Wer zuletzt lacht - Wilhelm Kuehs - E-Book

Wer zuletzt lacht E-Book

Wilhelm Kuehs

4,6

Beschreibung

Der Tod trägt eine Narrenkappe! Mörderisches Treiben beim Villacher Fasching. Mord beim Villacher Fasching: Der Bürgermeister gibt den Löffel ab Während des alljährlichen Faschingsempfangs des Bürgermeisters kippt dieser plötzlich in einen Teller Heringssalat - und ist tot. Der Journalist Ernesto Valenti ist rasch vor Ort. Ebenso wie dem ermittelnden Polizisten Major Steinkellner ist ihm rasch klar: Es muss sich um einen Giftmord handeln. Eine Reihe von möglichen Motiven Wer steckt hinter dem perfiden Mord? Wer wollte den Bürgermeister vor den Augen der Öffentlichkeit einen grausigen Tod sterben sehen? Waren es seine politischen Gegner, denen er sich vehement entgegenstellte? Kommt der Mörder aus seinem privaten Umfeld? War es ein Bordellbetreiber, dem vom Bürgermeister Steine in den Weg gelegt wurden? Viele Spuren sind es, denen Valenti folgt. Während die Polizei recht schnell einen Verdacht hat, hält Ernesto die Augen nach allen Seiten offen ... Dionysisches Treiben in Villach Bei seinen Recherchen taucht Ernesto Valenti immer tiefer in die dubiosen Machenschaften hinter den Kulissen des Villacher Faschings ein. Freunderlwirtschaft, Korruption, Prostitution - es ist ein wüstes Treiben, das sich offenbart. Menschen werden erbarmungslos ausgebeutet, während sich andere bereichern - und das alles unter der strahlenden Sonne Kärntens. Ernesto Valenti - ein kluger Ermittler mit Spürnase für Kärntens dunkelste Seiten Valenti lässt nicht locker: Klug, überlegt und hartnäckig ist er Verbrechen auf der Spur. Als erfahrener Journalist hat er ein feines Gespür für Ungerechtigkeit, Kriminalität und Korruption. Wilhelm Kuehs erzählt eine spannende und hervorragend recherchierte Geschichte von dem, was sich hinter Masken, Narrenkappen und Faschingskostümen verbirgt.

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Sammlungen



Wilhelm Kuehs

Wer zuletzt lacht

Ein Kärnten-Krimi

Wilhelm Kuehs

Wer zuletzt lacht

Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
1
2
3
4
Kapitel 2
5
6
7
Kapitel 3
8
Alois Guggenbichler – Ein Nachruf
9
10
Kapitel 4
11
12
13
Kapitel 5
14
15
Tod durch Zyankali
16
17
18
Kapitel 6
19
20
21
Kapitel 7
22
23
24
Kapitel 8
25
„Stirb, du Drecksau“
26
27
28
Kapitel 9
29
30
31
Kapitel 10
32
Ein wüster Gott in Villach
Ein wüster Gott in Villach
33
34
Kapitel 11
35
36
37
Kapitel 12
38
39
40
Kapitel 13
41
„Nicht noch ein Bordell“
42
43
Kapitel 14
44
Land fördert Bordelle
45
46
Kapitel 15
47
48
49
50
Kapitel 16
51
52
53
Ein Prinz wie aus dem Märchen
Tatverdächtige wieder auf freiem Fuß
54
Kapitel 17
55
56
57
Kapitel 18
58
59
60
61
Razzia im Rotlicht
Kapitel 19
62
63
64
Kapitel 20
65
66
67
68
69
Nachbemerkung
Wilhelm Kuehs
Zum Autor
Impressum
Weitere E-Books aus dem Haymon Verlag

Kapitel 1

1

Ernesto Valenti lehnte sich in seinem Drehsessel zurück und schloss die Augen. Als er wieder hinsah, zeigte die Uhr rechts unten auf dem Bildschirm 20 Uhr 43. Ganz freiwillig hatte Ernesto den Journaldienst in der Redaktion der Kärntner Tagespost nicht übernommen. Winfried Auer, der Chef der Lokalredaktion, hatte ihn vor die Wahl gestellt. „Entweder fährst du nach Villach zur Promisitzung, oder du richtest das Faschings­special ein.“

Bevor sich Ernesto die dümmlichen Witze und geschmacklosen Auftritte von übergewichtigen Männern in Damenunterwäsche live zu Gemüte führte, saß er lieber hier in der verlassenen Redaktion. Der Andruck war auf 23 Uhr verschoben. Mehr als genug Zeit, wenn sich alle an den Plan hielten.

Im Moment war die TV-Aufzeichnung der Promisitzung in Villach in vollem Gang. Danach gab es wie jedes Jahr einen Empfang des Bürgermeisters mit Heringsschmaus, Ansprachen und Ehrungen.

Die vier Seiten waren vorbereitet. Ernesto hatte ein Hauptfoto und drei kleinere Fotos eingeplant. Neben dem Bericht aus Villach plante Ernesto kleinere Berichte über die Faschingssitzungen in den Bezirken. Das Material hatte Ernesto über die letzten Tage und Wochen in einem Ordner gesammelt.

„Die Faschingssitzung in Feldkirchen war ein voller Erfolg“, schrieb der Mitarbeiter. „Beim Auftritt des Stadtsandlers bogen sich die Bänke vor Lachen.“ Ernesto knurrte. Freilich, die Bänke bogen sich vor Lachen, aber die Stühle haben nur gekichert. Solche Scherzkekse.

Als Ernesto die Datei mit den besten Sprüchen öffnete, grummelte er. Schon den ersten fand Ernesto weder lustig noch besonders geschmackssicher: „Welche vier Tiere braucht eine Frau unbedingt? Einen Jaguar in der Garage, einen Nerz im Schrank, außerdem einen Hengst im Bett und einen Esel, der das alles bezahlt.“

Ernesto scrollte weiter nach unten, die Witze wurden nicht besser. Also keine Sprüche aus Feldkirchen. Die Fotos waren teils unscharf und allesamt unterbelichtet. Ernesto zog sie in den Fotokorb. Er würde später entscheiden, welches davon am wenigsten schlimm war.

Die Sprüche aus St. Veit waren auch alle nicht besonders fein. Das übliche Foto von den Gardemädchen, auf denen sie die Beine nach oben warfen und man ihre Unterhosen sehen konnte, löschte Ernesto. Das war ein beliebtes Fotomotiv bei Faschingssitzungen, aber Ernesto fand es völlig unpassend für die Kärntner Tagespost. Er nahm ein Foto von einem Büttenredner, der eine Fahne schwenkte, und aus Wolfsberg stellte er ein Foto vom Tanz des Elferrates in den Rahmen.

Draußen explodierte ein Schweizerkracher, und Ernesto zuckte zusammen. Er trat ans Fenster und sah hinunter auf den Völkermarkter Ring. Ein Trupp verkleideter Gestalten trat gerade aus dem Park und ging Richtung Süden davon. Ernesto sah, wie ein Clown etwas auf die Straße warf. Ein weiterer Knall.

„Sehr lustig“, murmelte Ernesto und ging zurück an den Schreibtisch. Jetzt war es halb zehn. Leute, beeilt euch, sonst stehen die Druckmaschinen, und ich möchte nicht wissen, was das kostet. Ernesto schnappte sich sein Mobiltelefon und ging hinauf auf die Dachterrasse.

Es war eine windstille Nacht über Klagenfurt. Von der Innenstadt her hörte Ernesto Gejohle und Musik. Er zog den Reißverschluss des Anoraks bis zum Kinn herauf zu und zündete sich eine Zigarette an. Er versuchte, Markus am Mobiltelefon zu erreichen, landete aber zweimal hintereinander in der Sprachbox. Wenn man im Dienst ist, schaltet man sein Mobiltelefon nicht aus. Musste man das wirklich jedem Mitarbeiter extra sagen?

Die Kälte brannte auf Ernestos Gesicht. In den letzten Tagen war die Temperatur gefallen. Bis Weihnachten hatte es so ausgesehen, als ob der Winter dieses Jahr nicht bis ins Tal herunterkommen würde. Aber dann, nach Neujahr, hatte es zu schneien begonnen.

Ernesto schnippte die Zigarette über die Brüstung und sah ihr nach, wie sie als Ministernschnuppe durch die Luft flog. Dann ging er wieder hinunter in die Redaktion. Im Mailprogramm hatte sich nichts getan. Ernesto sah sich die Notizen zu einer Geschichte über ein neues Tourismusprojekt am Nassfeld durch.

Die Presseaussendung des Tourismusreferates der Kärntner Landesregierung war gelinde gesagt schwammig und verwirrend. Abgesehen davon, dass nirgends eine Investitionssumme genannt wurde, fand Ernesto auch nicht heraus, wer an diesem Projekt beteiligt war, geschweige denn, wer das Projekt leitete.

In den letzten Jahren hatte das Land Kärnten eine kaum zu überblickende Anzahl von Gesellschaften gegründet, die sich zwar zu hundert Prozent im Eigentum des Landes befanden, aber sonst als eigenständige Unternehmen agierten. Eine dieser Gesellschaften war die Tourismusförderungsholding GmbH. Die schien eine führende Rolle bei dem Projekt am Nassfeld zu spielen, auch wenn aus der Presseaussendung nicht hervorging, worin diese Rolle bestand. Der Geschäftsführer der „Agentur für Fortschritt und Entwicklung“, ein gewisser Ulrich Wiegele, stand laut Bildunterschrift auf dem Pressefoto neben dem Landeshauptmann. In der Presseaussendung wurde aber weder der Geschäftsführer noch die Agentur erwähnt.

Ernesto notierte sich diese Ungereimtheiten. Das Durcheinander von Beteiligungen an dem Tourismusprojekt bedeutete vielleicht nur, dass man alle politischen Lager zufriedenstellen wollte. Hier ein Posten für diese Partei und da ein Auftrag für eine andere. Es konnte aber noch etwas ganz anderes dahinterstecken.

Der Liste an Fragen fügte Ernesto eine Liste von Namen bei. Bürgermeister, Gesellschafter und Geschäftsführer. Einige davon würde er nächste Woche anrufen. Aber jetzt war es langsam Zeit für die Geschichte aus Villach.

Es war zehn nach halb elf. Was dauerte an einem Mail mit ein paar Namen so lange? Und wo blieben die Fotos? Ernesto klickte noch einmal auf den Senden/Empfangen-Button, aber da kam keine Nachricht.

Das Mobiltelefon piepste und quengelte.

„Was ist los?“, blaffte Ernesto.

„Es ist eine Katastrophe“, sagte Markus.

„Wann, zum Henker, bekomme ich den Text?“

„Du musst sofort nach Villach kommen.“ Markus’ Stimme zitterte. „Sofort.“

„Sonst geht’s dir aber gut. Ich brauch den Text, und zwar vor zehn Minuten. Wo ist der Fritz mit den Fotos? Was macht ihr da oben? Eine Party?“

„Der Fritz, der ist drinnen im Saal beim Bürgermeister.“

„Ja und? Was macht er da? Die Bilder, ich warte auf die Bilder.“

„Er fotografiert“, sagte Markus.

„Was, zum Teufel, fotografiert er jetzt noch? Weißt du, wie spät es ist? Wenn ich die Sachen jetzt nicht auf der Stelle bekomme, dann müssen die in der Druckerei warten, und ich hör mir den Anschiss morgen in der Früh nicht an.“

„Er fotografiert den toten Bürgermeister.“

Ernesto hielt für einen Moment den Atem an. „Was hast du gesagt?“, fragte er dann.

„Der Bürgermeister liegt tot am Boden“, sagte Markus. „Die Rettung, der Notarzt und die Polizei sind schon da. Das ist nicht lustig.“

„Ist die Kriminalpolizei auch schon da?“, fragte Ernesto.

„Keine Ahnung. Ich sag doch, du musst nach Villach kommen.“

„Scheiße.“ Ernesto packte seine Jacke und rannte los. „Bin schon unterwegs. Fritz soll weiter fotografieren.“

2

„Ja, Genaueres weiß ich noch nicht, aber wir brauchen die Titelseite.“ Ernesto bog gerade auf die Autobahnauffahrt Richtung Villach und hatte Winfried Auer in der Leitung.

„Schick den Markus in die Redaktion. Ich ruf in der Druckerei an“, sagte Auer.

„Schafft der das? Am Telefon hat er ziemlich verzweifelt geklungen.“

„Ein paar Seiten umzeichnen? Ich denke, das wird gehen. Halt mich auf dem Laufenden.“

Ernesto legte auf und schob die CD ins Autoradio. Dr. Kurt Ostbahn sang: „I hob an Glückstern, nua leuchtn tuat er net für mi. I hob mehr des Pech pocht, weil mei Stern do drobn is hin.“

Die Blechstimme des Navis mischte sich ein und verkündete: „Bis zur Abfahrt Villach-Faaker See auf der A2 bleiben.“

Bis dahin hätte Ernesto auch ohne Navi gefunden. Sorgen machte ihm der Rest der Strecke. In Villach verfuhr er sich regelmäßig. Die Faschingssitzung fand im Congress-Center direkt an der Drau statt. Ernesto wusste, wo sich das Congress-Center befand. Er hatte sogar eine Vorstellung, wie das Gebäude aussah, aber er hatte keine Ahnung, wie er dort hinfinden sollte.

Links sah er jetzt den Wörthersee, und dahinter leuchtete der neue Aussichtsturm auf dem Pyramidenkogel. Die Leute können sagen, was sie wollen, aber der Turm ist hässlich, eine phallische Spirale aus Holz um acht Millionen Euro, die sich hundert Meter in die Höhe schraubt. Acht Millionen Euro, da haben ein paar Leute aber ziemlich hell leuchtende Glückssterne.

Ernesto konzentrierte sich darauf, was ihn in wenigen Minuten erwartete. Eine Leiche, ein toter Bürgermeister. Gestorben beim Empfang nach der Fernsehsitzung des Villacher Faschings. Eine Riesenschlagzeile. Fritz Hochegger hatte die Leiche sicher fotografiert, das Chaos und die Arbeit des Notarztes. Solche Fotos hatte keine andere Zeitung.

„Verlassen Sie die Autobahn bei der Ausfahrt Villach-Faaker See“, meldete sich das Navigationsgerät. „Biegen Sie rechts ab. Folgen Sie der B84 bis zur Ossiacher Zeile.“

Schön, dachte Ernesto, probieren wir es.

„Biegen Sie rechts ab auf die Maria-Gailer-Straße B84“, sagte das Navi kaum zwei Minuten später.

„Jetzt widersprichst du dir“, sagte Ernesto. „Ossiacher Zeile oder Maria-Gailer-Straße.“ Er fuhr an den Straßenrand und sah sich die Karte am Navi an. Ah, die Maria-Gailer-Straße war die B84. Ernesto prägte sich den Rest der Strecke ein, und nach einiger Zeit sah er das Congress-Center schon vor sich, fuhr aber daran vorbei und parkte in der Nähe.

Er atmete durch, bevor er ausstieg. Vom Parkplatz aus sah er das Blaulicht direkt vor dem Eingang. Der Einsatz war schon im Gange, und nur wenn er Glück hatte, kam er überhaupt in den Festsaal, in dem der Empfang stattgefunden hatte.

Als Ernesto auf das Congress-Center zuging, bemerkte er einen Notarztwagen und drei Streifenwagen in der abgesperrten Einfahrt. Links vom Eingang stand eine Menschentraube. Frauen und Männer in Abendkleidung, dicht aneinandergedrängt, einige mit Zigaretten in den Händen. Die Polizisten kümmerten sich nicht um die Leute, und immer wieder ging einer durch die Glastür in die Vorhalle.

Etwa zwei Minuten stand Ernesto im Schatten einer Mauer und beobachtete. Dann setzte er sich in Bewegung. Schon hatte er sich der Menschentraube angeschlossen, arbeitete sich nach vorne durch und ging entlang der Wand zum Eingang. In der Vorhalle war es ruhig, nur an der Treppe zum ersten Stock standen zwei Beamte. Die große Tür zum Saal im Erdgeschoss war weit geöffnet. Von seinem Platz aus erkannte Ernesto die spärlich beleuchtete Bühne, wo ein Arbeiter den Boden wischte.

„Wohin wollen Sie?“, fragte der Polizist am Fuß der Treppe.

„Valenti, Kärntner Tagespost“, sagte Ernesto und hielt dem Polizisten sein Notizbuch entgegen.

Die Beamten ließen ihn durch, und er hastete die Treppe hinauf. Er suchte Markus, sah ihn aber nirgends. Als er das Absperrband der Polizei hochhob, packte ihn jemand am Arm. Er drehte sich um und sah Major Horst Steinkellner ins Gesicht.

„Valenti.“ Steinkellner schüttelte den Kopf. „Sie können nicht einfach so hier hereinplatzen.“

„Mit Ihrer Erlaubnis“, antwortete Ernesto.

„Warten Sie einen Moment. Die Spurensicherung.“

„Können Sie schon etwas sagen?“

„Nein. Warten Sie einfach hier.“ Ohne Ernesto noch einmal anzusehen, ging Steinkellner davon.

Ernesto schnaufte und streckte sich. Da vorne standen zwei Sanitäter und der Notarzt. Steinkellner steuerte auf sie zu, und Wolfgang Havlicek, der Chef der Spurensicherung, erhob sich gerade vom Boden.

Ernesto spürte eine Berührung an der Schulter. Er wirbelte herum. Markus war etwas blass um die Nase, und wenn Ernesto nicht alles täuschte, dann bedeckte ein leichter Anflug von ungesundem Grün die Wangen seines Kollegen.

„Ich habe alles gesehen. Ich war am Nebentisch. Das war gleich, nachdem sie den Heringssalat serviert haben. Da ist er plötzlich zusammengebrochen. Direkt mit dem Gesicht in den Teller.“

„Mit dem Gesicht im Teller“, sagte Ernesto.

„Ja. Fritz hat ein Foto davon.“

Ernesto zog eine Augenbraue hoch. Selbstverständlich hatte Fritz ein Foto davon. Eine ganze Fotoserie. Wie das wohl ankommen würde? Der tote Bürgermeister mit dem Gesicht im Heringssalat auf der Titelseite?

„Übernimmst du jetzt bitte. Mir ist schlecht. Ich glaub, ich geh jetzt kotzen“, sagte Markus.

„Mhmm“, machte Ernesto.

„Diese Krawallgeschichten, das ist echt nichts für mich.“

„Wenn du mit dem Kotzen fertig bist, fährst du in die Redaktion und baust die Seiten um. Wir brauchen eine neue Titelseite. Fritz mailt dir ein brauchbares Foto. Und die zwei Seiten, die noch offen sind, die kannst du vom Layout grundsätzlich so lassen. Ich ruf dich in einer halben Stunde an und diktier dir den Text. Mit Auer ist das schon abgesprochen.“

3

„Ich werde ihn jetzt für tot erklären“, sagte der Notarzt zu Major Steinkellner.

Ernesto stand neben Steinkellner und sah auf die Leiche. Der Bürgermeister lag auf dem Rücken, die Arme ausgestreckt. Das Hemd über seiner Brust musste jemand mit Gewalt aufgerissen haben. Die Pads des Defibrillators klebten noch auf der Haut.

„Als Todesart gebe ich unnatürlicher Tod an“, fuhr der Notarzt fort. „Genau kann ich das jetzt nicht sagen. Aber es würde mich nicht wundern, wenn der Pathologe eine Vergiftung feststellt.“

Steinkellner nickte, bemerkte Ernesto und warf ihm einen strafenden Blick zu.

„Dann haben wir hier also einen Mord“, sagte Steinkellner. „Na, bravo.“ Er drehte sich zu einem Beamten um. „Nehmen Sie die Personalien aller Anwesenden auf, und sorgen Sie dafür, dass niemand den Saal verlässt.“

Die Sanitäter räumten ihre Gerätschaften zusammen, und der Notarzt kritzelte seine Unterschrift auf den Totenschein. Havlicek beäugte das missmutig.

„Ich kann auch nichts dafür“, sagte einer der Sanitäter, als er Havliceks Gesichtsausdruck bemerkte. „Sollen wir ihn krepieren lassen, nur damit wir keine Spuren verwischen?“

Havlicek brummte etwas Unverständliches und fuchtelte mit den Armen, als wolle er die Sanitäter so verscheuchen. Dann ging er in die Hocke und besah sich die Leiche.

Ernesto machte ein paar Schritte zur Seite, um den Sanitätern nicht im Weg zu stehen. Er fragte sich schon die ganze Zeit, wo eigentlich sein Fotograf steckte. Fritz war sicher nicht gegangen, aber hier im Saal war er auch nicht. Die hochgewachsene, hagere Gestalt, die unvermeidliche ärmellose Jacke und vor allem die riesige Spiegelreflexkamera konnte man unmöglich übersehen. Und gerade jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, noch ein paar Fotos zu schießen. Ernesto nestelte an seinem Mobiltelefon herum. Das Ding hatte eine Kamera, aber Ernesto hatte sie erst ein- oder zweimal benutzt. Er wusste kaum, wie man sie einschaltete, deshalb wischte er auf dem Display herum, klickte irgendwelche Apps an, und dann, er wusste nicht warum, sah er plötzlich, dass sich die Kamera aktiviert hatte. Als er das erste Foto schießen wollte, läutete das Telefon.

„Das kannst du dir sparen, du Amateur“, sagte Fritz Hochegger. „Ich habe alles fotografiert. Auch dich.“

„Wo bist du?“

„Schau nach oben.“ Hochegger winkte Ernesto von der Brüstung der Galerie. „Ich hab jedes Detail.“

„Dann schick Markus ein Foto für die Titelseite und ein paar für den Bericht. Aber nicht die Leiche.“

„Ich weiß“, sagte Hochegger gedehnt. „Nicht die Leiche, niemals die Leiche. Ich werd es nie verstehen.“

Ernesto beobachtete die Leute von der Spurensicherung, die ihre Markierungen platzierten und den Tatort vermaßen. Die Leiche des Bürgermeisters lag gleich neben dem umgekippten Stuhl. Der Bürgermeister hatte am Kopf des Tisches gesessen. „Bgm. Alois Guggenbichler“, stand auf dem Tischkärtchen, auf dem eine Erbse aus dem Heringssalat klebte. Links und rechts die Reihe der Ehrengäste. Ernesto las die Aufschriften auf den Tischschildern. Hilde Guggenbichler, die Frau des Bürgermeisters. Ulrich Wiegele, Prinz Fidelius LX, Ihre Lieblichkeit Carmen XII. Ernesto notierte sich die Namen. Auf der rechten Seite begann die Sitzordnung mit Jacqueline Moser. Beim dritten Platz in der rechten Reihe stutzte Ernesto. Boris Godunow, der russische Bordellbetreiber, am Ehrentisch des Bürgermeisters. Neben dem Russen noch drei Landtagsabgeordnete.

„Nicht! Sind Sie verrückt?“, schrie Havlicek, als sich Ernesto über den Tisch beugte, um zu sehen, was es zu essen gegeben hatte.

„Was?“

„Der Heringssalat“, sagte Havlicek. „Ich nehme an, es war der Heringssalat.“

„Ich will ihn ja nicht essen“, sagte Ernesto.

„Trotzdem, mit Cyanid ist nicht zu spaßen. Ich nehme an, in dem Heringssalat werden wir Kaliumcyanid finden. Riecht es nach Bittermandeln?“

Ernesto fächelte sich die Luft zu, wie er es vor Jahren im Chemieunterricht gelernt hatte.

„Schwach“, sagte er.

Havlicek nickte.

„Aber das müsste Guggenbichler doch gerochen haben.“

„Nicht unbedingt. Nur ungefähr dreißig Prozent der Menschen können das riechen.“

„Ich dachte immer, Bittermandelgeruch ist ein untrügliches Zeichen für eine Blausäurevergiftung“, sagte Ernesto.

„Ist es, ganz richtig. Aber das können eben nicht alle Menschen wahrnehmen. Eine genetische Abweichung.“

„Verstehe.“ Ernesto blieb am Tisch stehen und prägte sich das Bild ein. Der Tisch war hastig verlassen worden. Der Stuhl der Frau Bürgermeister war nach hinten gekippt. Wahrscheinlich war sie aufgesprungen, um ihrem Mann zu helfen. Stoffservietten lagen am Boden, über einer Stuhllehne hing ein Sakko, und die Weinkaraffe am unteren Ende des Tisches hatte jemand umgestoßen. Der Wein tropfte immer noch aus dem vollgesogenen Tischtuch.

Die Gäste hatten die Schüsseln mit dem Heringssalat weit von sich geschoben. Eine Schüssel lag zerbrochen am Boden, und der Heringssalat bildete eine violette Pfütze.

„Färbt Blausäure den Heringssalat violett?“, fragte Ernesto.

„Wieso?“ Havlicek kam näher und sah, was Ernesto meinte. „Nein, das ist sicher nicht vom Cyanid. Der Heringssalat da ist ganz normal.“ Havlicek zeigte auf die Schüssel, die am Platz des Bürgermeisters stand. Der Heringssalat des Bürgermeisters war der einzige, der nicht violett eingefärbt war.

„Valenti, wenn Sie schon am Tatort herumstiefeln müssen, dann lassen Sie wenigstens die Leute in Ruhe arbeiten.“ Steinkellner nahm Ernesto an der Schulter und drängte ihn vom Tisch weg. „Sie kontaminieren den Tatort.“

„Ha“, machte Ernesto. „Sicher. Ist Ihnen der Heringssalat da schon aufgefallen?“

„Was soll damit sein?“

„Er ist violett.“

„Und?“

„Der Heringssalat des Bürgermeisters ist ganz normaler Heringssalat, offenbar vergiftet. Aber der Rest hier am Tisch ist violett. Was hat das zu bedeuten?“

Steinkellner schwieg und ließ seinen Blick von einer Schale zur anderen wandern. „So wusste der Mörder, welchen Heringssalat er vergiften musste“, sagte er nach einer Weile. „Aber warum hatte der Bürgermeister einen anderen Heringssalat?“

„Das ist die Frage“, sagte Ernesto. „Wer hat den Heringssalat geliefert?“

Havlicek zeigte mit der ausgestreckten Hand auf eine Seitentür. Dort stand ein Cateringwagen aus Edelstahl. Auf der Seitenfläche prangte ein Aufkleber: Bio-Catering Wulz.

Noch bevor Steinkellner reagieren konnte, hatte sich Ernesto schon in Bewegung gesetzt. Er schlängelte sich zwischen Stühlen und Tischen hindurch und steuerte direkt auf die Frau in der weißen Schürze zu.

„Ich nehme an, Sie sind hier für das Catering zuständig“, begann Ernesto. Er las das Namensschild auf ihrer Bluse. Isabella Wulz.

„Wir haben den Heringssalat und das Gebäck geliefert“, antwortete sie.

„Und warum haben Sie zwei unterschiedliche Arten von Heringssalat geliefert?“

„Eigentlich nicht.“

„Wie meinen Sie das?“

Steinkellner hatte Ernesto mittlerweile eingeholt.

„Es wurde rheinischer Heringssalat bestellt. Wegen der Abordnung aus Mainz. Aber eine Portion, das war ausdrücklich auf der Bestellung vermerkt, sollte traditioneller Kärntner Heringssalat sein.“

„Warum?“, meldete sich Steinkellner.

„Ich nehme an, der Kärntner Heringssalat war für den Bürgermeister.“

„Mochte der Bürgermeister den rheinischen Heringssalat nicht?“, fragte Ernesto. „Ich könnte es verstehen, bei der Farbe.“

„Aber nein. Im rheinischen Heringssalat sind neben den roten Rohnen Nüsse, und das weiß doch jeder, dass der Bürgermeister darauf allergisch ist.“

„War“, korrigierte Ernesto, mit dem Erfolg, dass Isabella Wulz Tränen in die Augen traten. Steinkellner stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Rippen.

„Wann haben Sie denn geliefert?“, fragte Stein­kellner.

„Ich weiß nicht, lassen Sie mich nachdenken. So gegen halb neun waren wir sicher schon da.“

„Wer, wir?“, setzte Steinkellner nach.

„Meine Kellnerinnen und ich. Wir sind zu fünft. Dann haben wir den ersten Essenswagen mit dem Lift hier heraufbefördert, und dann den zweiten, und dann war ich noch kurz weg, um das Gebäck zu holen.“

„Und das Essen war dann unbeaufsichtigt?“

„Ja, mehr oder weniger“, sagte sie.

„Es hat also jeder Zugang gehabt?“

„Warum fragen Sie das?“

„Ihnen ist nichts aufgefallen, als Sie das Essen servierten?“

„Was hätte mir auffallen sollen?“

„Der Heringssalat war sicher mit einer Folie oder so etwas abgedeckt“, sagte Ernesto. „Nicht wahr? Und vielleicht ist Ihnen da etwas aufgefallen. Vielleicht war die Folie verrutscht oder hatte ein Loch oder so etwas in der Art.“

Isabella Wulz sah Ernesto an. „Sie meinen, der Heringssalat hat etwas mit … Das kann gar nicht sein. Um Gotteswillen.“ Die Frau wurde kreidebleich und hielt sich beide Hände vor den Mund. „Das glauben Sie doch selber nicht, dass ich …“

„Beruhigen Sie sich“, sagte Steinkellner. „Sie werden nicht als Beschuldigte geführt. Ich frage Sie nur, weil Sie zur Klärung des Sachverhalts beitragen können. Also, überlegen Sie. Sie sagen, der Essenswagen war unbeaufsichtigt? Die ganze Zeit über, oder war irgendwann jemand von ihren Leuten in der Nähe?“

„Ja, um halb neun haben wir das Essen gebracht. Dann bin ich noch einmal gefahren. Ich glaube nicht, dass in dieser Zeit jemand hier war. Und dann … Die meiste Zeit waren wir da in der Nähe, haben alles vorbereitet. Die Tische gedeckt, und dann war da jemand vom Congress-Center, der die Getränke gebracht hat. Also irgendwie …“

„In dieser Zeit, als Sie die Tische deckten, war da sonst noch jemand im Saal?“

„Im Saal glaube ich nicht, aber ich kann es nicht beschwören. Auf so etwas schaut man doch nicht.“

4

„Mischen Sie sich ja nicht in meine Ermittlungen“, zischte Steinkellner, als sie wieder zu Havlicek und der Leiche zurückgingen. „Was fällt Ihnen überhaupt ein, Fragen zu stellen? Sie sind ja völlig verrückt geworden.“

„Ich bin Journalist“, sagte Ernesto. „Es ist meine Aufgabe, Fragen zu stellen.“

„Verschwinden Sie. Ich will Sie hier nicht mehr sehen, sonst lass ich mir wirklich etwas einfallen, um sie zu verhaften.“

Ernesto winkte Hochegger, der immer noch an der Brüstung der Galerie stand und fotografierte. Dann schlüpfte er unter dem Absperrband durch und verschwand aus Steinkellners Blickfeld. Für den Artikel hatte er mehr als genug Informationen. Aber bevor er Markus anrief, wollte er sich noch kurz mit Hochegger unterhalten.

Sie trafen sich im Gang vor dem Saal, und Hochegger zeigte Ernesto ein paar Fotos auf dem Display seiner Kamera. Darunter waren ein paar brauchbare Porträts vom Bürgermeister und einige ziemlich spektakuläre Aufnahmen vom Notarzt und den Sanitätern.

„Das beste Foto aber ist das“, sagte Hochegger und hielt Ernesto die Kamera hin. Eine Nahaufnahme vom Bürgermeister, wie er mit dem Gesicht im Heringssalat liegt.

„Du weißt doch genau …“ Weiter kam Ernesto nicht.

„Warte einen Moment. Da passiert gerade etwas“, unterbrach ihn Hochegger und zog ihm die Kamera unter der Nase weg.

Einige uniformierte Beamte hatten den Saal betreten und wiesen die Gäste an, sich in einer Reihe aufzustellen. Havlicek hatte sich an einem Tisch positioniert und nahm gerade einer Frau die Handtasche ab. Er leerte den Inhalt auf den Tisch und pickte sich einen Lippenstift und ein Parfumfläschchen heraus.

Hochegger fotografierte.

Der nächste in der Reihe musste seine Hosensäcke ausleeren, und ein Beamter tastete ihn ab.

„Die suchen den Behälter für die Blausäure“, sagte Ernesto.

„Glaubst du, ich kann gleich die Verhaftung fotografieren?“

„Hochegger, geben Sie die Speicherkarte heraus.“ Steinkellner tauchte neben ihnen auf.

„Ich denke ja gar nicht daran.“

„Wenn Sie die Fotos veröffentlichen, gefährden Sie die Ermittlungen. Ich beschlagnahme die Speicherkarte hiermit. Also …“

„Das können Sie nicht machen, Steinkellner“, mischte sich Ernesto ein. „Das ist ein Verstoß gegen die Pressefreiheit. Außerdem brauchen Sie einen Gerichtsbeschluss.“

„Ich halte Sie beide so lange hier fest, bis der Staatsanwalt da ist, dann werden wir ja sehen.“

„Die Ermittlungen gefährden“, sagte Hochegger. „Sie wissen doch genau, dass das nicht passiert. Das ist ja fadenscheinig.“

„Geben Sie mir die Speicherkarte“, wiederholte Steinkellner.

Hochegger schnaufte.

„Das ist ja lächerlich“, sagte Ernesto. „Das ist absolut lächerlich, und das wissen Sie auch.“

Steinkellner zog sein Mobiltelefon aus der Tasche.

„Ich gebe Ihnen noch eine Chance, Hochegger. Händigen Sie mir sofort die Speicherkarte aus, oder ich rufe den Staatsanwalt an, und dann sitzen Sie hier für den Rest der Nacht fest.“

„Gott im Himmel“, stöhnte Hochegger, verdrehte die Augen und öffnete das Fach für die Speicherkarte. „Da haben Sie sie.“

„Ich verweise Sie des Tatorts. Verlassen Sie das Congress-Center auf der Stelle“, sagte Steinkellner und steckte die Speicherkarte ein.

Ernesto schüttelte den Kopf und ging. Hochegger folgte ihm grinsend.

„Was ist daran so lustig?“, fragte Ernesto, als sie den Ausgang erreicht hatten. „Jetzt haben wir nicht einmal ein Foto.“

„Aber Quatsch. Was glaubst du, was ich Steinkellner gegeben habe?“

„Die Speicherkarte?“

„Natürlich hat er jetzt eine Speicherkarte. Aber ich bin doch nicht blöd. Ich mach immer ein Live-Backup.“ Hochegger klopfte auf den Akku, den er wie eine Umhängetasche an der Seite trug. „Auf der anderen Speicherkarte sind genau die gleichen Fotos.“

Kapitel 2

5

Den Geschmack der durchwachten Nacht noch auf der Zunge, blätterte Ernesto in der aktuellen Kärntner Tagespost. Er wollte sehen, wie sich das Bild von den Sanitätern, die sich über den sterbenden Bürgermeister beugen, auf der Doppelseite machte. Vom Bürgermeister war kaum etwas zu sehen. Nur die Beine mit voneinander wegweisenden Schuhspitzen und ein Teil der rechten Schulter wurden nicht von den Sanitätern verdeckt.

Der ORF brachte die Meldung vom Tod des Villacher Bürgermeisters zwar seit vier Uhr früh in den stündlichen Nachrichten, aber das war keine Konkurrenz. Keine andere Zeitung hatte die Geschichte, nicht einmal als Einspalter, ganz zu schweigen von einer bebilderten Reportage vom Tatort.

Ernesto trank von seinem stark gezuckerten Kaffee und war sich sehr bewusst, dass die meisten Leser solche Überlegungen abartig finden. Den Bericht lesen sie aber trotzdem. Nein, nicht trotzdem, gerade deshalb. Weil sich hier Schaulust und Morbidität mit Information mischen. Die Menschen starren auch aus ihren Autos und fahren langsamer, wenn sie an einem Unfallort vorbeikommen. Gleichzeitig fasziniert und ängstlich beobachten die Passanten den Schrecken, die meisten jedenfalls.

Die Redaktionskonferenz begann in ungefähr fünf Minuten. Ernesto setzte sich und gähnte. Franziska Edlinger, die Politikchefin der Tagespost, sortierte Unterlagen und warf Ernesto einen Blick zu.

„Und? Wer war’s, deiner Meinung nach?“, fragte Edlinger.

„Du schreibst doch den Nachruf“, antwortete Ernesto.

„Ich tippe auf den Vize.“

„Welchen Grund hätte der?“

„Such dir einen aus“, sagte Edlinger und zuckte mit den Schultern. „Als Bürgermeister machst du dir keine Freunde.“

Die Eingangstür zur Redaktion flog auf und knallte mit der Schnalle gegen die Wand.

„Bin spät dran“, begrüßte Winfried Auer die beiden. „Redaktionskonferenz in“, er sah auf die Uhr, „zehn Minuten.“ Er verschwand in seinem Büro, lugte dann aber noch einmal aus der Tür. „Zyankali? Nett.“

„Altmodisch, würde ich sagen“, antwortete Ernesto, aber Auer hörte die Entgegnung nicht mehr. „Also der Vizebürgermeister“, wandte sich Ernesto wieder an Edlinger. „Andere Partei?“

„Die vom LH“, antwortete Edlinger. „Guggenbichler hat ihn bei der letzten Bürgermeisterwahl haushoch geschlagen.“

„Wegen so was bringt man doch keinen um.“

„Sagst du. Aber wenn man einander jeden Tag bis aufs Blut bekämpft – Mord kommt in den besten Ehen vor.“

6

In der Redaktionskonferenz ging es nur ganz am Anfang um den Tod des Bürgermeisters. Auer erledigte die Angelegenheit, indem er sie Ernesto übergab. „Was auch immer, wie auch immer. Ernesto ist der Knotenpunkt für alles, was mit dem BGM zu tun hat“, sagte er.

„Und wann ernennst du ihn zum Leiter des Mordressorts?“, fragte David Simon.

„Ich dachte, das hast schon du inne“, sagte Ernesto. „Oder was glaubst du, um was es im Wirtschaftsressort geht?“

„Kommunist.“

„Kapitalist.“

„Und jetzt ist Schluss“, fuhr Auer dazwischen. „Wir machen hier eine Zeitung, ihr Kasperln. David, was ist mit der Schließung der Kärntenbräu?“

„Pressekonferenz des Betriebsrates heute 11 Uhr. Aber ich kann dir jetzt schon sagen, dass da nichts Gescheites herauskommt.“

„Hat das Land da nicht vor Kurzem investiert?“

„1,8 Millionen Euro vor zwei Jahren. Eine neue Abfüllanlage, als die Firma von einem deutschen Konzern aufgekauft wurde. Die haben das Geld verpulvert, und jetzt hauen sie den Hut drauf“, sagte Simon.

„Okay, kommt auf die vier und fünf. Außer es gibt etwas Sensationelles beim Bürgermeister“, sagte Auer.

„Glaub ich eher nicht“, meinte Ernesto.

„Dann haben wir auf der Einser im Lokalteil die Geschichte von dem Hundevergifter. Steht die Story?“ Auer sah die zuständige Redakteurin an.

„Zwei tote Hunde, ein Labrador und ein Spitz, fünf weitere von Tierärzten gerettet“, sagte die Redakteurin. „Hab Interviews mit dem Tierarzt des Tierschutzhauses, dem Polizeisprecher, und wir machen am Vormittag noch eine Sechserumfrage auf dem Kreuzbergl.“

„Spar dir die Umfrage für übermorgen. Wir werden die Geschichte nicht so schnell verheizen“, sagte Auer und machte weiter.

Ernesto klinkte sich an diesem Punkt aus der Konferenz aus. Er schloss kurz die Augen und spürte die Müdigkeit. Er kramte seine Sachen zusammen, nickte Auer zu und ging. Draußen schnappte er sich seine Zigaretten und sein Mobiltelefon und ging auf die Dachterrasse.

Im Pullover stand Ernesto an der Brüstung und zog die Schultern hoch. Auf den Kieseln hatte sich in der Nacht eine dünne Schneekruste festgesetzt. Ernesto blies den Rauch durch die Nasenlöcher aus, kniff die Augen zusammen und wandte sein Gesicht in den kalten Wind. Von gestern hing noch der Geruch von Feuerwerkskörpern in der Luft.

Vermutlich hatte es keinen Sinn, Steinkellner jetzt anzurufen. Was würde er schon sagen? Dass es noch keine Ergebnisse gab? Dass die Ermittlungen in vollem Gange waren? Sehr wahrscheinlich, ja. Dennoch klappte Ernesto die Schutzhülle seines Mobiltelefons auf und suchte nach Steinkellners Nummer.

„Valenti hier, guten Morgen.“

„Ich habe nichts für Sie. Warten Sie auf die Pressemeldung.“

„Können Sie das mit dem Zyankali bestätigen?“, fragte Ernesto.

„Wieso? Sie haben es doch schon geschrieben. Was fragen Sie mich nach Dingen, die Sie schon wissen?“ Steinkellner wurde lauter.

„Ich habe geschrieben mutmaßlich“, sagte Ernesto. „Und diese Mutmaßung kam nicht von mir, sondern von Ihrem Kollegen Havlicek.“

„Havlicek mutmaßt nicht.“

„Jedenfalls hat er mich auf den Bittermandelgeruch aufmerksam gemacht. Hat denn das Handtaschenausleeren etwas gebracht?“

„Lesen Sie die Pressemeldung“, sagte Steinkellner und legte auf.

Ernesto rauchte seine Zigarette zu Ende und ging wieder zurück in die Redaktion. Auf dem Weg dorthin steckte er seinen Kopf noch in das Büro des Kulturredakteurs. Čertov hatte darauf bestanden, ein Büro direkt unter dem Dach, weitab vom Großraumbüro der Lokalredaktion, zu bekommen.

„So wird das nie etwas mit deiner Versetzung in die Kultur“, sagte Čertov.

„Na, was soll ich machen?“

„Dich nicht einmischen.“

„Ah, du bist lustig“, sagte Ernesto.

„Und Arbeit abwälzen. Apropos Arbeit abwälzen. Der Villacher Fasching gibt doch sicher auch etwas für die Kulturseite her. Mach mir eine Reportage für übermorgen. Du weißt schon, über die Entstehung, die Wurzeln, anthropologische Hintergründe. Aber lesbar, bitte. Keine Abhandlung.“

„Dann musst du das schon selber schreiben“, sagte Ernesto und zog die Tür hinter sich zu. Eine Reportage, ja genau, als ob er sonst nichts zu tun hätte.

Natürlich würde er die Reportage schreiben, heute Abend, morgen irgendwann, aber im Moment hatte er ein größeres Problem: zwei leere Seiten im Lokalteil, die er mit einer Geschichte über den Tod des Bürgermeisters füllen musste. Die Stellungnahme des LH hatte er schon seit acht Uhr im Mailordner, und nach und nach trafen auch öffentliche Beileidsbekundungen von Landesräten, Parteiobmännern und Bürgermeistern ein. Mit dem Nachruf von Franziska war der Job erledigt, aber Ernesto wollte nichts überstürzen. Vielleicht ergab sich im Lauf des Tages noch etwas.

Franziska Edlinger saß schon wieder auf ihrem Platz, als Ernesto in die Redaktion kam.

„Der Vizebürgermeister“, begann Ernesto.

„Samonig, Kurt Samonig.“

„Ja, gibt es irgendeinen konkreten Anlass, dass du den Vize verdächtigst?“

„Mehrere“, sagte Franziska. „Aber die Sache mit dem Einkaufszentrum, die könnte schon eskaliert sein. Der Vize macht sich seit Jahren für die Widmung eines Grundstückes als Gewerbefläche im Süden von Villach stark. Die Stadt soll dort ein neues Einkaufszentrum errichten.“

„Die Stadt soll errichten?“

„Das wäre dem Vize am liebsten, aber auch mit der Widmung wäre er schon glücklich. Sicher ist, dass er dabei zumindest mittelbar profitieren würde. Sein Cousin könnte das Baumanagement übernehmen. Eine ziemlich lukrative Sache.“

„So etwas muss man doch ausschreiben.“

„Spiel nicht den Naiven. Natürlich muss man so etwas ausschreiben. Und? In Wirklichkeit kommen doch immer die gleichen drei oder vier Generalunternehmer zum Zug, und jeder von denen hat ausgezeichnete Verbindungen zur Politik.“

„Sag einmal, nur grob geschätzt, um welche Summe könnte es da gehen?“

„Ein zweistelliger Millionenbetrag.“

„Und für den Vize?“

„Na, Genaues weiß man nicht“, sagte Edlinger. „Aber eine Provision wird schon herausschauen für ihn, eine Kickbackzahlung für die Partei versteht sich eh von selbst.“

„Und der Bürgermeister wollte nicht?“

„Komisch, oder? Aber Guggenbichler hatte sich in den Kopf gesetzt, kein weiteres Einkaufszentrum in der Peripherie zuzulassen. Er arbeitete an einem Konzept zur Belebung der Innenstadt, wie das so schön heißt, und wenn du mich fragst, sieht das so aus, als könnte es funktionieren. Keine Subventionen für Handelsketten, dafür Mietzuschüsse für Kleinbetriebe. Lenkung des Branchenmixes durch das Stadtmarketing und ein Konzept für die Werbung, das vom Christkindlmarkt bis zum Sommershopping alles abdeckt.“

„Ich weiß ja nicht.“ Ernesto machte ein skeptisches Gesicht. „Da muss schon noch etwas gewesen sein.“

„Soll schon mehr Morde wegen weniger Geld gegeben haben.“

„Wegen weniger Geld, genau. Überleg einmal. Für hundert Euro und für weniger, da wird schon einmal jemand umgebracht, aber wenn es um Millionen geht …“ Ernesto schüttelte den Kopf. „Nein, dann eher nicht.“

7

Gegen elf Uhr war Ernesto mit seinen Seiten fertig. Dann fuhr er nach Villach, um mit Markus essen zu gehen, aber Markus saß noch im Regionalbüro und bastelte an seinem dreiseitigen Regionalteil. Er wollte mit einer Umfrage zum Tod des Bürgermeisters unter den Regionalpolitikern und Prominenten aufmachen. Beileidsbekundungen und die üblichen Stehsätze, welch engagierten Politiker man nicht verloren habe.

Ernesto runzelte die Stirn. Grundsätzlich war es kein Problem, wenn Markus und er sich die Statements aufteilten. Auf der Regionalseite die Leute aus der Stadtregierung und dem Gemeinderat, ein paar Prominente vielleicht, und auf den Lokalseiten der LH und die übrigen Konsorten. Doch besonders begeistert war er davon nicht.

„Was Besseres ist dir nicht eingefallen?“ Ernesto beugte sich über den Schreibtisch und las die Beileidsbekundung des Vizebürgermeisters.

„Hast du etwas anderes?“, entgegnete Markus.

„Noch nicht. Aber der Tag ist noch nicht zu Ende. Gehen wir essen. Wohin gehen wir eigentlich?“

„In den Brauhof, würde ich sagen. Der ist ganz in der Nähe.“

Sie spazierten durch die eisig kalte Stadt. Ernesto zog den Kopf ein, als ein Windstoß über die Drau her auf sie zufegte. Auf der Brücke blieben sie stehen und sahen hinüber zum Congress-Center. Die Sonne stand schräg über dem Horizont, und jetzt, gegen Mittag, glitzerten ihre Strahlen auf den Wellen des Flusses.

„Hast du schon mit dem Faschingskanzler gesprochen?“, fragte Ernesto.

„Dem Wiegele? Der wird im Brauhof sein“, antwortete Markus. „Seine Presseaussendung hab ich dir weitergeschickt.“

„Mich würde nur interessieren, ob er die Faschingssitzungen jetzt abbläst.“ Ernesto wandte sich vom Fluss ab, und sie setzten ihren Weg fort.

„Schwer zu sagen“, meinte Markus. „Einerseits ist es irgendwie makaber, wenn sie weitermachen, aber andererseits, was bleibt ihnen übrig?“

„Ich versteh das mit dem Fasching ja nicht“, sagte Ernesto. „Was daran so lustig sein soll.“

Markus ging neben ihm her, sagte aber nichts.

„Ich meine, natürlich verstehe ich das in der Theorie. Woher die Faschingsbräuche kommen und wie sie sich gewandelt haben, aber warum das lustig ist, keine Ahnung.“

„Das ist vielleicht nicht deine Art von Humor.“

„Humor? Ich bitte dich“, sagte Ernesto und stieß die Tür des Brauhofs auf.

Das Stimmengewirr, das Klirren von Besteck und Gläsern schlugen Ernesto entgegen, und trotz Lüftung stand der Geruch nach Bier und Essen im Raum, garniert mit einem leichten Hauch von Schweiß. Die Tische gegenüber der Theke waren belegt, nur im hinteren Bereich gab es noch eine Art Nische mit einem Tisch für zwei Personen. Der große Raum war durch hüfthohe Wände aus Klinker unterteilt, und die Stühle und Tische sahen auf den ersten Blick alt und abgenutzt aus. Aber als Ernesto sich hinsetzte und die Tischplatte genauer betrachtete, erkannte er, dass die Platte aus Altholz zusammengeleimt war. Sorgsam ausgesuchte Bretter mit Wurmlöchern und gedunkelten Stellen, Flecken von ausgezogenen Nägeln und Schrammen, stabilisiert und mit einer Schicht farblosem Dicklack überzogen. Die Einrichtung musste ein Vermögen gekostet haben. Ernesto grauste es vor dieser Pseudorustikalität. Die Wandmalerei tat noch das Übrige, um ihm den Appetit zu verderben. An der Stirnseite des Saales waren recht ungelenk ein paar Frauen in Dirndln und daneben ein Kirchtagslader für den Villacher Kirchtag in den Putz gepinselt.

„Zum Trinken?“, fragte die Kellnerin im Dirndlkleid und legte die Speisekarten auf den Tisch. „Heute kann ich das Villacher Faschingsmärzen ganz besonders empfehlen.“

„Heiße Schokolade und einen Aschenbecher“, sagte Ernesto und erntete dafür einen erstaunten Blick der Kellnerin. „Kommst du öfter hierher?“, fragte er Markus.

„Geht so. Wenn du etwas wissen willst, musst du dich hier hereinsetzen, das ist quasi das Wohnzimmer des Gemeinderates und der Faschingsgilde.“

„Ich wette, die meisten gehören zu beiden Vereinen.“

Markus nickte.

„Schöne Gesellschaft.“ Ernesto blätterte die Speisekarte durch, und als die Kellnerin mit den Getränken kam, bestellte er eine Portion Kärntner Kasnudeln. Markus zog ein angewidertes Gesicht.

„Was? Sind die Kasnudeln nicht gut?“, fragte Ernesto.

„Na schon, ausgezeichnet sogar, aber Kakao und Kasnudeln, isst man das so in Unterkärnten?“

„Normalerweise mit Kaffee.“

„Ist ja widerlich.“

„Eine Frage der Gewohnheit. Sag einmal, du arbeitest jetzt ja schon ewig im Regionalbüro, erzähl ein paar Geschichten über den Bürgermeister.“

„Welche Kategorie hättest du gern? Politisch oder schlüpfrig?“

„Meinetwegen beides, aber fangen wir einmal mit schlüpfrig an.“

„Du hast die Sitzordnung im Festsaal ja gesehen. Ist dir da etwas aufgefallen?“

„Dass der Bordellbesitzer auf einem besseren Platz sitzt als die drei Landtagsabgeordneten?“, riet Ernesto.

„Das auch, aber weiter oben am Tisch ist es auch lustig zugegangen. Rechts vom Bürgermeister seine Frau Hilde und links von ihm Jacqueline Moser.“

„Und?“

„Das ist die Langzeitgeliebte des Bürgermeisters. Zwölf Jahre jünger als die Frau Bürgermeister, aber sonst das gleiche Modell.“

„Die schauen einander ähnlich?“, fragte Ernesto.

„Was heißt ähnlich? Sie könnten Schwestern sein. Aber das ist noch nicht alles. Von dieser Affäre weiß die ganze Stadt. Guggenbichler hat sich auch keine Mühe gemacht, sie zu verheimlichen. Eher im Gegenteil. Einmal taucht er mit seiner Ehefrau auf, einmal mit der Geliebten, auch bei offiziellen Anlässen, und bei besonderen Gelegenheiten nimmt er gleich beide mit.“

„Interessante Geschichte.“

„Wird noch besser. Die Frauen fahren auch das gleiche Auto, haben den gleichen Hund, und was ihre Kleider und Schuhe anbelangt, da hat er wohl Mengenrabatt kassiert.“

Ernesto zerteilte die Kasnudel fachgerecht mit der Gabel und spießte sie dann auf. „Das macht beide verdächtig“, sagte er, bevor er sich den Bissen in den Mund schob.

„Sicher“, sagte Markus. „Irgendwie jedenfalls. Du meinst, die Frau Bürgermeister war eifersüchtig und hat deshalb …“

„Aber“, unterbrach ihn Ernesto. „Wieso sollte sie ihn erst jetzt umbringen, wenn die Affäre schon seit Jahren am Laufen ist? Gibt es da einen auslösenden Faktor?“

„Nicht, dass ich wüsste.“ Markus zuckte mit den Schultern.

„Und umgekehrt? Hätte die Geliebte einen Grund gehabt? Wollte der Bürgermeister die Affäre beenden?“

„Wohl eher nicht. Jedenfalls nicht, dass ich etwas gehört hätte. Es gibt das Gerücht, dass Jacqueline schwanger ist. Da wird er sich nicht von ihr trennen.“

„Oder erst recht.“ Ernesto schürzte die Lippen. „So etwas kann jedenfalls nicht reibungslos abgelaufen sein. Die Ehefrau, die Geliebte. Wenn die voneinander gewusst haben.“

„Die sind sogar manchmal zusammen gesehen worden.“

„Trotzdem. Die Frau hat sich mit der Geliebten abgefunden?“

„Aber vielleicht mit den anderen Affären nicht.“

„Welche andere Affären?“, fragte Ernesto.

„Der Bürgermeister war kein Kostverächter, und er hat alles gevögelt, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Heißt es.“

„Heißt es, oder kannst du das beweisen?“

„Es ist zumindest ein Gerücht“, sagte Markus. „Und solche Gerüchte haben meistens einen wahren Kern.“

„Wenn du meinst.“ Ernesto widmete sich wieder seinen Kasnudeln.

„Markus“, hallte es laut durch den Saal. Ein Mann kam auf ihren Tisch zu. Ernesto schätzte ihn auf Ende vierzig, Anfang fünfzig. Er trug einen ziemlich teuren Anzug, dezente Krawatte und italienische Schuhe.

„Und Sie sind sicher Ernesto Valenti. Meine Verehrung.“ Der Mann streckte Ernesto seine rechte Hand entgegen, und Ernesto schüttelte sie.

„Sie werden mich nicht kennen.“

„Ich habe ein schlechtes Namensgedächtnis, aber Gesichter merke ich mir gut“, sagte Ernesto. „Sie sind der Faschingskanzler, nicht wahr?“

„Ulrich Wiegele. Faschingskanzler, ganz genau.“ Wiegele lachte und schlug Ernesto auf die Schulter. „Darf ich mich setzen?“, fragte er und tat es, ohne eine Antwort abzuwarten. „Eine schreckliche Sache, das mit dem Bürgermeister. Ich habe Ihren Artikel gelesen.“

„Sie waren doch selbst dabei“, sagte Ernesto.

„Aber wenn man es dann in der Zeitung liest, wirkt es anders, realer, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Ernesto legte das Besteck beiseite und lehnte sich zurück. Er kramte nach seiner Zigarettenpackung und unbeeindruckt vom Nichtraucherzeichen an der Wand steckte er sich eine an. „Werden Sie die Faschingssitzungen jetzt absagen?“

„Wieso?“

„Der Bürgermeister“, sagte Markus.

„Ach so, der Bürgermeister. Nein, ich glaube nicht, dass das in seinem Sinne wäre.“

„Und außerdem sind die Karten ja auch schon verkauft“, sagte Ernesto.

„Morgen übrigens zeichnet der ORF noch einmal auf. Wenn Sie möchten, sind Sie herzlich eingeladen. Ich reserviere Ihnen einen Platz am Pressetisch.“

„Die Einladung nehme ich an“, sagte Ernesto.

„Ich dachte, du hasst Faschingssitzungen“, sagte Markus.

„Meine persönlichen Befindlichkeiten spielen hier keine Rolle.“ Ernesto warf Markus einen scharfen Blick zu. „Wie war das überhaupt mit dem Bürgermeister? War der auch bei der Faschingsgilde?“

„Um Gotteswillen nein, natürlich nicht. Der Empfang nach der Sitzung war alles, was der Bürgermeister beitragen durfte.“

„Wieso eigentlich?“

„Im Fasching übernimmt doch der Narrenrat das Regiment“, sagte Wiegele.

„Aber doch nicht in echt.“

„Trotzdem muss es da eine Trennung geben. Der Bürgermeister muss sich aus dem Fasching heraushalten.“

„Der Vizebürgermeister offensichtlich aber nicht“, sagte Ernesto und zeigte mit dem Kinn Richtung Theke. „Oder täusche ich mich da, und der Mann mit der Narrenkappe und dem Vollbart ist gar nicht Vizebürgermeister Kurt Samonig?“

„Vizebürgermeister. Das geht“, sagte Wiegele. „Nur der Bürgermeister darf nicht Mitglied der Gilde sein.“

„Mhmm“, machte Ernesto. „Wenn ich das richtig sehe, dann ist Samonig von der anderen Fraktion, also kein sonderlicher Freund des Bürgermeisters.“

„Die beiden konnten sich nicht ausstehen“, sagte Markus.

„So schlimm war es auch wieder nicht“, entgegnete Wiegele. „Sicher, im Gemeinderat ging es manchmal hoch her, aber nachher sind immer alle noch auf ein Bier gegangen.“

„Pack schlägt sich, Pack verträgt sich“, sagte Ernesto leise.

„So würde ich das nicht sagen.“ Wiegele schien ein wenig konsterniert.

„Sie meinen also, Samonig hätte keinen Grund gehabt, den Bürgermeister zu vergiften?“, fragte Ernesto.

„Was weiß man schon.“

„Und Sie?“

„Das meinen Sie jetzt aber nicht ernst.“

Ernesto zog die Mundwinkel nach unten.

„Sie sind ja …“

„Ich denke“, unterbrach ihn Ernesto, „Sie sollten sich schon einmal an solche Fragen gewöhnen. Früher oder später wird die Kriminalpolizei auch bei Ihnen auftauchen und …“

„Ja, aber was hab ich damit zu tun?“

„Sie und alle anderen hier.“ Ernesto zeigte noch einmal in Richtung Theke. „Also, ich weiß nicht, aber sie schauen alle verdächtig aus.“

„Was, ich? Das ist doch absurd.“

„Oder der Vizebürgermeister. Der Faschingsprinz.“

„Der Faschingsprinz, wie kommen Sie darauf?“

„Was weiß ich? Soll ich raten? Ich nehme an, Faschingsprinz wird man nur auf Nominierung der Faschingsgilde.“

„Ja und? Wollen Sie eine Feindschaft zwischen der Faschingsgilde und dem Bürgermeister konstruieren? Das ist ja absurd. Unser Faschingsprinz ist ein angesehener Unternehmer aus Villach, und seine italienischen Wurzeln betonen den Alpen-Adria-Gedanken.“

„Ich habe ja nicht gesagt, dass es einer von Ihnen war“, meinte Ernesto. „Aber der Verdacht wird nicht ausbleiben.“

„Und den ganzen schönen Fasching verderben.“

„Ja, das könnte sein“, sagte Ernesto.

„Aber das werde ich nicht zulassen. Der Fasching wird weitergehen, und am Aschermittwoch kann die Polizei den Mörder immer noch verhaften.“ Wiegele stand auf und machte eine ausladende Geste. „Nichts wird den großen Umzug am Samstag verhindern, dafür sorge ich.“

Ernesto drückte seine Zigarette aus und stand auf.

„Sie können jetzt doch noch nicht gehen“, sagte Wiegele.

„Ich zahle an der Theke“, antwortete Ernesto. „Das wird noch ein langer Tag für mich.“