Wer wir sind - J Niechoy - E-Book

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J Niechoy

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Beschreibung

Wie würdest du dich entscheiden, wenn jemand aus deiner Familie einer von vier Vermissten ist? Wenn die daraufhin eingeführten Sicherheitsmaßnahmen niemanden schützen sollen, sondern nur eine Machterweiterung des Machthabers darstellen? Würdest du den Ort aufsuchen, wo sie zuletzt gesehen wurden, obwohl das strengstens verboten ist? Den Wald betreten, den niemand betritt, um Antworten zu finden? Und was, wenn das erst der Anfang war und scheinbar der einzige, der deine Meinung teilt, dein Feind ist?

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Seitenzahl: 527

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Für Eva

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Zoe

Zoe

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Zoe

Zoe

Zoe

Zoe

Zoe

Zoe

Zoe

Zoe

Traver

Zoe

Zoe

Zoe

Traver

Zoe

Zoe

Zoe

Zoe

Zoe

Traver

Zoe

Zoe

Zoe

Zoe

Zoe

Zoe

Traver

Zoe

Zoe

Zoe

Zoe

Traver

Zoe

Zoe

Zoe

Zoe

Zoe

PROLOG

»Der Vorfall der letzten Woche hat uns zu denken gegeben und uns angespornt die Sicherheitsmaßnahmen noch einmal zu überdenken. Wir sind zu dem Entschluss gekommen, dass Neuerungen zwingend notwendig sind. Besonders für unser Allgemeinwohl. Dieser Vorfall darf und wird sich nicht wiederholen. Das verspreche ich ihnen.«

Aus der Menge, die dem Redner gebannt zuhörte, kam zustimmendes Gemurmel. Sie mochten ihn oder gaben es zumindest vor. Sein Name war Sacka. Keine Ahnung, ob das sein Vor- oder sein Nachname war, man kannte nur den und man fragte nicht nach. Er war so etwas wie ein Verwalter, Ansprechpartner, Bürgermeister. Für sein junges Alter eine viel zu hohe Stellung. Er schmiss den Laden, wie man so schön sagte.

Sacka hatte das erste Wort und er hatte das letzte und bisher lief das auch augenscheinlich gut, bis vor einer Woche.

Das, was hier als Vorfall bezeichnet wurde, war der Umstand, dass vier Menschen -Grace Lente, Johannes Bisching, Frank Bennet und Isabelle Trima- seit letzter Woche als vermisst galten. Es gab noch keine neuen Spuren und es blieb die Frage, wann es die je geben würde. Eines war jedoch bekannt, und zwar, dass sie alle den Wald betreten hatten, den niemand betrat. Es war ein stummes Gesetz. Es stand nirgendwo geschrieben, aber jeder hielt sich daran. Der Wald umringte unseren Ort fast schon wie eine Mauer oder ein Wall und genau diese Tatsache machte die kommenden Konsequenzen so erdrückend.

Die einzigen, die befugt dazu waren, waren Sackas Soldaten und er hatte schon unzählige seiner Leute zu Suchtrupps losgeschickt, um die Vermissten zu finden, doch bis jetzt ohne Erfolg.

Sacka fuhr mit einer deutlichen Stimme fort:

»Die neuen Schutzmaßnahmen werden ab sofort gültig sein und bei nicht Beachten Folgen nach sich ziehen. Es geht hier um ihre Sicherheit, denken sie immer daran.«

Sacka wusste wie er seine Worte wählen musste und welche er vermeiden sollte. Er wusste wie man sich an die Massen wandte. Selbst, wenn er den Schwerpunkt auf Worte wie Sicherheit und Schutz setzte, hallte bei mir nur der Satz: Folgen nach sich ziehen nach. Was meinte er damit?

»Meine Soldaten werden in den Straßen unterwegs sein und patrouillieren. Selbstverständlich sind sie bei Problemen jederzeit ansprechbar und zuständig. Des Weiteren wird eine vorübergehende Nachtruhe verhängt. Ab 22 Uhr befindet sich niemand mehr draußen. Wir wollen kein unnötiges Risiko heraufbeschwören. Das Betreten des Waldes sowie das Verlassen des Dorfes ist ab sofort offiziell und strengstens für unbestimmte Zeit untersagt. Nachts werden ebenfalls Patrouillen in den Straßen unterwegs sein, zusätzlich an den Ein- und Ausgängen und an der äußeren Waldgrenze. Ich vertraue auf ihre Einsicht und ihr Verständnis. Und damit sie es nicht vergessen wiederhole ich es noch einmal eindringlich: Es geht um ihre eigene Sicherheit, setzen sie die nicht aufs Spiel.«

Aus einem stummen wurde ein offizielles Gesetz und es blieb still. Keine Reaktion kam mehr aus der Menge. Kein zustimmendes Gemurmel, keine Ablehnung. Alle sehnten sich nach dieser vermeintlichen Sicherheit, die Sacka ihnen versprach und das war der Anfang.

1 ZOE

Seit der Ansprache waren vier Wochen vergangen. Vier Wochen, in denen sich jeder damit abgefunden hatte. Vier Wochen, in denen das alles zur Realität geworden war.

»Ich frage mich, was hinter dem Wald ist? Felder? Häuser? Eine andere Stadt? Was denkst du?«

Niemand, der hier lebt, war je dort, geschweige denn dahinter gewesen. Wenn doch, sprach niemand darüber oder wusste von nichts, wenn man es vermutete. Der Fall mit den vier Vermissten, war das erste Mal, dass man in der Öffentlichkeit überhaupt etwas im Zusammenhang mit dem Wald hörte. Warum sollte man auch unnötigerweise etwas erwähnen, dass die Menschen daran erinnerte, dass sie nicht raus konnten?

Bei meinen Worten durchströmte Wise ein unangenehmes, unbehagliches Gefühl. Seine plötzliche angespannte Haltung verriet ihn und er konnte nicht unterdrücken sich vorsichtig umzudrehen. Sackas Ansprache und seine Maßnahmen hatten Gespräche wie diese schwieriger und vor allem gefährlicher gemacht. Noch war Sacka seinen erwähnten Folgen nicht gerecht geworden, doch bis jetzt gab es auch noch keinen Anlass dazu und ich fragte mich, wann es den geben würde.

Mein Blick wartete fordernd auf Wises Antwort, der kurz Augenkontakt mit mir hielt, sich jedoch sofort ausweichend wieder abwandte. Das würde er nicht zugeben. Nicht zugeben, dass er sich darüber schon einmal Gedanken gemacht hatte. Dabei war sein Schweigen mehr als nur eindeutig. Wise, mein bester Freund, den ich schon seit ich denken kann, kannte. Ausgerechnet er beantwortete mir nicht diese Frage, obwohl ich sie schon so oft gestellt hatte. Ich wusste, dass er die Frage nicht gerne hörte. Dass er sich bei Fragen dazu immer versuchte rauszuhalten.

»Was meinst du? Sollen wir uns vielleicht rausschleichen und es herausfinden?«, neckte ich ihn. Natürlich war das nicht mein Ernst. Niemand würde auf diese hirnrissige Idee kommen. Vor allem nicht, nachdem vier Menschen vermisst wurden, die anscheinend genau das getan hatten und zusätzlich waren seit den neuen Maßnahmen lauter Soldaten von Sacka unterwegs, die einen erwischen konnten. Und ich wollte garantiert nicht die erste sein, die besagte Folgen zu spüren bekam. Aber ich wusste, dass ich Wise damit etwas entlocken konnte. Ich wollte eine Reaktion von ihm, irgendeine Antwort auf meine Frage und diese Reaktion folgte prompt: »Spinnst du Zoe? Jeder kann dich hören!« Normalerweise würde ich es dabei belassen, aber diesmal hakte ich weiter nach. Mit einem, immer noch, unbehaglichen Gesichtsausdruck versuchte er mich abermals zum Schweigen zu bringen: »Was soll das? Du weißt, dass du aufhören solltest.«

»Ich weiß nicht, ob ich das weiß. Du kannst mit mir reden. Was ist so schlimm daran es mir zu sagen?« Meine gute Laune war verflogen, stattdessen schaute ich Wise nur traurig und enttäuscht an. Die übliche Antwort wie immer. »Es hat nichts damit zu tun, dass ich es dir nicht sage. Das weißt du genau. Ich mache mir einfach keine Gedanken darüber.« Das war glatt gelogen. Wise fuhr fort: »Wir haben alles was wir brauchen und ich bin froh darüber. Wir sind in Sicherheit.« Wie konnte das sein Ernst sein? »Das kaufe ich dir nicht ab Wise. Du kannst unmöglich davon reden, dass wir alles haben, was wir brauchen, wenn wir überhaupt nicht frei sind.« Meine Stimme war dabei ruhig und nachdenklich, während er mich ausdruckslos anschaute. »Für die Sicherheit büßt die Freiheit. Das ist nun mal so.« Er sagte es, als sei es nichts Besonderes. So als wäre diese Aussage von keinerlei Bedeutung, dabei konnte ich mir nichts Schlimmeres vorstellen. »Und das ist für dich in Ordnung? Wenn man Tiere in einen Käfig einsperrt -mit Nahrung, Wasser und einem Auslauf- haben sie auch alles, was sie brauchen um zu überleben. Würdest du also auch ihr Leben vorziehen?«

»Das ist ein unsinniger Vergleich.« Während seiner Worte schüttelte Wise den Kopf. Sein Blick war zu Boden gerichtet. »Ist er wirklich so unsinnig? Den Tieren stellt man Nahrung und Wasser zur Verfügung. Es sind immer Menschen um sie herum, um zu beobachten, was sie tun. Am Tag lässt man sie in ihrem eingezäunten Bereich laufen, wo sie zum größten Teil machen können, was sie wollen, doch bei Nacht werden sie zur gewünschten Zeit in ihre Ställe gepfercht. Inwieweit unterscheidet sich das von unserem Leben?« Wise schwieg und veranlasste mich dadurch noch einen Satz hinten dranzuhängen: »Wir sind genau wie sie. Eingesperrt. Niemand hat etwas dagegen gesagt. Wir haben es selber so weit kommen lassen, und zwar weil es vermutlich schon zu spät war. Aber jetzt müssen wir aufhören zu schweigen. Ich will nicht so leben.« Ich schaute ihn an, hoffnungsvoll, wartete auf eine Antwort von ihm. Sein Blick war verständnisvoll, doch nur für einen Sekundenbruchteil. Schlagartig änderte er sich und er schaute zu mir hoch. Dabei sagte er: »Dir ist klar, was du da sagst, oder?« Ich nickte. »Ich bin mir über jedes Wort bewusst.«

»Dann weißt du, wie gefährlich deine Worte sind. Denk nach Zoe, immerhin sind wir sicher.« Ich sah ihn ungläubig an. »Ich fasse es nicht, dass du auf diese Worte anspringst.« Meine Stimme war aufgebracht, doch meine Worte hatten keinen Sinn mehr, denn ich bemerkte, dass er nicht länger darüber diskutieren wollte, also sagte er: »Menschen sind verschwunden. Wer weiß was mit ihnen passiert ist. Einer dieser Menschen ist die Schwester deiner Mutter. Sie gehört zu deiner Familie. Gerade du solltest wissen, dass durch die neuen Maßnahmen niemand mehr hier eindringen kann. So etwas kann nicht mehr passieren. Wir sind sicher.« Warum ging er automatisch davon aus, dass die Gefahr von draußen kam? Doch ich sagte nichts mehr dazu und stand, enttäuscht über seine Meinung, von der Bank auf, auf der wir gesessen hatten. »Vergiss diese Gedanken. Das führt zu nichts«, hängte er noch hinten dran, woraufhin ich mich ohne weitere Worte auf den Weg machte.

»Wo willst du hin? Bist du jetzt eingeschnappt?« Ich schüttelte den Kopf, ich war keineswegs eingeschnappt, aber unser Gespräch hatte mich ernüchtert.

»Du hast recht. Isabelle gehört zu meiner Familie und hiermit wäre sie nicht einverstanden.« Das waren meine letzten Worte, dann ging ich.

Es war nicht fair von Wise meine Tante zu erwähnen. Wir wussten nicht, was mit ihr war und wo sie war. Dass Isabelle eine der Vermissten war, war mir ein totales Rätsel. Sie hatte sich plötzlich nicht mehr gemeldet und wir hatten keinerlei Anhaltspunkte auf ihren Aufenthalt gehabt. Drei Tage später meldeten wir sie als vermisst. Sie war die letzte der vier Vermissten, die gemeldet wurde und selbst jetzt, fast einen Monat später, hatte man sie immer noch nicht gefunden.

Erst dachte ich, es wäre der Wind oder etwas anderes, das die Geräusche verursachte, doch desto weiter ich meinen Weg fortsetzte und meinem Haus näher kam, desto mehr verwandelten sich die Geräusche in Stimmen. Eher gesagt, in ein ganzes Meer aus Stimmen. Und als ich um die nächste Häuserecke in meine Straße einbog, konnte ich den Ursprung des Gewirrs erkennen. Mehrere Leute standen verteilt auf der Straße und auf den Gehwegen. Manche standen in kleinen Gruppen und wiederum einige alleine. Ihre Blicke gingen alle in eine Richtung, wandten sich kurz ab, um sich beunruhigt umzudrehen und sich dann wieder dem Spektakel zu widmen.

Was war los? Die Gesichter, die ich sah, waren verunsichert und leicht ängstlich. Gemischt mit Blicken die ungläubig, sogar wütend waren. Als ich meinen Weg an ihnen vorbei fortführte, schnappte ich unwillkürlich ein paar Worte auf, wie:

»Aufhören.« Oder Sätze wie: »Er schaufelt sich sein eigenes Grab.«

»Was macht er da nur?« Aber auch: »Was wird jetzt wohl passieren, es wird sicherlich Konsequenzen geben, oder nicht?« Konsequenzen wofür? Eine Stimme, vermutlich die von der als er beschriebenen Person, übertönte sie alle. Es war mehr ein Schreien. Ein ungehaltenes und aufgebrachtes Schreien. Die Stimme kam mir ungemein vertraut vor und beim näheren Herankommen bestätigte sich meine Vermutung.

In seiner eigenen Einfahrt sah ich ihn stehen. Unser Nachbar, Herr Lente stand in seinem Morgenmantel, mitten in der Mitte und schrie einen Soldaten an, der sich vor ihm aufgebaut hatte. Ich sah nur dessen Rücken. Offensichtlich versuchte er Herrn Lente zu beruhigen, auch wenn seine beschwichtigend erhobenen Hände nicht wirklich dazu beitrugen. »Was ist mit meiner Frau?« Herr Lentes Schrei fuhr mir durch Mark und Knochen. Seine Frau war eine der Vermissten. Als der Soldat seine Stimme erhob, war die plötzliche Spannung allen anzusehen. »Beruhigen Sie sich. Wir hoffen auf das Beste. Es werden immer noch Suchtrupps losgeschickt.« Der Soldat wurde nicht laut, dennoch war seine Stimme stählern und hatte eine gewaltige Kraft. Herr Lente wollte abermals etwas erwidern, doch noch ehe er einen Ton herausbekam, winkte der Soldat jemand anderen zu sich. Ein zweiter Soldat kam und zu zweit packten sie ihn und zerrten ihn von seiner Einfahrt. Er wehrte sich, bekam dafür einen Schlag in die Magengrube, aber er hörte nicht auf. Er war fast 75 Jahre alt, was die Situation und das Ausmaß der Vorgehensweise noch absurder machte. Die Umherstehenden sahen sich fragend an. Niemand schien zu verstehen, was hier gerade vor sich ging. Warum reagierten sie so aggressiv? Er hatte doch nichts Unrechtes getan. Das Gemurmel wurde lauter und aufgebrachter, bis plötzlich alles still wurde und ein Geräusch zu hören war. Ein Geräusch, das alle verstummen und mich erstarren ließ. Das Entsichern einer Waffe. Ich wagte kaum zu atmen. Alle schauten geschockt auf den Soldaten mit der Waffe, die er Herrn Lente an den Hinterkopf presste. Es war der Soldat, der schon am Anfang vor ihm gestanden hatte. Verlor er die Geduld?

Niemand schrie oder versuchte schnell abzuhauen wie es sicherlich jeder machen würde, wenn man jemanden mit einer Waffe sah. Aber der Anblick war im Grunde nichts Neues. Sie durften sie offiziell tragen. Doch, dass sie schussbereit auf jemanden gerichtet war, war eine bisher unvorstellbare Situation. »Wenn sie sich noch ein einziges Mal wehren, dann schwöre ich ihnen, drücke ich ab. Und alle anderen verschwinden jetzt von hier. Sofort! Wenn noch jemand etwas zu sagen hat, dann kann er sich gerne zu ihm gesellen!« Mit einer Geste machte er deutlich, wen er mit ihm meinte. Augenblicklich begannen die Leute die Straße zu verlassen. Es wirkte unkoordiniert und durcheinander. Blicke, die sich trafen waren verwirrt und verunsichert. Noch nie hatte ein Soldat seine Waffe gegen einen der Bewohner eingesetzt, noch nicht einmal zur Drohung. Wozu auch? Sie dienten schließlich nur zur Verteidigung und zur Sicherheit der Bewohner, so wie die Soldaten selbst. Doch nicht als Drohung. Wie gelähmt blieb ich stehen, auch wenn fast alle bereits verschwunden waren. Die Soldaten mit Herrn Lente standen ebenfalls noch da. Es war alles so unwirklich. Leise und fordernd hörte ich plötzlich meinen Namen aus einer, nur einen kleinen Spalt breit, offenen Tür. Es war meine Mutter, die durch den Spalt unserer Haustür flüsterte, doch es war nicht leise genug. Ich drehte mich noch einmal flüchtig zu den Soldaten um und war zum Glück schon in der Tür und konnte sie schließen, als mir einer von ihnen direkt in die Augen sah und mir sein durchdringender Blick, einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ.

Meine Mutter nahm mich sofort in den Arm. Sie sah genauso verwirrt aus wie ich.

»Geht es dir gut?«, fragte sie. Sie ließ mich los und drückte mich ein Stück von sich weg, um mich besser ansehen zu können. »Ich denke schon. Aber was war das da gerade eben?«

»Herr Lente hat mehrmals nach seiner Frau gerufen. Es wirkte sehr einsam und verzweifelt. Es zerrt an seinen Kräften, genau wie an unser aller Kräfte. Dann kamen immer mehr Menschen und mit ihnen der erste Soldat und den Rest hast du ja gesehen.« Ich nickte. »Warum haben sie ihn mitgenommen, wenn er nur nach seiner Frau gerufen hat?«

»Ich weiß es wirklich nicht. Es war keine Wertung in seinen Worten, er hat keine Anspielungen gemacht, nichts was sie dazu hätte veranlassen können.« Ich konnte nicht verhindern, dass ich an das Gespräch mit Wise denken musste. Meine Worte hatten eindeutig eine Wertung gehabt.

»Also haben sie ihn mitgenommen, weil er lauter war, als üblich? Darf man jetzt nicht mal mehr reden?« Ich sagte es leiser, weil ich die Reaktion meiner Mutter bereits kannte. Doch nicht leise genug, sodass sie es überhören konnte. Sie wurde energisch. »Sag das nicht so sarkastisch. Es geht nicht um das Reden. Es geht darum, dass er sich verhält, wie es nicht erwünscht ist.«

»Laut reden ist plötzlich nicht mehr erwünscht oder was?«, erwiderte ich anstachelnd. »Zoe, schau nach draußen. Es wird ernster. Sie benutzen Waffen, um ihren Willen durchzusetzen. Das ist noch nie passiert. Wenn sie einschreiten wegen dieser belanglosen Sache, wie werden sie dann erst bei anderen Dingen reagieren?« Was, wenn Wise und mich, doch jemand gehört hatte?

»Der Zeitpunkt sich zu äußern wie man will ist vorbei«, hängte meine Mutter noch hinten dran. Dann schwieg sie kurz, sah mich eindringend an, um dann erneut das Wort zu ergreifen:

»Ab sofort machen wir keine Ausnahmen mehr. Sondern das, was erwartet wird. Punkt 22 Uhr ist Licht aus. Schluss mit Witzen über diese Maßnahmen. Mir ist sowieso nicht mehr nach Lachen zumute.« Entsetzt sah ich sie an. »Du willst dich ihnen unterwerfen, einfach alles befolgen?«

»Nein, ich will mich anpassen und du wirst es genauso tun.« Ihre Worte machten mich wütend. Ich wollte mich nicht fügen. Wir hatten immer unsere Späße gemacht, hatten gewitzelt über Sackas Maßnahmen. Meine Mutter hatte es zu Anfang eine überzogene Reaktion eines unerfahrenen Jungen genannt. Einfach um diese Absurdität zu vergessen. Der lockere Umgang hatte es irgendwie zu etwas gemacht, das nicht von Dauer war. Etwas das wieder verschwand, doch wenn meine Mutter jetzt anfangen würde es zu etwas Ernstem zu machen, würde es gleichzeitig zur Realität werden.

»Ab sofort will ich so etwas nicht mehr hören, verstanden? Ich weiß was du denkst. Aber draußen verlierst du kein Wort mehr darüber. Und hier drinnen am besten auch nicht mehr.« So energisch und ernst hatte ich sie noch nie erlebt. »Du willst mir verbieten über Isabelle zu reden? Soll ich sie gleich ganz vergessen?« Wütend sah ich sie an. Doch mein Ärger verschwand augenblicklich, als ich sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Nein, natürlich nicht. Ich will nur nicht, dass dir auch etwas passiert«, sagte sie daraufhin matt. Ich sah sie für einen kurzen Moment schweigend an, dann nahm ich sie in den Arm und flüsterte: »Es ist alles gut.« Meine Worte waren gleichzeitig ein Trost für mich selbst, dann löste ich mich aus der Umarmung und ging ohne weitere Worte hoch in mein Zimmer, das sich im ersten Stock befand.

Am Anfang hatte ich wirklich versucht, mich an alles zu gewöhnen. An die Regeln, die aufgestellt wurden. Auch, wenn der Anblick von bewaffneten Soldaten befremdlicher denn je war. Selbst wenn es komisch erschien sich an diese »Nachtruhe« zu halten. Ja sogar selbst, wenn man sich so eingeengt fühlte, einfach, weil es plötzlich offiziell hieß, dass man nicht mehr hinter die Ortsgrenze kam. Ich hatte es sogar für richtig gehalten, zumindest in der Zeit wo ich noch geschockt von den Ereignissen war. Geschockt davon, dass meine Tante zusammen mit drei anderen Menschen als verschollen galt und man sich nach vier Wochen eigentlich genau ausmalen konnte in welchem Zustand sie sich befinden mussten. Ich konnte mir das alles nicht erklären. Es war so abwegig. Wie sollte ich damit umgehen? Wie sollte ich damit umgehen, dass genau zu spüren war, wie sich etwas veränderte? Es zu verneinen wäre eine Lüge. Ich konnte nicht leugnen, dass ich skeptisch war und...angewidert. Davon wie Sacka seine Macht ausnutzte. Im Grunde hatte er doch nichts anderes als eine Ausgangssperre über uns verhängt. Eine beständige am Tag und eine für die Nacht. Er kontrollierte uns und hielt uns da, wo er uns haben wollte. Wie konnten alle anderen einfach so mitgehen? Waren sie zu abgelenkt von den Vermissten, dass sie nicht sahen, in welche Richtung es zu drohen lief? Schon gelaufen war. Oder wollten sie es nicht sehen?

Hinzu kamen Sackas Soldaten. Sie waren nicht dazu da um uns zu beschützen, sondern um uns zu beobachten und in Schach zu halten. Hatten sie das heute nicht deutlich gezeigt? Und nicht nur das war deutlich geworden, sondern auch die Folgen von denen Sacka gesprochen hatte:

Bedrohung und Einschüchterung.

Die Frage die blieb war, ob das schon das Schlimmste war oder ob sie noch weitergehen würden? Hätten sie die Waffe wirklich gegen ihn eingesetzt? Gegen einen alten Mann, der seine Frau vermisste?

2 ZOE

Von meinem geöffneten Fenster aus, konnte ich den Wald sehen, wie er ruhig einfach nur vor sich hin existierte, doch es blieb nicht lange ruhig.

Plötzlich schien sich durch den Wald etwas zu bewegen. Ich versuchte es genauer zu erkennen.

Gestalten marschierten aus den Baumreihen. Es waren eindeutig Menschen. Soldaten. Sackas Soldaten. Sie alle trugen die gleichen dunkelblauen Klamotten, an denen man sie schon von Weitem erkennen konnte. Im Gleichschritt kamen sie die Straße entlang und die Schlange, die sie bildeten, schien gar kein Ende mehr zu nehmen. Immer mehr von ihnen marschierten ein. Aber warum? War etwas geschehen?

Hinter ihnen tauchten auf einmal zusätzlich mittelgroße Transporter auf. Was ging da vor sich? Sie alle hielten etwas in den Händen, woraufhin sich ein ungutes Gefühl in mir breit machte, denn ich ahnte was es sein musste. Sie waren bis auf den letzten Mann/Frau bewaffnet. Was hatten sie vor? Gab es irgendeine Bedrohung oder Änderungen, von der ich noch nichts wusste?

Schon waren sie an den ersten Häusern. Durch einige Lücken in den Häuserreihen konnte ich Teile der Parallelstraße erkennen. Einige der Soldaten fingen an, an den Haustüren zu klingeln und die ahnungslosen Bewohner herauszuholen. Die Gewehre, die sie bei sich hatten, richteten sich auf...Ich stockte, denn das durfte nicht sein. Sie richteten sich gegen die Bewohner.

Aber...was sollte das? War gestern nur der Anfang gewesen?

Sie formten die Menschen zu einer Menge. Frauen, Männer, Kinder, sie alle blickten sich unsicher um. Plötzlich löste sich ein kleines Mädchen aus der Gruppe, dicht gefolgt von einem der Soldaten, der ihr folgte. Sein Gewehr richtete sich auf das kleine Kind. Ich konnte kaum atmen. Er würde sie doch nicht damit bedrohen! Oder?

Ein Mann rannte genauso aus der Menge und stellte sich schützend vor das Mädchen. Ich kannte die beiden. Das Mädchen hieß Lotta und der Mann war ihr Vater, Andrew Piller. Der Soldat richtete das Gewehr auf Herrn Piller, doch ehe er auf irgendeine Art reagieren konnte, stürmte eine Frau aus der Mitte und wollte sich ebenfalls mit einmischen. Allerdings erstarrte sie augenblicklich, als Lottas Vater plötzlich zu Boden geschlagen wurde und kraftlos liegen blieb.

Ich schrie erschrocken auf, während Lotta bewegungslos daneben stand. Die Frau kämpfte sich ungeachtet des Gewehres zu Lotta durch und zog das traumatisierte Mädchen wieder in die Menge. Es hatte keinen Sinn sich auch um ihren Vater zu kümmern, denn er wurde bereits weggeschleppt. Sofort schloss ich das Fenster und wich mehrere Schritte zurück. Mein Blick immer noch auf den Punkt gerichtet, wo er gelegen hatte. Ich hatte Angst. Was hatte das zu bedeuten?

Panik überkam mich. Was sollte ich tun? Sie würden ganz sicher auch hierherkommen. Hatten sie mein Gespräch mit Wise gehört? Ging es darum? Unsinn. Dann würden sie nur zu mir kommen und nicht zu den anderen. Ich wollte gar nicht weiter darüber nachdenken. Ich hatte nur einen Gedanken: Ich musste hier weg. Aber wo sollte ich hin?

Schnell rannte ich zum nächsten Fenster und schaute nach draußen. Ich blickte direkt auf die Straße, in der unser Haus stand. Zuerst war niemand zu sehen, doch dann bogen sie auch schon um die Ecke. Mit steigender Angst sah ich zu, wie sie, genau wie in der Nachbarstraße, anfingen die Menschen aus ihren Häusern zu holen. Der Garten, dachte ich blitzartig. Über ihn könnte ich abhauen oder zumindest abwarten, bis sie weitergezogen waren. Sofort lief ich die Treppe nach unten zur Haustür, doch ich drehte augenblicklich wieder um und rannte zurück nach oben. Sie waren bereits vor meiner Haustür. Ich saß in der Falle. Unbemerkt würde ich nicht wegkommen. Die einzige Chance, die mir jetzt noch blieb, war mich zu verstecken. Kein wirklich genialer Plan, aber trotzdem. Egal was für einen Grund das alles hatte, ich würde nicht aufmachen sobald die Klingel ertönte. Auf gar keinen Fall. Jemand wurde zusammengeschlagen, weil er sein Kind schützen wollte. Was würden sie mit mir machen, wenn ich nicht mitspielen würde? Plötzlich das laute Klingelgeräusch an der Tür. Mein Puls ging schlagartig noch weiter in die Höhe. »Aufmachen!«, schrie eine Stimme. Es wurde an die Tür gedonnert. Das Geräusch hallte hoch bis ins Treppenhaus.

Ich dachte nicht einmal dran. In Windeseile drehte ich mich um, rannte ins Badezimmer, drehte den Schlüssel im Schloss um und kauerte mich zusammengesunken in die hinterste Ecke, um es gleich darauf zu bereuen. Was für ein blödes Versteck, das war ja nicht einmal eins!

Die Stimme ertönte noch einmal: »Aufmachen!« Diesmal viel gedämpfter. Meine Arme umschlungen meine Beine, meine Finger krallten sich in meine Haut, bis kein Geräusch mehr zu hören war. Es war still, bis auf mein eigener Atem. Langsam lockerte ich meinen Griff und stützte mich ab, um aufzustehen, doch plötzlich war es nicht mehr still und es polterte laut. Schritte waren jetzt deutlich im Haus. Es mussten mindestens zwei von ihnen sein, denn während von weiter unten gedämpft Geräusche zu hören waren, kamen Schritte immer mehr in meine Richtung. Sie hatten sich Zugang verschafft und einer von ihnen kam direkt die Treppe nach oben. Erschrocken stolperte ich nach hinten. Ich wagte es kaum zu atmen. Beruhigend sagte ich zu mir selbst, dass sie gleich gehen würden, wenn ich nur lange genug stumm hier drin wartete. Sie würden niemanden finden und einfach wieder gehen, doch gleichzeitig wusste ich wie naiv dieser Gedanke war. Ich hatte das Bad von innen abgeschlossen. Sie wussten ganz sicher, dass hier jemand war.

Jemand rüttelte an der Tür, geistesgegenwärtig griff ich nach dem Föhn, der neben mir lag und hielt ihn in einer einsatzbereiten Haltung vor mich.

»Aufmachen!«, erklang die Stimme wieder, nur diesmal viel lauter. Die Person stand direkt vor der Badezimmertür. Mein Herz raste. Ich hatte es kaum noch unter Kontrolle. Mit voller Wucht wurde gegen die Tür gedonnert, bis sie plötzlich mit einem gewaltigen Ruck aufschwang.

Eine Waffe richtete sich auf mich. Noch nie hatte ich eine Waffe so nah gesehen, geschweige denn, wurde davon bedroht. Reflexartig hielt ich den Föhn noch krampfhafter, so als wäre er meine Waffe. »Willst du mich wirklich mit dem Ding bedrohen? Glaubst du nicht, dass ich ein bisschen mehr drauf habe, als nur heiße Luft zu schießen?«, ertönte seine Stimme nun zum vierten Mal. Es war eine starke, kraftvolle Stimme, die mich erzittern ließ. Trotzdem stand ich immer noch mit meinem Föhn in der Hand unverändert. Ich betrachtete mein Gegenüber. Die Person vor mir trug eine dunkelblaue Hose, sowie eine gleichfarbige Jacke. Er war nicht viel älter als ich. Seine Augen schauten mich zusammengekniffen an und da durchdrang es mich. Ich erinnerte mich an seinen Blick. Es war der Soldat, der gestern Herrn Lente mit abgeführt hatte. Das konnte doch kein Zufall sein. Mit einem Zucken seines Gewehres, befahl er mir den Raum zu verlassen. Trotzig verharrte ich auf der Stelle. Ich würde nirgendwo hingehen. Wieder reagierte er mit Worten: »Ich will dir nicht wehtun müssen, also los beweg dich.« Ich war verrückt geworden, ich widersetzte mich jemandem, der mit geladener Waffe auf mich zielte. Vor wenigen Minuten hatte ich gesehen, dass sie zu Gewalt bereit waren. Warum sollten sie auch nicht zum Einsatz ihrer Waffen bereit sein? Hier ging es um mein Leben. Oder vielleicht doch nicht? Keine der Waffen war bis jetzt zum Einsatz gekommen. Wenn das wirklich ihre Intention war, wäre es schon lange passiert. Zumindest versuchte ich mich auf diese Theorie zu konzentrieren. Vielleicht war ich einfach nur naiv, weil ich das glaubte und im Anbetracht der Situation auch etwas verrückt, aber noch verrückter war mein nächster Zug. Ich warf den Föhn zur Seite und holte mit meinem Arm zu einem Schlag aus. Doch bevor ich irgendetwas ausrichten konnte, drehte er sich zur Seite und wich meiner Faust aus. Ungeschickt stolperte ich nach vorne. Sofort hatte er meine Arme gegriffen und sie mir auf den Rücken gedreht. Plötzlich kam er ganz nah und als er an meinem Ohr war, spürte ich seinen Atem an meiner Haut als er flüsterte: »Hab keine Angst. Es ist eh bald vergessen.« Sein Griff lockerte sich kurz. Ich war zu irritiert über seine Worte, die so unpassend zu seiner vorherigen Art waren, um in irgendeiner Art darauf zu reagieren. Spielte er mit mir? Doch genauso schnell war der Moment auch wieder verflogen. Sein Griff wurde so fest wie zuvor und als jeder Versuch mich zu befreien misslang, rief er: »Ich hab noch eine!«

Wie auf Knopfdruck stand eine weitere, in dunkelblau gekleidete Gestalt vor mir. Es war eine Frau. Sie packte mich an der Schulter, zerrte mich somit aus den Armen des Soldaten und wies mich an auf die Straße zugehen. Ich versuchte mich auch ihr zu widersetzen, nur sie machte gleich kurzen Prozess, schleifte mich die Treppe runter und stieß mich in Richtung Straße.

Ich wollte am liebsten sofort wieder ins Haus rennen, denn der Anblick erschlug mich. Die ganze Straße war voller Leute. In der Mitte gingen Anwohner, Nachbarn, Bekannte und am Rand standen die in Blau gekleideten, bewaffneten Soldaten und behielten alles im Blick.

Ich wurde von hinten, nach vorne gestoßen und reihte mich somit automatisch in die Reihe der gehenden Bewohner ein. Stehen bleiben war keine Option, denn die Masse zog mich einfach mit sich.

Wir wurden ins Zentrum getrieben und man ließ uns in einem Kreis versammeln. Was sollte das alles? Suchend sah ich mich um. Suchend nach meinen Freunden und wo war meine Mutter? Erleichtert entdeckte ich plötzlich Wise in der Menge. Allerdings verschaffte mir das nur für einen kurzen Augenblick Erleichterung, denn auch er war genauso planlos wie ich. Er hatte mich auch entdeckt und drängte sich zu mir durch. Besorgt schauten wir uns an, als wir voreinander standen.

Dass wir gestern unsere Meinungsverschiedenheiten hatten, war vergessen. »Was ist hier los?«, fragte ich ängstlich. »Ich weiß es nicht!«, antwortete er nur. Ich merkte wie besorgt und abgelenkt er dabei war.

»RUHE!«, schrie plötzlich eine Stimme. Sie kam aus der Mitte unseres zusammengepferchten Kreises. Ich kannte sie. Jeder kannte sie. Die Gewehre waren von vorne und hinten auf uns gerichtet. Wir konnten nicht weg. »Mein Name ist Sacka. Ab sofort werdet ihr auf mein Kommando hören, wer sich dem widersetzt, mit dem wird kurzer Prozess gemacht!« Bitte was? Ein geschocktes Raunen ging durch die Menge, als die Stimme fort fuhr: »Ich habe lange genug gewartet.« Alle starrten zu Sacka vor ihnen. Zeigte er jetzt sein wahres Gesicht? Trotz ihren gebannten Blicken, war Ihnen die Angst noch viel deutlicher anzusehen. Genau wie meine eigene. Was sollte der ganze Aufwand? Die Situation war so absurd, so falsch. Sacka wirkte unzurechnungsfähig und das machte es so gefährlich.

Ich drängte mich durch die Menge, um einen Blick auf Sacka zu bekommen. Fast ganz vorne angekommen konnte ich ihn sehen. Er sah aus wie immer, war groß gewachsen und stand auf der Ladefläche eines Jeep artigen Fahrzeugs, das in der Mitte stand. Sackas blondes Haar war kurz, mit der linken Hand hielt er sich an dem viereckigem Rahmen fest, der die Ladefläche einrahmte und auf seinem rechten Arm war ein schwarzes Tattoo zu sehen. Das war mir allerdings neu. Zunächst erkannte ich nur undeutliche Symbole, aber beim längeren Betrachten wurden sie immer deutlicher. Es sah aus wie eine große schwarze Krähe. Ihr Schnabel war weit aufgerissen und die Augen funkelten bedrohlich.

Muskeln zeichneten sich deutlich an seinen Armen ab. So hatte er sich noch nie in der Öffentlichkeit gezeigt. Ich schluckte. Mit einem gespielten Grinsen fuhr er seine Rede fort: »Ich werde jetzt Namen aufrufen und wer seinen Namen hört, stellt sich auf die rechte Seite. Verstanden? Ist wirklich nicht so schwer, also...« Ein Mann trat aus der Menge, sofort umkreisten ihn die Soldaten aus dem inneren Kreis und richteten ihre Gewehre auf ihn. Sacka verstummte. Doch sein Blick schien sich davon nicht beirren zu lassen. »Warum sollten wir das tun?« Sacka stieg langsam von dem Jeep herunter. Es war eine Totenstille, als er sich vor dem Mann aufbaute. Dabei grinste Sacka ihn selbstgefällig an. »Deshalb!«, entgegnete er und sofort löste sich ein Schuss. Entsetzte Schreie lösten sich. Der Mann vor ihm sackte tot in sich zusammen und Sacka steckte seine Waffe zurück in den Hosenbund.

Wise hatte schützend seinen Arm um mich gelegt, doch ich spürte ihn kaum, denn meine Aufmerksamkeit galt der Stimme des Mörders, die alles übertönte: »Will noch jemand etwas sagen?« Er erwartete keine Antwort, also fuhr er fort: »Also nochmal, wer seinen Namen hört, geht auf die rechte Seite. Beginnen wir: Alice Bayer, Moritz Bayer …«

Keiner sagte mehr etwas. Alle verhielten sich so wie Sacka es verlangte. Immer mehr Namen zählte er auf und immer mehr begaben sich protestlos auf die rechte Seite. »Wise Connor.« Wise!

Auch er zögerte keine Sekunde, schritt an mir vorbei und stellte sich zu den anderen. Ich stand einfach nur da und schaute ihm hinterher. Was sollte ich anderes tun?

Nach einer Weile kamen die Namen, dessen Nachname den Anfangsbuchstaben T hatten. »Mary Trima.« Meine Mutter schritt aus der Menge und stellte sich zu Wise. Erleichtert atmete ich durch, dass es ihr den Umständen entsprechend gut ging.

»Zoe Trima.« Als mein Name erklang, schlug mein Herz noch schneller. Ich löste mich aus den noch Wartenden und stellte mich ebenfalls auf die rechte Seite zu meiner Mutter. Es verging Zeit in der sich weitere Personen zu uns begaben, bis es plötzlich stoppte.

»Gut. Das war der Letzte. Alle anderen bitte einmal dort stehen bleiben«, rief Sacka. Erschrocken drehte ich mich zu meiner Mutter um: »Dad. Er steht noch dort!« Sie sah mich nicht an oder zeigte mir irgendeine Reaktion. Sie starrte nur zu meinem Vater rüber. Ich tat es ihr gleich. Vor die ungefähr 100 Leute uns gegenüber, hatten sich Bewaffnete gestellt. Die Anderen sahen ungläubig zu. War das Sackas Ernst? Wollte er wirklich...Ich schrie aus voller Seele. Auf Sackas Kommando kamen die Schüsse. Ein Schuss traf direkt in den Kopf meines Vaters. Ich stürmte los, wollte mich zu ihm durchschlagen, aber jemand stellte sich mir in den Weg. Es war der Gleiche, der mich zuvor im Bad gefunden hatte. Seine starke Stimme war einer zurückhaltenden, aber bestimmten gewichen: »Da willst du wirklich nicht hin«, entgegnete er und schob mich zurück in die entsetzte Menge. Ich sank zusammen. Mein Vater...ihm hatte einfach irgendein Fremder in den Kopf geschossen.

Ich weinte so wie ich noch nie geweint hatte. Nur gedämpft nahm ich die Stimme von Sacka wahr, die nun weitersprach: »Es tut mir wirklich leid, aber das musste sein. So und jetzt liegt es an euch. Wollt ihr euch fügen oder müssen wir weiter eingreifen?« Er tötete Menschen und sagte, dass es sein musste? Wer gab ihm das Recht? Meine Tränen verschleierten mir die Sicht. Der Schock ließ mich geistesabwesend auf die Füße kommen. Klare Gedanken konnte ich nicht fassen. Ich schritt einen Schritt nach vorne. Wieder stellte sich der Gleiche vor mich, doch ich ging an ihm vorbei. »Was soll das?«, rief ich. Sofort schritt ich wieder zurück. Was dachte ich mir dabei? Erst vor wenigen Minuten wurde so jemand wie ich erschossen und Hundert weitere. Doch auf mich ging Sacka gar nicht richtig ein.

»Also müssen wir eingreifen!« Kaum hatte er das gesagt, stürmten die Soldaten auf die einzelnen Menschen zu. Ich rannte. Keine Ahnung wohin oder wie weit ich kommen würde, einfach nur irgendwie weg, doch es dauerte nur wenige Sekunden, da wurde ich zu Boden geworfen. Ein Soldat kam auf mich zu und wollte mir eine bläuliche Flüssigkeit in den Mund kippen, genau wie allen anderen. Ich hielt mir schützend die Hände vor den Mund. Doch ein Zweiter kam dazu, riss meine Hände weg und der andere flößte mir das Zeug ein. Es hatte keinen Geschmack. Es sah aus wie gefärbtes Wasser. Sofort spuckte ich es wieder aus. Was war das für ein Zeug? Die Flüssigkeit traf mitten in ein, daraufhin angewidertes, Gesicht. Der Bewaffnete, den ich dabei traf, stieß mir mit voller Wucht sein Gewehr ins Gesicht und ich ging zu Boden.

Schweißgebadet schreckte ich auf. Es war stockdunkel. Wo war ich? Nur ein kleiner Lichtschimmer fiel durch ein Fenster gegenüber von mir. Regungslos wanderte ich mit den Augen den Raum ab. Es war mein Zimmer. Ein Traum, schoss es durch meinen Kopf. Es war nur ein Traum. Kurz atmete ich durch, dann schlüpfte ich geräuschlos aus meinem Bett und öffnete das Fenster. Ich brauchte frische Luft, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Mir war unglaublich heiß.

In den Nächten war es tief dunkel. Die Laternen gingen um Punkt 22Uhr aus, so wie Sacka es wollte. Wenn der Mond kein Licht spendete, war das einzige Licht ein heller Schein, der vom anderen Ende des Dorfes herschien. Dort befand sich das alte Fabrikgelände. Auf dem Gelände standen ein stillgelegtes Stahlwerk und rechts daneben ein alter Krankenhauskomplex. Auf einer großen asphaltierten Fläche, die die beiden Gebäudekomplexe verband, parkten die Transporter. Beide Gebäude wurden von Sacka genutzt, für sich und seine Soldaten. Das Betreten des gesamten Fabrikgeländes war Bewohnern strengstens untersagt, daher war das Gelände auch der einzige Teil, welcher nachts beleuchtet wurde. Ich atmete einen kräftigen Zug der frischen Abendluft ein. Dieser Traum war so intensiv und real gewesen. Ich hatte so viele Gesichter wiedererkannt. Sacka, meine Mutter, Wise, der Soldat von gestern, die kleine Lotta, Herrn Piller, meinen Vater.

Ich fuhr mir mit den Händen über mein Gesicht. Allmählich wurde mir alles zu viel. Selbst im Traum konnte ich alles um mich herum nicht angenehm verarbeiten. »Das kommt, weil gestern so viel passiert ist«, hätte meine Mutter jetzt gesagt. Vermutlich stimmte das auch.

Ich schaute in die ruhige Umgebung, die vor mir lag. Am Tag hatte man von hier aus den Blick über die vielen weißen Häuser mit den roten Dächern und dahinter sah man die gewaltigen Baumkronen des Waldes, der das gesamte Dorf einrahmte. Weiter links konnte ich die Stelle des Waldes erkennen, aus der Sackas Soldaten marschiert sind und ein kalter Schauder ergriff mich.

Urplötzlich hörte ich ein Geräusch. Ich schaute in die Richtung, aus der es gekommen sein musste, doch ich konnte nichts erkennen. Schnell schloss ich das Fenster wieder. Ein Tier vielleicht? Oh bitte nur ein Tier.

Aus dem Augenwinkel sah ich ein Licht aufleuchten. Wohl kein Tier. Ich hatte mich geduckt und schaute jetzt vorsichtig wieder hoch. Doch das Licht war verschwunden und ich beschloss mich wieder hinzulegen. Langsam wurde ich schon paranoid. Niemand war um diese Uhrzeit draußen. Ich musste versuchen zu schlafen, und zwar diesmal ohne zu träumen.

3 ZOE

Mein Zimmer war von der Sonne hell erleuchtet, das wusste ich selbst mit geschlossenen Augen, als ich diese dann schlaftrunken öffnete, ging mein Blick direkt an die Decke. Bilder von Sacka und Soldaten flackerten durch meinen Kopf. Bilder von heute Nacht, Bilder von meinem Traum. Plötzlich fing es neben meinem Ohr an zu piepen. Meine Hand schnellte los und beendete das nervige Klingeln des Weckers. Nachdenklich setzte ich mich auf, zog mir etwas Frisches an und ging die Treppe runter in die Küche. Meine Mutter war schon wach und bereitete das Frühstück vor. »Guten Morgen.«

»Guten Morgen«, entgegnete sie fröhlich. »Und hast du gut geschlafen?«

Verneinend schüttelte ich den Kopf. Sie machte ein verständnisvolles Gesicht.

»Wegen dem Vorfall von gestern, hmm? Meine Nacht war auch unruhig.« Ich setzte mich auf einen Stuhl an den Tisch und sagte: »Ich habe verwirrendes Zeug geträumt und es hat sich ziemlich real angefühlt.« Kurz schob ich eine Pause ein, dann fragte ich: »Kann ich es dir erzählen, auch wenn es mit Sacka zu tun hat? Ich muss es wenigstens einmal loswerden.« Sie atmete kurz ein und aus als ob es ihr schwerfallen würde, doch dann sagte sie: »Sicher. Das mit gestern tut mir leid, ich hätte ruhiger bleiben sollen.« Ich nickte, um ihr zu zeigen, dass ich ihre Entschuldigung annahm, dann fing ich an zu erzählen: »Okay also, die Soldaten sind einmarschiert und haben alle aus ihren Häusern geholt.«

»Sackas Soldaten?«, unterbrach sie mich.

»Ja und ich habe auch den wiedererkannt, der gestern bei Herrn Lente dabei war. Jedenfalls haben wir uns alle um einen Jeep versammeln müssen auf dem Sacka stand. Es war total erschreckend wie echt es wirkte. Sacka hatte irgendein Tattoo auf dem Arm, sogar das konnte ich genau erkennen.«

»Sacka hat kein Tattoo. Zumindest habe ich es noch nie gesehen.« Ich versuchte ihre erneute Unterbrechung einfach zu ignorieren und fuhr fort: »Plötzlich hat er die Leute in zwei Gruppen geteilt. Die auf der einen Seite hat er alle... erschossen.« Meine Mutter hatte sich mittlerweile an den Tisch zu mir gesetzt. Ich atmete tief durch und sprach meine nächsten Worte schnell aus, denn für meine Mutter war es ein heikles Thema: »Dad war unter ihnen.« Nachdenklich sah sie mich an, dann erwiderte sie: »Dein Vater hat uns verlassen, als er die Chance dazu hatte.« Das hielt sie mir so oft vor und ich kannte auch keinen anderen Part der Geschichte »Ich weiß«, entgegnete ich nur. »Aber es ist so verrückt, alle sahen so real aus. Ich konnte Dad genau erkennen und Wise und dich und Sacka. Er hatte sogar das gleiche typische Lächeln«, überlegte ich laut. »Das Gesehene von gestern hat dich anscheinend wirklich sehr mitgenommen. Das mit der Waffe war für alle ein Schock. Wir werden abwarten müssen, was es dazuzusagen gibt. Aber nur deshalb heißt das nicht, dass Sacka ein Massenmörder ist. Außer Reden halten, Formulare ausfüllen und sonstigen Kram hat er wohl kaum das Hobby, Leute umzubringen.«

Ich sah meiner Mutter an wie unbehaglich sie sich fühlte, die Worte Massenmörder und umbringen in einem Zusammenhang mit Sacka zu erwähnen. Sie wirkte so eingeschüchtert. Dabei konnte sie auch nicht ihren umherschweifenden Blick unterdrücken, mit dem sie sich suchend umsah, obwohl wir in unserem eigenen Haus waren.

»Das ist mir alles schon klar, trotzdem...«, versuchte ich sie wieder auf den Traum zu lenken. »Hier geht es nicht um irgendwelche Ansichten, verstehst du? Lass dich von so einem Traum nicht zu abwegigen und vor allem so gefährlichen Hirngespinsten verleiten. Und denk an meine Worte von gestern.« Abwartend hoffte sie auf meine Bestätigung, die ich ihr aber nicht gab.

»Zoe, du sprichst außerhalb dieses Hauses mit niemandem darüber.« Ihre nachdrückliche Art drängte mich zu einer Zustimmung. »Ja.« Ich wollte es nicht wahrhaben, aber in meine Gedanken schlich sich etwas ein, das ihr zustimmte.

4 ZOE

Am nächsten Tag traf ich mich mit Wise nach seinem Gitarrenunterricht, den er gelegentlich gab und wir gingen ein Stück. »Und wie macht er sich?«, fragte ich. Ich meinte den kleinen Jungen, den Wise unterrichtete. Das könnte jetzt seine siebte Stunde gewesen sein. Oder achte? »Er macht tolle Fortschritte. Es ist wirklich klasse. Sein Bruder will es vielleicht auch bald mal ausprobieren.« Wise strahlte als er davon erzählte. Es machte ihm wirklich Spaß, das sah man ihm an und das wiederum freute mich, weshalb ich automatisch auch lächeln musste. »Scheint, als ob er Talent hat.« Wise sah mich stirnrunzelnd an. »Wieso Talent? Das hat doch nichts mit Talent zu tun. Er hat einfach den besten Lehrer aller Zeiten.« Dann konnte er seine ernste Miene nicht länger aufrechterhalten und musste lachen. Ich boxte ihm leicht gegen die Schulter. »Ach ja? Du selbstverliebter Lehrer. Das glaubst du doch wohl selber nicht.« Ich lachte auch.

Zwei Leute kamen uns entgegen. Beim Vorbeigehen schnappten wir ihre Worte auf, als sie miteinander redeten. »... mitbekommen, dass Herr Lente wieder zu Hause ist?« Die zweite Person nickte vielsagend und antwortete: »Wer hat das nicht mitbekommen.« Als sie an uns vorbei waren, sah ich Wise an. Sein Lachen war verschwunden und auch ich war in Gedanken.

»Ich frage mich was sie mit ihm drei Tage lang gemacht haben.« Wise verzog sein Gesicht. »Daran denke ich gar nicht«, antwortete er. Vermutlich war das auch bess..., mein Handy klingelte plötzlich. »Hi, Zoe Trima.« Die Stimme am anderen Ende klang aufgebracht und zittrig. »Zoe kannst du kommen?«

»Layla, was ist passiert?« Ich hatte ihre Stimme kaum erkannt. Layla und ich waren Freundinnen. Sie war mit Wise und mir in eine Klasse gegangen. »Sie haben meinen Vater gefunden«, sagte sie aufgelöst. Ich schluckte. Ihr Vater war einer der vier Vermissten. »Ich komme«, sagte ich sofort.

»Johannes Bisching wurde gefunden. Ich muss zu Layla«, erklärte ich Wise knapp. »Ist gut. Wir sprechen uns später«, gab er nur zurück, dann war ich auch schon auf dem Weg. Wenn man ihn gefunden hatte, bedeutete das dann auch, dass man Isabelle gefunden hatte?

An der nächsten Häuserecke rannte ich den Rest zu ihrem Haus. Angekommen an ihrer Tür, brauchte ich nicht zu klingeln. Sie öffnete sofort und schloss sie danach wieder. Ohne dass sie es aussprechen musste, wusste ich was los war. Es waren fast fünf Wochen vergangen. Gerüchte waren im Umlauf und als sie sich in meine Arme sinken ließ und ich die Tränen an meinem Shirt spürte, bestätigte sie meine Vermutung. »Er ist tot.« Außer ihrem leisen Schluchzen war nichts weiter zu hören. Ich schwieg. Was sollte ich ihr auch sagen, was sie nicht eh schon wusste oder was ihr irgendwie hätte helfen können? Ich wusste nicht, ob da überhaupt etwas war, was helfen konnte. Während ich versuchte ihr Trost zu spenden, gingen meine eigenen Gedanken zu Isabelle. Hatte man sie auch gefunden? Warum hatte man uns bisher nicht informiert? Oder gab es für uns noch Hoffnung?

Ich wusste nicht mehr wie lange wir in dieser Position standen, aber es musste eine Ewigkeit vergangen sein, als Layla sich jetzt löste. »Ich muss die ganze Zeit daran denken wie sehr er sich gefreut hat, als sie ihn gefragt haben.« Bei der Erinnerung an ihren Vater spielte ein Lächeln um ihre Lippen. Sie fuhr fort: »Klar, wer hätte sich nicht gefreut, wenn er die Möglichkeit bekommt, aber er hat sich echt total darauf gefreut.«

»Was meinst du?«

»Es war schon immer sein größter Wunsch gewesen. Das wusste er. Er wusste, dass er nicht ablehnen würde. Der perfekte Weg ihn und die anderen aus dem Weg zu räumen.« Während sie sprach, hatte sich ihr Gesichtsausdruck verzerrt. Sie sah verbittert aus. »Wovon redest du?«, fragte ich wieder.

»Es ist kein Geheimnis was mein Vater für ein Mensch war. Er wollte die Welt verbessern, wollte Gleichberechtigung. Er wollte Veränderung. Sacka kam vor sechs Wochen mit zwei seiner Soldaten bei uns vorbei. Ich bin von der Schule früher nach Hause gekommen und kam gerade aus meinem Zimmer, als es klingelte. Ich verharrte im Flur, mein Vater wusste nicht, dass ich schon da war, deshalb bekam keiner mit, dass ich alles hörte, was sie sagten. Sacka fragte ihn, ob er einer von wenigen Auserwählten sein wollte, die mit offizieller Erlaubnis den Wald und das Gelände dahinter betreten möchten, es erkunden. Ein politisches Statement hat Sacka es genannt. Wahrscheinlich wollte er damit zeigen, dass er durchaus bereit ist kooperativ zu handeln. Du hättest das Gesicht von meinem Vater sehen sollen, als sie wieder weg waren. Er war so glücklich. Meiner Mutter und mir sagte er nichts. Er redete nur von Umschwung und davon, dass er bald etwas Tolles vorhatte und uns danach alles erzählen würde, aber ich wusste es ja und freute mich daher umso mehr für ihn.«

»Moment du willst sagen, dass das Sackas Idee war? Dass er das angeleitet hat und sie trotzdem verschwinden konnten? Hätte sie dann nicht jemand begleiten müssen? Irgendetwas muss da schiefgegangen sein.«

»Das hätte doch auch nichts geändert.«

»Doch vielleicht wären sie dann...«

»Zoe. Man hat meinen Vater mit einer tödlichen Schussverletzung gefunden. Es ging nie darum ein Statement zu setzen. Sacka hat sie erschießen lassen. Das und nichts anderes war sein Ziel.« Instinktiv sah ich mich um, ob uns jemand hören konnte, genau wie meine Mutter es immer tat. »Was!? Nein das...« Ich unterbrach mich selber, um meine Gedanken und Worte zu sammeln, doch anscheinend hatte meine Pause nichts gebracht, denn nur ein stockendes »Warum?«, kam aus meinem Mund. »Alle vier Vermissten waren von Sacka ausgewählt. Alles Leute, die mehr oder weniger ihre Bedenken geäußert haben. Jetzt sind sie tot. Sacka sagt mit keinem Wort etwas über dieses politische Statement von dem er meinem Vater berichtet hat. Alle haben Angst vor der Gefahr, die angeblich draußen lauert und sie nehmen es dementsprechend einfach so hin, wenn Sacka die Vorfälle als Grund für noch mehr »Sicherheitsmaßnahmen« nimmt. Seine lautesten Gegenstimmen sind beseitigt, die Grenzen endgültig dicht und er steht als der mitfühlende Betroffene da. Denk mal darüber nach, hat es auch nur einen Nachteil für ihn? Das klingt mir einfach alles zu passend.« Konnte das wirklich sein? Ehrlich gesagt fühlte es sich nach meinem Traum gar nicht so abwegig an. Ich sah immer noch Sacka vor mir wie er mit dieser Waffe einfach so jemanden erschoss. Sofort verbannte ich diesen Gedanken. Das waren die gefährlichen Hirngespinste, von denen meine Mutter gesprochen hatte. Das würde kein vernünftiger Mensch machen. Sacka hatte solche Mittel und Wege noch nicht einmal nötig, überlegte ich. Ihm standen ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung. Aber im Grunde, wenn man darüber nachdachte, dann hatte ihm der Vorfall tatsächlich viel Aufstand und Empörung erspart, schließlich hatte er wirklich alles umgesetzt und keiner hatte sich großartig dagegen gewehrt. Sollte es stimmen, dann hatte Sacka den Schock und die Trauer, sowie die Angst von allen gekonnt ausgenutzt. »Mach dir deinen Gegner zum Freund und dann falle ihm in den Rücken. Aber das würde bedeuten, dass...«, sagte ich geistesabwesend. »...er aussortiert und seine Macht erweitern will, und zwar mit jedem Mittel. Er hat vier Menschen mit dem Ziel ihres Todes losgeschickt und einer dieser Menschen war mein Vater. Was ist das für eine Person?«, beendete Layla meinen Satz. »Wenn das stimmt, dann...«

»...könnte jeder der Nächste sein.« Vor allem bei solchen Anschuldigungen wie Layla sie gerade geäußert hatte, dachte ich. »Erwähne das nicht vor anderen, okay? Sag es am besten keinem mehr, bevor wir richtig darüber nachgedacht haben.«

»Willst du mir den Mund verbieten?« Ich wollte nicht, dass ihr etwas passierte, aber sie verstand es vollkommen falsch. »Nein! Aber es ist nicht klug deine Anschuldigungen jeden hören zu lassen. Du hast keine Ahnung, ob das stimmt und wenn es stimmt, dann darf es erst recht niemand hören.« Jetzt klang ich genauso wie meine Mutter. »Moment mal Anschuldigungen? Glaubst du mir etwa nicht? Das ist doch genau das, was er erreichen will. Dass wir alle die Klappe halten und ihn machen lassen.«

»Du verstehst mich komplett falsch. Wenn das stimmt, dann weißt du doch wozu er fähig ist, ich...« Mein Handy klingelte. Wir beide starrten auf mein Display. Ich wusste nicht, wen ich erwartet hatte, aber ich war sichtlich erleichtert als ich Mama auf dem Bildschirm aufleuchten sah. »Was ist los?«, ging ich ran. »Was los ist? Es ist kurz vor 22Uhr. Die Nachtruhe beginnt in 6 Minuten. Wo bist du?«

»Was? Nur noch 6 Minuten? Ich bin noch bei Layla.«

»Okay dann bleibst du heute Nacht bei ihr, ja?«

»Ich kann mich sofort auf den Weg machen«, erwiderte ich.

»Du gehst jetzt nicht mehr los. Sicher ist sicher. Das ist zu knapp.« In 6 Minuten könnte ich es schaffen, wenn ich sofort losgehen würde. Ich könnte auch rennen. Fünf Minuten vor 22Uhr.

»Ich könnte rennen«, wiederholte ich meinen Gedanken laut. »Nein. Das wirst du nicht. Spar dir doch den Stress und bleib einfach bei Layla. Wenn sie dich erwischen, dann...«

»Okay, dann bleibe ich bei Layla, wenn dir das lieber ist.«

»Das ist es. Danke, gute Nacht euch beiden.« Ich hörte wie merklich erleichtert sie klang.

Noch vier Minuten bis 22Uhr. »Ja, Gute Nacht.« Noch bevor ich aufgelegt hatte, wusste ich es besser. Ich wandte mich an Layla: »Ich hab zwar gerade etwas anderes gesagt, aber ich muss nach Hause.«

»Zoe du kannst wirklich hier bleiben. Das ist kein Problem.« Ich schaute dankend zu Layla. »Ich weiß, aber ich muss nach Hause.« Ein wirklich schwacher Grund, wenn man bedachte auf was ich mich einlassen würde, wenn man mich erwischte und vor allem auch nicht sehr freundschaftlich, schließlich hatte sie gerade erfahren, dass ihr Vater tot war. Aber bei Layla zu bleiben, fühlte sich einfach nicht richtig an. Nachdem was sie erzählt hatte, wollte ich irgendwie nach Hause, um etwas Abstand davon zu bekommen und wirklich zu überlegen, was ich selber darüber dachte. »Ich gehe los. Ich schaffe es noch und selbst wenn, was sind schon ein paar Minuten zu spät.« Ich grinste. Damit wollte ich sie beschwichtigen, aber uns war beiden klar, dass ein paar Minuten verdammt nochmal ein paar Minuten zu viel waren. Trotzdem stand meine Entscheidung fest.

Ich wartete auf keinen Kommentar von ihr, auf keinen Versuch mich zu überreden. Wir schlossen uns in die Arme. »Sei vorsichtig, wir besprechen das alles noch. Bis dahin tu mir den Gefallen, mit niemandem darüber zu reden, bitte. Okay?«, sagte ich. Ich brauchte einfach ihre Bestätigung. »Okay, sei du auch vorsichtig und melde dich, wenn du zu Hause bist. Ich bleibe wach.« Mein Nicken verschwand in meiner abwendenden Geste und ich trat auf die Straße. Ich ging los ohne nach links oder rechts geguckt zu haben. Dann begann ich zu rennen. Mir war egal wie laut meine Füße auf den Asphalt donnerten, ich rannte einfach so schnell ich konnte. Noch waren die Straßenlaternen an, selbst in einigen Häusern brannte noch Licht, doch desto mehr Sekunden verstrichen, desto mehr Lichter wurden gelöscht. In der nächsten Straße, in die ich bog, waren sogar bereits alle Lichter aus. Noch zwei weitere Straßen und ich war zu Hause. Plötzlich das Kirchturmläuten. Mist! Punkt 22 Uhr. Die paar Minuten zu viel begannen nun. Schlagartig gingen die Straßenlaternen aus und ich wurde in völlige Dunkelheit gehüllt. Auch wenn meine Augen sich erst an die Dunkelheit gewöhnen mussten, stoppte ich nicht, wurde lediglich etwas langsamer und probierte leiser zu sein, wenn mich jetzt jemand sah... Ich hatte Angst, selbst wenn mir gleichzeitig klar war, wie bescheuert das eigentlich war. Es war nur eine einfache Straße. Doch trotz diesem Gedanken schlug mein Herz in einem rasenden Tempo. Dabei war ich den gleichen Weg erst ein paar Stunden vorher hergekommen und wäre ich vor 10 Minuten hier lang gegangen, wäre es das Normalste der Welt gewesen.

Ich probierte auszublenden in was für einer Situation ich mich befand und die Absurdität zu vergessen. Es ist alles wie immer. Ich zog die Luft ein. Die Dunkelheit schien sich wie ein Mantel über mich zu legen und es fühlte sich an, als wäre ich verborgen vor allen anderen, so als würde mich niemand bemerken. Eventuell standen meine Chancen doch nicht so schlecht, schließlich verbarg die Dunkelheit mich genauso gut, wie Sackas Soldaten und wenn hier welche in der Nähe waren, hätte ich sie garantiert schon bemerkt. Plötzlich rammte mich etwas, packte mich an den Schultern, zerrte mich in einen Häusereingang und drückte mich gegen die Fassade. Meine Schulter tat weh, mein Kopf dröhnte und selbst, wenn ich durch den Schock nicht so überfordert dagestanden hätte, war ich mir ziemlich sicher, dass ich nichts gegen die Arme ausrichten konnte, die mich in Position hielten. So viel zum Thema: als würde mich niemand bemerken. Erst als eres war ein er- mir seine Hand auf den Mund presste, merkte ich, dass ich kurz davor gewesen war zu schreien. Mein Schrei erstarb in einem gedämpften Geräusch. Ich hatte die Bestätigung, dass seine Arme zu stark waren, um sich dagegen zu wehren, als ich probierte ihn wegzustoßen und so stand ich hilflos vor diesem Fremden, der mich hier festhielt und konnte nichts dagegen tun. Auf einmal lockerte sich der Druck auf meinem Mund kaum merklich, aber ich spürte es. Mit seiner anderen Hand deutete er mir an, leise zu sein. Garantiert nicht. Ich dachte gar nicht darüber nach, dass dann Soldaten auftauchen würden. Es war einfach ein Reflex, der mich dazu veranlasste, doch es kam kein Ton aus meiner Kehle. Denn abermals erstarb mein Schrei, noch bevor etwas zu hören war, als zwei Stimmen ertönten. Er drückte sich weiter in den Schatten und somit auch mich, denn im Gegensatz zu dem Druck auf meinem Mund hatte sich weiter nichts geändert, wodurch ich abhängig von seiner Bewegung war. Zwei Personen kamen direkt neben uns zum Stehen. Die einheitlichen dunkelblauen Uniformen waren sogar jetzt eindeutig zu erkennen: Sackas Soldaten.

Ich wusste nicht, vor wem ich mehr Angst hatte. »Es ist sau kalt. Können wir nicht umdrehen?« Jetzt war ich es, die sich noch näher an die Wand presste, als die Stimme einer der Soldaten ertönte. »Och, ist der feinen Betty wirklich so kalt? Sollen wir zurückgehen? Damit Sacka uns eine Decke und einen warmen Tee gibt? Krieg dich gefälligst wieder ein, umso schneller sind wir fertig. Es ist 22Uhr, ich habe etwas gehört und wenn hier noch jemand herumschleicht, soll er es verdammt nochmal bereuen. Wäre schön Sacka mal wieder jemanden zu bringen, der sich nicht an die Regeln hält.« Okay ich hatte eindeutig mehr Angst vor den Soldaten. »Meine Güte Esh, krieg du dich doch erst mal wieder ein. Das ist Travers Bereich. Wenn er uns hier erwischt und es Sacka meldet, sind wir dran. Das weißt du genau.« Sie machten sich keine Mühe leise zu reden. Wer sollte sie auch daran hindern?

Hätte ich sie dann nicht schon früher hören müssen? Oder lauerten sie nur darauf wartend, dass jemand wie ich durch die Straßen umherschlich und es nicht rechtzeitig schaffte? Ich schluckte, denn es hatte sich schwer danach angehört.

»Dann steht halt unser Wort gegen seines.«

»Pff, als ob es Sacka interessiert, was wir sagen. Travers Worten schenkt er garantiert mehr Glauben. Er beauftragt ihn doch mit allem.«

»Werden wir ja sehen. Im Moment bin ich mir gar nicht mal so sicher, dass Sacka mehr auf seiner Seite ist. Außerdem hält er sich gerade ja nicht mal selber in seinem Bereich auf. Oder siehst du ihn hier irgendwo?«

Die Blicke der beiden Personen schweiften ständig umher, auf der Suche. Ob auf der Suche nach mir, dem, der vor mir stand oder nach besagtem Traver konnte ich nicht sagen. Das, was dieser Esh gehört hatte, war ohne Frage ich gewesen. Ich kam mir so bescheuert vor. Der Typ vor mir war vielleicht auch deshalb auf mich aufmerksam geworden. Okay, oder einfach, weil ich mitten auf der Straße mich nicht hätte besser präsentieren können.

Er hielt mich immer noch in dem Hauseingang fest oder schützte er mich? Eventuell wartete er auch einfach nur bis sie weg waren. Waren die beiden Soldaten vielleicht doch die bessere Lösung? Ich wusste es nicht. Gerade wo ich dies dachte, stütze er sich von der Wand ab und bedeutete mir abermals ruhig zu sein. Diesmal stand es auf jeden Fall fest: Ich würde keinen Mucks von mir geben. Unerwartet trat er ganz aus dem Schatten und auf die beiden zu. Was machte er denn da? Instinktiv zog ich mich weiter in den Schatten, sodass ich sie jedoch noch gut sehen konnte. Er erhob die Stimme. »Sucht ihr mich?« Trat er etwa an meiner Stelle zu ihnen? War er verrückt? Wenn er sich nicht gezeigt hätte, wären sie vielleicht weiter gegangen.

Wie auf Kommando drehten sie sich gleichzeitig um. Die Hände hinterm Rücken. Hatten sie dort ihre Waffen? Bei seinem Anblick ließen sie sie sinken. Sie mussten ihn kennen. War er öfter draußen oder wieso? »Wir haben ein Geräusch gehört...« Er unterbrach den Redner. »Ich auch, und zwar in eurem Bereich. In dem ihr gerade, wie ich sehe, nicht seid. Und erzähl mir jetzt nichts von eurem Wort gegen mein Wort. Kommt. Wir haben noch etwas zu erledigen.« Erst mit dem Abstand konnte ich ihn näher betrachten. Er sah aus wie die beiden. Die selbe Kleidung, schoss es durch meinen Kopf. Er gehörte wie die zwei zu Sacka. Aber das verstand ich nicht...wieso?

Aus dem Augenwinkel sah ich wie einer von ihnen in die Richtung zeigte aus der ich gekommen war und sie sich zu dritt auf den Weg dorthin machten. Da verstand ich, dass das meine Chance war.

Als ich sie nicht mehr sehen konnte, rannte ich so schnell, doch gleichzeitig so leise ich konnte zurück zum Haus. Meine Hand zitterte, als ich die Tür aufschloss. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Dann endlich war ich drinnen.

Ich hielt mir die Hand vor den Mund und konnte nichts anderes machen, als an der Tür nach unten zu sinken. Das war verdammt knapp gewesen. Wer weiß wie es ohne ihn ausgegangen wäre. Blieb nur eine Frage: Wieso hatte er das getan? Ich hatte keine Antwort darauf, nur sein Name hallte noch durch meinen Kopf: Traver.

5 ZOE