frau bekommt ein Baby. Deshalb wollte er auch früher gehen. Ich kann nur hoffen …“ Er brach ab und eilte davon.

Obwohl Honeys Instinkt ihr riet, sich nicht einzumischen, folgte sie ihm. Der große, schlaksige Fremde war höflich zu ihr gewesen. Er sah gut aus, und sie fand ihn interessant. Er hatte eine belustigte Gelassenheit an sich – als würde er über die Unwägbarkeiten des Lebens lachen.

Dann hatte er gesagt, sie sei seine Cousine. Das hatte ihr Misstrauen geweckt und sie daran erinnert, dass sie Menschen gegenüber vorsichtiger sein musste.

Als Bert die Zelle entriegelte, ging sie mit ihm hinein. Ein leises Schnarchen begrüßte sie.

Der Fremde lag auf dem Sofa und schlief fest, der Eimer mit den Münzen stand auf seinem Bauch und hob und senkte sich bei jedem Atemzug.

„Wenigstens klettert er nicht die Wände hoch“, murmelte Bert. „Sir? Sir?“, rief er. „Zeit zu gehen. Aufstehen.“

Der Fremde erwachte, hielt den Eimer fest und setzte sich auf. „Was ist los?“

„Sie können gehen“, erwiderte Bert. „Wissen Sie, wo Sie wohnen?“

„Klar. Hier. Zimmer zweitausendacht.“ Er zog die Schlüsselkarte heraus.

„Gut. Zum Fahrstuhl geht es hier entlang.“

Der Fremde bemerkte sie erst jetzt und lächelte erfreut. Seine Augen waren blau, das Haar war dunkel, etwas zu lang und auf verlockende Weise zerzaust. Sie spürte eine ungewohnte Anspannung, als er sie ansah.

„Hi, Cousine.“

„Tut mir leid, ich bin nicht Ihre Cousine.“

Der Mann strahlte eine angenehme Offenheit und Selbstsicherheit aus, als wüsste er, wohin er gehörte, und wäre damit zufrieden. Irgendwie beneidete sie ihn darum. Einen Moment lang schwebten die gewohnte Verzweiflung und Verletzlichkeit über ihr.

Sie fühlte sich ganz allein auf der Welt. Arme Kleine, verspottete sie sich. Sie hatte eine Tante und eine Cousine, die ihr zwar nicht nahestanden, aber immerhin gab es sie. Sie hatte einen Bruder, wusste aber nicht, wo er war oder ob er tot oder lebendig war. Als Undercover-Agent beim FBI hatte er einen Beruf, der ihn oft in Gefahr brachte und daran hinderte, mit ihr in Kontakt zu bleiben. Sie hatte gelernt, sich nur auf sich selbst zu verlassen.

„Sie haben die Narbe“, sagte der Fremde.

Die Haut an ihrem Oberschenkel kribbelte. „Die hatte ich schon als Kind.“

„Ich weiß. Seit Sie drei waren.“

Honey starrte ihn an. Woher wusste er das?

„Zeit zu gehen“, warf Bert ein und ging zur Tür. „Schaffen Sie es allein auf Ihr Zimmer?“

„Ja, danke.“ Der Fremde sah sie wieder an. „Haben Sie jetzt frei?“

Sie nickte.

„Das ist gut. Wir müssen reden.“ Er zog die Stiefel an, erhob sich geschmeidig und überragte Bert um gute zehn Zentimeter. „Wie wäre es mit etwas zu essen? Ihr Freund kann mitkommen.“ Er zeigte auf den Wachmann.

„Ich fahre nach Hause“, sagte Bert.

„Ich auch.“ Sie ging zur Tür.

Der Fremde runzelte die Stirn und zog eine Brieftasche aus der Gesäßtasche. Zu ihrer Überraschung zeigte er ihnen eine Polizeimarke. „Zackary Nicholas Dalton“, stellte er sich vor.

Bert betrachtete die Marke. „Sie sind Deputy Sheriff? Aus Idaho?“

„Richtig. Ich war dienstlich hier und wollte mich heute Morgen auf den Heimweg machen.“ Er wandte sich ihr zu. „Aber vorher muss ich mit Ihnen reden. Es ist wichtig.“

Honey schüttelte den Kopf. „Ich bin hundemüde. Und ich bin nicht Ihre Cousine.“

„Sie könnten es sein. Erinnern Sie sich, wo Sie geboren wurden? Oder wer Ihre Eltern waren?“

Sie zögerte. Adam und sie waren Waisen geworden, als sie drei und ihr Bruder dreizehn gewesen waren. Ihr Vater war bei einer Schießerei in einer Bar ohne eigene Schuld getötet worden. Er und ein Freund waren zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Zwei Jahre später war ihre Mutter an einer seltenen Lungenentzündung gestorben, gegen die Antibiotika nicht halfen.

„Also?“, drängte der Gesetzeshüter.

„Natürlich weiß ich das.“

„Sind sie am Leben?“

Die Frage verblüffte sie. Ihre Blicke trafen sich.

„Aha.“ Er deutete ihr Schweigen richtig. „Sind sie nicht.“

„Das … muss nichts bedeuten.“

„Erinnern Sie sich an sie?“, beharrte der Deputy.

„An meinen Vater nicht, aber an meine Mutter“, erwiderte sie, als er sie skeptisch musterte. „Ein paar Dinge jedenfalls.“

„Wie alt waren Sie, als sie starb?“

Honey hätte fast geantwortet, beherrschte sich aber gerade noch. Ihre Vergangenheit ging diesen Mann nichts an.

Bert wedelte ungeduldige mit der Hand. „Gehen wir.“ Er schob sie aus der Zelle, knallte die Tür zu und warf Honey einen unsicheren Blick zu.

„Fahren Sie nach Hause“, sagte sie zu ihm. „Ich komme klar.“

„Wo können wir reden?“, fragte der Deputy aus Idaho und hielt sie mit einer Hand zurück.

„Gar nicht.“ Sie eilte hinter dem Wachmann her. „Lassen Sie mich in Ruhe, oder ich rufe wieder den Sicherheitsdienst.“

„Hören Sie, ich weiß, es klingt seltsam, aber meine Cousine hat wirklich eine dreizackige Narbe am Bein. Sie ist mit drei Jahren in Glasscherben gefallen. Ein paar Monate später wurde sie vom Ort eines Verkehrsunfalls weggebracht. Das war kurz vor ihrem vierten Geburtstag.“

„Weggebracht?“

„Entführt. Ihre Mutter ist bei dem Unfall an einer einsamen Stelle des Highways ums Leben gekommen. Irgendein Perverser hat sich das Kind geschnappt.“

Entsetzt starrte Honey ihn an. „Wie lange ist das her?“

„Zweiundzwanzig Jahre. Tink wird jetzt sechsundzwanzig. Wie alt sind Sie?“

Panik erfasste sie, als wäre sie tatsächlich die verschwundene Cousine und ihre Vergangenheit eine Lüge. Sie schüttelte den Gedanken ab. „Fünfundzwanzig, aber ich bin nicht die Person, die Sie suchen.“ Sie hörte die Verzweiflung in ihrer Stimme. Ihre Leben war auch ohne diesen Mann kompliziert genug. „Ich bin es nicht. Wirklich nicht. Es kann nicht sein.“

„Onkel Nick hatte einen Herzinfarkt“, sagte der Deputy betrübt. „Als er bewusstlos war, hat er dauernd etwas von Tink gemurmelt. Die Familie – ich habe zwei Brüder und drei Cousins – hat beschlossen, sie zu finden. Sind Sie sich ganz sicher?“

„Ja. Das mit Ihrem Onkel tut mir leid.“

„Ja, er ist der Größte. Er hat sechs Waisen zu sich genommen und uns als seine eigenen Kinder aufgezogen. Selbst nachdem er seine Frau und sein Kind verloren hatte, hat er uns nie im Stich gelassen, kein einziges Mal.“

Seine Geschichte glich ihrer, war aber doch ganz anders. Als Waisen hatten Adam und sie bei ihrer einzigen Angehörigen gelebt, einer Tante, die sie nie gewollt und sie es nie hatte vergessen lassen. Honey seufzte.

„Es tut mir wirklich leid, aber ich muss los.“ Sie eilte davon.

In ihrem Einzimmerapartment zog sie sich zum Schlafengehen um. Stundenlang auf Stiletto-Absätzen herumzulaufen war extrem ermüdend. Sie hasste den Rauch und Lärm des Kasinos. Im Moment gab es in ihrem Leben sehr wenig, das sie genießen konnte.

Aus irgendeinem Grund musste sie an den attraktiven Polizisten denken – an sein selbstsicheres Lächeln, den Humor in seinen Augen, die Liebe zu seinem Onkel. Sie spürte, dass er ein zutiefst anständiger Mensch war, genau wie ihr Bruder …

Plötzlich kamen ihr die Tränen. Du meine Güte, der Deputy mit den himmlischen Augen hatte sie wirklich aus der Fassung gebracht.

Na ja, auch das ging vorbei. Sie weinte so gut wie nie. Weder Tränen noch Wünsche hatten an ihrem Leben etwas geändert.

Sie putzte sich die Zähne, holte den Laptop heraus und checkte ihre E-Mails.

Sie hielt den Atem an, als sie die verschlüsselte Nachricht von ihrem Bruder sah. Hastig öffnete sie die Mail, die wie die Ankündigung eines Schlussverkaufs wirkte. Datum und Uhrzeit des Beginns waren der Zeitpunkt, zu dem er sie anrufen würde. Dass er so mit ihr in Verbindung trat, bedeutete, dass sein Undercover-Einsatz äußerst gefährlich war.

Auch für sie.

Doch egal, was passierte, sie würde auf keinen Fall in ein „sicheres“ Haus zurückkehren. Dort hatte sie gelebt, bevor sie aus L. A. fortgegangen war. Sie hatte sich wie im Gefängnis gefühlt – keine Besucher, keine Anrufe, kein Schritt vor die Tür.

Nein danke.

Die Lieblingsstrafe ihrer Tante war gewesen, sie und Adam stundenlang ins Schlafzimmer zu sperren. Als Kind hatte Honey oft Angst gehabt, vergessen zu werden. Adam hatte gesagt, dass sie tapfer sein mussten, also hatte sie gelernt, ihre Furcht zu verbergen. Aber es war schrecklich gewesen.

Sie schloss die Augen, als das alte Gefühl in ihr aufstieg, Nach einem Moment schüttelte sie die Verzweiflung ab. Adam konnte auf sich aufpassen. Sie konnte es auch. Niemand würde die wasserstoffblonde Kellnerin mit der wahren Hannah Smith in Verbindung bringen.

Nein! Sie durfte sich nicht als Hannah Smith sehen. Sie hatte einen falschen Namen und eine falsche Identität. Bis auf Weiteres war sie Honey Carrington.

Der Deputy wartete am Personaleingang, als Honey am nächsten Abend um sechs zur Arbeit kam. Sie zögerte, als sie ihn sah, und dachte an einen Film über einen Stalker, den sie neulich im Fernsehen gesehen hatte.

„Keine Angst“, sagte er lächelnd und hob die Hände. „Ich bin harmlos. Können wir reden?“

„Ich dachte, Sie sind auf dem Weg nach Hause.“

Er schloss sich ihr an. „Haben Sie Zeit für einen Kaffee?“

Unentschlossen rang sie die Hände. Ihr Bruder hatte angerufen. Er wollte sie in einem sicheren Haus an der Ostküste unterbringen. Sie hatte sich geweigert. Er war wütend auf sie gewesen.

Vor einem Monat war seine Tarnung aufgeflogen. Deshalb hatte sie ihren Job bei der Tanztruppe, mit der sie im Theater des Kasinos auftreten sollte, aufgeben und als Kellnerin anfangen müssen.

Im Gefolge eines riesigen Skandals war das FBI vom Chef der Abteilung für interne Ermittlungen bei der Polizei von Los Angeles um Hilfe gebeten worden. Daraufhin war ihr Bruder in einen Ring krimineller Polizisten eingeschleust worden. Die Bande hatte von Honeys Existenz erfahren und wollte sie benutzen, um Adam zu enttarnen. Er hatte sie mehrfach davor gewarnt, was passieren würde, wenn sie einen von ihnen aufspürten.

Natürlich würde sie alles tun, um ihren Bruder zu schützen. Der Fremde war Polizist, aber ohne jede Verbindung zum verbrecherischen Milieu in Los Angeles. Er bot ihr die optimale Chance, ihr Problem zu lösen. Sollte sie sie ergreifen?

Sie hatte Adam ins Vertrauen gezogen, und er fand, sie sollte es tun. Er hatte den Deputy überprüft und festgestellt, dass er sauber war. Vor einer Stunde hatte er ihr erzählt, dass die Daltons eine angesehene Familie waren, die seit Generationen als Rancher in Idaho lebte.

Wenn sie sich nicht unter den Schutz des FBI stellen wollte, musste sie an einen Ort gehen, wo niemand sie so leicht finden würde. Wer, so hatte er gefragt, würde auf die Idee kommen, in Idaho nach ihr zu suchen?

„Ja, ich habe ein paar Minuten“, sagte sie, um die schwierige Entscheidung noch etwas hinauszuschieben.

„Wissen Sie, wo der Coffeeshop ist? Ich laufe hier immer nur im Kreis.“

Sie lächelte. „Das ist Absicht. Sie müssen immer an den Automaten und Spieltischen vorbei, um irgendwohin zu gelangen.“ Sie steuerte das Café an. „Erzählen Sie mir von Ihrer Cousine“, bat sie, als sie saßen.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie ist mit dreieinhalb nach einem Autounfall verschwunden, bei dem ihre Mutter getötet wurde. Als Hilfe eintraf, war Tink nirgendwo zu sehen.“

„Vielleicht ist sie einfach losgelaufen und hat sich verirrt“, sagte Honey.

Er zuckte mit den Schultern. „Wir wissen, dass noch jemand am Unfallort war. Die Polizei hat Reifenspuren und Stiefelabdrücke gefunden, direkt daneben die Abdrücke von Kinderschuhen. Ein Mann in einem Pick-up wurde an jenem Morgen an einer Tankstelle gesehen. Der Wagen hatte ein Kennzeichen aus Kalifornien. Woher haben Sie die Narbe an Ihrem Bein?“

Der abrupte Themenwechsel ließ Honey blinzeln. „Meine Tante hat erzählt, dass mein Cousin mich geschubst hat und ich auf eine zerbrochene Flasche gefallen bin.“

„Ihre Tante?“

Honey nickte, mit den Gedanken noch immer bei dem kleinen Mädchen, das verschwunden war. Sie wusste, wie es sich anfühlte, allein und verlassen zu sein.

„Was ist mit Ihren Eltern?“ Er beugte sich vor.

„Sie sind gestorben.“

„Wie? Wann?“

„Mein Vater wurde als Unbeteiligter in einer Bar erschossen. Meine Mutter wurde ein paar Jahre später krank. Das ist alles lange her“, sagte sie, um Nachfragen abzuwehren. „Ich war fast vier und weiß nur noch, dass meine Mutter ins Krankenhaus kam und nie zurückgekehrt ist.“

„Die Frau, die sagte, sie sei Ihre Tante …“

„Sie ist meine Tante.“

„Hat sie Kinder?“

„Einen Sohn. Er ist sechs Jahre älter als ich. Nach ihm konnte Tante May keine Kinder mehr bekommen.“

„Hmm.“

„Was denn?“

„Vielleicht wollte sie trotzdem noch ein Kind, ein kleines Mädchen, um die Familie zu komplettieren. Was ist, wenn sie dafür bezahlt hat?“

Honey verzog keine Miene. Ihre Tante hatte es gehasst, sie und ihren Bruder im Haus zu haben. Sie hatte kein Geld für sie ausgeben wollen, obwohl sie jeden Monat einen Scheck vom Jugendamt bekam, um für die beiden Waisen zu sorgen.