Tote schweigen nie - A. K. Turner - E-Book
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Tote schweigen nie E-Book

A. K. Turner

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Beschreibung

Wenn die Toten sprechen, ist sie zur Stelle: Cassie Raven rockt die Gerichtsmedizin! »Tote schweigen nie«, A. K. Turners Thriller-Sensation aus England, ist der Auftakt zu einer außergewöhnlichen Forensik-Thriller-Reihe.  Als Assistentin der Rechtsmedizin ist die Londonerin Cassie Raven schräge Blicke gewöhnt. Möglicherweise ist auch ihr Gothic-Look mit zahlreichen Piercings und Tattoos nicht ganz unschuldig daran – ebenso wie ihre Überzeugung, dass die Toten mit uns sprechen, wenn wir nur ganz genau hinhören. Genauso überzeugt ist Cassie davon, dass sie ohne die Hilfe von Mrs Edwards als Junkie unter einer Brücke gelandet wäre statt als Assistentin in der Rechtsmedizin. Umso größer ist ihr Schock, als sie einen Leichensack öffnet und in das Gesicht ihrer geliebten Mentorin blickt. Cassie ist sicher, dass Mrs Edwards ermordet wurde. Nur beweisen kann sie es nicht, denn eine kostspielige forensische Obduktion wurde bereits abgelehnt. Das macht ausgerechnet die unterkühlte DS Phyllida Flyte, die Cassie wegen einer verschwundenen Leiche auf dem Kieker hat, zu ihrer einzigen Option … Der Start der Pathologie-Thriller-Reihe »Raven & Flyte ermitteln« überzeugt mit exakter Recherche und faszinierendem Insiderwissen – und begeistert mit außergewöhnlichen Protagonisten, zu denen neben der coolen Cassie Raven und der spröden DS Phyllida Flyte auch Cassies eigensinnige polnische Großmutter gehört.  »A. K. Turner hat einen echten Thriller-Hit gelandet! Durchweg spannende Story, reichliche Details aus dem Metier der Rechtsmedizin, und eine Hauptfigur, die einem so schnell nicht wieder aus dem Kopf geht.« Denglers Buchkritik

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Seitenzahl: 492

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A. K. Turner

Tote schweigen nie

Thriller

Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Als Assistentin der Rechtsmedizin ist Cassie Raven schräge Blicke gewohnt. Möglicherweise ist auch ihr Gothic-Look mit zahlreichen Piercings und Tattoos nicht ganz unschuldig daran – ebenso wie ihre Überzeugung, dass die Toten mit uns sprechen, wenn wir nur ganz genau hinhören. Obwohl Cassie schon unzählige Körper seziert hat, war noch nie jemand darunter, den sie kannte, oder der ihr gar etwas bedeutet hätte. Bis eines Tages ihre geliebte Mentorin auf dem Seziertisch landet. Cassies Chef behauptet, deren Tod in der Badewanne sei ein Unfall gewesen. Doch der Körper der Toten erzählt eine andere Geschichte …

Inhaltsübersicht

Widmung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

FLYTE

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

FLYTE

13. Kapitel

14. Kapitel

FLYTE

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

FLYTE

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

FLYTE

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

FLYTE

33. Kapitel

FLYTE

34. Kapitel

FLYTE

35. Kapitel

36. Kapitel

FLYTE

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

FLYTE

41. Kapitel

FLYTE

42. Kapitel

FLYTE

43. Kapitel

FLYTE

44. Kapitel

FLYTE

45. Kapitel

46. Kapitel

FLYTE

47. Kapitel

FLYTE

48. Kapitel

FLYTE

49. Kapitel

FLYTE

50. Kapitel

51. Kapitel

FLYTE

52. Kapitel

53. Kapitel

Danksagung

Für Katy.

Und zum Andenken an Ann Edwards, die richtige »Mrs E«

1. Kapitel

Der Reißverschluss des Leichensacks öffnete sich und gab den Blick auf Cassies ersten Fall dieses Tages frei. Die halb offenen Augen der Frau, von verblüffend leuchtendem Blau, starrten blicklos zu ihr empor.

»Hallo, Mrs Connery.« Ihre Stimme wurde sanfter, wenn sie mit den Toten sprach. »Ich bin Cassie Raven, und ich kümmere mich um Sie, solange Sie bei uns sind.« Cassie zweifelte nicht daran, dass die Tote sie hören konnte, und hoffte, dass ihre Worte ihr ein kleiner Trost waren.

Am Vorabend war Kate Connery in ihrem Badezimmer zusammengebrochen und gestorben, als sie sich hatte bettfertig machen wollen, eine Woche vor ihrem fünfzigsten Geburtstag. Lachfältchen durchzogen ihr offenherziges Gesicht unter einem Haarschopf, dessen Farbe zu einheitlich brünett war, um natürlich zu sein.

Cassie schaute kurz zur Uhr hinauf und fluchte. Heute kam ein neuer Pathologe, um die Autopsien durchzuführen, und da Carl, der weniger erfahrene Sektionsassistent, krank war und sie drei Leichen auf dem Tisch hatten, würde sie alle Hände voll zu tun bekommen.

Trotzdem ließ sie sich Zeit dabei, Mrs Connery das Nachthemd über den Kopf zu ziehen. Ein schwacher Ammoniakgeruch, Schweiß oder Urin, stieg ihr in die Nase, als sie es zusammenfaltete und sorgfältig in einer Plastiktüte verstaute. Die Sachen, die jemand angehabt hatte, als er gestorben war, bedeuteten ihren Lieben viel, manchmal mehr als der Leichnam selbst, zu dem die trauernden Hinterbliebenen nur schwer eine Verbindung fanden. Ein Leichnam konnte einem wie ein leerer Koffer erscheinen.

»Wir müssen rauskriegen, was mit Ihnen passiert ist, Mrs C«, erklärte Cassie ihr. »Damit wir Antworten für Declan und Ihre Jungs finden können.« Seit ihrem ersten Tag in der Leichenhalle des Instituts für Rechtsmedizin vor fünf Jahren fand sie es vollkommen normal, mit den Leichen in ihrer Obhut zu sprechen, sie zu behandeln, als seien sie noch am Leben – als seien sie immer noch Menschen. Manchmal antworteten sie sogar.

Es war nicht so, als spräche jemand Lebendiges – zum Beispiel bewegten sich die Lippen der Toten nicht –, und es ging immer so schnell, dass es fast Einbildung sein könnte. Fast. Normalerweise sagten sie so etwas wie »Wo bin ich?« oder »Was ist passiert?« – schlichte Verwirrung angesichts des unbekannten Ortes, an dem sie sich wiederfanden –, aber hin und wieder war Cassie überzeugt, dass ihre Worte einen Hinweis darauf enthielten, wie sie ums Leben gekommen waren.

Cassie hatte nie einer Menschenseele von diesen »Gesprächen« erzählt; die Leute fanden sie auch so schon merkwürdig genug. Aber die wussten eben nicht, wovon sie tief in ihrem Innern überzeugt war: Die Toten konnten sprechen – wenn man sich nur darauf verstand, ihnen zuzuhören.

Das einzige äußerliche Zeichen dafür, dass irgendetwas mit Mrs Connery nicht stimmte, waren ein paar rote Flecken auf ihren Wangen und ihrer Stirn sowie ein faustgroßer blauer Fleck auf ihrem Brustbein, wo entweder ihr Mann oder ein Rettungshelfer verzweifelt versucht hatte, sie zu reanimieren. Cassie sah ihre Akte durch. Nach einem Abend im Pub, wo er sich ein Fußballspiel angesehen hatte, war Declan Connery nach Hause gekommen und hatte seine Frau bewusstlos auf dem Boden ihres Badezimmers vorgefunden. Ein Notarztwagen hatte sie eilends ins Krankenhaus gebracht, doch als sie dort ankam, war sie bereits tot gewesen.

Da Kate Connery unerwartet verstorben war – anscheinend hatte sie sich bester Gesundheit erfreut und war seit Monaten nicht beim Arzt gewesen –, war nur eine einfache Autopsie angesetzt, auch »Routine-Autopsie« genannt, um die Todesursache zu ermitteln.

Cassie legte Mrs Connery die Hand auf den kühlschrankkalten Unterarm und wartete, bis ihre eigene Körperwärme die Kälte vertrieb. »Können Sie mir sagen, was passiert ist?«, fragte sie halblaut.

Ein paar Sekunden lang geschah nichts. Dann spürte sie jenes vertraute Schlingergefühl, gefolgt von zerstreuter Verträumtheit. Gleichzeitig waren alle ihre Sinne plötzlich extrem geschärft: Das Summen des Leichenkühlschranks wuchs zum Brüllen eines Düsenflugzeugs an, die Deckenbeleuchtung war auf einmal schmerzhaft grell.

In der Luft über Mrs Connerys Leichnam schien der letzte Funken jener Energie zu knistern, die sie fünf Jahrzehnte lang belebt hatte. Und aus diesem Rauschen hörte Cassie ein leises, heiseres Flüstern heraus.

»Ich kriege keine Luft!«

2. Kapitel

Wie immer war es sofort wieder vorbei. Das Ganze erinnerte Cassie an das Erwachen aus einem sehr lebhaften Traum, wenn der Verstand sich mühte, Details festzuhalten – nur um zu spüren, dass sie ihm entglitten, wie Wasser durch offene Finger rinnt.

Jedenfalls waren Mrs Connerys Worte nicht besonders hilfreich. In der Akte stand nichts von Asthma oder einem Emphysem. Sie überlegte noch, ob sie irgendetwas damit anfangen konnte – und wenn ja, was –, als sie hörte, wie die Tür aufging. Es war Doug, der Institutsleiter, gefolgt von einem hochgewachsenen jüngeren Mann mit weichen Ponyfransen, den er als Dr. Archie Cuff vorstellte, den neuen Pathologen.

Cassie streifte den Handschuh ab und streckte ihm die Hand hin.

»Cassie Raven ist unsere erfahrenste Sektionsassistentin«, verkündete Doug strahlend. »Sie sorgt dafür, dass hier alles glatt läuft.«

Obwohl er Manschettenknöpfe und Krawatte trug (Manschettenknöpfe?!), konnte Cuff höchstens dreißig sein, kaum fünf Jahre älter als Cassie. Ein einziger Blick verriet ihr, dass seine Wachsjacke wirklich von Barbour war und kein Imitat – auf dem Metallplättchen am Reißverschluss war der Firmenname eingraviert. Und nach seiner Krawatte zu urteilen – dunkelblaue Seide mit dicken weißen Schrägstreifen –, war er auf die Harrow School gegangen. Solche Dinge fielen Cassie auf, schon immer.

»Ich freue mich auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, Cathy.« Er hatte diesen unechten, semi-umgangssprachlichen Akzent drauf, den die jungen Mitglieder der Königlichen Familie so gern benutzten, sein Lächeln war so oberflächlich wie das eines Ministers, und daran, wie sein Blick über sie hinwegglitt, erkannte Cassie, dass er sie bereits in einer Schublade mit dem Etikett »Lakai« abgelegt hatte.

Es passierte nicht oft, dass Cassie jemanden vom ersten Moment an nicht leiden konnte, aber bei Archie Cuff machte sie eine Ausnahme.

»Ich mich auch«, antwortete sie. »Vor allem, wenn Sie das mit meinem Namen noch richtig hinkriegen.«

Röte stieg aus Cuffs gestreiftem Hemdkragen bis zu den rötlich blonden Koteletten empor, aber wenigstens sah er sie diesmal richtig an. Und nach dem kurzen Aufflackern des Abscheus zu urteilen, das über seine Züge huschte, gefiel ihm nicht besonders, was er sah – auch wenn es schwer zu sagen war, ob es an den schwarz gefärbten Haaren mit dem hochrasierten Undercut oder ihren Gesichtspiercings lag oder einfach nur an der Art und Weise, wie sie seinem Blick standhielt. Sie musste gegen den pubertären Impuls ankämpfen, ihren Kasack anzuheben, um ihm ihre Tattoos zu zeigen.

Dougs Blick huschte zwischen ihnen hin und her wie der eines unerfahrenen Schiedsrichters bei einem Käfigkampf, sein Lächeln geriet ins Wanken. »Na schön, dann lass ich euch mal machen.« Cassie war klar, dass er sie wahrscheinlich später an seine goldene Regel erinnern würde: »Denken Sie immer daran, der Pathologe kann Ihnen Ihren Job versüßen – oder zum Albtraum machen.«

 

Nachdem Cuff Mrs Connery kurz untersucht hatte, wobei sie außer dem Notwendigsten kaum etwas miteinander sprachen, überließ Cuff es Cassie, den Leichnam auszuräumen.

Sie setzte das Messer direkt unterhalb von Mrs Connerys Hals an. Dies war der Moment, wo sie aufhören musste, Kate Connery als Menschen zu sehen, und anfangen musste, sie als ein Rätsel zu betrachten, das gelöst werden musste, als unkartierte Landschaft. Wie könnte man ohne diesen Perspektivwechsel einen seiner Mitmenschen aufschneiden?

Nach dem ersten Einschnitt ließ ein entschlossener Zug mit dem Messer am Brustbein entlang das Gewebe so leicht aufklaffen wie einen alten Seidenvorhang. Sie hielt nicht inne, als sie die Weichteile des Bauches erreichte, nahm jedoch den Druck weg, um die Organe darunter nicht zu beschädigen, und beendete den Einschnitt direkt oberhalb des Schambeins.

Binnen fünf Minuten hatte die Knochenschere Mrs Connerys Brustkorb eröffnet, sodass Herz und Lunge frei lagen, und Cassie löste die Organe geschickt aus. Nachdem das erledigt war, hob sie mit beiden Händen sämtliche Eingeweide, von der Zunge bis zur Harnröhre, auf einmal heraus – sie waren verblüffend schwer – und legte sie behutsam in eine bereitstehende Plastikwanne. Dies war ein feierlicher Moment, sie kam sich dabei immer vor wie eine Hebamme des Todes.

Nun zum Gehirn. Cassie trat hinter den Kopf der Toten, rückte den Block zurecht, der ihren Nacken stützte, und machte sich daran, die Kopfhaut zu durchtrennen. Der Schnitt wurde von Ohr zu Ohr geführt, quer über den Scheitel, damit die Naht später von Mrs Connerys Haar verdeckt werden konnte – das war besonders wichtig, weil die Connerys eine Trauerfeier mit offenem Sarg geplant hatten. Als sie das dicke dunkle Haar scheitelte und einen Teil über die Stirn nach vorn kämmte, entdeckte sie einen glänzenden roten Fleck auf der Kopfhaut. Ein Ekzem? Wenn ja, dann war das in der Krankenakte nicht erwähnt worden, aber Ekzeme brachten einen ja auch nicht um.

Nachdem sie die aufgeschnittene Kopfhaut nach vorne und hinten auseinandergeklappt hatte, griff Cassie zur oszillierenden Knochensäge. Kurz darauf hatte sie die Schädeldecke vorsichtig abgehoben und löste das Gehirn aus. Während sie es einen Moment lang in den beiden Händen hielt, stellte sie sich vor, wie Kate Connery als lebendiger Mensch gewesen sein mochte – eine bodenständige, fröhliche Matriarchin, umgeben von Freunden und Familie bei einer Kneipentour durch Camden Town.

Als Archie Cuff in OP-Kleidung zurückkehrte, blieb die Atmosphäre zwischen ihnen frostig: In den gut vierzig Minuten, die er brauchte, um Mrs Connerys Organe zu sezieren, richtete er nur ein einziges Mal das Wort an Cassie – um sich zu beschweren, dass sein Skalpell stumpf sei. Das bestätigte ihren ersten Eindruck von ihm: Nur ein weiterer in der langen Reihe vornehmer Jüngelchen, für die Sektionsassistenten knapp über Schlachthausgehilfen rangierten. Ein erfahrenerer Pathologe hätte sie nach ihrer Einschätzung hinsichtlich der Todesursache gefragt, und das nicht nur aus Höflichkeit: Sektionsassistenten verbrachten sehr viel mehr Zeit mit den Leichen und bemerkten manchmal Hinweise, die sonst leicht übersehen werden konnten.

Während Cuff zum Waschbecken ging, um sich die blutigen Handschuhe abzuspülen, machte Cassie sich daran, Mrs Connerys Organe in einen Plastikbeutel zu packen, bereit, wieder mit ihrem Körper vereint zu werden.

»Und, wie lautet die Diagnose?«, fragte sie.

»Da gibt’s keine schlüssige Todesursache«, antwortete er achselzuckend. »Wir müssen abwarten, ob das Labor was Brauchbares findet.« Mrs Connerys Körperflüssigkeiten würden histopathologisch auf Drogen und Gewebeproben ihrer Organe auf Krankheitsanzeichen untersucht werden.

»Haben Sie in der Lunge Petechien gefunden?«, erkundigte sich Cassie beiläufig.

Cuff drehte sich zu ihr um. »Wieso?« Also hatte er welche gefunden.

Sie hob eine Schulter. »Ich fand nur, dass ihr Gesicht ziemlich verkrampft aussah.«

Ich kriege keine Luft.

Petechien – winzige geplatzte Blutgefäße – konnten ein Zeichen von Sauerstoffmangel sein.

Cuff wirkte plötzlich nervös. »Sie lag auf dem Bauch, als sie gefunden wurde. Nach dem neuesten Forschungsstand kann eine Bauchlage post mortem durchaus zu petechialen Einblutungen führen.« Er brachte ein herablassendes Lächeln zustande. »Falls Sie scharf auf einen saftigen Mord sind, haben Sie Pech, fürchte ich. Es gibt keinerlei Anzeichen für Strangulation oder gewaltsam herbeigeführtes Ersticken.«

Cassie wusste genau wie er, dass Ersticken durchaus auch eine medizinische Ursache haben konnte, doch sie verkniff sich eine Erwiderung. Als sie ein kleines Stück Niere für das Labor in ein Gefäß mit Formaldehyd fallen ließ, fiel ihr Blick auf Mrs Connerys Leichnam auf dem Autopsietisch: der Brustkorb lag aufgespreizt da wie ein offenes Buch, finstere Leere dort, wo ihre Organe hingehörten. Über dem geschändeten Körper wirkte ihr glänzendes, brünettes Haar fehl am Platze.

Das Licht der Deckenbeleuchtung flackerte grell und zwang Cassie, die Augen zu schließen. Der allgegenwärtige Formaldehydgestank war plötzlich stark genug, um hinten im Rachen zu brennen. Hinter ihren Augenlidern flackerten Bilder: Mrs Connerys rotfleckiges Gesicht, dieser schuppige Fleck auf ihrer Kopfhaut. Ihre Kehle wurde eng wie aus Mitgefühl – und jäh fiel jedes Puzzleteil an seinen Platz.

»Ich geh nur mal schnell aufs Klo«, sagte sie zu Cuff, ehe sie in den Flur hinausschlüpfte und dort ihr Handy zückte.

»Mr Connery? … Hier ist Cassie Raven, von der Pathologie.«

 

Zehn Minuten später war sie zurück. »Entschuldigung, dass es so lange gedauert hat«, sagte sie zu Cuff. »Aber ich hatte gerade ein sehr interessantes Gespräch mit Mrs Connerys Mann.«

»Ihrem Mann …?« Er klang verwirrt. Die Vorstellung, dass ein Leichnam einen Ehepartner haben könnte, schien ihm fremd zu sein.

»Ja. Bevor er gestern Abend aus dem Haus gegangen ist, hatte sie ihm gesagt, dass sie sich die Haare färben wollte.«

»Ich verstehe nicht, was …«

»Er sagt, sie hätte schon zwei Mal allergisch auf ihr Haarfärbemittel reagiert. Nichts allzu Ernstes. Aber es sieht aus, als hätte es diesmal einen tödlichen anaphylaktischen Schock ausgelöst.«

3. Kapitel

»Ich bin’s nur, Babcia!« Cassie hatte auf die harte Tour gelernt, dass es besser war, ihre Ankunft laut zu verkünden, wenn sie die Wohnung ihrer Großmutter betrat, die nach dem frühen Tod ihrer Eltern das Zuhause ihrer Kindheit geworden war. Einmal, mit siebzehn, hätte sie beinahe ein Nudelholz über den Schädel gekriegt, als sie um drei Uhr morgens hereingepoltert war, zugedröhnt mit Ecstasy.

Als kleines Mädchen hatte sie diesen Moment immer toll gefunden, wenn sie von dem windgepeitschten Beton-Laufgang in die mollig warme, nach Zimt duftende Wohnung trat – als wäre die Wohnungstür eine Art Zaubertor in eine andere Welt.

»Cassandra, tygrysek!« Ihre Großmutter wandte sich vom Herd ab, um sie zu begrüßen. Sie reichte Cassie nur knapp bis zur Nase, doch ihre Umarmung war kräftig genug, um einem die Rippen zu brechen. »Du hast abgenommen«, bemerkte sie vorwurfsvoll.

»Na, an dir liegt das nicht.« Cassie schnupperte. »Pilze und Sauerrahm. Mit … Klößchen. Und Mohnkuchen zum Nachtisch?«

Mit zusammengekniffenen Augen schaute ihre Großmutter zu ihr auf. »Die Pilze, die kannst du natürlich riechen. Aber wie kommst du auf die Klößchen?«

Cassie strich mit dem Finger über den Rand der Arbeitsfläche und zeigte ihrer Großmutter die weißen Spuren auf ihrer Fingerspitze. »Du hast entweder Kopytka gemacht oder Brot gebacken – und ich rieche keine Hefe.«

»Und der Mohnkuchen?«

»Im Flur liegt eine neue Ausgabe von der Zeitschrift, die du so gern magst. Das heißt, du warst in dem polnischen Laden in Islington – und da gehst du nie hin, ohne Makowiec zu kaufen.«

»Geh rein und setz dich hin, du Schlaumeier.« Unfähig, sich ein Lächeln zu verbeißen, scheuchte ihre Großmutter sie aus der Küche.

Im Wohnzimmer sank Cassie in einen Sessel und spürte, wie sich die Wärme wie eine Daunendecke über sie legte; das einzige Geräusch war das tröstliche Pop-Pop der Gasflamme im Kamin. Schwer zu glauben, dass die Wohnung für sie als Teenager wie eine überheizte Gefängniszelle gewesen war, mit ihrer Großmutter als scharfäugiger Oberwärterin. Im Alter von sechzehn Jahren hatte Cassie sich bereits die Zunge piercen lassen, sich eine türkisblaue Strähne ins Haar gefärbt und zum ersten Mal Skunk geraucht, hammerstarkes Marihuana. Was die Schule anging … »Cassie zieht es vor, ihre Lehrer infrage zu stellen, anstatt von ihnen zu lernen« lautete ein typischer Zeugniseintrag. Damals war es ihr vorgekommen, als hätte sich die gesamte Erwachsenenwelt gegen sie verbündet, mit einem einzigen Ziel: ihr Recht auf Selbstentfaltung zunichtezumachen.

Aus der Küche hörte sie »Ich hab was für dich«, gefolgt vom Geräusch der zufallenden Gefrierschranktür.

Babcia kam mit den Händen auf dem Rücken herein, bevor sie ihr ein langes, starres, in Plastik gewickeltes Päckchen hinhielt. »Dreimal darfst du raten.«

In dem Päckchen fand Cassie ein steif gefrorenes Eichhörnchen. Sie legte es mit dem Bauch nach oben auf ihren Schoß und untersuchte es ebenso behutsam, wie sie mit einem ihrer menschlichen Schützlinge umgehen würde. Dabei stellte sie sich vor, wie es ausgestopft wieder zu einer anderen Art Leben erwachen würde. Taxidermie war ihr neues Hobby.

Die meisten Leute würden ein totes Eichhörnchen für ein sehr abwegiges Geschenk halten, doch die wussten auch nicht, was Babcia wusste – dass Cassie sich von klein auf zu toten Lebewesen hingezogen gefühlt hatte. Sie erinnerte sich immer noch an das erste Mal, als sie einen totgefahrenen Fuchs am Straßenrand gesehen hatte. Sie hatte sich gebückt, um das borstige rote Fell des armen Viehs zu streicheln, und ihn dabei ganz kurz verwandelt vor sich gesehen, wieder als herumtollenden Welpen.

»Du bist aber schön.« Sie strich dem Eichhörnchen über den unversehrten Pelz – zu vollkommen, als dass es überfahren worden sein konnte. »Wo hast du’s her?«

»Vom Müllmann. Der schuldet mir noch was.«

Cassie fragte lieber nicht, was das zu bedeuten hatte: Ihre Großmutter führte in ihrem Wohnblock einen Eine-Frau-Krieg gegen Graffiti, wildes Müllabladen und anderes asoziales Verhalten. Vor ein paar Wochen hatte sie sich sogar mit einem Drogendealer angelegt, der im Treppenhaus Schulkindern Gras verkauft hatte. Doch immer, wenn Cassie versuchte, ihr solche riskanten Unterfangen auszureden, hob die alte Dame nur das Kinn und antwortete, sie sei nicht in ein freies Land ausgewandert, um in Angst zu leben. Genau wie Cassie war auch Weronika Janek in ihrer Jugend eine Rebellin gewesen – mit dem Unterschied, dass ihre Beteiligung an den Protesten gegen das kommunistische Regime Polens in den Fünfzigerjahren ihr sechs Monate Gefängnis eingetragen hatte.

Als das Abendessen fertig war, klappte sie den alten, mit grünem Filz bezogenen Kartentisch aus, den ihre Großmutter als Esstisch benutzte. Beim Essen erwähnte sie den neuen Pathologen.

»Und du magst ihn nicht.« Weronikas Blick war durchdringend.

»Meine Meinung zählt nicht. Ich bin ja nur eine von den Untergebenen.«

Nur hatte die Untergebene heute einen kleinen Sieg eingefahren.

Sie erzählte die Geschichte, wobei sie den Teil ausließ, als Mrs Connery gesagt hatte, sie kriege keine Luft: Ihre Gespräche mit den Toten waren zu … sakrosankt, um sie mit irgendjemandem zu teilen, nicht einmal mit ihrer Großmutter. Und außerdem musste sie, wenn sie diese Momente ganz rational betrachtete, eingestehen, dass da möglicherweise einfach ihr Unterbewusstsein zwei und zwei zusammenzählte. Hatte sie zum Beispiel die Flecken auf Mrs Connerys Gesicht nicht bemerkt, bevor sie sie gehört hatte?

»Ihr Mann hat mir erzählt, dass sie nach dem Haarefärben schon öfter Ausschlag bekommen hatte.«

»Aber sie hat trotzdem weiter dieselbe Farbe benutzt?«

»Wahrscheinlich hat sie gedacht, das Ganze wäre schon ein paar Hautreizungen wert.« Die schuppige, rote Stelle auf Mrs Connerys Kopfhaut, die Cassie entdeckt hatte, war kein Ekzem gewesen, sondern eine letzte Spur von Urtikaria, einem allergiebedingten Hautausschlag. »Ihr Hausarzt hat sie nicht vor dem Risiko gewarnt, dass ihr Immunsystem jedes Mal mehr sensibilisiert wird, wenn sie sich die Haare färbt. Gestern ist es dann durchgedreht. Ihre Luftröhre ist so zugeschwollen, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes keine Luft mehr bekommen hat.«

»Die Arme.« Weronika bekreuzigte sich. »Und warum ist dieser neunmalkluge Doktor nicht darauf gekommen?«

Wieder sah Cassie Archie Cuffs verdatterte Miene vor sich, als ihm klar geworden war, dass eine niedere Sektionsassistentin möglicherweise auf die Ursache von Mrs Connerys Tod gestoßen sein könnte. Ein paar Minuten später hatte er ihr ein unterschriebenes Formular in die Hand gedrückt, das die spezielle Blutuntersuchung anordnete, die nötig war, um ihre Theorie zu bestätigen – alles ohne auch nur ein Wort zu sagen.

Arsch.

»Fairerweise muss man sagen, dass die für eine Routineautopsie auch nur dreißig bis vierzig Minuten Zeit kriegen, und Anaphylaxie ist nach dem Tod auch echt schwer zu diagnostizieren.«

»Aber du hast doch was gemerkt. Dir fallen Kleinigkeiten auf, die andere Leute übersehen – das war schon immer so, schon als du noch klein warst.« Sie zeigte mit ihrer Gabel auf Cassie. »Du solltest einer von diesen Leichendoktoren sein, den Grips dafür hast du jedenfalls!«

Cassie zuckte skeptisch die Achseln – dies war ein ziemlich abgedroschenes Streitthema zwischen ihnen. Sie wusste, dass sie eine gute Sektionsassistentin war, doch die Vorstellung, Pathologin zu werden? Das war doch lächerlich – als würde man fünf gegen fünf im Park herumkicken und dann für Arsenal auflaufen. Ein Medizinstudium, das war nichts für junge Frauen wie sie – halb gebildet und in einer Sozialsiedlung aufgewachsen. Das war etwas für Leute wie Archie Cuff – männlich und wohlhabend, die eingehüllt in eine Blase aus unerschütterlichem Selbstvertrauen durchs Leben zu schweben schienen.

»Und was ist mit dem Abitur, das du in der Abendschule gemacht hast?« Ihre Großmutter zählte die Fächer an den Fingern auf. »Eine Eins in Biologie und Chemie, eine Zwei in Physik. Und eine Eins plus in Englisch.«

»… die ungefähr so nützlich ist wie Makramee, Gran.«

Nachdem sie nach der zehnten Klasse von der Schule abgegangen war, hatte Cassie einfach nur weggewollt. Sie liebte ihre Großmutter, doch der Altersunterschied von fast fünfundfünfzig Jahren zwischen ihnen war ihr wie eine unüberbrückbare Kluft erschienen. Sie hatte davon geträumt, ins Ausland zu gehen, in irgendeiner coolen Stadt zu leben, wie Berlin. Doch als Mazz, ihr damaliger Freund, ihr von einem Zimmer erzählt hatte, das in einem von Hausbesetzern bewohnten, ungenutzten Bürogebäude in Chalk Farm leer stand, hatte sie das besser gefunden als gar nichts.

Am Tag nach ihrem siebzehnten Geburtstag, gebeugt unter der Last eines randvoll gestopften Rucksacks, hatte Cassie ihre Großmutter auf der Türschwelle zum Abschied umarmt, beide den Tränen nahe. Doch auf der Straße angekommen, waren Cassies Tränen bereits einem wachsenden Gefühl freudiger Erregung gewichen: Endlich war sie frei und begann ein richtiges Erwachsenenleben, niemandem mehr Rechenschaft schuldig.

Nachdem die Beziehung mit Mazz sich schon drei Monate später aufgelöst hatte, blieb Cassie bei den Hausbesetzern und zog mit ihnen nach jeder unvermeidlichen Räumung immer wieder in das nächste Gebäude. Ein bequemes Leben konnte man das nicht nennen – sie waren ständig pleite und oft ohne Strom und Wasser, doch ihre wechselnden Mitbewohner waren eine tolle Mischung aus Verrückten und Kreativen. Loyal bis zum Äußersten, teilten sie alles miteinander, was sie hatten, von Lebensmitteln bis zu Drogen, und sie genoss diese Freiheit am Rande der Gesellschaft – zumindest eine Zeit lang.

Nach ungefähr anderthalb Jahren dieses Vagabundenlebens stand Cassie eines Tages auf der Straße und verkaufte die Obdachlosenzeitung, als sie eine Begegnung hatte, die alles verändern sollte. Eine modisch gekleidete Frau Mitte vierzig blieb stehen, um eine Zeitung zu kaufen, und kam mit ihr ins Gespräch. Sie war Lehrerin für Naturwissenschaften an der Einrichtung für Erwachsenenbildung im Viertel. Schon bald kam sie regelmäßig vorbei und brachte immer ein Sandwich oder einen Becher Kaffee mit.

Sie unterhielten sich über wahnsinnig viele verschiedene Themen, von der Frage, wie das Auge Farben wahrnimmt, über die Entdeckung von Wasser auf dem Mars bis hin zu der Erkenntnis, dass Europäer fünf Prozent Neandertaler-DNA aufweisen. Diese Begegnungen ließen Cassies Gehirn in alle Richtungen sprühen wie ein Feuerrad. Ein paar Wochen später schrieb sie sich an der Abendschule für Naturwissenschaften bei Mrs Edwards ein – oder vielmehr Mrs E, wie ihre Schüler sie nannten. Nach einem schwierigen Start hatte Cassie Wissen inhaliert wie ein Apnoe-Taucher Luft nach einem Tauchgang.

»Also, eins weiß ich«, sagte Weronika jetzt, »deine Mama, Gott gebe ihrer Seele Frieden, wäre ja so stolz auf dich.«

Cassie folgte ihrem Blick mit den Augen zu einem Foto auf dem Kaminsims, auf dem ein hübsches Mädchen Ende zwanzig in einer Rüschenbluse zu sehen war, mit einem schüchternen Lächeln unter braunem Haar. Ihre Mum war gerade fünfundzwanzig gewesen, ihr Dad ein paar Jahre älter, als sie bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, Opfer eines minderjährigen Fahrers in einem gestohlenen Porsche. Cassie war damals erst vier Jahre alt gewesen und konnte sich kaum an ihre Mutter erinnern, abgesehen von einer Handvoll flüchtiger Eindrücke: eine weiche Wange zur Schlafenszeit, der süße Wassermelonenduft ihres Parfums, ein Kleid mit riesigen orangeroten Mohnblüten drauf. Aus irgendeinem Grund waren die Erinnerungen an ihren Dad deutlicher. Auf seinen Schultern durch einen Wald getragen zu werden, die Hände fest in seine dunklen Locken geklammert. Die lustigen Grimassen, die er schnitt, wenn er mit einer Gabel voll Essen, das sie nicht mochte, Flugzeug spielte – dasselbe Gesicht, das sich plötzlich und sehr überzeugend zur Fratze eines Monsters verzerren konnte.

»Babcia … Wie alt war ich, als ich angefangen habe, tote Tiere mit nach Hause zu bringen?«

Weronika blickte verblüfft auf: Ihre Enkelin war eigentlich nicht der Typ für Selbstbetrachtungen. »Oh, ungefähr vier, vielleicht auch fünf. Unser erster Hausgast war eine tote Elster, die hast du draußen auf dem Laufgang gefunden.«

»Das weiß ich noch. Sie hatte so ein schönes Gefieder. Ich konnte gar nicht fassen, dass etwas so Schönes nie wieder fliegen würde.«

»Es war verflixt schwer, dich von ihr zu trennen«, schmunzelte Weronika. »Ich hab dir gesagt, der Körper wäre nur eine Verpackung – wie eine leere Bonbontüte –, und ihre Seele wäre schon davongeflogen. Pfouff!« Sie warf die geöffneten Hände in die Luft, als ließe sie einen Vogel fliegen. »Am Schluss habe ich dich davon überzeugen können, dass Seele und Körper im Himmel wieder vereint würden, wenn wir das arme Ding anständig begraben. Ich habe einen Schuhkarton hervorgesucht, als Sarg, und ein bisschen was von meinem Potpourri um die Leiche gestreut.« Sie lachte laut auf. »Wir haben sie im Kanal davonschwimmen lassen wie einen toten Wikinger. Das hat dich zwar nicht davon abgehalten, weiter tote Viecher anzuschleppen, aber wenigstens sind die nicht auf Dauer bei uns eingezogen.«

»Hast du je daran gedacht, mit mir zum Psychiater zu gehen?« Cassie trank einen Schluck Wasser und wich dem durchdringenden Blick ihrer Großmutter aus.

»Wieso?« Babcias Stimme klang plötzlich reserviert.

»Na, ich weiß nicht, ein kleines Kind, das tote Tiere nach Hause bringt … Die meisten Vierjährigen stehen doch nicht auf so was, oder?«

Nicht zum ersten Mal in ihrem Leben spürte Cassie eine deutliche Veränderung in der Atmosphäre. Irgendetwas Unausgesprochenes hing in der Luft – als verschweige ihre Großmutter ihr etwas.

»Du brauchtest keinen Kopfdoktor.« Ihre Großmutter streckte die Hand aus und umschloss die ihre mit ihrem warmen, ledrigen Griff. »Ich hab das doch verstanden. Du warst ein kleines Mädchen, das seine Mama verloren hatte.«

 

Cassie schloss die Tür zu ihrer eigenen Wohnung im neunten Stock eines verfallenen Wohnblocks nördlich des Kanals auf. Ein Drittel der Wohnungen in dem Gebäude waren inzwischen mit Brettern vernagelt, doch sie hatte Glück gehabt, ihre zu bekommen – auf der Warteliste nach oben zu rutschen, war einer der Vorteile daran, für den Gesundheitsdienst zu arbeiten.

In der Wohnung ließ eine geschmeidige Bewegung in der Finsternis sie zusammenfahren.

»Macavity! Lass das!« Als der Kater sich zwischen ihren Beinen hindurchwand, stellte sie sich vor, wie er lautlos in sich hineinlachte.

Sie strich ihm über den seidigen Kopf und verspürte einen schmerzhaften Stich: In letzter Zeit war er der Einzige, der sie begrüßte. Es war vier Monate her, dass sie sich von Rachel getrennt hatte – ungefähr genauso lange, wie sie zusammengewohnt hatten –, doch jetzt, wo der Winter allmählich anfing, Ernst zu machen, fiel es ihr schwerer, in eine kalte, leere Wohnung heimzukehren.

Sie drehte die Heizung auf und dachte daran, was ihre Großmutter angedeutet hatte: dass ihre kindliche Begeisterung für tote Tiere eine Möglichkeit gewesen war, mit dem Verlust ihrer Eltern in so jungen Jahren fertigzuwerden. Rachel – die mit ihrer Ausbildung zur Psychotherapeutin gerade zur Hälfte fertig war – hätte dem zugestimmt; sie hatte mehr als einmal versucht, Cassie davon zu überzeugen, dass sie möglicherweise an etwas litt, das man »unbewältigte Trauer« nannte. Rachel zufolge tat Cassie sich schwer mit Beziehungen, weil sie den Tod ihrer Eltern nie richtig verarbeitet hatte.

Psycho-Gelaber.

Für Cassie war ihre Verbindung zu den Toten eine Berufung, eine Gabe, die sie zu ihrem Glück schon früh im Leben entdeckt hatte. Und wenn sie Schwierigkeiten hatte, jemanden zu finden, der sie verstand, nun, das war ja wohl nicht gerade ungewöhnlich, oder?

Aus einem Impuls heraus tat sie etwas, was sie sich seit Monaten verwehrt hatte, und ging auf Rachels Facebookseite. Ärgerlicherweise zog sich beim Anblick des lachenden, sommersprossigen Gesichts in ihrem Bauch noch immer alles zusammen. Dann sah sie die drei Worte.

In einer Beziehung.

Sofort schloss sie das Fenster. Na ja, irgendwann hatte das ja passieren müssen. Sie bereute die Trennung nicht, sagte sie sich: Es war der richtige Zeitpunkt gewesen, um sich zu lösen. Ein verräterischer Gedanke brodelte in ihr hoch: Du löst dich andauernd aus irgendwas. Cassie ging auf, dass sie in ein paar Wochen sechsundzwanzig sein würde und dass ihre längste Beziehung bisher nicht einmal die Sechs-Monate-Marke geknackt hatte.

Manchmal zogen mitten in der Nacht ihre ehemaligen Partner, männliche wie weibliche, durch ihre Gedanken und wiederholten ihre Klagen. Ich komm nicht an dich ran, Cassie … Ich weiß nie, was du denkst … Es ist, als wärst du hinter Plexiglas. Alles Variationen eines einzigen Themas. Seit Kurzem hatte sich noch die Erinnerung an das dazugesellt, was Rachel an dem Tag gesagt hatte, bevor sie ausgezogen war. Mir ist jetzt klar, dass du mich nie reinlassen wirst. Ihre Worte klangen endgültig, aber ihre Miene hatte Cassie verraten, dass sie auf Widerspruch wartete, darauf, dass Cassie um sie kämpfte, dass sie Änderung versprach.

Vielleicht haben sie ja recht, dachte sie. Vielleicht bin ich einfach nicht für Beziehungen mit Lebenden gemacht.

Sie hob den Kater hoch und vergrub das Gesicht in seinem Fell. Als er sich wehrte, die Beine steif gegen ihre Brust stemmte, setzte sie ihn wieder ab. Einen Moment lang starrte er zu ihr herauf, ehe er wegschaute. Seine Rückenmuskeln zogen sich in einem einzigen, sparsamen Protestzucken zusammen, woraufhin sie lächeln musste.

»Du und ich, wir sind uns ganz schön ähnlich, was, Macavity? Wir sind allein besser dran.«

4. Kapitel

Es gab doch keine bessere Methode, die eigenen miesen kleinen Probleme richtig einzuordnen, als trauernde Angehörige zu betreuen. Dieser Gedanke schoss Cassie am nächsten Morgen durch den Kopf, als sie Mr und Mrs Middleton zum Leichnam ihres neunzehnjährigen Sohns Jake führte.

Jake Middleton war gestern Nachmittag beim Rugbytraining kollabiert. Er war mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus geflogen worden, eine Stunde später jedoch trotz aller Reanimationsversuche an Herzversagen gestorben. Seine Mum und sein Dad waren im Urlaub in Barcelona gewesen und heute früh direkt vom Flughafen gekommen, um ihren Sohn zu sehen.

Mrs Middletons geschwollene Augen und ihr völlig zerstörtes Gesicht zeugten von einer Nacht unvorstellbaren Kummers, während ihr Mann in seinem teuren Anzug so starr vor unterdrückten Emotionen war, dass er aussah, als könne er bei der kleinsten Berührung in tausend Stücke zerspringen.

So hat mein Vater mich auch mal geliebt, dachte Cassie aus heiterem Himmel und sah sein anfeuerndes Lächeln vor sich, als er sie auf einem Tretroller schob. Sie war hin- und hergerissen, wollte diese neue Erinnerung festhalten und war zugleich verstört, weil sie in einem so unpassenden Moment auftauchte.

Sie geleitete die Middletons in das Besichtigungszimmer, schloss die Tür und nutzte den Augenblick, um sich zu sammeln. »Also, wenn ich den Vorhang aufziehe, werden Sie Jake in einem Bett liegen sehen. Er ist mit einer Bettdecke zugedeckt und hat ein Kissen unter dem Kopf.« Die Leute darauf vorzubereiten, was sie gleich erblicken würden, half, den Schock zu mildern – ein bisschen. Und sie hatte sich Zeit genommen, um Jake zurechtzumachen, hatte ihm das Haar gekämmt und den Schlamm aus dem Gesicht gewaschen und auch daran gedacht, ihm ein zusammengerolltes Handtuch unter den Nacken zu legen – das kippte den Kopf nach hinten und verhinderte, dass der Unterkiefer herunterklappte.

»Sagen Sie einfach Bescheid, wenn Sie so weit sind«, sagte sie.

Mr Middleton nickte ungeduldig. Die Schwester aus der Notaufnahme hatte gesagt, er sei irgendetwas Hochgestochenes, in der City, doch als sie den angetrockneten Rasierschaum unter dem einen Ohr bemerkte, wallte Mitleid in Cassie auf: Für jemanden, der so daran gewöhnt war, alles unter Kontrolle zu haben, musste es schlimm sein, sich einem Problem gegenüberzusehen, das nicht gelöst werden konnte.

Sie zog an der Schnur, die den Vorhang öffnete.

Als sie das scharf geschnittene Profil ihres Sohnes erblickte, sackte Jakes Mum in sich zusammen und wäre ohne Cassies stützende Hand unter ihrem Ellenbogen gestürzt. Die Augen des Vaters blieben trocken, sein Gesicht so regungslos wie eine aus Holz geschnitzte Maske. Er war derjenige, den sie im Auge behalten musste, er konnte jederzeit ohne Vorwarnung in die Luft gehen.

»Darf ich … ihn anfassen?« Es war schwer, in Mrs Middletons von Tränen verheertes Gesicht zu blicken, doch Cassie wich ihrem Blick nicht aus.

»Selbstverständlich.« Sie öffnete ihr die Glastür.

Nach nur wenigen Minuten allein mit seinem Sohn kam Jakes Dad allein heraus, ein merkwürdiges Beinahe-Lächeln im Gesicht.

Jetzt kommt’s, dachte Cassie.

»Der Arzt hat etwas von einer … Autopsie gesagt.«

»Ja, Mr Middleton. Der Rechtsmediziner hat darum gebeten – um herauszufinden, was Jakes Tod verursacht hat.«

Er beugte sich zu ihr vor. »Jetzt hören Sie mir mal zu.« Seine Stimme war ein leises Grollen. »Sagen Sie dem Rechtsmediziner, wenn irgendwer diesen Jungen da drin – meinen Sohn – auch nur anrührt, dann finde ich den Kerl und bringe ihn um.«

Cassie hielt seinem Blick stand. »Mir würde es genauso gehen, wenn er mein Sohn wäre. So ein wunderschöner Junge, nicht wahr?«

Einen Moment lang machte Mr Middleton ein verwirrtes Gesicht, ehe er wortlos nickte und die lange zurückgehaltenen Tränen über seine Wangen strömten.

Als Cassie die beiden zur Tür brachte, über eine Stunde später, stieß Mr Middleton keine Morddrohungen mehr gegen jeden aus, der seinen Sohn anrührte – er hatte sogar eingesehen, dass es vielleicht helfen würde zu erfahren, was ihnen Jake genommen hatte.

In der Toilette brachte Cassie ihren Nasenring und den Augenbrauenstecker wieder an ihren Platz und schlang den oberen Teil ihres Haares von Neuem zu dem üblichen Knoten oben auf dem Kopf, sodass die rasierte Fläche über ihrem rechten Ohr zu sehen war. Wenn Angehörige kamen, um einen Toten zu sehen, fuhr sie ihren Look immer ein wenig herunter, weil sie wusste, dass manche Leute Anstoß daran nahmen, vor allem die ältere Generation. Das machte schon ein bisschen Mühe, doch es störte sie nicht: dass sich die Hinterbliebenen so wohl wie möglich fühlten, war wichtiger als alles andere.

Vielleicht war über die Jahre sogar noch mehr daraus geworden, dachte sie, ein Ritual, das die Grenze zwischen ihrer Arbeit mit den Lebenden und den Toten markierte.

Es war eine Erleichterung, in den Sektionssaal zurückzukehren, wo eine Gestalt in einem Leichensack auf ihrem Tisch auf sie wartete. Netterweise hatte Carl, der jüngere Sektionsassistent, der gestern krankgeschrieben gewesen war, ihren Anwärter für die Mittags-Autopsien schon aus der Kühlung geholt.

»War’s schlimm?« Carl, der gerade saubere Probengefäße bereitstellte, schaute sie an.

»Ist es doch immer.«

Carl nickte. Obwohl er erst zweiundzwanzig und noch relativ neu in diesem Beruf war, wusste er, was Sache war: Das Schwerste an ihrem Job war nicht der Umgang mit den Toten, sondern sich um die trauernden Angehörigen zu kümmern.

Dickes Plastik knisterte, als Cassie den Reißverschluss aufzog. Doch sie kam nur bis zum Schlüsselbein, ehe sie zurückfuhr und es ihr den Atem verschlug.

Bestimmt hatte sie irgendein Geräusch von sich gegeben, denn Carl war plötzlich neben ihr und fasste sie am Ellenbogen, so wie sie vorhin Mrs Middleton.

»Cassie? Was ist denn los?«

»Es … die Frau da.« Sie zeigte auf den Zettel an dem Leichensack, erstaunt, wie ruhig ihre Stimme klang. »Geraldine Edwards. Ich kenne sie.«

5. Kapitel

Mit zurückgelegtem Kopf lehnte sich Cassie an die hintere Wand der Leichenhalle. Sie bemerkte den kalten Regen kaum, der auf ihre Wangen prasselte, und lechzte nach einer Zigarette.

Mrs Edwards, tot. Wieder hörte sie das Knistern des aufklaffenden Leichensacks, sah abermals das vertraute Gesicht vor sich und konnte es trotzdem immer noch nicht fassen. Zum ersten Mal verstand sie die Verwirrtheit, die sie in den Augen der Hinterbliebenen sah: die Unmöglichkeit, den Menschen, den man liebte – lebendig, warm, am Leben –, mit der leblosen Schaufensterpuppe in Verbindung zu bringen, die da in der Leichenhalle lag.

Cassies Zufallsbegegnung mit Geraldine Edwards, damals, als sie die Obdachlosenzeitung verkauft hatte, hatte ihr Leben verändert. Mrs E hatte sie nicht nur dazu inspiriert, wieder zur Schule zu gehen, sie war auch die erste Lehrerin gewesen, die die Unsicherheit und den Wissensdurst hinter Cassies trotziger Fassade erkannt hatte. Sie hatte Cassie durch zwei Jahre Abendschule gelotst, ihr Nachhilfe gegeben und sie dazu gebracht, daran zu glauben, dass sie ihre Prüfungen bestehen konnte – sogar in der gefürchteten Physik.

Nachdem sie ihr Fachabitur mit lauter Einsen abgeschlossen und angefangen hatte, in der Pathologie zu arbeiten, waren sie Freundinnen geblieben, sodass Cassie an den meisten Sonntagen auf einen Kaffee bei ihrer ehemaligen Lehrerin vorbeischaute. Eine behagliche Tradition, die sie fünf Jahre lang beibehalten hatten, bis Cassie vor ein paar Monaten auf etwas, das Mrs E gesagt hatte, überreagiert hatte. Seitdem hatten sie sich nicht mehr gesehen – bis letzte Woche, als Cassie ihre frühere Lehrerin zufällig in der Obst-und-Gemüse-Abteilung des Supermarkts gesehen hatte. Mit jäher Scham dachte sie daran, wie sie sich in den Gang mit den Backwaren verdrückt und dort herumgelungert hatte, bis die Luft rein war.

Jetzt traf sie ein Gedanke mit brutaler Wucht: Dieser Augenblick war ihre letzte Chance gewesen, alles wieder geradezubiegen, wieder Verbindung mit jemandem aufzunehmen, der eine so gewaltige Rolle in ihrem Leben gespielt hatte. Und sie hatte es vergeigt.

Nun, etwas konnte sie noch für ihre ehemalige Freundin und Lehrerin tun.

 

»Das ist echt keine gute Idee, Cassie«, meinte Doug besorgt, nachdem sie ihm erzählt hatte, wer da im Sektionssaal darauf wartete, für die Autopsie vorbereitet zu werden. »Sie kennen doch die Regeln – wir arbeiten nicht an Menschen, die wir kennen. Das ist einfach … zu persönlich.«

»Aber diese Regeln sind doch nicht in Stein gemeißelt, oder?«

»Na ja, es ist ein guter Leitfaden für die Praxis, wie immer Sie’s nennen wollen. Man kann einfach nicht dieselbe professionelle Distanz wahren, wenn man an jemandem arbeitet, den man kennt.«

»Ich krieg das hin, Doug, ehrlich.« Sie schlug einen forschen Ton an, legte eine Gewissheit an den Tag, die sie nicht empfand.

Sein Blick huschte über ihr Gesicht. »Sie sagen, sie war Ihre Lehrerin?«

»Sie hat mich in Naturwissenschaften unterrichtet, als ich auf der Abendschule das Abi gemacht habe.« Als wäre das überhaupt nichts Besonderes.

Ein plötzliches Aufblitzen der Erinnerung an Mrs Es hochintelligenten, grau-grünen Blick, während sie sich über ein seziertes Schweinehirn beugte und in ihrem walisischen Singsang fragte: Nun, Cassandra, wissen Sie noch, wie man das hier nennt? Und Cassie sagte: Das Corpus callosum? Das Aufwallen der Befriedigung, als ihr ein beifälliges Lächeln zuteilwurde.

Jetzt würde sie nie wieder in der Wärme von Mrs Es Anerkennung schwelgen können.

»Hören Sie, Doug, ich fände es einfach nicht richtig, wenn Carl sie übernimmt.«

»Ich könnte einen von den Springern anrufen.«

»Oder überhaupt jemand Fremdes. Ich sollte mich um sie kümmern.«

Ein winziges Entspannen der Muskeln um Dougs Augen herum verriet ihr, dass er im Begriff war, nachzugeben.

»Also … na gut. Wenn Sie es sich irgendwann anders überlegen, schreien Sie einfach.«

Zurück im Sektionssaal, bemerkte Cassie, dass Carl das Radio ausgemacht hatte – zweifellos aus Respekt vor ihren Gefühlen. »Mach mal Musik an, Carl«, sagte sie. »Lassen wir alles so normal wie möglich.«

Sie holte tief Luft und nahm Mrs Edwards Totenschein zur Hand. Allem Anschein nach war sie zu Hause gestorben, ganz plötzlich, in der Badewanne, und da sie allein lebte, war ihr Leichnam erst am nächsten Tag gefunden worden – von ihrer Putzfrau. Die Polizei hatte verdächtige Todesumstände ausgeschlossen, was zu einer vollständigen, umfassenden Leichenschau geführt hätte, doch wie bei allen ungeklärten Todesfällen verlangte das Gesetz trotzdem eine Routineautopsie.

Eine Notiz in der Akte besagte, dass Mrs E Witwe war, woran sich Cassie vage erinnerte, und dass ihre Angehörigen, ihr einziger Sohn Owen, in den nächsten ein, zwei Tagen aus Rhyl in North Wales herunterkommen würden, um den Leichnam zu sehen. In all den Jahren hatte Mrs E ihren Sohn nur ein einziges Mal erwähnt – ein seltener Einblick in ihre persönlichen Verhältnisse, der jedoch auf eine Art und Weise erfolgt war, die sich jegliche weiteren Fragen verbeten hatte.

Sie machte sich daran, Mrs E behutsam aus ihrem Leichensack zu holen. »Ich hatte ganz vergessen, dass Sie mit Vornamen Geraldine heißen«, sagte sie halblaut. »Ein wunderschöner Name, aber Sie waren ja schon immer ein stilles Wasser.«

Sie ließ im Geist den Moment Revue passieren, als sie Mrs E zufällig im Supermarkt gesehen hatte, suchte in ihrer Erinnerung nach Zeichen dafür, dass irgendetwas nicht gestimmt hatte – ein hängendes Augenlid zum Beispiel, oder ein unsicherer Gang –, fand jedoch nichts. Vielleicht hatte sie ein bisschen gedankenverloren gewirkt, aber andererseits hätte sie auch einfach nur überlegt haben können, was sie zum Abendessen kochen wollte.

Wie es manchmal geschah, hatte der Tod Mrs E die ultimative Botox-Behandlung verpasst, hatte Krähenfüße und Lachfältchen wegmassiert. Ihr Gesicht sah ruhig aus und jünger als ihre einundfünfzig Lebensjahre.

Cassie begann, Mrs Es Leichnam ganz genau nach blauen Flecken abzusuchen, die sie sich durch einen Sturz beim Ein- oder Austeigen in der Badewanne geholt haben könnte. Sie war froh festzustellen, dass sie sie drehen konnte, ohne Carl zu Hilfe zu rufen. »Gut, dass Sie so schlank sind«, sagte sie leise dicht am Ohr der Toten, »sonst würde ich mir bei dieser Nummer vielleicht den Rücken kaputt machen.« Eher apart als konventionell hübsch, war Mrs Edwards immer irgendwie aufgefallen, hatte Kleider getragen, die ihre Figur attraktiv zur Geltung brachten, auch wenn sie die meiste Zeit unter einem weißen Kittel verborgen waren, und ihr dunkles Haar war stets gut geschnitten und gestylt gewesen.

Plötzlich kam ihr eine weitere Erinnerung: die Mega-Krise, die sie nach ein paar Wochen auf der Abendschule gekriegt hatte. Während sie sich abmühte, im Physikunterricht mitzukommen – der ebenso gut auf Mandarin hätte stattfinden können, so wenig verstand sie –, hatte sie heimlich zu ihren Klassenkameraden hinübergeschielt. Und als sie deren sorglose Mienen gesehen hatte, hatte ihr mit erschreckender Klarheit gedämmert: Ich gehöre nicht hierher. Wem wollte sie etwas vormachen, als sie dachte, sie wäre klug genug? Sie hätte sich in der Schule reinhängen sollen, statt ihren Lehrern dumm zu kommen – aber jetzt war es zu spät. Ihre beste Hoffnung war, einen Job in einer Bar zu kriegen oder auf dem Markt wie ihr Dad, und zu versuchen, genug zu sparen, um auf Reisen zu gehen.

Mrs E musste ihre Panikattacke bemerkt haben, denn nach dem Unterricht hatte sie Cassie abgefangen und zum nächsten Starbucks geschleift, um ihr zu verkünden, dass sie nicht bereit sei, »die verdammt noch mal beste Schülerin, die ich je unterrichtet habe« zu verlieren. Cassie konnte noch immer hören, wie sie das sagte. Eine Übertreibung, sicher, aber Mrs Es felsenfester Glaube an sie hatte genügt, um sie zum Weitermachen zu bewegen.

Jetzt beugte sich Cassie zu ihr herab, während sie vorgab, den Rücken der Frau nach Hämatomen abzutasten, und flüsterte: »Wir finden raus, was mit Ihnen passiert ist, Mrs E.«

So verharrte sie, nahe genug, um die einzelnen Haare der dunklen Brauen zählen zu können, wartete auf den traumartigen Zustand, der dem Augenblick der Kontaktaufnahme voranging. Doch alles, was sie hörte, war ein Echo ihrer eigenen Stimme, als würde sie von der fernen Wand einer Schlucht zurückgeworfen.

»Morgen allerseits!« Ein großer Mann mit silberweißem Haar rauschte zur Tür herein; eine verschnürte Lunchbox baumelte von seiner einen Hand herab, in der anderen hielt er eine ziemlich mitgenommene Aktentasche. »Ah, die bezaubernde Ms Raven.«

Unwillkürlich musste Cassie lächeln. Jeder andere, der versuchte, sie so zu begrüßen, würde eine ordentliche Packung kriegen, aber Professor Arculus war ihr Lieblingspathologe. Und da er außerdem einer der Besten im ganzen Land war, war sie froh zu wissen, dass Mrs E in guten Händen sein würde.

»Was für ein Füllhorn an erbaulichen Untersuchungen erwartet uns denn heute, Cassandra?«, erkundigte er sich und betrachtete die Liste durch den unteren Teil seiner Gleitsichtbrille, deren einer Bügel jüngst mit einem Stück Gewebeklebeband repariert worden war, wie sie bemerkte.

»Drei Ladys und ein Gentleman, Professor. Die Erste ist Mrs Geraldine Edwards.«

»Irgendwas, das ich über sie wissen sollte?« Der Professor warf ihr einen fragenden Blick zu. Vielleicht hatte er etwas in ihrer Stimme gehört.

»Mrs Edwards ist … war meine Lehrerin, Professor – und, na ja, eine gute Freundin. Sie hat mich durchs Abitur gebracht. Ich wollte nicht, dass irgendjemand anderes sie betreut.«

Der Professor nickte nachdrücklich. »Eine sehr löbliche Einstellung. Sollen wir anfangen?«

Nachdem er Mrs Edwards’ Identität in aller Form überprüft hatte, blätterte Professor Arculus ihre Krankenakte durch. »Unsere junge Dame hatte also keine chronischen Erkrankungen … keine früheren Krankenhausaufenthalte …«

Cassie lächelte über die harmlose »Junge Dame«-Galanterie alter Schule und zog ebenfalls die Unterlagen zurate. »Ihr Cholesterin war ein bisschen hoch, aber ihr Blutdruck war normal für ihr Alter, und sie hat keinerlei Langzeit-Medikamente genommen. Ihr Sohn hat gesagt, als er das letzte Mal mit ihr gesprochen hat, hätte sie geklungen, als sei alles in Ordnung, das war vor ungefähr einem Monat« – ein Intervall, das Cassies Ansicht nach auf eine nicht eben enge Beziehung zwischen Mutter und Sohn schließen ließ.

Der Professor nahm sich den Bericht des Rechtsmediziners vor. »Verstorbene wurde von ihrer Putzfrau unter Wasser in der Badewanne gefunden«, las er laut vor. »Die Polizei hat keinerlei Spuren eines Kampfes oder erkennbare Verletzungen festgestellt. Kein Hinweis auf illegale Drogen, allerdings wurde ein Glas, das Whisky enthielt, ganz in der Nähe gefunden.«

Er drehte Mrs E halb auf die Seite und fuhr mit geübten Fingern über ihren Hinterkopf. Dankbar stellte Cassie fest, dass er besonders behutsam mit dem Leichnam umging, fast wie mit einer lebendigen Patientin.

»Hm. Keine erkennbaren Prellungen, die auf einen Sturz hindeuten könnten.« Er sah Cassie über seine Brille hinweg an. »Es sei denn, Ihre Adleraugen hätten etwas ausgemacht, was für unsere Untersuchungen relevant ist?«

Sie spürte, wie sie rot wurde: Anders als dieser kinnlose Idiot Cuff war sich der Professor nicht zu schade, sie nach ihrer Meinung zu fragen – oder ihr zu gratulieren, wenn sie etwas entdeckte, das er vielleicht in der kurzen Zeit, die ihm für eine Routineautopsie zur Verfügung stand, übersehen hätte.

»Nichts, Professor.«

»Also dann.« Sein Blick hielt kurz, aber eindringlich den ihren fest, zweifellos prüfend, ob sie wirklich damit klarkam, jemanden auszuräumen, den sie gekannt hatte. Dann verschwand er, um nach seinen E-Mails zu sehen.

Cassie nahm ihr Lieblingsmesser, doch als dessen blanke Spitze über der Kuhle unten an Mrs Edwards Hals schwebte, erstarrte sie, sah sich plötzlich wieder zu ihrer allerersten Eviszeration zurückversetzt. Jetzt, wo es ernst wurde, konnte sie das wirklich schaffen?

Ja. Es war das Mindeste, was sie für Mrs E tun konnte.

Der erste Schnitt war schwer, doch nachdem der geschafft war, stellte sie erleichtert fest, dass sie auf Autopilot schaltete; das in Tausenden von Eviszerationen geschulte Muskelgedächtnis übernahm die Führung.

Zwanzig Minuten später trat Professor Arculus an den Seziertisch, griff in den Haufen aus Mrs Edwards Eingeweiden und machte sich daran, die größeren Organe herauszusortieren.

Er zog die noch immer mit der Luftröhre verbundene Lunge zu sich heran und setzte einen gekonnten Schnitt in den rechten Bronchus, dort, wo er in den Lungenflügel überging. Ein kleiner Wasserschwall quoll heraus. Mit hochgezogener Braue sah er Cassie an. »Das dürfte das Badewasser sein. Aber unsere erste Frage ist, ist es post oder ante mortem in die Atemwege gelangt?«

Cassie nickte: Sie mussten feststellen, ob die unmittelbare Todesursache Ertrinken gewesen war, während sie gleichzeitig nach den zugrunde liegenden Ursachen suchten, wie zum Beispiel ein Herzinfarkt, durch den sie das Bewusstsein verloren haben und unter Wasser gerutscht sein könnte. Es war ein weitverbreiteter Irrglaube, dass das Vorhandensein von Wasser in der Lunge allein bewies, dass jemand ertrunken war. Ja, selbst wenn Mrs E aufgehört hätte zu atmen, bevor sie untergetaucht war, hätte trotzdem Wasser den Weg in ihre Lunge gefunden haben können.

Der Professor machte eine Reihe rascher Einschnitte in das Lungengewebe des rechten Flügels, ehe er ihn herumdrehte und jeden Schnitt studierte wie eine Seite in einem Buch – Cassie bezeichnete das im Stillen immer als das »Lesen der Organe«. Er trat zurück und bot ihr an, ebenfalls einen Blick auf die Lunge zu werfen.

»Also, was sehen Sie an den Schnittflächen?«

»Schaum. Blutiger Schaum.«

»Verursacht durch …?«

»Ein Lungenödem?«

»Korrekt.«

»Dann hat sie also noch geatmet, als sie unter Wasser getaucht ist?«

Professor Arculus zog eine Grimasse. »Wie Sie ja wissen, ist unser alter Freund Ertrinken ein schwieriger Kunde, schwer eindeutig zu diagnostizieren. Ganz egal, was die Fernsehkrimis uns glauben machen wollen …«, seine Augen wurden schmal, das war eins seiner Lieblingsthemen, »ein schlüssiger Beweis ist da ein flüchtig Ding.«

Er hielt inne und sah Cassie fragend an.

»Ertrinken ist eine Ausschlussdiagnose«, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab. »Sie basiert darauf, dass man alle anderen Todesursachen ausschließt.«

Ein Nicken. »Ganz recht. Nichtsdestotrotz würden uns die gegebenen Umstände allem Anschein nach mit einigem Recht in diese Richtung weisen. Jetzt müssen wir die zugrunde liegende Todesursache ermitteln: Warum verliert eine allem Anschein nach gesunde Frau in frühen mittleren Jahren überhaupt lange genug das Bewusstsein, um zu ertrinken?«

Mit einem weiteren entschiedenen Schnitt öffnete er den Magen.

»Der Magen ist leer, sie hatte also vor ihrem Tod gut vier, fünf Stunden nichts gegessen.« Er beugte sich herab und schnupperte. »Allerdings würde ich sagen, sie hat sich einen ordentlichen Schluck von diesem Whisky genehmigt. Keine sichtbaren Tablettenrückstände im Magen, aber da müssen wir den toxikologischen Bericht abwarten.«

Als Nächstes wandte er sich Mrs Edwards’ Herz zu. Cassie war klar, dass er nach Kalkablagerungen in den Arterien suchte oder anderen Hinweisen auf einen Herzinfarkt – doch sie konnte nicht bleiben und zusehen: Sie musste Proben von den großen Organen und den Körperflüssigkeiten nehmen und sie für das Labor verpacken.

Später, als er zum Spülbecken ging, um sich das Blut von den Händen zu spülen, fragte sie: »Was meinen Sie, Professor? Haben Sie eine Ahnung, wieso sie das Bewusstsein verloren hat?«

Er schüttelte den Kopf. »Nichts Eindeutiges, fürchte ich. In Herz und Herzkranzgefäßen sind keinerlei Thromben zu finden, keine Atheroma und kein Infarkt, und das Gehirn zeigt keine Anzeichen für einen Apoplex.«

Mit anderen Worten keine Arterienverengungen, keine Blutgerinnsel und kein Schlaganfall – die üblichen Verdächtigen beim plötzlichen Zusammenbruch eines scheinbar gesunden Menschen.

»Ich fürchte, ich werde ›ungeklärte Todesursache, vorbehaltlich des toxikologischen und histopathologischen Befundes‹ schreiben müssen«, fuhr er fort und sah sie über seine Brille hinweg mitfühlend an.

Ihr Blick wanderte zu Mrs Es ausgeweidetem Leichnam zurück. »Unter uns, was sagt Ihr Bauchgefühl?«

Die Augen des Professors verengten sich zwischen vielen Fältchen zu zwei leuchtenden Punkten, wie immer, wenn er scharf nachdachte. »Mich persönlich würde es wundern, wenn sich in den Proben Anzeichen für irgendwelche Erkrankungen fänden – die junge Dame scheint bei bester Gesundheit gewesen zu sein. Und in Anbetracht ihres Berufs und ihres guten Leumunds wäre ich erstaunt, wenn die Toxikologie illegale Substanzen im Blut oder im Urin findet.« Er sah Cassie an und sagte freundlich: »Wissen Sie, es ist möglich, dass sie einfach nur ein bisschen zu viel Scotch auf leeren Magen getrunken hat. In Kombination mit einem heißen Bad kann das zu einer recht dramatischen Vasodilatation geführt haben.«

Konnte es etwas so schrecklich Banales sein? Eine Kombination aus Alkohol und einem zu heißen Bad, die dazu geführt hatte, dass sich die Blutgefäße plötzlich erweitert hatten, sodass Mrs Es Blutdruck schlagartig abgesackt und sie ohnmächtig geworden war?

»Also glauben Sie, sie ist einfach ohnmächtig geworden und ins Wasser gerutscht?« Dann wäre der Tod unvermeidlich gewesen.

»Vielleicht stellt sich noch heraus, dass ich unrecht habe, aber ich würde sagen, das ist das Wahrscheinlichste.« Er klopfte ihr resolut auf die Schulter. »Sie haben sich heute gut geschlagen, Cassandra. Das war bestimmt nicht leicht für Sie. Ich bitte das Labor, uns die Befunde möglichst schnell zu schicken.«

 

Cassie war an diesem Abend die Letzte. Als sie durch den dunklen Kühlraum ging, huschten die Scheinwerfer vom Parkplatz fahrender Autos über die riesigen Edelstahlflächen, beleuchteten die gekritzelten Initialen der Insassen der Kühlfächer – wie Hieroglyphen an der Wand einer uralten Grabkammer. Sie stellte sich vor, wie ihre Gäste hinter den Türen des gewaltigen Kühlschranks schlummerten, und wünschte jedem von ihnen im Vorbeigehen halblaut eine gute Nacht.

Als sie das Fach erreichte, in dem Mrs E ruhte, berührte Cassie den Stahl mit den Fingern. Jäh überfiel sie eine Erinnerung.

Mrs E stand an der Tafel, elegant und langgliedrig. Sie war gut in Fahrt, zeichnete mit großen Gesten ein Diagramm der Atemwege des Menschen, ihre Miene war so konzentriert, dass sie fast schon streng wirkte. Doch als sie zurücktrat, um ihr Werk zu begutachten, johlte sie vor Lachen. »Ein Glück, dass ich keine verdammte Kunstlehrerin bin!«

Plötzlich schwindlig, musste Cassie sich mit einer Hand an der Wand abstützen – zum ersten Mal war ihr eines richtig klar geworden: Hätte Mrs E nicht den Wissensdurst hinter ihrem aufmüpfigen Teenagergehabe erkannt, wäre ihr Leben ganz anders verlaufen. Wahrscheinlich würde sie immer noch in irgendeinem besetzten Haus wohnen, die Obdachlosenzeitung verkaufen und sich mit Alkohol oder Heroin zudröhnen. Mit anderen Worten, ihr Leben im Klo runterspülen.

Cassie öffnete die Kühlschranktür, zog die Schublade heraus und zog den Reißverschluss des Leichensacks auf, um Geraldine Edwards ins Gesicht sehen zu können.

»Es tut mir leid, dass ich mich nicht wieder bei Ihnen gemeldet habe, Mrs E. Ich hab wohl gedacht, Sie würden immer da sein. Ich hab mich nicht mal bei Ihnen bedankt, nicht richtig, für all die Nachhilfe, für all die Male, wo Sie mir geholfen haben, wenn ich kurz davor war aufzugeben. Ohne Sie würde ich nicht in einem Beruf arbeiten, den ich toll finde … vielleicht wäre ich gar nicht mehr hier.«

Sie ließ die Hand auf Mrs Es Schulter ruhen, hielt lange die Luft an und wartete angespannt auf irgendeine Veränderung in der Atmosphäre, auf irgendein Kommunikationszeichen.

Nichts. Die Tote blieb vollkommen stumm, so kalt und unerreichbar wie der steinerne Ritter, den Cassie mal auf einem mittelalterlichen Grabmal hatte liegen sehen.

6. Kapitel

Auf dem Heimweg ging sie noch schnell in den Supermarkt an der Camden Road, um Katzenfutter zu kaufen. Es war derselbe, in dem sie letzte Woche Mrs E gesehen hatte. Als sie wieder draußen war, blieb sie kurz auf dem Gehsteig stehen, ehe sie mit großen Schritten in die Gegenrichtung marschierte, weg von ihrer Wohnung.

Geraldine Edwards’ Haus – Patna Road Nr. 12 – unterschied sich von den anderen in der langen, stattlichen Häuserzeile aus der Zeit Königin Victorias. Seine traditionell hellgraue Fassade bildete einen nüchternen Kontrast zu den Bonbonfarben, für die sich ihre Nachbarn entschieden hatten. Cassie erinnerte sich noch, wie ihre ehemalige Lehrerin einmal einen Neuanstrich in Knallpink betrachtet und »So ein Quatsch« gebrummt hatte. Das für sie so typische Augenzwinkern hatte ihren missbilligenden Tonfall Lügen gestraft.

Cassie musste an all die Sonntagmorgen denken, an denen sie die Stufen zu der dunkelblauen Haustür hinaufgestiegen war, eine Tüte mit frischem Gebäck in der Hand. Mrs E war einer der wenigen Menschen gewesen, mit denen sie richtig über ihre Arbeit reden konnte, und die Einzige, die wirklich verstand, was sie daran so faszinierte – den Reiz daran, die Hinweise zu entschlüsseln, die dem Leichnam eingeschrieben waren.

Nur ein Thema hatte es gegeben, bei dem sie sich nicht einig gewesen waren.

Nachdem sie ihre Abschlussprüfung bestanden und in der Leichenhalle angefangen hatte, hatte Cassie einmal bemerkt, wie froh sie sei, mit der ganzen Lernerei durch zu sein, woraufhin Mrs E ihre Kaffeetasse hingestellt und sie ernst angesehen hatte. »Mit dem Lernen ist man nie ›durch‹, Cassandra«, hatte sie in ihrem nordwalisischen Tonfall gesagt, der ihre Worte noch eindringlicher hatte klingen lassen. »Ihr Abitur war eine fantastische Leistung, aber es ist erst der Anfang der Reise, nicht das Ziel. Als Nächstes könnten Sie Medizin studieren, wenn Sie sich richtig reinhängen.«

Das Thema kam häufiger zur Sprache, und immer wich Cassie aus – bis zu jenem Sonntag in diesem Frühling. Mrs E hatte ihr zusammen mit ihrem Kaffeebecher eine Broschüre einer Universität in die Hand gedrückt. Sie war an der Stelle aufgeschlagen, an der sich detaillierte Informationen über die finanzielle Unterstützung für Studenten aus schwierigen sozialen Verhältnissen befanden, die ein Medizinstudium anstrebten.

Während Mrs E sich über die Eins in Mathe auf Abiturniveau ausließ, die sie brauchen würde, und darüber, welche Stipendien sie beantragen könnte, musste Cassie gegen eine Woge der Panik ankämpfen.

»Ich weiß, das widerstrebt Ihnen, Cassandra«, meinte Mrs E und fixierte sie mit Adlerblick, »aber ich denke wirklich, Sie sollten es in Erwägung ziehen.«

Cassie hatte beteuert, wie toll sie ihren Job fand, doch Mrs E wollte es nicht gut sein lassen. »Wissen Sie, nicht Medizin studiert zu haben, ist vielleicht das, was ich am allermeisten bereue. Ich fände es furchtbar, wenn es Ihnen eines Tages genauso ginge.«

Cassie fühlte sich in die Enge getrieben, sie war wütend – als wäre sie wieder sechzehn und ihre Großmutter würde versuchen, ihr den Entschluss auszureden, die Schule abzubrechen. Das Gespräch mit Mrs E hatte damit geendet, dass Cassie hinausgestürmt war, allerdings nicht, bevor sie etwas gesagt hatte, das ihr noch immer die Schamesröte in die Wangen treiben konnte.

»Wissen Sie, Sie sind nicht meine Mutter.«

Als Mrs E ihr am nächsten Tag eine versöhnliche Sprachnachricht auf der Mailbox hinterlassen hatte, hatte Cassie sich vorgenommen, sie zurückzurufen, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen, aber irgendetwas – Verlegenheit oder dämlicher Stolz vielleicht – hatte sie davon abgehalten. Das war schon die Zeit, wo sie mit Rachel zusammenwohnte, und nach und nach war diese lästige Aufgabe auf ihrer Agenda immer weiter nach unten gerutscht.

Als sie jetzt eine Bewegung in Mrs Es Wohnzimmer bemerkte, rannte sie die Treppe zur Haustür hinauf. Wahrscheinlich war das Imelda, die Putzfrau, die sie bestimmt einlassen würde, damit sie einen letzten Blick ins Haus werfen könnte, bevor Mrs Es Sohn Owen es verkaufte. Sie hatte bereits geklingelt, als ihr einfiel, dass es ja genauso gut Owen selbst sein könnte, der gerade aus Rhyl gekommen war. Was dann? Sie konnte keinen überzeugenden Grund vorbringen, warum sie hier war – und da sie sich unweigerlich treffen würden, wenn er den Leichnam ansehen kam, konnte sie sich jetzt auch keine dumme Ausrede ausdenken.

Cassie machte auf dem Absatz kehrt und eilte davon. Sie war gerade dreißig Meter weit gekommen, als sie die Tür hinter sich aufgehen hörte und eine Männerstimme mit walisischem Akzent ihr nachrief: »Hallo, kann ich Ihnen helfen?«