Wer mit den Toten spricht - A. K. Turner - E-Book
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Wer mit den Toten spricht E-Book

A. K. Turner

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Beschreibung

Keine Lüge hat Bestand, wenn die Toten sprechen! Die toughe Expertin der Gerichtsmedizin, Cassie Raven, löst ihren 2. Fall: »Wer mit den Toten spricht« ist der 2. Teil der außergewöhnlichen Forensik-Thriller-Reihe »Raven & Flyte ermitteln« aus England.   Cassie Raven, Assistentin der Rechtsmedizin mit einer Vorliebe für Piercings und Tattoos, ist für gewöhnlich hart im Nehmen. Als ihre geliebte Großmutter ihr jedoch gesteht, sie jahrelang über den Tod ihrer Eltern belogen zu haben, ist Cassie tief erschüttert. Denn es gab nie einen tödlichen Autounfall, als sie noch klein war – stattdessen wurde ihr Vater für den brutalen Mord an ihrer Mutter verurteilt und saß 17 Jahre im Gefängnis. Mithilfe von DS Phyllida Flyte - ihrer Beinahe-Freundin -  stellt Cassie Recherchen an, die jedoch immer mehr Fragen aufwerfen. Dann taucht ihr plötzlich bei Cassie auf und behauptet unschuldig zu sein. Nur die Toten können die ganze erschütternde Wahrheit enthüllen.... Auch in ihrem 2. Forensik-Thriller verbindet A. K. Turner hoch spannendes Insiderwissen aus der Pathologie mit faszinierenden Protagonisten. Ihren ersten Fall lösen Cassie Raven, ihre eigenwillige polnische Großmutter und die leicht zwanghafte Phyllida Flyte im Thriller »Tote schweigen nie«.  

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Seitenzahl: 454

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A. K. Turner

Wer mit den Toten spricht

ThrillerEin Fall für die Rechtsmedizin.Cassie Raven ermittelt

Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Jung, gothic, intuitiv – Cassie Raven ist der heimliche Star der Gerichtsmedizin!

Cassie Raven, Expertin der Gerichtsmedizin mit einer Vorliebe für Piercings und Tattoos, ist für gewöhnlich hart im Nehmen. Als ihre Großmutter ihr jedoch gesteht, sie über den Tod ihrer Eltern belogen zu haben, ist sie tief erschüttert. Es gab gar keinen tödlichen Autounfall, als sie noch klein war – stattdessen wurde ihr Vater für den Mord an ihrer Mutter verurteilt und saß siebzehn Jahre lang im Gefängnis.

Mithilfe von DS Phyllida Flyte stellt Cassie Recherchen an, die jedoch immer mehr Fragen aufwerfen. Dann taucht ihr Vater plötzlich auf und behauptet, unschuldig zu sein. Nur die Toten können die ganze erschütternde Wahrheit enthüllen…

»Cassie Raven, Assistentin der Rechtsmedizin in London, kommt, um zu bleiben. Starker Serienauftakt, der mit forensischem Wissen punktet.« Emotion zu Tote schweigen nie

 

»Eine toughe, bezaubernd skurrile Protagonistin auf Tuchfühlung mit den Toten.« BÜCHERmagazin über Tote schweigen nie

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

FLYTE

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

FLYTE

14. Kapitel

15. Kapitel

FLYTE

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

FLYTE

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

FLYTE

28. Kapitel

FLYTE

29. Kapitel

30. Kapitel

FLYTE

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

FLYTE

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

FLYTE

38. Kapitel

FLYTE

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

FLYTE

42. Kapitel

FLYTE

43. Kapitel

FLYTE

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

Danksagung

Für Philip

1. Kapitel

»Er war immer so ein fröhlicher kleiner Junge.«

Bradleys Mutter sah Cassie direkt ins Gesicht, doch ihre Pupillen waren groß und ohne Fokus – mit den Gedanken war sie meilenweit weg.

»Seine Lehrerin in der ersten Klasse hat ihn immer Sonnenschein genannt«, fügte sie hinzu, und das plötzliche Lächeln verlieh ihren tränenverschwommenen Zügen Kontur.

Cassie hoffte inständig, dass Mrs Appleton ihren Sohn gerade mit fünf oder sechs Jahren vor sich sah, lachend auf einem Fahrrad – alles, nur nicht jenes Bild des fünfzehnjährigen Bradley, das ihr für immer bleiben würde: auf seinem Bett liegend, das Kabel seines Laptops fest um den Hals gezurrt, das halb von der Wandleuchte über seinem Kopf herabhing.

Die beiden Frauen saßen im Besichtigungsraum der Leichenhalle, so nah nebeneinander, dass sich ihre Knie berührten. »Ich versteh’s einfach nicht.« Blinzelnd kehrte Kim Appleton mit einem Ruck in die Realität zurück. »Er hat keinen unglücklichen Eindruck gemacht. Nie hat er etwas davon gesagt, dass er gemobbt wird oder so was. Ich meine, das hätte er mir doch erzählt … oder? Wir haben uns doch immer gut verstanden.« Ihr Blick zuckte zu ihrem Ehemann Steven hinüber, der in dem pastellfarben gestrichenen Raum auf und ab tigerte wie ein Mann, der nach jemandem sucht, den er verprügeln kann. »Jedenfalls so gut, wie man es bei einem Teenager erwarten kann.«

Cassies Antwort war ein verständnisvolles Murmeln. Fünf Jahre als Sektionsassistentin hatten sie gelehrt, dass trauernde Hinterbliebene eine Klagemauer brauchten und nicht etwa Konversation. Und außerdem, was könnte sie schon Tröstendes sagen? Aus welchem Grund auch immer, Bradley Appleton hatte sein Leben beendet, noch ehe es richtig begonnen hatte. Dieser egoistische kleine Scheißer … Doch das Aufwallen des Zorns löste sich rasch zu Mitleid auf. Es war erst zehn Jahre her, dass Cassie selbst in Bradleys Alter gewesen war und sich abgemüht hatte, nicht im Sog eines emotionalen Strudels unterzugehen. Dieses Nicht-Wissen, wer man war, hartnäckig im Zwiespalt mit der Welt. Ein Fünfzehnjähriger war doch kaum imstande, die Konsequenzen seines Handelns zu erfassen, geschweige denn den brutalen, unmöglich zu lindernden Kummer vorherzusehen, den er seinen Eltern bereitet hatte – lebenslängliche Trauer ohne Aussicht auf Bewährung.

Heute Morgen hatte Cassie Bradley aus dem Leichenkühlschrank geholt und ihn für den Besuch seiner Eltern zurechtgemacht. Jetzt lag er hinter der verhängten Glaswand, die das Besichtigungszimmer unterteilte. Wenn seine Eltern so weit waren, würde sie die Vorhänge zurückziehen, sodass man den Leichnam sehen konnte. Die dunkelrote Bettdecke war so weit hochgezogen, dass sie den Striemen verdeckte, der sich in seinen Hals gegraben hatte. Sie würde sie ermutigen, zu ihm hineinzugehen, ihm nahe zu sein, ihn anzufassen, wenn sie wollten – die Psychiater sagten, das helfe beim Trauerprozess. Es war wichtig, nichts zu überstürzen, seiner Mutter und seinem Vater Zeit zu geben, sich für die Endgültigkeit jenes Augenblicks zu wappnen. Das hier war, als warte man im Theater darauf, dass der Vorhang sich hebt, nur mit einer grauenhaften Wendung.

Kim Appleton redete jetzt bestimmt schon seit zehn Minuten ohne Pause von ihrem Sohn und versuchte, die Realität hinter den Vorhängen abzuwehren, ihn noch ein kleines bisschen länger am Leben zu erhalten. Jetzt jedoch verstummte sie.

»Sind Sie so weit?«, erkundigte sich Cassie und achtete sorgfältig darauf, beide Eltern in die Frage mit einzubeziehen.

Ein Nicken von Kim, ein verbittertes Achselzucken von ihrem Mann.

 

Minuten später waren sie auf der anderen Seite der Glastür und standen um Bradleys Leichnam herum. Seine Mutter beugte sich über ihn und strich ihm übers Haar, als wolle sie ihn in den Schlaf streicheln.

Bradleys ziemlich langes Haar war unnatürlich schwarz und stand in scharfem Kontrast zur Blässe seines Gesichts; eine seiner Augenbrauen und beide Ohren waren mehrfach gepierct. Im Goth-Jargon war Bradley ein »Baby-Bat«, genau wie Cassie es in seinem Alter gewesen war. Als sie seine Mutter am Telefon gefragt hatte, ob sie den Körperschmuck für die Besichtigung entfernen sollte, hatte Kim schnell Ja gesagt und hinzugefügt: »Ich fürchte, sein Vater konnte das alles nicht ausstehen.«

Cassie verstand – sie nahm vor einem Besuch von Angehörigen jedes Mal ihre Gesichtspiercings heraus und kämmte ihr schwarz gefärbtes Haar so, dass es den hochrasierten Undercut verdeckte. Obgleich sie den ganz krassen Goth-Look heruntergefahren hatte, seit sie mit der Schule fertig war, war ihr klar, dass sich manche Menschen an ihrem Aussehen stießen. Das Letzte, was sie wollte, war, irgendjemanden mit so etwas zu verstören – bei allem, was derjenige gerade durchmachen musste.

Cassie hatte den schwarzen Eyeliner weggewischt, der um Bradleys Augen verschmiert gewesen war, als man ihn eingeliefert hatte, sodass er jetzt mehr oder weniger aussah wie jeder andere fünfzehnjährige Junge: rührend jung, die Haut flaumig und bis auf ein paar Pickel am Kinn makellos. Die roten Punkte auf Augenlidern und Wangen waren keine Hautunreinheiten, sondern oberflächliche Einblutungen – Petechien genannt –, winzige Blutgefäße, die durch den erhöhten Venendruck geplatzt waren.

Kim Appleton blickte zu Cassie auf. »Kurz bevor … es passiert ist, habe ich ihm gezeigt, wie man Cupcakes macht. Er hatte schwarze Lebensmittelfarbe gekauft, für den Teig.« Sie lächelte, erlebte jenen Moment von Neuem. »Komischerweise backt er unheimlich gern« – noch nicht imstande, in der Vergangenheitsform über ihr Kind zu sprechen. »Man sollte doch meinen, das wäre nichts für Goths.«

»Deswegen hat er das gemacht!« Die ersten Worte, die Bradleys Vater von sich gab, brachen in einem wütenden Zischen aus ihm heraus, während sein Finger auf seinen Sohn zeigte. »Dieser ganze Totenschädel- … Scheißdreck, auf den er und seine sogenannten Freunde so abfahren!«

Kims Gesicht stürzte in sich zusammen – im wahrsten Sinne des Wortes; die Muskeln um Mund und Unterkiefer erschlafften jäh, als wären Drähte durchtrennt worden, an denen sie aufgehängt waren. Ihr Mann sah ihr schwer atmend ins Gesicht, ehe er den Blick abwandte. »Tut mir leid, Schatz, ich kann das nicht. Wir sehen uns zu Hause.«

»Steve!« Kim streckte die Hand aus, doch die Tür fiel bereits hinter ihm zu.

Cassie wartete einen Moment, ehe sie Kim behutsam die Hand auf den Unterarm legte, sofort bereit, sie zurückzuziehen, wenn sie unerwünscht schien. »Hatten Bradley und sein Dad eine schwierige Beziehung zueinander?«

»Manchmal.« Ihre Stimme war heiser. »Bis vor ein paar Monaten sind sie noch unheimlich gern zusammen zum Fußball gegangen – Sie wissen schon, so Vater-und-Sohn-Geschichten. Steve hat eine Dauerkarte für Arsenal. Aber dann hat Bradley mit diesem ganzen Goth-Zeug angefangen und wollte nicht mehr mitkommen. Steve … also, er hat sich mit alldem sehr schwergetan.«

»Und gestern Abend hatten sie Streit?«

»Steve hat sich darüber mokiert, dass er Eyeliner trägt … hat ihm unterstellt, er wäre schwul.« Sie und Cassie wechselten einen Blick. »Es hat ziemlich gekracht. Das Letzte, was Bradley gesagt hat, war, er würde sich wünschen … er würde sich wünschen, er könnte einschlafen und nie wieder aufwachen.«

Ihr Blick wanderte zurück zu Bradleys Gesicht. »Aber das hier … das ist alles meine Schuld. Ich habe es der Polizistin ja schon gesagt, wir hatten in letzter Zeit Sorge, dass er vielleicht Cannabis raucht. Manchmal war er ein bisschen … neben der Spur? Also gehe ich jetzt immer und sehe nach ihm, wenn er länger oben in seinem Zimmer ist. Aber wir haben uns einen Film angeschaut und … Wein getrunken.« Mit gequältem Blick sah sie Cassie an. »Wäre ich doch nur zehn Minuten früher raufgegangen, dann hätte ich ihn vielleicht retten können.«

Wäre ich doch. Hätte ich doch. Die Selbstgeißelungslitanei derer, die einen geliebten Menschen durch einen plötzlichen, unerwarteten Todesfall verloren hatten. Hätte ich sie doch an dem Abend nicht ins Auto steigen lassen. Hätten wir doch nur früher den Notarzt für Mum gerufen. Hätten wir doch beim Hausarzt auf einem Test bestanden. Ein niemals endender Katechismus, den Cassie ihrem schlimmsten Feind nicht wünschen würde. Doch in diesem Stadium zu versuchen, Einwände gegen eine solche Denkweise vorzubringen, war sinnlos. Den besten Rat hatte sie zu Beginn ihrer Ausbildung bekommen, bei einem Kurs zum Thema Umgang mit Hinterbliebenen: Sagen Sie einem Trauernden nicht, was er empfinden soll.

»Hören Sie, Kim, noch wissen wir nichts Genaues«, erwiderte sie behutsam. »Wahrscheinlich haben wir nach der pathologischen Untersuchung und den Laborergebnissen mehr Informationen.« Untersuchung: Ihr Lieblingseuphemismus für den Dekonstruktionsprozess, dem der Leichnam von Kims und Steves Sohn bei der Suche nach Antworten unterzogen werden würde.

Cassie gestattete sich, zu hoffen, dass Bradley wirklich irgendetwas eingeworfen hatte und völlig breit gewesen war, als er sich stranguliert hatte. Wenn er nicht bei klarem Verstand gewesen war, würde das seinen Tod für seine Eltern ein klein wenig erträglicher machen.

Kim nickte vage, den Blick fest auf das Gesicht ihres Sohnes gerichtet.

Cassie hatte immer gedacht, sie verstünde recht gut, wie wichtig es für die Menschen war zu wissen, warum jemand gestorben war, den sie geliebt hatten. Doch vor sechs Wochen hatte dieses Verstehen eine ganz neue, skalpellscharfe Bedeutung bekommen.

Und zwar, als sie die Entdeckung gemacht hatte, die alles zertrümmert hatte, was sie bis dahin über ihr Leben zu wissen geglaubt hatte.

Cassies Mutter war nicht bei einem Autounfall ums Leben gekommen – das war die Geschichte, die ihr seit ihrem vierten Lebensjahr erzählt worden war. Sie war von Cassies Vater ermordet worden.

2. Kapitel

Auf dem Klo brachte Cassie ihre Augenbrauen-Piercings und den Lippenring wieder an ihren Platz und raffte ihr Haar von Neuem zu dem üblichen Knoten oben auf dem Kopf zusammen, ehe sie Bradley aus der »sauberen Seite« des Besichtigungszimmers rollte und ihn in den Sektionssaal zurückbrachte. So früh am Morgen herrschte dort der scharfe Chemiedunst von Bleiche und Formalin vor, in ein paar Stunden jedoch würden Blut-, Schweiß- und Uringeruch die Oberhand gewinnen.

Bradleys Mutter hatte ein altes Stofftier neben seinen Hals gestopft, einen arg mitgenommenen, ausgeblichenen Pinguin, den er anscheinend als Kind geliebt hatte. Als Cassie ihn nahm, um ihn bis nach der Autopsie irgendwo sicher zu verstauen, merkte sie, dass der Plüsch noch feucht von den Tränen seiner Mutter war.

Die Leute hatten völlig falsche Vorstellungen von ihrem Job. Das Schwerste daran war nicht, Tote aufzuschneiden; das Schwerste war, sich um die armen Schweine zu kümmern, die diese Toten zurückließen. Nach zwei oder drei traumatischen Besuchen hintereinander konnte sie nach Schichtende völlig fertig sein. Doch es war auch ein Privileg. Wenn sie bei einer trauernden Hinterbliebenen wie Kim saß, musste sie oft an den lateinischen Ursprung des förmlichen Begriffs »Kondolenz« denken. Condolere hieß »miteinander leiden«.

Der neue Assistent, Jason Begby, stand an seinem Sektionstisch und sang irgendeinen kitschigen Popsong mit, der zu laut im Radio lief. Mit Hintergrundmusik ging eine Schicht, die man bis zu den Ellenbogen in Blut und Eingeweiden verbrachte, tatsächlich schneller herum, doch Jason war bestimmt schon fünfzig, doppelt so alt wie sie, und seine Vorliebe für Housemusik aus den Neunzigern hatte ihr eindeutig klargemacht, dass sie in Sachen Musik niemals Seelenverwandte sein würden. Oder auf irgendeinem anderen Gebiet.

Cassie vermisste ihren früheren Kollegen und Saufkumpan Carl noch immer, der sich vor sechs Wochen unverhofft bei Nacht und Nebel vom Acker gemacht hatte, nachdem er sich Ärger mit ein paar Gangstern aus der Gegend eingehandelt hatte. Eigentlich kam es ihr vor, als sei genau um diese Zeit alles in ihrem Leben den Bach runtergegangen – in jenen traumatischen Wochen, die darin gegipfelt hatten, dass Cassies Großmutter Weronika ihr eröffnet hatte, wie ihre Mutter wirklich ums Leben gekommen war.

Cassies Großmutter hatte sie seit ihrem vierten Lebensjahr in dem Glauben gelassen, ihre Eltern seien bei einem Autounfall umgekommen – ein Frontalzusammenstoß mit einem betrunkenen Fahrer. Erst als Weronika einen leichten Schlaganfall erlitten hatte, hatte sie ihr endlich die Wahrheit offenbart: Cassies Vater Callum hatte ihre Mutter Katherine in einem eifersüchtigen Wutanfall erschlagen, ein Verbrechen, für das er siebzehn Jahre hinter Gittern gesessen hatte.

Warum hatte er sich nicht bei ihr gemeldet – bei seiner einzigen Tochter –, nachdem er vor vier Jahren aus dem Gefängnis entlassen worden war? Auf diese Frage, die Cassie umtrieb, seit sie die Wahrheit erfahren hatte, folgte stets sogleich eine zweite: Wieso würdest du das überhaupt wollen? Sie schüttelte den Kopf, um diese sinnlose mentale Dauerschleife loszuwerden; sie wusste, dass solche Gedanken die Macht hatten, sie aus dem Gleis zu werfen.

Also ging sie zu Jasons Tisch hinüber. »Wie läuft’s?«, erkundigte sie sich und deutete mit dem Kinn auf den Toten, an dem er arbeitete. Der vertrocknete, braun verbrannte Leichnam gehörte einem alten Herrn, der mit einer brennenden Zigarette in der Hand eingeschlafen war und sein Bett in einen Scheiterhaufen verwandelt hatte.

Jason wedelte die Luft über dem Leichnam zu sich heran und atmete demonstrativ ein. »Aaah, der köstliche Duft von Kentucky Fried Chicken.«

Cassie rang sich ein verkniffenes Lächeln ab: Es stimmte, schwer verbrannte Leichen rochen auf beklemmende Weise wie frittiertes Huhn, und geschmacklose Scherze wie Jasons waren in vielen Leichenhallen die Norm, vor allem bei älteren Sektionsassistenten. Doch ihr stellten sich trotzdem die Nackenhaare auf, wenn jemand derart respektlos über einen Toten sprach.

»Tut mir leid, dass ich dir Mr Siddiqui aufhalsen musste. Ich wusste, dass meine Besichtigung eine Weile dauern würde.«

Die enorme Hitze hatte Mr Siddiquis lange Muskeln im wahrsten Sinne des Wortes gekocht; sie hatten sich zusammengezogen und seinen Leichnam in die sogenannte Fechterstellung zusammenschnurren lassen: die Ellenbogen gebeugt, die geballten Fäuste vor dem Gesicht und die Beine angehockt. Der Leichnam sah aus, als sei er halb Mensch und halb Gottesanbeterin. Er würde nach der Autopsie nur schwer wiederherzustellen sein; das gegarte Fleisch riss leicht ein, wenn man versuchte, den Schnitt zu schließen.

»Ach, ich hab nichts gegen ’nen gelegentlichen Sonntagsbraten«, erwiderte Jason grinsend. »Aber bis zum Lunch bin ich bestimmt total scharf auf ’ne XXL-Portion Nuggets.«

Cassie wandte sich ab, damit er ihr Gesicht nicht sah. Carl hatte sich widerspruchslos nach ihr gerichtet und die Toten, die sie betreuten, mit Anstand behandelt. Und das hieß, dass man sie immer als Gäste oder als Leichname bezeichnete und nie als Komposties, Schwimmer, Springer oder Sonntagsbraten. Sie nannte sie stets beim Namen, die älteren sogar Mr oder Mrs. Mit anderen Worten, sie behandelte sie wie lebendige Menschen. Der Unterschied war, dass Carl damals gerade neunzehn geworden war und Cassie den praktischen Teil seiner Ausbildung beaufsichtigt hatte. Als leitende Sektionsassistentin stand sie in der Hackordnung theoretisch über Jason, doch sie brachte es nicht über sich, jemandem Vorhaltungen zu machen, der schon Leichen seziert hatte, als sie noch zur Grundschule ging.

Sie kehrte zu ihrem eigenen Arbeitsplatz zurück, stellte die Räder des Edelstahlwagens fest, auf dem Bradley lag, schob ihn auf den Sektionstisch hinüber und machte sich daran, ihn auszuziehen. Sein schwarzes T-Shirt mit dem Gesicht Nosferatus darauf war grob aufgeschnitten worden, als die Rettungshelfer seine Brust entblößt und versucht hatten, ihn zu defibrillieren. Doch aus den Unterlagen wusste sie bereits, dass zu diesem Zeitpunkt eine Asystolie bestanden hatte, ein Herzstillstand. Game over. Sie faltete das T-Shirt zusammen und schob es in einen durchsichtigen Plastikbeutel. Bradleys Vater würde ohne Zweifel froh darüber sein, seine Goth-Klamotten nie wiedersehen zu müssen, seine Mutter jedoch würde sie hüten wie ein Kleinod. Die Dinge, die jemand bei seinem Tod getragen hatte, stellen die engste Verbindung zu ihm her, die man fortan haben würde.

»Also, Sie können denen sagen, dass mir ihre Planung in Sachen Hotel nicht im Mindesten zusagt.«

Dr. Curzon. Beim Klang der vertrauten, wichtigtuerischen Stimme hinter ihr schoss Cassies Blutdruck in die Höhe. Philip Curzon war der neue Pathologe, der den Platz ihres Freundes und Mentors Professor Arculus eingenommen hatte. Der Professor hatte ein Sabbatical genommen, um ein Buch über die Somme zu schreiben. Als Ersatz war das in etwa so, als hätte man erstklassigen polnischen Wodka gegen Sonderangebotsfusel aus dem Supermarkt eingetauscht.

»Ich bin es allmählich leid, mich dauernd zu wiederholen«, fuhr Curzon fort. »Ein Hyatt oder ein Hilton würde ich noch akzeptieren, als Minimum. Ist das absolut klar? Gut. Also bringen Sie das in Ordnung.«

Er steckte sein Handy ein, richtete den dauergereizten Blick auf Cassie und fand dort anscheinend nichts, was seine Laune gebessert hätte. »Leute gibt’s! Wochenlang betteln die darum, dass ich meine Arbeit auf ihrer tollen Konferenz präsentiere, und jetzt versuchen sie, mich mit einem Radisson abzuspeisen.«

Dann schaute er auf Bradley hinunter. Als er das kohlschwarze Haar und den laienhaft auf den Unterarm tätowierten Totenschädel sah, gab er ein abfälliges Geräusch von sich. »Mal wieder ein Junkie, nehme ich an?«

»Wahrscheinlich Selbstmord, Sir.« Cassie drehte Bradleys Kopf zur Seite, damit er die Ligatur auf der rechten Halsseite sehen konnte, einen bräunlich roten Streifen, der unter dem Ohr endete. Sie sah, wie sich Curzons Kiefermuskeln anspannten und sich sein Gesicht ganz kurz verzerrte – anscheinend vor Zorn –, ehe er sich abwandte, um seinen Kamelhaarmantel auszuziehen.

Während der Pathologe mit der äußeren Besichtigung von Bradleys Leichnam begann, musterte sie ihn ihrerseits verstohlen. Sein Hemd war teuer, aus dicht gewebter Baumwolle, und auf den Manschettenknöpfen prangten seine Initialen, doch an der einen Manschette war ein kleiner Fleck, möglicherweise Ketchup. Nein, er war nicht der Typ für Ketchup, wahrscheinlich eher Tomatensoße von einer Tiefkühlpizza. Er hatte sich in aller Eile rasiert und vor dem einen Ohr ein Stück übersehen, so groß wie eine Fünfzig-Pence-Münze, und der durchdringende Geruch nach Mundwasser, der von ihm ausging, überdeckte den säuerlichen Dunst des Rotweins von gestern nicht ganz.

Was war los mit Curzon? Sein Ehering aus Platin sah aus, als wäre er unangenehm eng, die Haut darum herum war wulstig aufgequollen. Ein Mann von seinem Schlag, verkatert, total mies drauf und im Hemd von gestern? Das alles verkündete »frisch getrennt«. Vielleicht war er noch nicht dazu gekommen, sich den Ehering vom Finger schneiden zu lassen, oder er befand sich noch in der Verdrängungsphase.

»Hier sind Hinweise auf Selbstverletzungen, Sir.« Cassie drehte Bradleys Arm so, dass die weiche Haut auf der Innenseite des Oberarms sichtbar wurde, gezeichnet von einer Reihe horizontaler rosafarbener Narben, dort eingeritzt, wo man sie nicht so leicht sehen würde. »Von einer Rasierklinge, würde ich sagen, aber nicht ganz frisch – wahrscheinlich drei oder vier Monate alt.«

Curzon hielt kurz inne, um sie anzusehen. »Also, für Ihre Expertenmeinung stehe ich tief in Ihrer Schuld.« Seine Stimme triefte vor Verachtung. Jegliches Mitgefühl mit ihm, das sie sich gestattet hatte, verflog schlagartig.

Professor Arculus war einer der Besten in seinem Fach und vornehmer als die Queen, doch in den fünf Jahren, die Cassie mit ihm zusammengearbeitet hatte, hatte er nicht ein einziges Mal versäumt, sie nach ihrer Meinung zu fragen, und das nicht einfach nur aus Höflichkeit.

Bei einer forensischen Autopsie – die durchgeführt wurde, wenn es Anzeichen für ein Verbrechen gab – konnte ein Pathologe den Großteil des Tages damit verbringen, den Leichnam zu sezieren und genauestens zu untersuchen. Bei einer alltäglichen »Routine-Autopsie« jedoch, wie sie Bradley zuteilwurde, befasste sich der Arzt normalerweise nicht mehr als vierzig Minuten lang mit der Leiche. In diesen Fällen führten die Sektionsassistenten die Eviszeration durch, wogen die Organe und nahmen auch viele der Gewebeproben. Anders als die Pathologen sprachen die Assistenten auch mit den Angehörigen des Toten. All dies konnte einer erfahrenen Sektionsassistentin wie Cassie Hinweise auf die wahrscheinliche Todesursache geben.

Dem Professor gegenüber hätte sie Bradleys wächserne Blässe und die fehlende Schwellung des Gesichts angesprochen und gefragt, ob seiner Meinung nach vielleicht der Vagusnerv etwas mit der Todesursache zu tun haben könnte.

Doch Philip Curzon war nicht der Professor. Von Anfang an hatte er Cassie unmissverständlich klargemacht, dass er keinerlei Interesse an den Ansichten niederer Untergebener hatte. Vielleicht konnte er sie auch einfach nicht leiden. Ihr Aussehen missbilligte er eindeutig, und sie vermutete, dass seine Körpergröße – er war knapp eins siebzig, drei oder vier Zentimeter kleiner als sie – wahrscheinlich auch nicht hilfreich war. Nicht lange, nachdem er hier angefangen hatte, hatte sie mit angehört, wie er sie Doug, dem Leiter der Pathologie, gegenüber als »pampiges Weib« bezeichnet hatte.

Als Curzon Bradleys Rückseite untersuchen wollte, drehte er ihn achtlos um, als wäre er eine Rinderhälfte und nicht das innig geliebte Kind eines anderen Menschen. Cassie kochte noch immer innerlich, als er sie stehen ließ und zu Jasons Tisch auf der anderen Seite des Raumes hinüberging.

»Und was haben wir hier, mein Bester?« Curzon schlug einen widerlich kumpelhaften Ton an.

»Hätten Sie vielleicht Appetit auf unsere Grillplatte, Dr. Curzon?«, sagte Jason, und sein lahmer Witz wurde von Curzon mit einem Glucksen belohnt. Jason war niemals so größenwahnsinnig, eine eigene Meinung zu äußern, sondern beschränkte sich auf die grundlegenden Fakten, gewürzt mit einer Reihe kriecherischer Bemerkungen.

Cassie hörte nicht weiter zu, sondern beugte sich zu Bradleys Ohr hinunter. »Wir müssen rausfinden, wie genau du ums Leben gekommen bist, Bradley, deiner Mum und deinem Dad zuliebe«, sagte sie sehr leise.

Mit den Leichen in ihrer Obhut zu sprechen, war ihr immer ganz natürlich vorgekommen. Für Cassie war die Leichenhalle ein Schattenland, in dem ihre Schützlinge in einer Art Schwebezustand zwischen Leben und Tod verharrten. Objektiv betrachtet hatte sie mit dem Übernatürlichen nichts am Hut, und doch gab es da eine irrationale Ecke in ihr, in der sie daran glaubte, dass die Toten ihre Worte hören konnten. Und dass sie hin und wieder sogar antworteten.

»Mir ging’s auch mies, als ich so alt war wie du. Fünfzehn zu sein ist scheiße, stimmt’s?« Sie betrachtete die Konturen von Bradleys Gesicht. Noch war die künftige Kinnlinie des Erwachsenen nicht unter ihrer Schutzschicht aus Babyspeck hervorgekommen.

Würde Bradley einer von denen sein, die »sprachen«? Könnte er ihr etwas darüber sagen, was er in seinen letzten Minuten empfunden hatte, als er das getan hatte? Doch keine Botschaft kam zwischen Bradleys jugendlichen Lippen hervor, und sie verspürte keinerlei Anzeichen jener entrückten Verträumtheit, die sich normalerweise vor ihren Momenten der Zwiesprache mit den Toten einstellte.

Seit Wochen hatte sie das jetzt nicht mehr erlebt … Tatsächlich hatte es aufgehört, als sie erfahren hatte, wie ihre Mutter wirklich umgekommen war, begriff sie jetzt, wo sie darüber nachdachte. Ihr kam ein entsetzlicher Gedanke: Wenn diese Entdeckung nun für immer das abgetötet hatte, was sie als ihre besondere Gabe betrachtete, das, was ihrem Beruf Bedeutung verlieh?

Komm in die Gänge!, befahl Cassie sich und nahm aus den Reihen der sorgfältig auf dem Arbeitstresen ausgelegten Instrumente ihr PM40, in dessen Griff sie eine brandneue Skalpellklinge geschraubt hatte. Ihre Aufgabe, die sie in den letzten fünf Jahren bestimmt ein paar Tausend Mal ausgeführt hatte, bestand darin, Bradleys Leichnam zu öffnen und seine Organe herauszuholen, und zwar intakt.

Der Umstände von Bradleys Tod wegen setzte sie einen hohen Y-Schnitt an, die Arme des Y reichten zu beiden Seiten des Halses bis direkt unter die Ohren. So würden die Strukturen an der Vorderseite des Halses nicht beschädigt und vor allem das sogenannte Zungenbein geschützt werden, ein knöchernes Gebilde, das beim Erhängen oft brach.

Als Cassies Skalpell auf Bradleys makellose seidige Haut traf, war sie sich des Perspektivwechsels bewusst, den sie in diesem Moment immer erlebte – das Betätigen eines mentalen Schalters, so spürbar, dass sie ihn fast klacken hören konnte. Jetzt sah sie nicht mehr Bradley Appleton vor sich, den geliebten Sohn und den verstörten Fünfzehnjährigen, sondern den Leichnam eines männlichen Jugendlichen, der dekonstruiert werden musste, um die Antworten zu liefern, die die Lebenden benötigten.

Nachdem sich die oberen Schnitte an Bradleys Halsbasis getroffen hatten, setzte sie den langen Schnitt entlang der Körpermitte, über Brust und Bauch. Eifrig durchtrennte die Klinge die zarte Haut. Darunter lag eine Schicht goldenes Fett über Gewebe von exakt derselben Farbe und Textur wie ein Steak. Diese gruselige Ähnlichkeit war der Grund dafür, dass sie vor fünf Jahren aufgehört hatte, Fleisch zu essen, gleich nachdem sie das erste Mal bei einer Eviszeration dabei gewesen war. Sobald sie am Brustbein vorbei war, nahm sie automatisch Druck weg, um keine Organe in der Bauchhöhle zu beschädigen, ehe sie einen geübten Bogen um den Nabel schlug und dicht über dem Schambein anhielt.

Cassie ging nach der Methode von Maurice Letulle vor, bei der man die gesamten inneren Organe von der Zunge bis zum Rektum in einem Stück entnahm, das dann vom Pathologen seziert wurde. Das ging schnell – Cassie schaffte es inzwischen in etwa zehn Minuten.

Bradleys Jugend machte es ihr leichter: Die Knochenschere durchtrennte die Rippenknorpel – den weichsten Teil, dort, wo die Rippen am Brustbein ansetzten – ohne die Mühe, die nötig war, wenn sie durchs Alter verknöchert waren. Herz und Lunge waren von feuchtem, gesundem Rosa und nirgends mit der Brusthöhle verklebt; mit zwei raschen Schnitten konnte sie beides herauslösen.

Dann wandte sie sich wieder dem Hals zu und klappte den v-förmigen Hautlappen nach oben auf Bradleys Gesicht, um die inneren Strukturen freizulegen. Als sie die Muskeln durchtrennte, an denen das Zungenbein hing, sagte sie halblaut die Eselsbrücke auf, die Professor Arculus sie gelehrt hatte, um sich die Namen der einzelnen Muskeln zu merken: »Tante Olga schuppt Schollen.« Musculus thyrohyoideus, Musculus omohyoideus, Musculus sternothyroideus und Musculus sternohyoideus.

Als sie den linken Omohyoideus, der sich längs an Bradleys Hals hinabzog, näher betrachtete, bemerkte sie eine quer verlaufende Quetschung, die zu dem Striemen passte, den die Schlinge auf der Haut hinterlassen hatte. Teilweise sah er dunkler aus, als sie es bei einer frischen Verletzung erwartet hatte, doch auf dem tiefdunkelroten Muskelgewebe war das schwer genau zu erkennen.

Als Curzon in OP-Kluft zurückkam, warteten Bradleys Organe und sein Gehirn auf seinem Arbeitstresen. Er löste die Organe voneinander und untersuchte sie, bevor Cassie sie mitnahm, um sie zu wiegen.

Während sie zusah, wie er den Zungenbeinbereich sezierte, fragte sie: »Sollen wir eine Probe von dem gequetschten Muskelgewebe nehmen, Dr. Curzon?« Aus Erfahrung wusste sie, dass er sie wahrscheinlich abblitzen lassen würde, wenn sie die Muskeln bei ihrem korrekten anatomischen Namen nannte. Sie wollte, dass Bradleys Autopsiebericht so vollständig wie möglich war, damit seine Eltern wussten, dass auch wirklich alles genau überprüft worden war.

»Zeitverschwendung«, blaffte Curzon, ohne sich auch nur umzudrehen.

Er sprach seinen Befund in sein Handy, das in sicherer Entfernung von Blut und Gedärm lag. »Minimale Schäden an Zungenbein und Knorpelstrukturen. Kein Anzeichen für einen venösen Rückstau. Auffallende Gesichtsblässe. Ein klarer Fall von vagaler Inhibition.«

Mit genau diesem Befund hatte Cassie von dem Moment an gerechnet, als sie Bradley zum ersten Mal gesehen hatte. Die Leute dachten immer, Erhängen sei eine ganz klare Sache: Man schnürt die Luftröhre zu und die Lunge bekommt keinen Sauerstoff mehr. Tatsächlich wurde der Tod meistens durch die Kompression der Halsvenen und der Schlagader verursacht, wodurch die Blutversorgung des Gehirns unterbunden wurde und das Gesicht wegen des Blutstaus dunkel anlief.

Bradleys Blässe jedoch war ein eindeutiges Zeichen für vagale Inhibition – eine noch weniger bekannte Todesart.

Als Kind hatte Cassie, die Nase in Gray’s Anatomy Atlas, über die merkwürdige, wunderbare Reise des Nervus vagus gestaunt: Vom Gehirn aus zog er sich bis zu den Eingeweiden hinab und verzweigte sich dabei zu mehreren Organen hin. Später, als sie für ihren Abschluss in klassischer Literatur gelernt hatte, war sie ganz hin und weg gewesen, herauszufinden, dass »vagus« auf Lateinisch »wandernd« hieß – eine linguistische Wurzel, die er mit »Vagrant« und »Vagabund« gemein hatte. Eine der Schlüsselrollen des Nervus vagus bestand darin, den Blutdruck zu regulieren. Es war ein vagaler Reflex, der manche Leute beim Anblick von Blut in Ohnmacht fallen ließ.

Als Bradley das Kabel um seinen Hals festgezogen hatte, hatte er, ohne es zu wissen, Druck auf den Sinus caroticus ausgeübt, die Stelle, wo die Halsschlagader – die Arteria carotis – sich an der Schädelbasis verzweigte und sich ein sehr wichtiges Nervenbündel befand. Das hatte ein Signal an sein Gehirn gesandt, das daraufhin den Nervus vagus angewiesen hatte, den Blutdruck zu senken. Der fortdauernde Druck hatte dazu geführt, dass Bradleys Blutdruck extrem abgefallen war, und dadurch sein Herz innerhalb von nur zwei Minuten zum Stillstand gebracht.

Cassie dachte daran, dass Kim sich mit dem Bild gequält hatte, wie Bradley langsam erstickt war, während sie und Steve unten Wein getrunken hatten.

»Nun, wenigstens können wir seiner Mum und seinem Dad sagen, dass es schnell gegangen ist – dass sie keine Zeit gehabt hätten, ihn zu retten«, sagte sie zu Curzons Rücken.

Er fuhr zu ihr herum. »Dieser egoistische Idiot hatte keinen schnellen Tod verdient.«

Verdutzt über Curzons jähe Feindseligkeit, schob Cassie Bradleys Organe in einen blauen Plastiksack und ging zu dem Leichnam zurück. Nachdem sie den Sack in die Körperhöhle gewuchtet hatte, machte sie sich daran, den Inhalt wieder in seinen Besitzer hineinzukneten. Das war ein bisschen so, als versuche man, einen Schlafsack wieder in seinen Beutel zu stopfen. Bei der Sektion schienen die Organe immer auf doppelte Größe anzuwachsen.

Als sie fertig war, legte sie Bradley die blutige, behandschuhte Hand auf die Schulter. »Jetzt muss ich dich nur noch zumachen und waschen, Schätzchen, dann bist du wieder wie neu.«

Gerade griff sie nach einer der großen gebogenen Nadeln, die sie bereitgelegt und in die sie bereits starkes weißes Garn gefädelt hatte, als etwas sie innehalten ließ. Bradleys Kopf drehte sich langsam zu ihr hin. Seine Augen waren halb offen.

Ihr war klar, dass sich lediglich das Gewicht des Schädels auf der Kopfstütze verlagert hatte, doch es erschreckte sie trotzdem.

Als sie die Hand ausstreckte, um ihm die Augen zu schließen, spürte sie ein statisches Knistern an den Fingerspitzen, bei dem ihr ganzer Körper kribbelte, gefolgt von einem vertrauten Gefühl. Sie glitt in einen Zustand des Andersseins hinüber, die Deckenbeleuchtung flammte grell auf ihrer Netzhaut, und der Eisenspangeschmack von Blut waberte ganz hinten im Rachen.

Ihr Blickfeld verdunkelte sich von den Rändern her, verbunden mit einem Schwindelgefühl, das sie fast schon als angenehm empfand. Ein bisschen wie der Kick nach einem Zug an einem Joint mit megastarkem Gras. Die Luft knisterte vor Spannung, und aus dem Knistern hörte sie eine junge Männerstimme.

»Voll der krasse Trip!«

3. Kapitel

»Du tust da zu viel Salzlake rein!«

Mit einer übermenschlichen Anstrengung schaffte Cassie es, nicht laut zu werden. »Hör zu, Babica, warum setzt du dich nicht hin und schaust fern und überlässt das Abendessen mir?« Sie machte gerade einen polnischen Salat zu den Piroggen, die auf dem Herd köchelten. Doch in diesen paar Wochen des Kochens für ihre Großmutter, die langsam wieder auf die Beine kam, hatte sie sämtliche Reserven an Selbstbeherrschung aufbieten müssen.

»Ich sage nur, mehr von dem Zeug kann man ja immer reintun, aber raus kriegt man es nicht wieder.«

Weronika, immer so unverwüstlich, schien nach ihrem leichten Schlaganfall weniger geworden zu sein, nicht nur körperlich, sondern auch in ihrer Persönlichkeit. Bevor das – glücklicherweise winzige – Stückchen arterielle Plaque in ihr Gehirn geschwemmt worden war, war sie selbst mit neunundsiebzig stets scharfsinnig und entschlossen gewesen. Jetzt jedoch war sie oft reizbar oder missmutig und kam nur schwer zur Ruhe.

»Könntest du vielleicht schon mal den Tisch decken?« Mit dem Kopf deutete Cassie auf ein Tablett mit Besteck und Gewürzen.

Weronika bedachte ihre Enkelin mit einem durchdringenden Blick, der schon eher ihrem früheren Selbst entsprach. »Glaubst du etwa, ich bin zu alt und zu dumm, um zu merken, was du treibst, tygrysek? ›Gib der Alten das Gefühl, dass sie gebraucht wird.‹« Mit einem Nicken nahm sie das Tablett. »Ich weiß schon, wann ich in meiner eigenen Küche nicht erwünscht bin.« Doch Cassie hatte gesehen, wie einer ihrer Mundwinkel aufwärts zuckte. Jedes Mal, wenn sie diese kleinen Anzeichen dafür sah, dass ihre Großmutter, der unerschütterliche Fels in der Brandung ihres Lebens, sich allmählich wieder erholte, verspürte sie ein kleines Aufwallen der Erleichterung.

Nachdem Cassies Vater für den Mord an ihrer Mutter vor über zwanzig Jahren ins Gefängnis gekommen war, hatte Weronika es zusammen mit ihrem Mann übernommen, die vierjährige Tochter ihres einzigen geliebten Kindes großzuziehen. Der »Autounfall«, bei dem ihre Eltern beide umgekommen waren, war eine Fiktion gewesen, um Cassie zu schützen, doch Weronikas Schlaganfall hatte der alten Frau klargemacht, dass sie die Wahrheit nicht mit ins Grab nehmen durfte. Auch wenn Callum Raven niemals versucht hatte, Kontakt zu seiner Tochter aufzunehmen, musste Cassie vorbereitet sein, falls er jemals aus heiterem Himmel bei ihr auftauchte.

Bis zu der Eröffnung ihrer Großmutter hatte Cassie nie viel über den Tod ihrer Eltern nachgedacht. Der Vorteil daran, sie so jung zu verlieren – zu früh, um bleibende Erinnerungen an sie zu haben oder den Verlust richtig zu begreifen –, war, dass ihr die emotionalen Spätfolgen erspart geblieben waren, hatte sie sich immer eingeredet. Doch die Wahrheit zu erfahren, hatte sie völlig aus der Bahn geworfen, vor allem weil es kurz nach dem Mord an ihrer geliebten Lehrerin Geraldine Edwards geschehen war, der Ersatzmutter, die Cassie überredet hatte, wieder zur Schule zu gehen, und sie in der Abendschule bis zum Abschluss gebracht hatte.

Einundzwanzig Jahre, nachdem sie ihre Eltern verloren hatte, war Cassie etwas klar geworden: Sie fing gerade erst an, sich mit einer Wunde zu befassen, die ihr ganzes Leben lang nicht verheilt war. Ein Vermächtnis, das vielleicht erklären könnte, warum es ihr so schwerfiel, dauerhafte Beziehungen einzugehen.

Unbewältigte Trauer. So nannten die Seelenklempner so etwas.

Seit ihre Großmutter aus dem Krankenhaus gekommen war, hatte Cassie bei ihr gewohnt, um zu kochen, zu putzen und dafür zu sorgen, dass sie täglich ihre Tabletten nahm. Doch in der überheizten Alte-Damen-Wohnung zu leben, die für sie als Jugendliche ein Gefängnis gewesen war, hatte alte Teenagergefühle geweckt. Das Gefühl, in der Falle zu sitzen, und die verzweifelte Sehnsucht nach Erwachsenenfreiheit. Jedes Mal, wenn sie nach dem Essen ausging und spät heimkam – manchmal betrunken, bekifft oder beides –, las Weronika ihr die Leviten. Genau wie damals.

»Zu viel Salzlake im Salat«, stellte die alte Dame fest, als sie aßen. »Aber die Piroggen sind schön leicht.«

Cassies Blick fiel auf das, was sie insgeheim immer die Kaminsims-Ikone genannt hatte, das mittlerweile verblasste Foto von ihrer Mutter mit achtzehn. Eine Andeutung von Aufsässigkeit im Blick verlieh ihrer Hübschheit ein bisschen Würze, ihr langes, in der Mitte gescheiteltes Haar fiel über den Kragen einer Rüschenbluse. Offenbar hatte Katherine Psychologie studieren wollen, bevor Ehe und Baby diesen Plan zunichtegemacht hatten.

Es war bittere Ironie, dass Cassie sich bis auf ein paar flüchtige Bilder – ein Kleid mit riesigen Mohnblüten darauf, ihr Parfum, das ein bisschen nach Wassermelonen roch – kaum an ihre Mutter erinnerte, dafür aber viel deutlicher an ihren Dad. Sie hatte ihn als engagierten, liebevollen Vater in Erinnerung, der mit einem Löffel Flugzeug spielte, um sie zum Essen zu überreden, sie im Park auf seine Schultern hob oder so tat, als sei er ein Monster, das hinter ihr her sei. Erinnerungen, die durch das Wissen, was er dann getan hatte, grauenvoll kontaminiert waren.

»Wie kommst du mit den Neuen bei der Arbeit zurecht?« Ihre Großmutter sah sie scharf an.

»Ganz okay.« Cassie legte ihre Gabel hin und schob ihren Teller mit den nur zur Hälfte gegessenen Piroggen weg. »Carl fehlt mir – und der Professor auch. Aber ich werde mich schon dran gewöhnen.«

Cassie konnte den Groll in ihrer Stimme hören. In letzter Zeit ertappte sie sich oft dabei, wie sie ohne erkennbaren Grund wütend wurde. Es half auch nicht, zu wissen, dass sie einfach nur die wohlbekannten Stadien der Trauer durchlebte – und sei es auch nur eine nach zwei Jahrzehnten wiedererweckte Trauer. Nach dem Verdrängen konnte man sich auf das »Hätte ich doch«-Stadium freuen – darauf, sich Fantasievorstellungen zusammenzubasteln, wie sie den Tod ihrer Mutter hätte verhindern können –, alles gekrönt von Wut und einer ordentlichen Dosis Depression. Das angeblich letzte Stadium der »Akzeptanz« erschien ihr im Moment wie ein fernes Märchen. Wie dem auch sei, theoretisch über diesen ganzen Scheiß Bescheid zu wissen, war eine Sache, ihn zu durchleben eine ganz andere.

»Was ist denn mit diesem jungen Doktor? Der, mit dem du dich angefreundet hast, nachdem du ihn erst für einen eingebildeten Fatzke gehalten hattest?«

Cassie verbiss sich ein Lächeln, als sie an Archie Cuff dachte, den jungen Pathologen, der gelegentlich bei den Routine-Autopsien aushalf. Es stimmte, am Anfang hatte sie ihn als unerträglich arroganten Sohn aus gutem Hause abgetan – ein künftiger Dr. Curzon –, doch nachdem sie ihm bei seiner ersten Autopsie aus der Klemme geholfen hatte, war er so rührend dankbar gewesen, dass sie – widerstrebend – gezwungen gewesen war, ihre Ansicht über ihn zu ändern. Sie waren sogar ein paar Mal zusammen etwas trinken gewesen, nur so als Freunde, doch das Herumgeplänkel war schön gewesen, und sie hatte auf beiden Seiten einen Funken des Interesses bemerkt.

Da sie den lauernden Blick ihrer Großmutter durchaus zu deuten wusste, beschloss sie, alle weiteren Verhöre abzubiegen. »Du hast gesagt, du fühlst dich so viel besser, dass du über einen kleinen Ausflug nachdenkst? Mit Barbara?«

»Tak. Wenn es mir morgen gut genug geht, gehen wir spazieren, vielleicht sogar einen Kaffee trinken.«

Zu sehen, wie die Miene ihrer Großmutter sich aufhellte, hob Cassies Stimmung ein bisschen: Es ging ihr definitiv besser. Doch wie lange würde es noch dauern, bis sie gefahrlos anfangen konnte, die Fragen zu stellen, die sie über ihre Mutter und ihren Vater hatte?

Als sie mit einer zweiten Flasche Bier vom Kühlschrank zurückkam, sagte ihre Großmutter zunächst nichts. Doch nach einem angespannten Schweigen legte sie ihr Messer weg und umfasste Cassies Hand mit warmem, schwieligem Griff. »Wenn ich ein bisschen mehr bei Kräften bin, unterhalten wir uns richtig über alles, ich versprech’s. Ich weiß, wie schrecklich es für dich war, tygrysek, zu erfahren, was mit deiner Mama passiert ist, Gott gebe ihrer Seele Frieden.« Sie bekreuzigte sich, und ihre Stimme klang heiser. »Aber … du weißt, dass die Antwort nicht da drin ist, nicht wahr?« Sie neigte den vogelähnlichen Kopf in Richtung der Flasche.

Cassie drückte ihre Hand. Es war richtig unheimlich, wie Weronika stets zu wissen schien, was ihr im Kopf herumging.

Vor ihrem Schlaganfall hatte ihre Großmutter niemals freiwillig über ihren Schwiegersohn gesprochen und ihre Abneigung ihm gegenüber auch nie wirklich erklärt, außer dass sie ihn als arbeitsscheu und ungehobelt beschrieben hatte. Cassie hatte sich immer gefragt, wieso sie nie auch nur ein einziges Foto von ihrem Dad zu Gesicht bekommen hatte, jetzt jedoch verstand sie: Nach dem Mord hatte Weronika bestimmt sämtliche Andenken an ihn vernichtet.

Cassie wusste nur die grundlegenden Fakten. Callum war ein Trinker gewesen, der Katherine mit Fäusten traktiert und sie umgebracht hatte, nachdem er sich in den Kopf gesetzt hatte, sie hätte eine Affäre. Trotz seiner Unschuldsbeteuerungen hatten die Geschworenen ihn für schuldig befunden, und er hatte siebzehn Jahre einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe abgesessen, bevor er auf Bewährung entlassen worden war. Danach war er in seine Heimatstadt irgendwo in Nordirland zurückgekehrt.

Die Frage, die nicht aufhören wollte, in Dauerschleife in Cassies Kopf abzulaufen, war: Warum hatte er ihr in all den Jahren nie auch nur eine Geburtstagskarte geschickt?

Sie kam nicht von der bitteren Ironie los, dass sie ihren Vater nach einundzwanzig Jahren als Vollwaise zurückbekommen hatte – und sein Verbrechen trotzdem bedeutete, dass er vollkommen unerreichbar blieb.

Als sie das Geschirr in die Spülmaschine räumte, überlegte sie, was Kim und Steve Appleton wohl gerade taten, während sie damit begannen, ihr Leben lang um ihr einziges Kind zu trauern. Und das in dem Wissen, dass Bradley sich selbst das Leben genommen hatte – viel schlimmer, als wenn sie ihn durch einen Unfall oder eine tödliche Krankheit verloren hätten. Was hatte sie ihn vorhin noch mal sagen hören?

»Voll der krasse Trip!«

Diese Augenblicke der Zwiesprache mit den Toten bedeuteten ihr viel, doch sie widerstand stets der Versuchung, sie zu analysieren, falls sie sich einfach in Luft auflösten, wenn man sie dem Sonnenlicht aussetzte. Schließlich glaubte sie doch nicht an Geister oder ein Leben nach dem Tod. Und wenn es sich manchmal herausstellte, dass diese »Botschaften« Hinweise auf die Todesursache enthielten, dann lag das wahrscheinlich einfach nur an ihrer Fähigkeit, Dinge zu bemerken, die andere übersahen.

Bradleys Mutter hatte etwas davon gesagt, dass er gekifft hätte; die Idee, dass er vielleicht einmal etwas Riskanteres versucht hatte, war also gar nicht so weit hergeholt. Hatte er sich umgebracht, während er auf einem schlechten Trip gewesen war? Camden wurde geradezu überschwemmt von üblen psychogenen Substanzen, die nach Rezepten aus dem Dark Web zusammengepanscht waren, und eine einzige fragwürdige Pille konnte ein noch nicht voll entwickeltes Gehirn in einen psychotischen Zustand kippen lassen. Um Kims und Steves willen hoffte sie, dass das Labor in seinem Blut oder seinem Urin irgendetwas finden würde, das seinen Zugriff auf die Wirklichkeit beeinträchtigt haben könnte.

Zugedröhnt oder nicht, vielleicht hatte Bradley ja auch nur mit der Idee gespielt, sich umzubringen – der Tod war für Goths schließlich ein ziemlich wichtiges Thema –, und gar nicht wirklich den Wunsch gehabt, Selbstmord zu begehen.

Oder vielleicht klammerte sie sich auch nur an Strohhalme. Die Tatsache blieb bestehen, dass Bradley sich ein Kabel um den Hals gelegt und sich an einer Wandlampe erhängt hatte. Der Gedanke, dass jemand, den man liebte, sich einem mit Absicht entzog, musste unerträglich sein.

So wie ihr Vater es getan hatte, nachdem er aus dem Gefängnis gekommen war.

Archie Cuffs SMS hätte zu keinem besseren Zeitpunkt eintreffen können. Er sei »gerade in der Gegend«, schrieb er und fragte, ob sie Zeit hätte.

Cassie zog ihre Lederjacke an und wich dem Blick ihrer Großmutter aus. »Vergiss deine Medikamente nicht, Babica, ich gehe nur schnell was trinken.«

Weronika schien ganz und gar in einen Cowboyfilm vertieft zu sein, ihr Lieblingsgenre, und kam Cassie nicht mit ihrem üblichen Vortrag, dass sie nicht zu viel trinken solle, oder sogar mit Fragen, mit wem sie sich treffen wolle. Doch als Cassie sich zum Gehen anschickte, sagte sie: »Bedank dich doch bitte für mich bei Dr. Cuff, ja, tygrysek?«

Dieses gerissene alte Luder.

»Ähm, wofür denn?«

»Er erinnert dich daran, wie man lächelt.«

4. Kapitel

Es war Freitagabend, und trotz der kalten Januarluft war das Wochenende in vollem Gange. Menschen quollen in endloser Schlange aus dem U-Bahnhof Camden Town, um sich in Bars, Clubs und Konzerte zu stürzen, Döner- und Grasgeruch hingen schwer in der Luft. Archie, der draußen stand, war inmitten der Punkfrisuren, der Ketten, Lederklamotten, Piercings und Tattoos von Camdens bunt zusammengewürfelten Nachtschwärmern leicht auszumachen – eins neunzig groß, makellose blaue Wachsjacke, anscheinend tatsächlich mit einem Rugby-Fanschal um den Hals und in glänzenden braunen Halbschuhen unter Jeans, die verdächtig gebügelt aussahen.

Als sie an den beiden jungen Männern vorbeikamen, die Posten an der Mauer bezogen hatten, hob einer der beiden fragend das Kinn. Cassie antwortete mit einem kaum sichtbaren Kopfschütteln – sie kiffte in letzter Zeit sehr viel mehr, aber sie würde doch vor Archie kein Gras kaufen. Ihr fiel auf, dass die Dealer nicht an ihrem üblichen Platz standen, und nahm an, dass sie sich so weit wie möglich von Archie fernhielten. Eigentlich ja bescheuert. Ein Cop in Zivil würde im Clownskostüm weniger Aufmerksamkeit erregen.

»Hallo.« Das Aufleuchten in Archies Augen, als er ihr ins Gesicht sah, ging ihr durch und durch. Und das trotz des kurzen rötlichen Bartes, den er sich hatte wachsen lassen und mit dem er Prinz Harry sogar noch ähnlicher sah als sowieso schon. Großer Gott. War’s nicht schon schlimm genug, auf einen Typen aus einer Privatschule zu stehen – und dann auch noch auf einen, der aussah wie ein Mitglied der königlichen Familie?

»Hier ganz in der Nähe gibt’s ein ziemlich gutes Weinlokal«, meinte sie und stampfte der Kälte wegen mit den Füßen.

»Von wegen!«, wehrte er ab. »Weinlokale gibt’s in Guildford jede Menge. Nein, ich erwarte die komplette Camden-Tour.«

Ein paar Minuten später streckte Archie ritterlich einen langen Arm über sie hinweg, um die Tür des Black Heart aufzuziehen, einer Kneipe in einem alten Lagerhaus aus rußigem Backstein. Das Innere war zwar mit Massen von Lichterketten anheimelnd erleuchtet, doch über alldem lag ein düsterer Glamour: Über der Bar ragte ein orangerotes Neonkreuz empor, und in einer Glasvitrine an der einen Wand standen eine kitschige Jesusfigur aus Gips sowie diverser Goth-Nippes, darunter auch der obligatorische Totenschädel. Cassie kam hierher, seit sie sich einen gefälschten Ausweis hatte beschaffen können, und sie mochte diesen Laden noch immer, wo ihr Job als cool galt und nicht als abartig.

Trotz einiger eingehender Blicke von ein paar Stammkunden an der Bar schien Archie nicht irritiert zu sein.

»Alles klar, Cass?«, erkundigte sich Zed, ein Typ mit rasiertem Schädel, den sie kannte, und zog angesichts ihres Dates eine gepiercte Augenbraue hoch wie die Skinhead-Version einer anspruchsvollen Brautmutter.

Nachdem sie sich jeder ein Bier bestellt hatten – zwei Flaschen Rogue Dead Guy schienen angebracht –, gelang es ihnen, einen Tisch zu ergattern.

Während Archie sich in der Kneipe umsah, fiel ihr nicht zum ersten Mal auf, dass die Jungenhaftigkeit seiner Züge durch eine gebrochene Nase ausgeglichen wurde, wahrscheinlich ein Rugby-Vermächtnis. »Das ist also das echte Camden«, stellte er mit anthropologischem Genuss fest.

»Ich weiß gar nicht mehr, was das echte Camden eigentlich ist. Es ist nicht mehr so wie früher, da gab’s hier noch mehr besetzte Häuser als Starbucks-Filialen. Jetzt machen sie aus jedem leer stehenden Gebäude Wohnungen für Leute, die mal eben eine halbe Million übrig haben.« Sie grinste. »Jetzt hör sich einer das an – fünfundzwanzig, und ich lasse mich schon über die guten alten Zeiten aus.«

»Demnächst fangen Sie noch damit an, dass der Liter Milch zehn Schilling kostet.« Er trank einen Schluck aus seiner Flasche und sah ihr dabei ganz entspannt in die Augen. »Sie haben früher selbst mal in einem besetzten Haus gewohnt, stimmt’s?«

»Nur ein Jahr oder so, mit siebzehn.«

»Siebzehn! Ist ja irre! Das war bestimmt … nicht leicht.«

Cassie sah die Wohnung vor sich, die sie am liebsten gemocht hatte, die in dem aufgegebenen Pub, und dachte an die Wintermorgen, an denen sie beim Aufwachen Raureif auf ihrem Schlafsack gefunden hatte. An das Kochen auf einem Campingkocher, an die Krankenwagensirene, wenn jemand eine Überdosis erwischt hatte, an den unvermeidlichen Rausschmiss … aber auch an die magischen Zeiten, wenn sie im Garten um ein Lagerfeuer gesessen und die Sterne betrachtet hatten.

»In mancher Hinsicht schon, ja. Aber ich war auch nie glücklicher. Dieses Gefühl von Freiheit – und der Zusammenhalt. Dass wir alle zusammen da drinstecken. Ist schwer zu erklären.«

Archie nickte mit gefurchter Stirn. »So war’s in meinem Rugbyteam in Harrow.«

Cassie war schon schwer in Versuchung, sich über ihn lustig zu machen, als ihr ihr neuer Vorsatz einfiel, nicht so schnell über Leute wie Archie zu urteilen. Schließlich hatte er nie auch nur ein Wort über ihre Piercings und ihre Tattoos verloren – und Professor Arculus übrigens auch nicht. Vielleicht bedeutete ja die Selbstsicherheit wirklich vornehmer Menschen – im Gegensatz zu denen, die einfach nur massig Kohle hatten –, dass sie es nicht nötig hatten, den Stab über andere zu brechen.

»Also, was für Leute kommen hier so her?« Die sandfarbenen Brauen verschwörerisch zusammengezogen, beugte er sich zu ihr herüber.

»Ach, ganz verschiedene Typen. Goths, Emos, Skins, Punks, ab und an mal ein Greaser …«

Ihr Blick fiel auf einen Tisch mit jungen Möchtegern-Goths. Die meisten hatten noch richtige Kindergesichter. Sowohl die Mädchen als auch die Jungen hatten wirres schwarzes Haar und trugen weißes Make-up und blauen oder violetten Lippenstift – ein Look, bei dem sie unwillkürlich an den armen toten Bradley Appleton denken musste, der einen Kilometer entfernt auf seinem Stahlbett lag. Eines der jungen Mädchen hatte sich türkisfarbene Strähnen ins Haar gefärbt, genau wie Cassie früher. Die Kids hielten sich rund um eine schwarze Kerze auf dem Tisch an den Händen und sahen alle total deprimiert aus. Angeblich sollte das die Standardstimmung bei Goths sein, nur wusste sie es besser: Nur weil man auf der dunklen Seite stand, war man nicht rund um die Uhr mies drauf. Als zorniger, depressiver Teenager war ihre kleine Goth-Horde für sie eine Rettungsinsel gewesen.

»Wieso sind Sie eigentlich Sektionsassistentin geworden?«, wollte Archie wissen. »Ich meine, wann sind Sie das erste Mal auf diese Idee gekommen?«

»Als ich ungefähr vier war, habe ich immer tote Tiere mit nach Hause geschleppt. Meine Gran hat ständig tote Tauben unter meinem Bett gefunden. Dann habe ich mit dreizehn oder so mal eine Autopsie im Fernsehen gesehen, in einem amerikanischen Krimi. Die Vorstellung, dass ein Toter wie ein Rätsel ist, das man lösen kann, indem man ihn auseinandernimmt, das muss wohl bei mir hängen geblieben sein.«

»Und warum haben Sie dann nie daran gedacht, Medizin zu studieren? Ich weiß noch, wie Sie mir die Halswirbelfraktur gezeigt haben, die ich bei meiner ersten Autopsie übersehen hatte.« Er neigte seine Bierflasche in ihre Richtung. »Ihnen fällt so was auf.«

Cassie lächelte ihn an. Sie wollte nicht sagen, dass es ein klassischer Anfängerfehler war, dergleichen zu übersehen. Woher sollte sie die Worte nehmen, um jemandem wie Archie zu erklären, dass jemand wie sie – ein Mädchen, das in einem Wohnblock in einer Sozialwohnung aufgewachsen war und ihre Schulzeit ab der fünften Klasse damit zugebracht hatte, die Lehrer in den Wahnsinn zu treiben – ein Medizinstudium nicht einmal ansatzweise auf dem Schirm gehabt hatte. Selbst nachdem sie auf der Abendschule ein gutes Abitur gemacht hatte, war ihr klar gewesen, dass sie niemals zu all diesen hyper-selbstbewussten Söhnen und Töchtern aus gutem Hause passen würde, die Medizin studierten.

Und außerdem liebte sie ihren Job – sich um Tote zu kümmern war für sie eine heilige Berufung. »Es ist so, Typen wie Sie kommen reingefegt, sezieren und verschwinden wieder«, erläuterte sie ihm. »Ich kann viel Zeit mit unseren Gästen verbringen – und ich betreue ihre Angehörigen.« Sie trank einen Schluck Bier. »Und was ist mit Ihnen? Warum Medizin?«

Er fuhr sich mit der Hand durch die rotblonden Locken. »Mein Vater war Herzchirurg, also war ich wohl schon immer fürs Medizinstudium prädestiniert. Und Pathologie schien ein guter Weg zu sein, um mit fünfunddreißig meinen Facharzt zu haben. Aber anders als Ihnen macht es mir nicht wirklich Spaß, morgens um sieben in einem eiskalten Sektionssaal Leichen zu zerlegen.« Er mimte ein Schaudern. »Wenn ich die zwei Pflichtjahre hinter mir habe, konzentriere ich mich auf diagnostische Pathologie. Ich kann mir gut vorstellen, in einem schönen warmen Labor zu hocken, mir unterm Mikroskop Gewebeproben von irgendwelchen seltenen Krebsarten anzuschauen und ab und zu mal zu einer internationalen Konferenz in einem Nobelhotel zu reisen.«

Archies jungenhaftes Grinsen nahm jeglichem Zynismus an diesem Plan die Schärfe. »Hätten Sie Lust, mal mit mir in ein Fünf-Sterne-Hotel zu fahren, wenn’s so weit ist? Oder sind Sie für so eine Lamestream-Nummer viel zu alternativ?«

Sie lachte. Die Art und Weise, wie Archie sie verarschte, gefiel ihr, und auch dass er sie – oder das Leben – nicht allzu ernst nahm. Das machte es so entspannend, mit ihm zusammen zu sein. Nicht wie Phyllida Flyte. Aus heiterem Himmel sah Cassie Flytes blasse Schönheit vor sich, diese ausgeprägten Wangenknochen, die ernsten, eisblauen Augen. Während der Ermittlungen zum Tod ihrer früheren Lehrerin war sie ein unerwartetes … wie sollte sie es nennen – Bündnis? – mit der stockkonservativen Polizeibeamtin eingegangen. Eine Beziehung, die sich manchmal anfühlte, als stünde sie am Rand von gefährlicherem Terrain. Gefährlich, weil sie sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, etwas mit einer Polizistin anzufangen, egal wie scharf sie war.

Später, als Cassie zur Toilette ging, traf sie das Mädchen mit den türkisblauen Strähnen, das gerade aus einer der Kabinen kam und sich mit einem Stück Klopapier die Nase putzte. Sie wollte sie ja nicht anstarren, aber das Mädchen hatte eindeutig geweint – und zwar heftig; ihre Augen waren blutunterlaufen, und zwei Eyeliner-Rinnsale hatten rußschwarze Spuren auf ihrem blassen Make-up hinterlassen. Arme Kleine.

Als Cassie wieder zum Tisch zurückkam, waren die Goth-Kids weg. Zwischen den schmutzigen Gläsern stand der Stummel der Kerze in einer Pfütze aus schwarzem Wachs; der Docht rauchte noch. Einen Moment lang starrte sie die Kerze an, dann ging sie zu Zed hinüber, der noch immer auf seinem Barhocker thronte. »Weißt du, was bei den Baby-Bats dahinten abgegangen ist?« Mit dem Kopf deutete sie dorthin, wo die Jugendlichen gesessen hatten.

Er schüttelte bedächtig den Kopf, und Cassie sah verblüfft, wie er mehrmals rasch blinzelte. »Einer von ihren Freunden hat sich umgebracht.«

Ein Teil von ihr hatte die ganze Zeit gewusst, dass das Bradleys Freunde sein mussten, wurde ihr jetzt klar. War das Mädchen, das auf dem Klo geweint hatte, seine Freundin? »Das ist ja schrecklich.«

»Ja, er war erst fünfzehn.«

Später lehnte sie Archies wiederholte Angebote ab, sie zur Wohnung ihrer Großmutter zurückzubringen: Bei dem Gedanken, die beiden könnten sich begegnen, bekam sie eine Gänsehaut. Auf dem Weg zur U-Bahn nahm er ihre Hand und zog sie um die Ecke in eine ruhige Gasse. Dort fasste er sie an den Schultern und beugte sich herab, um sie zu küssen. Seine Lippen berührten die ihren kaum. Dann sagte er ihr leise ins Ohr: »Stell dich mal auf meine Füße, Erdnuckel.« Sie wollte schon protestieren, dass sie eigentlich eins vierundsiebzig sei, ertappte sich jedoch dabei, wie sie seiner Aufforderung nachkam. Auf seinen Füßen ging es dann rückwärts, bis sie mit dem Rücken an der Wand stand, während er ihr unverwandt in die Augen sah. Dann küsste er sie wieder, diesmal richtig, und sein Körper presste sich lang und hart gegen ihren. Cassie spürte, wie ihre Augenbrauen emporschnellten.

Für einen rothaarigen Spießer konnte Archie echt verdammt gut küssen.

 

Es war richtig kalt geworden, also nahm sie den kürzesten Weg nach Hause, am Kanal entlang, und ließ dabei den Kuss noch einmal im Kopf ablaufen. Wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass sie ihre Umgebung nicht so gründlich scannte, wie sie es nachts für gewöhnlich tat.