Wertschätzend miteinander umgehen - David Walbelder - E-Book

Wertschätzend miteinander umgehen E-Book

David Walbelder

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  • Herausgeber: Camino
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Ein Vier-Parteien-Haus mit vier ganz unterschiedlichen Paaren und jedes hat seine größeren und kleineren Probleme. Zum Schluss ist klar: Vieles hätte man sich erspart, hätte man offen und wertschätzend miteinander kommuniziert. Aber wie geht das? Der junge Paarkommunikationsexperte David Walbelder spielt verschiedene Themen und Probleme durch und zeigt, wie man Missverständnissen vorbeugt: Prophylaxe eben.

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David Walbelder

Wertschätzend miteinander umgehen

Eine Prophylaxe für Paare

Inhalt

Anleitung zur Prophylaxe

Willkommen im Haus für Kommunikationsexperten

Treue

Wie man echte und konkrete Fragen stellt

Alltag

Wie die Feedback-Methode hilft, aus Endlosschleifen auszubrechen

Glücksideen für Paare

Familie und Karriere

Wie Ich-Botschaften das Leben einfacher machen

Der Wunschplan

Sexualität

Wenn es kein richtig und falsch gibt

Glaube

Warum es den richtigen Ort und die richtige Zeit braucht

Freundschaft

Warum man Vermeidungsstrategien besser vermeiden sollte

Mein analoges soziales Netzwerk

Gefühle

Was der Unterschied zwischen ›gleichem‹ und ›ergänzendem‹ Kommunikationsverhalten ist

Zukunft

Warum man die Beziehungsebene gerne mal mit der Sachebene vermischt

Sich Ideen aus der Zukunft holen

Was noch zu sagen wäre

Paare, ihr Leben und du

Der Autor

Anleitung zur Prophylaxe

Willkommen im Haus für Kommunikationsexperten

Stell dir vor, du kannst in eine Wohnung einziehen. Nur für ein paar Wochen. In diesem Haus leben Paare. Sie unterhalten sich über die Themen, über die Paare sich eben unterhalten, haben die Differenzen, die Paare eben haben und auch mit der Kommunikation rumpelt es manchmal. Naja, wie es bei Paaren eben so ist. Und dieses Haus kann eigentlich überall stehen. In jeder Stadt, an jedem Ort. Denn diese Menschen, ihre Themen und ihre Herausforderungen in der Kommunikation, die gibt es überall.

Auch du kennst wahrscheinlich Menschen wie diese und einige der Themen spielten in deiner Beziehung schon eine Rolle. Wenn du die Paare so reden hörst, erkennst du dich, deinen Partner oder deine Partnerin auch mal ab und zu wieder. Das Wunderbare an diesem Haus: Du kannst alle Paare und ihre Kommunikation beobachten und ihnen zuhören. Sie bemerken dich nicht. Du bist der unsichtbare Vogel, der aus seiner Überblicksperspektive alles mitkriegt. Die Paare erleben diese Themen und die kommunikativen Herausforderungen quasi für dich. Du kannst in Ruhe zuschauen und sehen, wo es schwierig wird und wie sie damit umgehen. Ich hoffe, es stört dich nicht, wenn ich mitkomme. Du siehst, was hilft, und was der Kommunikation eher schadet. Es sind Geschichten, die das Leben von Paaren immer wieder schreibt und auf die du manchmal lieber vorbereitet wärst.

In jedem Kapitel geht es um ein Paar und ein Thema. Wir beobachten zusammen eine kurze Situation, die ich dann kommentiere. Dabei geht es nicht nur um das Thema, über das die beiden sprechen, sondern auch um allgemeine Tipps für die Kommunikation. Das sind Hinweise, die unabhängig vom konkreten Thema in der Paarkommunikation hilfreich sind.

Woher ich wissen will, dass die hilfreich sind? Kurze Antwort: weil andere das so herausgefunden haben und sich das in der Praxis bewährt hat. Wer sich mit dem Thema Paarkommunikation auseinandersetzt, wird schnell merken, dass wir schon recht gut wissen, was Paaren in ihrer Kommunikation hilft und was es zu vermeiden gilt. Psychologinnen, Pädagogen, Soziologinnen, Therapeuten, aber auch Seelsorgerinnen oder Philosophen haben sich mit dem Thema beschäftigt, vieles herausgefunden und dieses Wissen in Theorien, Studien oder Kurse gepackt. Bei denen habe ich mich auch ganz schamlos inspirieren lassen.

Ich bediene mich beim Paarkommunikationstraining EPL, der systemischen Beratung und Therapie, der gewaltfreien Kommunikation, klassischen Feedbackregeln, den Theorien von Paul Watzlawick und vielem mehr. Genauso, wie sich auch diese Menschen und Theorien gegenseitig und woanders haben inspirieren lassen. Wäre ja auch komisch, wenn ausgerechnet bei der Paarkommunikation eine einzelne Person alles alleine herausgefunden hätte.

Aber wenn wir schon so viel wissen, warum haben so viele Paare dann immer noch Schwierigkeiten, wertschätzend miteinander umzugehen? Weil dieses Wissen eben nicht alle erreicht. Ist ja bei vielem so. Es weiß ja auch nicht jeder Autofahrer exakt, wie ein Auto funktioniert. Aber während ich das Auto im Zweifelsfall einfach in die Werkstatt bringen kann, sind die Hürden bei der Paarkommunikation auch mal in eine »Werkstatt« zu gehen, für viele höher. 21. Jahrhundert hin oder her: Viele Paare wollen immer noch nicht einen Therapeuten aufsuchen, an einem Kurs teilnehmen oder ein dickes wissenschaftliches Buch über Paarkommunikation lesen. Die Gründe dafür sind sehr unterschiedlich und auch verständlich: Einige wissen nicht um die verschiedenen Möglichkeiten, anderen ist es peinlich, wiederum andere glauben, keine Zeit dafür zu haben. Auch gerne genommen: kein Geld – obwohl es auch kostenlose Angebote gibt, womit wir wieder beim Wissen sind – oder das Bewusstsein: »Aber wir haben doch gar keine Probleme!« Gerade diese letzte Aussage ist extrem tückisch. Denn das mag grundsätzlich stimmen. Hier bietet sich wieder der Autovergleich an: Wenn ich da ungewöhnliche Geräusche höre, versuche ich, das Auto in die Werkstatt zu bekommen, bevor mir bei 120 km/h das Getriebe um die Ohren fliegt. Beim Auto haben wir den TÜV, bei den Zähnen nennen wir es Prophylaxe. Und genau das ist dieses Buch: eine Prophylaxe für Paare.

Und was genau soll da jetzt dieses Buch? Es soll dir einen Einstieg ins Wissen über Paarkommunikation liefern und praktische, umsetzbare Tipps gleich mit. Es setzt an ganz alltäglichen Situationen von Paaren an, die fast jeder kennt und garniert diese mit dem Wissen, das zu den Situationen passt. Ich habe versucht, es möglichst unterhaltsam zu schreiben, auf wissenschaftlichen Sprachstil und lange Essays zu verzichten und es ist kein Kurs, keine Beratung, keine Therapie. Wichtig: Genau deshalb ersetzt es aber auch nichts davon. Wer dieses Buch liest und mehr will, den möchte ich ermutigen: Du merkst, dass du Paarkommunikation einfach spannend findest und willst mehr wissen? Nichts wie los, besorg dir Fachbücher! Du merkst, du brauchst mehr Praxis, als ein Buch liefern kann? Ab in den nächsten Kurs zur Paarkommunikation. Du merkst, dass du in deiner Beziehung schon einige kommunikative Probleme hast, die nicht so ohne Weiteres lösbar sind? Dann heißt es, auf zur nächsten Beratungsstelle oder zu therapeutischer Unterstützung.

Das Buch darf gerne die Einstiegsdroge sein. Wenn du und deine Partnerin oder dein Partner feststellen solltet, dass ihr kein weiteres Angebot braucht, umso schöner. Falls doch, hoffe ich, ein bisschen Türöffner spielen zu können.

Selbst wenn du und deine Partnerin oder dein Partner in Zukunft alles aus diesem Buch umsetzt: Gewisse Reibungspunkte wird es (hoffentlich!) immer und in jeder Beziehung geben. Wenn nicht, bitte ganz schnell den Puls des Partners checken! Menschen verschwimmen in einer Beziehung nicht zu einem konturlosen Einheitsbrei, in dem alles gleich ist. Zumindest wäre das wünschenswert. Und wo es Unterschiede gibt, gibt es Reibung und die erzeugt ja bekanntlich Wärme. Eine Beziehung lebt auch von Spannungen und davon, dass eben nicht immer alles rundläuft. Das macht sie reizvoll.

Trotzdem kann man eben an den Tipps und aneinander lernen. Mit der Zeit kommuniziert ihr dann wertschätzender miteinander, die Regeln wendet ihr immer besser an, und natürlich fallt ihr zwischendurch mal wieder in alte Muster zurück. Das passiert den unterschiedlichen Paaren hier im Buch und denen im echten Leben auch.

Hast du die Umzugskartons schon gepackt? Gut, dann ziehen wir mal schnell ein in dieses Haus!

David Walbelder

Treue

Wie man echte und konkrete Fragen stellt

Warum ist Treue eigentlich so ein Reizthema? Treu zu sein, das finden doch alle wichtig. Aber was alles dazugehört und was noch gerade so in Ordnung ist – gar nicht so leicht zu klären. Das müssen auch Kerstin und Stefan herausfinden.

Ich gehe gerade die Treppe hoch in den dritten Stock und schaue bei den beiden vorbei. Es ist die linke Wohnung mit den Schuhen um die Fußmatte herum. Für einen Schuhschrank sind sie einfach nicht spießig genug – noch nicht. Kerstin studiert noch in den letzten Zügen und Stefan ist erst seit zwei Jahren im Job. Das Geld nutzen die beiden, um beim großen schwedischen Möbelhändler nicht nur bei den Sonderangeboten zuzugreifen. Ihr Motto: bequemere Couch first, Schuhschrank second.

Heute ist Dienstagabend. Das heißt für die beiden: Couch, romantische Komödie auf Netflix und ein Becher Eis mit so viel Schokostücken, dass die schon ohne das Eis drumherum eine Mahlzeit ersetzen könnten. Der Abspann läuft und die Hauptdarsteller haben sich – natürlich – trotz aller Widrigkeiten gekriegt. Til Schweiger hat kurz vor Schluss noch etwas gesagt, was sich in etwa so zusammenfassen lässt: »Ab jetzt gibt es nur noch uns beide. Mit dir kämpfe ich auch gegen den Rest der Welt. Scheiß auf die anderen, ich werde immer bei dir bleiben!«

Kerstin streckt sich und sagt: »Hach, ich weiß ja, dass der Film Kitsch ist, aber das Ende hat mich trotzdem voll gekriegt. Das ist irgendwie so schön, dieses ›ab jetzt gibt es nur noch uns beide‹. Immer füreinander da sein, treu bleiben und so weiter. So wie bei meiner Oma und meinem Opa. Aber das gibt es heutzutage kaum noch.«

Stefan ist sich gerade nicht ganz sicher, wie er darauf am besten reagiert. Abgesehen davon, dass er eigentlich gleich ins Bett will, weil er morgen früh raus muss, ist er sich nicht sicher, was dieser letzte Satz bedeuten soll. Auf einen Versuch lässt er es aber ankommen.

»Was soll das denn heißen: Gibt es heutzutage kaum noch? Wir beide sind doch zum Beispiel schon seit sechs Jahren zusammen.«

»Wahnsinn: sechs Jahre! Das ist ja mal eine Ewigkeit!«

»Naja, Til Schweiger musste es im Film auch nur zwei Minuten aushalten – bis zum Abspann. Über sein ›für immer‹ sind wir schon lange hinaus.«

»Sehr witzig. Du weißt doch genau, was ich meine.«

»Jaja, ich weiß.«

Kerstin verdreht genervt die Augen: »Von wegen ›ich weiß‹. Dir fällt es doch schon schwer, am Wochenende mal einen Abend nicht mit deinen Leuten unterwegs zu sein. Weißt du, Treue heißt, füreinander da zu sein. Und nicht, sich bei jeder Kleinigkeit rauszuziehen. So richtig das Ein und das Alles für den anderen zu sein.«

»Hä? Aber ich bin doch für dich da. Wo ist denn dein Problem?«

»Ja das merke ich richtig, wie du für mich da bist, wenn du da so mit Sonja flirtest.«

»Bitte was? Wann das denn bitte?«

»Die ganze Zeit. Jedes Mal, wenn wir mit ihr und den anderen unterwegs sind!«

»Ja, aber…«

Echte Fragen, konkrete Situationen und beim Thema bleiben

Ich unterbreche hier mal kurz. Zwischen den beiden ist in den wenigen Sätzen schon eine Menge passiert. Es lohnt sich, das auseinander zu dröseln. Treue ist schließlich für die Meisten ein wichtiger Faktor in der Beziehung. Kerstin scheint dazu etwas bereden zu wollen und spricht das Thema an – eigentlich eine gute Idee. Das Problem ist die Art und Weise. Sie tut das nämlich durch die Blume und wird nicht konkret. Der Film dient ihr als Türöffner für das Thema. Dann bringt sie noch ihre Großeltern ins Spiel und zum Schluss den Wink mit dem Zaunpfahl: ihre Beobachtung, dass es Treue heutzutage kaum noch gäbe. Damit liegt der Ball bei Stefan, der jetzt reagieren muss und Gedankenleser spielen darf: »Was soll das heißen? Was meint sie damit? Was erwartet sie?« Wenn Kerstin konkret benannt hätte, dass sie bei dem Film auch an ihre Beziehung mit Stefan denken muss und erklärt hätte, warum, wäre das Gespräch sicher anders verlaufen.

Wenn zwei Menschen länger zusammen sind, erwarten sie gerne mal voneinander, dass der oder die andere schon weiß, wie etwas gemeint ist. Das ist für kleine romantische Gesten genau das Richtige: »Den Blick kenne ich, jetzt hilft nur noch Latte macchiato.« Auch Sex wäre eine ziemlich unromantische Angelegenheit, wenn die Partner sich nicht auf ihre Intuition verlassen könnten und alles im Detail durchsprechen müssten.

Aber wenn über ein so großes Thema wie Treue gesprochen werden soll, ist diese »Lies-es-mir-gefälligst-von-den-Augen-ab«-Haltung schwierig. Denn Stefan kann bestenfalls raten, wie der Kommentar gemeint ist. Ob Kerstin die Beziehung der beiden meint oder die Gesellschaft im Allgemeinen, ob sie jetzt diskutieren will oder nicht. Klar, so ein Thema wie Treue ist auch sehr grundsätzlich und sehr allgemein. Gerade deshalb ist es wichtig, erstmal klarzustellen: »Worüber genau reden wir hier eigentlich?« Gerade weil es so allgemein ist, hat bei diesem Thema jeder für sich eine genaue Vorstellung davon, was dazugehört und hält sie für selbstverständlich.

Wie soll man da also »konkret« sein? Soll Kerstin etwa sagen: »Ich will ganz konkret, dass du mir treu bist«? Naja, so ähnlich. Irgendetwas steckt ja hinter der Aussage: »Das gibt es ja heutzutage kaum noch.« Spätestens, wenn Stefan nachfragt, könnte sie beispielsweise erklären, was Treue mit Stefans Wochenendplänen zu tun hat. Zum Beispiel: »Als du letzten Freitag mit deinen Leuten loswolltest, da hatte ich den Eindruck, dass du so richtig Bock auf den Abend hattest. Du warst da so voller Energie. Und als wir dann am Samstagabend etwas machen wollten, hatte ich den Eindruck, dass du ziemlich durchgehangen hast. Ich hatte das Gefühl, dass du lieber mit deinen Leuten abhängst. Und dann habe ich mich erinnert, wie du der Sonja so zugezwinkert hast.« Stefan wüsste jetzt, um welche Situation es genau geht und welches Verhalten Kerstin meint. Denn auch, wenn er häufiger mit seinen Leuten loszieht und Sonja vielleicht eine sehr gute Freundin ist: Wer genau weiß, um welche Situation es geht, kann sich die einfach wieder ins Gedächtnis rufen. Dann kann er viel besser nachvollziehen, was da wie passiert ist und warum er sich wie verhalten hat.

Stefan hat offenbar eine Idee, die gar nicht so schlecht ist: Wenn ich etwas nicht einordnen kann, frage ich nach. Ganz klar. Macht er dann auch: »Was soll das denn heißen, ›gibt es heutzutage kaum noch‹? Wir beide sind doch zum Beispiel schon seit sechs Jahren zusammen.« Netter Versuch, aber das ist keine echte Frage – erst recht nicht in dem Tonfall. Bei echten Fragen bin ich nämlich wirklich auf die Antwort gespannt, denn ich will ja etwas erfahren oder besser verstehen. In diesem Fall: Was Kerstin mit ihrem Kommentar eigentlich meint. Stefans Frage bekundet aber kein Interesse. Ganz im Gegenteil, sie enthält schon eine Unterstellung und wirkt dadurch eher wie ein Vorwurf: »Du liegst falsch!« Solche Fragen signalisieren Kerstin nicht: »Ich bin ehrlich interessiert daran, was du meinst und wie du das meinst.« Sie behaupten: »Ich weiß schon ganz genau, wie du das meinst und es ist Blödsinn.« Auf solche Fragen antwortet keiner gerne. Es gibt relativ einfache Fragen, die da besser funktionieren. Zum Beispiel ein offen ausgesprochenes »Was meinst du damit?«. Das hat auch den Vorteil, dass man echte Zusatzinformationen gewinnt, mit denen dann plötzlich Sinn ergibt, was vorher noch unverständlich war.

Stefan schiebt außerdem noch eine Vermutung rüber: Bei Treue, so seine Meinung, denkt Kerstin vor allem an Menschen, die lange zusammenbleiben. Im weiteren Verlauf des Gesprächs deutet sich aber an, dass Kerstin eigentlich einen anderen Aspekt von Treue meint: füreinander da sein, Zeit zu zweit verbringen. Dass Stefan mit seiner Vermutung daneben liegt, ist übrigens kein Wunder: Wer einfach mal drauf losrät und die Gedanken des anderen lesen will, trifft bestenfalls zufällig, auch wenn man sich nahesteht. Leider springt Kerstin direkt darauf an mit ihrem Kommentar: »Sechs Jahre sind ja voll die Ewigkeit.« Sie bleibt selbst nicht bei ihrem eigentlichen Thema. Denn ihr geht es ja eigentlich gar nicht um die Länge der Beziehung. Das ist ein weiteres Problem von unechten Fragen: Wenn damit direkt ein Vorwurf oder eine Unterstellung kommuniziert wird, fühlen sich die meisten genötigt, zu reagieren und ihn richtigzustellen. Dadurch verlieren sie dann den Faden und innerhalb von wenigen Minuten kommt man von Hölzchen aufs Stöckchen und diskutiert sich um Kopf und Kragen.

Weil das mit der Frage nicht gut geklappt hat, stimmt Stefan dann gerne zu, dass er schon weiß, wie sie das meine. Bloß nicht nochmal nachfragen. Lieber das Hirn auf Autopilot stellen und keine Widerstände schaffen. Obwohl er nicht den Schimmer einer Ahnung hat, was eigentlich los ist. Das merkt Kerstin natürlich und schaltet intuitiv auf Angriff um. Auch da bleibt sie nicht wirklich beim Thema. Als Beobachter frage ich mich gerade, ob jetzt Stefans Beziehung, seine Wochenendplanung oder seine Flirtversuche mit Sonja Thema sind. Natürlich hat alles irgendwie mit Treue zu tun. Aber mehrere Aspekte eines Themas gleichzeitig zu klären, funktioniert selten.

Stefan hört zwar weiterhin zu, aber an seinem Fragestil ändert sich wenig. Zu jeder Frage gibt es gratis einen Vorwurf dazu. Und weil er nicht echt nachfragt, bekommt er auch keine echten Antworten. Kerstin spricht von füreinander da sein und das Ein und das Alles sein. Was sie damit eigentlich konkret meint, sagt sie leider nicht. Was genau wünscht sie sich von Stefan? Bisher sagt sie nur, was sie sich nicht wünscht: dauernd mit den Freunden um die Häuser ziehen und »jedes Mal« mit Sonja flirten. Dass Stefan »die ganze Zeit« und »jedes Mal« mit Sonja flirtet, kann ich mir nicht vorstellen. Und was heißt für Kerstin denn überhaupt flirten? Sich mit Sonja unterhalten? Ein langer schmachtender Blick? Seine Hand auf ihrem Knie? Auch hier würde es helfen, wenn sie konkreter wird. Das könnte zum Beispiel so gehen: »Letzten Freitag habe ich gesehen, dass du Sonja genauso in die Augen schaust, wie du mir kurz vor unserem ersten Kuss in die Augen geschaut hast. Das hat mich irgendwie verletzt, weil ich dachte, dieser Blick ist nur für mich.« Dann wüsste Stefan jetzt ganz genau, worum es geht, könnte erklären, warum er Sonja so angeschaut hat, was er gedacht hat und was nicht. Außerdem hätte sie so konkret von sich und ihrer eigenen Wahrnehmung gesprochen, anstatt Stefan mit allgemeinen Vorwürfen zu konfrontieren. So haben wir viel mehr Verständnis für die Kritik, die wir hören. Ein weiterer Vorteil: Stefan kann nächsten Freitag mal darauf achten, wie er sich verhält, wenn Sonja ihm lange in die Augen schaut…

Wer definiert, regiert

Aber ich sehe gerade, dass die beiden immer noch mitten in der Diskussion sind. Zum zweiten Becher Eis hat sich eine mittlerweile schon recht amtlich geleerte Flasche Rotwein gesellt. Stefan kann ja morgen später zur Arbeit fahren und Kerstins erste Vorlesung ist jetzt gerade nicht mehr wichtig. Es geht immer noch um Treue. Rotwein und Eis haben so manche Kommunikationsschwierigkeit vom Anfang erfolgreich verdrängt. Wie sich vorhin angedeutet hat, geht es Kerstin um zwei recht konkrete Punkte: Stefans Verhalten gegenüber Sonja und wie er einen großen Teil seiner Energie in die Treffen mit anderen steckt und nicht in die Zeit mit ihr.