WeserStrudel - Günter von Lonski - E-Book

WeserStrudel E-Book

Günter von Lonski

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Nachdem der Lokalreporter Hubert Wesemann seine Hochzeit in den Sand gesetzt hat, tröstet er sich im neu eröffneten »KaFEEchen« in Hamelns Altstadt mit Nelas leckeren Torten. Auch KHK Marike Kalenberger ist hier Stammgast, seit sie von Hannover nach Hameln versetzt wurde. Als nur wenige Schritte entfernt der Inhaber eines Chinarestaurants tot aufgefunden wird, nehmen die beiden die Ermittlungen auf, denn sie glauben nicht an einen tragischen Unfall. Am Weserufer werden sie fündig …

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Seitenzahl: 286

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Günter von Lonski

WeserStrudel

Kriminalroman

Zum Buch

Mord in der Rattenfängerstadt Nachdem Hubert Wesemann, scharfsinniger und zuweilen chaotischer Rundfunk- und Pressejournalist, die Hochzeit mit seiner langjährigen Partnerin in den Sand gesetzt hat, vertreibt er sich die Zeit im neu eröffneten »KaFEEchen« in Hamelns Altstadt. Seinen trostlosen Alltag versüßen ihm die leckeren Tortenkreationen von Betreiberin Nela: Limettentorte, Whiskey-Trüffel-Torte, Ziegenkäse-Amarettini-Kuchen … Auch KHK Marike Kalenberger ist hier Stammgast, seit sie von Hannover nach Hameln versetzt und direkt freigestellt wurde. Als ein paar Schritte die Straße hinauf der Inhaber eines Chinarestaurants tot in seinem Kühlkeller aufgefunden wird, nehmen die beiden die Ermittlungen auf, denn sie glauben nicht an einen tragischen Unfall. Schnell finden sie heraus: Der Tote musste nicht nur Schutzgeld bezahlen, sondern wurde offenbar erpresst. Und er ist nicht der einzige. Auch Nela ist Opfer eines Hackerangriffs geworden. Doch wer steckt hinter all dem?

Günter von Lonski, geboren 1943 in Duisburg, lebt in der Region Hannover. Er verbindet den Humor des Ruhrgebiets mit der Treffsicherheit des Nordens. Der Autor hat das Gymnasium durchlitten, Schriftsetzer gelernt, an der Universität der Künste Berlin studiert, war Texter sowie freier Werbeberater für Großunternehmen. Seit 1983 ist er freiberuflicher Schriftsteller, 2007 gründete er eine Theatergruppe mit Uraufführung eigener Stücke. Im Jahr 2010 erhielt er einen Literaturpreis für seine Kriminalgeschichten. Günter von Lonski schreibt Romane, Krimis, Theaterstücke, Musicals, Anthologien, Kinderbücher, Jugendbücher, Hörspiele, Satiren, Glossen und Schulbuchbeiträge.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © sven h / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7222-0

Zitat

Bösewichte gut zu machen, wirft Wasser ins Meer.

Miguel de Cervantes, 1547–1616

Vorbemerkung

Alle im Text hervorgehobenen Kuchen und Torten sind Originalrezepte und wurden von Daniela Weibler, Finalistin der SAT1-Show »Das große Backen«, exklusiv für dieses Buch zur Verfügung gestellt.

Hauptpersonen

Hubert Wesemann: Rundfunkreporter; Ermittler wider Willen; Chaot

Karola Weber: Wesemanns schwärende Liebeswunde

Nela: Inhaberin des »KaFEEchens« in Hameln

Marike Kalenberger: Kriminalhauptkommissarin; nach Burn-out von Hannover zur Polizeiinspektion Hameln-Pyrmont/Holzminden versetzt

Pia Parasoli: Rheinländerin; drei Ehemänner überlebt

Tom Bosé: Bestattermeister; extrovertiert, exaltiert

Heiko Hahn: Inhaber eines Handyshops

Hiroshi Okazaki: Geschäftsführer des Chinarestaurants »Mayflower«

Lian Okazaki: Tochter von Hiroshi Okazaki

Harryboo: Motorradfan; angegraute Weste

Bob: IT-Spezialist

B. Baxmann: Chef des Privatsenders radioTOTAL

André Schmitz: amtlicher Name: Andreas Schmieder; Wesemanns Nachfolger bei radioTOTAL

Morton Dexter: Wesemanns Kollege von der schreibenden Zunft

Carmen: kann nicht ohne Liebe leben; Stammplatz am Hamelner Hafen

HK Bertram: Hauptkommissar der Polizeiinspektion Hameln-Pyrmont/Holzminden

Vadim Wisz: Unternehmer Textilrecycling

Wanda Wisz: Ehefrau von Vadim Wisz

Brockmann: Bootsmann auf der »Pluto«

EINS

Nela poliert ihre sündhaft teure Kaffeemaschine. Privat nutzt sie einen Espressokocher auf dem Gasherd. Aber fürs Café muss es das Beste sein – oder zumindest den Eindruck machen.

Nela ist eine sportliche junge Frau, hat dreieinhalb Kilo zu viel – nach eigener Einschätzung –, kurzes hennarotes Haar, trägt heute Jeans mit weißer Bluse, ist unauffällig, doch immer ein bisschen mehr als langweilig.

Draußen vor dem Schaufenster in der Wendenstraße Regenschirme, bunte Kinderschirme, Plastiktüten. Nela überlegt, ob mieses Wetter gut oder schlecht ist für ihren Laden. Sie hat einfach noch zu wenig Erfahrung.

Sie stapelt die Espressotassen neben der Kaffeemaschine, als sie draußen eine störende Bewegung in dem Menschengewusel wahrnimmt. Plötzlich geschieht alles im Zeitraffer: Sie erkennt Herrn Okazaki, Inhaber des Chinarestaurants, ein Stück die Wendenstraße runter. Er kommt aus dem Dekoladen gegenüber – neue Ideen für Tisch, Stuhl und Fenster – und sieht sich zögernd um. Eine Gestalt in einer Kapuzenjacke nähert sich auf einem dunklen Fahrrad von der Sudetenstraße her. Herr Okazaki tritt auf das Kopfsteinpflaster, er übersieht den Radfahrer. Dieser bremst nicht ab, obwohl er Zeit genug gehabt hätte, und fährt Herrn Okazaki in die Beine. Herr Okazaki gerät ins Straucheln, macht zwei hektische Schritte, stürzt aufs Pflaster. Der Radfahrer hält nicht einmal an.

Nela schreit auf, vor Schreck fällt ihr eine Espressotasse runter. Sie lässt alles stehen und liegen und rennt zur Tür. Eine Frau mit einem Kind an der Hand will ins »KaFEEchen«, Nela schiebt sie zur Seite, springt mitten auf die schmale Straße. Von Herrn Okazaki ist nichts mehr zu sehen. Nela reckt sich, zu viele Touristen unterwegs, da entdeckt sie Herrn Okazaki, der schon fast oben an der Bäckerstraße angekommen ist.

Er scheint sich verletzt zu haben, humpelt, sieht sich immer wieder um. Nela will ihm helfen, läuft hinterher, greift, als sie ihn erreicht hat, nach seinem Arm. Herr Okazaki dreht sich panisch um, reißt Nelas Hand von seinem Oberarm.

»Haben Sie sich wehgetan?«, fragt Nela. »Kann ich Ihnen helfen?«

Er blutet an der Stirn. »Nichts, nein, gar nichts. Alles in Ordnung!« Er will nur weg.

Nichts? Ihm steht das blanke Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Auch scheint er sich die linke Hand verstaucht zu haben, er massiert sich mit der rechten das Handgelenk. Wie leicht hätte er sich bei dem Sturz etwas brechen können! Er humpelt weiter.

Nela schaut ihm hinterher, überlegt kurz. Soll sie ihm folgen? Da fällt ihr die offene Tür ihres »KaFEEchens« ein und sie hastet zurück.

Doch im Café ist alles da, wo es hingehört, die Kaffeemaschine glänzt und blitzt, selbst vom angebotenen Schokoladenkuchen fehlt nur ein Stück. Die Frau mit dem Kind wollte wohl nicht länger warten. Die beiden kauen mit Genuss, die Mutter macht Nela mit Gesten auf ihr eigenmächtiges Handeln aufmerksam.

»Geht aufs Haus!«, sagt Nela.

Das Kind hustet einen matschigen Bissen in die Hand, die Mutter greift zur Serviette.

Nela setzt sich und atmet durch. Erst vor wenigen Wochen hat sie ihr »KaFEEchen« unter roten Herz-Luftballons und Regenbogengirlanden in der anheimelnden Fachwerkstraße eröffnet. Ihr lang ersehnter Traum von Selbstständigkeit und Vorwärtskommen hat sich damit erfüllt.

Ein bisschen eng ist es schon. Es gibt einen mickrigen Privatraum, den sie als Abstellraum und Zusatzküche nutzt, daneben eine kleine Toilette, vorne das Café, fünf Tische mit Secondhand-Stühlen, ein Schaufenster mit Aussicht auf die lebhafte Szene, die sie sich in ihrem heimatlichen Hameln nicht hätte vorstellen können.

Die Eingangstür wird aufgedrückt, mit einem leichten Luftzug weht der Duft von Gyros und Erbsensuppe herein. Nela blickt auf.

»Morgen.«

Sie erhebt sich. »Was gibt’s Neues?«

»Die Polizei hat mal wieder die Drogenszene kontrolliert, schreibt die Dewezet. Dabei kam im Bereich des Weserufers auch eine Hundestaffel zum Einsatz. Nach Beschwerden über die offene Drogenszene im Bereich der Weserwiesen entschied sich die Polizeiinspektion für eine gezielte Aktion entlang der Weser zwischen Thiewall- und Münsterbrücke und so weiter und so weiter …«

»Erfolgreich?«

»Die einen sagen so, die anderen so.«

»Und du?«

»Wie man’s nimmt.« Hubert Wesemann stellt seine abgegriffene Fototasche unter den kleinen Tisch in der Ecke, stöhnt dabei wie Atlas unter der Last des Himmelsgewölbes. »Ich möchte bloß mal wieder eine Nacht durchschlafen.«

»Das hast du dir selber zuzuschreiben.«

»Der Geist ist willig, aber das Fleisch … ist von Edeka.«

»Versuch’s doch mal mit Joggen! Milchkaffee?«

»Hm.«

Wesemann ist etwas kurz geraten, grauer Schnauzer, lichter Haarkranz, randlose Brille, chaotischer Zahnsatz, schwarze Lederjacke, Marke Ebay, normale bis mäßige Gebrauchsspuren – Wesemann und die Lederjacke. Aber die Stimme, diese Stimme – ein Gedicht! Sonor, emotional und wohlartikuliert. Ein Mann für Telefonsex.

Er hängt die Jacke über die Stuhllehne, schwitzt wie immer ein wenig unter den Armen, trägt seit Neuestem Poloshirts statt Hemden. Aushängen statt bügeln. Er setzt sich.

Nelas Kaffeemaschine zischt und blubbert. Sie gießt heiße Milch auf den Kaffee in die Tasse, bringt sie Wesemann an den Tisch und geht zurück, die zwei knarrenden Stufen hinauf zu ihrer Küche, die vom Durchgang aus einsehbar ist.

»Und sonst?«, will Nela wissen.

»Fängst du schon wieder davon an?«

»Ich dachte nur.« Sie hat mehrmals versucht, etwas mehr über Wesemanns ungewöhnliche Lebenswendung zu erfahren. Beiläufig kennen sie sich bereits eine ganze Weile, und seine Flughafenposse war Stadtgespräch in Hameln. Man kennt Wesemann als rührigen Journalisten für die Zeitung und den Privat-Rundfunk. Er schlägt überall auf, wo etwas los ist, sei es, dass nur der Wasserhahn tropft, und macht einen empathischen Bericht daraus.

»Tja …« Wesemann hebt seinen Blick und starrt auf die Sammlung von alten Kaffeekannen. Er fühlt mit ihnen, im Café herrscht so eine merkwürdig melancholische Stimmung. »Es war …«, beginnt Wesemann.

Nela setzt sich ihm gegenüber auf die Stuhlkante.

»Es war ein schönes, reizvolles Leben mit Karola.« Er spricht so leise, dass er kaum zu verstehen ist. »Für mich hätte es so bleiben können, doch Karola wollte unbedingt richtig heiraten. Mit Brautkleid, Fototermin und Festessen.«

Die Tür des »KaFEEchens« geht auf, eine energische Frau mittleren Alters mit kurzem blauschwarzem Haar kommt herein. Sie ist in Jeans und eine wild gemusterte Jacke gekleidet, die ihr bis Mitte Oberschenkel reicht.

»Schlecht im Moment«, sagt Nela.

»Dann hole ich mir rasch noch ein paar Zeitschriften und komme gleich noch mal vorbei.« Schon ist die Frau wieder verschwunden.

»Eines Tages kam der Point of no Return – heiraten oder gehen. Ich habe mich ergeben. Blieb die Frage nach dem festlichen Rahmen. Wilhelmstein im Steinhuder Meer oder ein paar Tage in Hörnum auf Sylt? Karola wollte in Las Vegas heiraten. Natürlich war mir klar, dass man da nicht zu Fuß hinkommt, sondern fliegen muss, was ich unter allen Umständen verhindern wollte. Ich habe mehrere Anläufe genommen, um mich zu wehren, aber Karola war so umwerfend glücklich, dass ich es einfach nicht übers Herz brachte. Es kam also der Tag, an dem wir nach Las Vegas fliegen sollten. Flughafen Hannover. Als der Flug über Amsterdam in die Staaten aufgerufen wurde, war ich raus.«

»Raus?«

»Meine Scheißflugangst hat zugeschlagen. Ich bin zur Toilette gerannt, und als ich mich schließlich erleichtert hatte, war Karola abgeflogen. Ich hätte schwören können, dass ich höchstens eine Viertelstunde … Aber die Uhren zeigten anderthalb.«

»Hätte ich auch persönlich genommen.«

»Ich wollte das nicht, Schuld war meine Flugangst. Ich kann mich nicht mal bei ihr entschuldigen. Für Karola bin ich nicht mehr vorhanden, eine Persona non grata. Aber ihre Hochzeitsausgaben soll ich ihr ersetzen. Hat mir ihr Anwalt geschrieben.«

»Das ist auch das Mindeste!«

»Karola hat es falsch verstanden, es war, beim heiligen Bonifatius, kein Statement gegen die Ehe an sich.«

»Was dann?«

»Flugangst.«

»Ist klar!« Nela steht auf, geht hinter die Theke, legt ein Stück der verführerisch duftenden Zwiebeltarte auf einen Teller und stellt ihn vor Wesemann. »Bitte schön. Zur Stärkung für den Master of Disaster!«

Wesemann denkt an Karola. Mit dem Fauxpas am Flughafen verflüchtigte sich sein früherer Lebensinhalt. Bis dahin hatte Karola an erster Stelle gestanden, erst danach kamen seine Zeitungsberichte, Radioreportagen und die eher zufälligen Verwicklungen in beunruhigende Kriminalfälle, die ihm meist zufällig vor die Füße fielen, von denen er bis zu ihrer Aufklärung aber nicht mehr lassen konnte. Im »KaFEEchen« ist er Stammgast, seit er drei Tage nach Eröffnung zum ersten Mal hier aufschlug, angelockt durch die roten Luftballonherzen, und überrascht feststellte, dass Nela und er sich kannten.

Die Tür des Cafés geht auf und reißt Wesemann aus seinen Erinnerungen. Die Frau mit dem blauschwarzen Haar ist zurück. Sie stellt sich zu Nela an die Theke. Es scheint, als wolle sie ihr etwas schmackhaft machen.

Nela lehnt entschieden ab. »Es bleibt bei zwei Tippreihen!«

Die Abgewiesene sieht sich um, ihr Blick fällt auf Wesemann. Er ist mittlerweile der einzige Gast, die Mutter und ihr Kind haben das Café vorhin verlassen. Sie bestellt sich einen Latte Macchiato und steuert mit einem strahlenden Lächeln den Tisch von Wesemann an. »Ich habe Sie hier schon ein paarmal gesehen, Sie sind doch Hubert Wesemann? Ich kenne Ihre Rundfunkberichte und habe auch den einen oder anderen Zeitungsbericht gelesen. Wie schön, Sie persönlich kennenzulernen. Mein Name ist übrigens Pia Parasoli.« Sie reicht ihm die Hand und setzt sich auf einen altersschwachen Stuhl.

Nela bringt ihr den Kaffee.

»Sie sind doch bestimmt ein Mann, der seinem Glück nicht im Wege stehen will.« Frau Parasoli legt eine kleine schwarze Mappe auf den Tisch, unten links in der Ecke ein eingeprägtes Lotto-Logo. »Manche Leute laufen an ihrem Glück vorbei, aber so einer sind Sie nicht. Sie sind ein Mann der Tat, das merkt eine empfindsame Frau sofort.«

»Meine letzte Aktion beim Lottospielen ist, um es bildlich auszudrücken, ganz schön in die Hose gegangen.«

»Pech im Spiel, Glück in der Liebe, heißt es doch. Schön, wenn Sie wenigstens privat Ihr Glück gefunden haben.«

Nela gluckst und geht zurück zur Theke.

Wesemann winkt ab und schüttelt den Kopf.

»Und wenn wir es miteinander versuchen?«

Nela presst die Lippen aufeinander und wischt sich mit dem Handrücken zwei, drei Lachtränen aus den Augen, faltet dann die Servietten.

»Soll ich das als einen Antrag werten?«, fragt Wesemann.

Frau Parasoli stutzt, weiß nicht, ob sie belustigt oder beleidigt sein soll, schaut Wesemann intensiv in die Augen, nimmt ihre schwarze Mappe, steht auf und meint vorwurfsvoll: »Wofür interessieren Sie sich denn außer für Hamelns Klatsch und Tratsch?«

Wesemann: »Nun ja, sehr für Unentdecktes.«

»Ich liebe die Natur«, sagt Pia.

»Ich auch, ich auch«, beeilt sich Wesemann zu bestätigen, »besonders den Biergarten auf der Werderinsel. Ein saftiges argentinisches Rumpsteak vom Grill, dazu ein Merlot mit zartem Pflaumenaroma, das ist Natur pur.«

»Begleiten Sie mich doch mal auf einem Spaziergang durch Wald und Flur, da genießen Sie die richtige Natur und erweitern ganz nebenbei Ihren Wissensstand.«

»Die gerillten Spareribs sind auch zu empfehlen, dazu ein Herforder Pils.«

»Genau! Wir könnten eine kleine Pilzexkursion starten. Auch so früh im Jahr kann man den einen oder anderen Leckerbissen entdecken.«

»Pilze sind nur spannend, wenn sie nach dem Zufallsprinzip zusammengesammelt und stänkernden Nachbarn vorsetzt werden.«

»Ach, Herr Wesemann. Sie kennen doch den Fliegenpilz?« Pia Parasoli setzt sich wieder.

»Hm.«

»Was wissen Sie zum Beispiel über diesen bekannten, ungewöhnlichen Pilz?«

»Will ich überhaupt etwas darüber wissen?«

»Sollten Sie, weil Sie allein aus beruflichen Gründen neugierig sein müssen. Der Fliegenpilz – und das wird Sie jetzt überraschen – wurde bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg in einigen Restaurants hier in Norddeutschland angeboten. Nur die Huthaut wurde abgezogen, alles andere wanderte auf den Teller. In Russland ist es durchaus noch Sitte, Fliegenpilze in Wodka einzulegen und als Aufgesetzten zu trinken. Nur Wanzen sterben an dem edlen Tropfen. Darum bestreicht man die Bettgestelle mit der wirksamen Tinktur. Obwohl ich eher glaube, dass es eine Schutzbehauptung der Ehemänner ist, wenn schon wieder eine Flasche leer ist.«

»Kein Tropfen würde mir von dem Gesöff über die Lippen kommen.«

»Ich sehe, wir verstehen uns.« Frau Parasoli erhebt sich. »Und da wir uns jetzt so vertraut sind, sagen Sie doch Pia zu mir.«

Wesemann überlegt krampfhaft. Ihm will nicht einfallen, wann er sie »Frau Parasoli« genannt hat, aber »Pia« klingt wirklich nicht unangenehm.

»Kochen kann ich auch ganz leidlich. Ich darf doch Hubert sagen?«

»Dann lieber Du und Wesemann.«

»Darf ich dich mal zu einem kleinen Schnitzel mit Pommes und Waldpilzen einladen?«

»Waldpilzen?«

»Vom Markt, nicht selbst gesammelt!«

Was soll er darauf antworten? Nichts. Nur gewinnend lächeln.

»Wie auch immer. Wir sehen uns, Huppi!« Weg ist sie.

Wie kommt sie auf »Huppi«?

»Ciao!«, ruft ihr Nela hinterher, »ich schreib’s an.« Und an Wesemann gewandt: »Noch einen Milchkaffee oder einen Latte?«

»Eine Schokolade mit einem doppelten Cognac.«

»Gleich ein doppelter?« Nela nimmt eine große Tasse von der aufgeschichteten Tassenpyramide.

»Ich brauche etwas für meinen verwirrten Magen. Ich spür schon, das wird eine ausgewachsene Magen-Darm-Grippe.«

»Bevor du dich in ein neues Abenteuer stürzt: Pia Parasoli war bereits dreimal verheiratet, und keiner ihrer Männer hat die Ehe überlebt.«

»Und ich scherze noch über Pilze!«

ZWEI

Die Eingangstür wird aufgedrückt, eine kräftige Frau Mitte 50 betritt das Café. Marike Kalenberger, Stammgast, hat im öffentlichen Dienst in Hannover gearbeitet und ist wegen persönlicher Differenzen nach Hameln versetzt worden. Sie kommt aus dem Regen, nass, kalt, sie schüttelt sich. »Wie Weihnachten, bloß ohne Michael Bublé.«

»Sie werden schon sehnsüchtig erwartet«, sagt Wesemann.

»Von wem?« Kalenberger quetscht ihren Taschenschirm in den Schirmständer.

»Von mir!« Nela löst ihre Schürze. »Kannst du für ein Viertelstündchen übernehmen?«

Kommentarlos löst Kalenberger Nela ab. Sie bindet sich Nelas Schürze um, interessiert sich für das letzte Stück Schokokuchen mit Orangenmousse und Rosmarin in der Kühltheke und versteckt es hinter dem Käsekuchen von gestern.

Nela zieht ihren Laptop unter der Kasse hervor und setzt sich an den Tisch zu Wesemann.

»Wie weit bist du?«, fragt Wesemann.

»In zehn Wochen kommt der dicke Mann im roten Outfit, und ich bin erst bei Rezept Nummer 14.«

»Geht doch voran.«

»Muss.« Nela fährt den Computer hoch, will den Ordner mit den Backrezepten öffnen. Es dauert eine Weile – als hätte ihr Laptop Arthrose. Sie trommelt vor Ungeduld mit den Fingern auf die Tischplatte und schreckt plötzlich zurück. »Was soll das denn?«

»Probleme?« Wesemann liebt Nelas Probleme.

»Ich komme nicht an meine Daten. Kann nichts anklicken, umblättern oder öffnen.«

»Einfach wegklicken.«

»Geht nicht. Schau doch selber!« Nela dreht den Laptop zu Wesemann.

»Das haben wir gleich.« Wesemann ist optimistisch. Ein roter Kasten prangt auf dem Bildschirm, die Einblendung sieht fast wie eine Abrechnung oder Mahnung aus. »Nela, Nela!« Tatsächlich tut sich nichts auf dem Bildschirm, es geht weder vor noch zurück. »Ich starte den Computer neu«, meint Wesemann, »das hilft bei Windows fast immer.«

»Mach, was du willst«, sagt Nela, »aber bring den Kasten wieder zum Laufen.«

Von draußen ist ein dumpfes Grollen zu hören. Ein Gewitter zu dieser Jahreszeit? Die Welt ist völlig durcheinander! Der Regen wird heftiger, der Neon-Schriftzug »Open« im Schaufenster flackert. Nela wechselt wieder hinter die Theke. Bei elektrischen Störungen erfasst sie neben der Angst vor dem Einschlag eine tiefe Sorge um ihre Kaffeemaschine.

Der Computer wird neu gestartet. Surrt einwandfrei. Das Bild baut sich auf, Wesemann starrt auf den Bildschirm. Starrt und starrt.

»Sag schon was!«

»Hmm, ich weiß nicht«, murmelt Wesemann. »Du hast deine Daten bestimmt gesichert, oder?«

»Ich muss arbeiten und hab für so was keine Zeit.«

»Dann wird’s schwierig!«

»Was wird schwierig?« Nela kommt an den Tisch, schaut Wesemann über die Schulter. »Das ist doch derselbe Kasten wie vorhin!«

Wesemann reanimiert sein schütteres Schulenglisch und liest stockend: »Uuups, your important files are encrypted. Your important files encryption produced on this computer: photos, videos, documents etc. Here is a complete list …«

»Was heißt das denn?«

»Versteh ich auch nicht so genau, man müsste es übersetzen lassen. Da gibt es im Internet recht nützliche Programme.«

»Ich komme ja nicht ins Internet!«

»Das geht auch mit dem Handy«, meint Kalenberger von der Theke her, »eine Übersetzungs-App aufrufen und …«

»Stimmt«, sagt Nela und zückt ihr Handy. Sie tippt den Text in die Übersetzungs-App ein, starrt eine Weile auf das Handydisplay und sagt: »Scheiße!« Sie schiebt Wesemann das Handy zu.

Wesemann ist es peinlich, laut vorzulesen wie in der Schule.

Kalenberger wird neugierig, kommt herüber und stellt sich neben Nela.

Wesemann beginnt nochmal von vorn: »Uuups, Ihre wichtigen Dateien sind verschlüsselt. Ihre wichtigen Dateien auf diesem Computer werden verschlüsselt: Fotos, Videos, Dokumente etc. Hier ist eine vollständige Liste der verschlüsselten Dateien, Sie können dies persönlich überprüfen. Die Verschlüsselung wurde unter Verwendung eines eindeutigen öffentlichen Schlüssels RSA-2048 erzeugt, der für diesen Computer generiert wurde. Um die Dateien zu entschlüsseln, müssen Sie den privaten Schlüssel erhalten. Die einzige Kopie des privaten Schlüssels, mit dem Sie die Dateien entschlüsseln können, befindet sich auf einem geheimen Server im Internet. Der Server vernichtet den Schlüssel nach der in diesem Fenster festgelegten Zeit. Danach wird niemand in der Lage sein, die Dateien wiederherzustellen. Um den privaten Schlüssel für diesen Computer zu erhalten, der automatisch die Dateien entschlüsselt, müssen Sie 600 USD / 500 EUR / ähnlicher Betrag in einer anderen Währung bezahlen.«

»500 Euro?«, mault Nela. »Das Gerät spinnt. Gelegentlich lohnt es sich wohl doch, Markenartikel zu kaufen.«

»Moment, nur noch ein paar Zeilen«, unterbricht Wesemann und liest weiter: »Klicken Sie auf ›Weiter‹, um die Zahlungsmethode und die Währung auszuwählen. Jeder Versuch, diese Software zu entfernen oder zu beschädigen, führt zur sofortigen Zerstörung des privaten Schlüssels durch den Server. Privater Schlüssel wird zerstört in 54:15:15.«

»500 Euro!«

»Der Computer wurde gehackt.« Wesemann schaut ziemlich ratlos. »Glaube ich zumindest.«

»Das kann doch nur ein schlechter Scherz von so einem Neidhammel aus der Nachbarschaft sein«, macht sich Nela selber Mut.

»Glaube ich nicht«, sagt Kalenberger. Sie zieht die Schürze aus und hängt sie über Wesemanns Stuhllehne. »Das hört sich ganz nach einem professionellen Hackerangriff an.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Liest man doch gelegentlich.«

»Was liest man?«

»Über die dunklen Seiten des Internets.«

»Ich kaufe fast nichts im Internet.« Wesemann lenkt seine Aufmerksamkeit zurück auf den Bildschirm. »Ganz unten ist ein Eingabefeld, mit dem eine Datei zur Probe zurückgeholt werden kann.«

»Probier es aus!«

Wesemann bearbeitet die Tastatur, wartet, tippt erneut – auf dem Bildschirm erscheint eine Datei mit einem einzelnen Kuchenrezept, in Frakturschrift.

»Was soll ich mit einem einzigen Rezept?«, fragt Nela.

»Mach ein Handyfoto vom Bildschirm und geh zur Polizei«, sagt Kalenberger.

»Und die holen mir dann meine Rezepte zurück?«

»Wohl kaum.« Wesemann macht auf überlegenen Zyniker.

»Also 500 Euro?« Nelas Gesicht hat mittlerweile die Farbe ihrer Preiselbeersahnetorte von vorgestern angenommen. »Ich wollte nie mehr meine Eltern um etwas bitten müssen.«

»Erpressungen sollte man niemals nachgeben, Erpresser hören nicht auf, Erpresser kassieren und machen weiter.« Kalenbergers ruhige Stimme kann sich kaum gegen Nelas Erregungspegel behaupten.

»Schön, schön, wir sind die Guten, ich kloppe meinen Laptop in die Tonne, und das war’s mit meinem Backbuch.« Nela hat Tränen in den Augen.

»Ich muss los«, sagt Kalenberger, »habe einen Arzttermin. Bis morgen!«

Eine Gruppe junger Mädchen stürmt das Café, sie suchen sich Kuchen am Büfett aus und bestellen dazu Cola light, Sprite oder einen Pott Schokolade. Nela hat alle Hände voll zu tun, um den Wünschen der Mädchen nachzukommen und ihnen alles zum Mitnehmen einzupacken.

»Warst du schon mal im Darknet?«, wendet sich Nela an Wesemann, als die Gruppe wieder draußen ist.

»Wie man’s nimmt.«

»Mal wieder so eine Antwort, mit der ich nichts anfangen kann.«

Wesemann schaut hinaus auf die Straße, drei Touristen nähern sich von rechts, die beiden Erwachsenen im Anorak-Partnerlook, der Sohn in Spiderman-Regenjacke und mit Lichtschwert. Gleich laufen sie der jungen südländischen Frau, hochschwanger und mit einem Kind am Rockzipfel, in die Arme, sie wird jede Stunde von einem alten Sack im SUV abkassiert.

Vor dem Steuerberaterbüro drei Häuser weiter werden die fahrbaren Angebotsständer mit Schnickschnack und Krimskrams aus China herausgestellt. Alles massentauglich. Laufkundschaft dort gegen Stammkundschaft hier. Ein Polizeiwagen mit eingeschaltetem Blaulicht, aber ohne Signal, schleicht entgegen der Fahrtrichtung die Wendenstraße hinauf. Ladendiebstahl oder Kreditkartenbetrug? Oder wird die Schwangere schon wieder kontrolliert? Sie wird sich trotzdem nicht vertreiben lassen.

Als Journalist ist Wesemann ein Meister des opulenten Halbwissens. Darknet hin, Darknet her, Menschlichkeit ist sein Kapital. Empathie. »Ich lasse dich nicht hängen, das ist nicht meine Art.« Er erhebt sich, zieht seine Lederjacke über und nimmt die Fototasche. »Ich muss mich zurückziehen, konzentrieren, das Darknet ist nichts für holterdiepolter.« Er lächelt Nela an, verabschiedet sich mit einem Luftküsschen rechts und links.

Nela seufzt und murmelt: »Verbrecher. Alles Verbrecher.«

*

»Der sogenannte Fortschritt bringt uns noch alle um«, mault Wesemann im Auto, »da sind unkontrollierte Kräfte am Werk, die uns weit voraus sind. Wir haben ein Empfinden für Recht und Ordnung wie zur Zeit der Pferdekutschen. Andere agieren bereits im interplanetaren Raum ohne jegliche moralische Schranken! Arme Nela.«

Was für eine fundamentale Erkenntnis, vielleicht das Konzept für ein neues Feature. Der Sender wird es ihm aus der Hand reißen. Also weiter: »Wie bei jeder gesellschaftlichen Entwicklung gibt es auch bei der Digitalisierung kaum kontrollierbare Randbereiche, die von besonders cleveren Personen zur kriminellen Gewinnmaximierung ausgenutzt werden. Für den Einzelnen scheint es oft nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera zu geben. Doch außerhalb des persönlichen Nutzens hat unsere Gesellschaft eine Moral, um ihre Errungenschaften mit Anstand an die nächste Generation weitergeben zu können. Dazu zählt, Erpressern nicht nachzugeben, auch wenn es zu persönlichen Nachteilen kommt.« Was für ein Gedankengang. Fantastisch, intellektuell, gigantisch – mit dem Zeug zum Schulbucheintrag. Das muss er gleich dem Sender antragen. Die Gelegenheit zur Rückkehr! Denn nach seiner Hochzeitskatastrophe hat er eine Auszeit gebraucht, während der er höchstens für einen Besuch im »KaFEEchen« oder zum Einkaufen das Haus verlassen hat. Mittlerweile geht es ihm besser. Eigentlich wollte er erst in ein paar Tagen in die Redaktion. Aber mit dieser Idee … Warum noch warten?

Wesemann hält in der Parkbucht für Linienbusse an, um seine Gedanken schriftlich zu fixieren. Doch da hupt schon der Linienbus hinter ihm, er muss weiterfahren, und die Gedanken sind verflogen.

Bei radioTOTAL steuert er den für die Chefredaktion reservierten Parkplatz an. Der ist allerdings blockiert von einem schnieken rubinroten Peugeot Cabrio. Das kann nur eine Sie sein, und die Parkbucht hat sie wohl für einen Frauenparkplatz gehalten.

Kaum hat Wesemann die Eingangstür des Senders aufgestoßen, da kommt ihm Baxmann, der Chef des Radiosenders, mit einem schiefen Lächeln entgegen. »Auch mal wieder im Lande?«

In seinem Windschatten ein Mann kurz vor dem Rentenalter in jugendlichem Outfit, zu den überseriösen Jeans modisch ausgefallene schwarze Sneaker und Socken mit buntem Donald-Duck-Aufdruck im Knöchelbereich. Albern! Das muss der Cabrio-Fahrer sein.

»Darf ich Ihnen André Schmitz vorstellen?« Baxmann triefend, schwammig. »Ein Urgestein der Journalistenzunft. Schreibt über alles, bestens vernetzt, eloquent. Ihr Nachfolger.«

Das hellblonde, weißliche Haar des »Urgesteins« ist zum schütteren Nackenschwänzchen gebunden, der Mann trägt ein beiges Jackett mit lila Strunztuch. Die Nasenspitze rotbläulich angelaufen, unter den Augen dreifach gestufte Tränensäcke, dazu Hängebacken rötlicher Farbe, die nicht von der Temperatur im Eingangsbereich des Senders herrühren können. Vielleicht eine ausgeprägte Neigung zu Hochprozentigem? Joggingrunden im Bürgergarten an der frischen Luft werden kaum die Ursache sein.

Wesemann gibt Schmitz die Hand, schaut aber Baxmann an. »Eloquent?«

»Er weiß, wo es langgeht.« Baxmanns eigenwillige Fremdwortinterpretation.

»Aber wieso ›Nachfolger‹?« Wesemann versucht, Baxmanns Aufmerksamkeit zu gewinnen. »Ich bin doch gar nicht weg.«

»Eben, eben.« Baxmann schüttelt den Kopf. »Wären Sie nur weggeblieben, bis Gras über die Sache mit ihrer versemmelten Hochzeit gewachsen wäre. Aber so … Wesemann, wir sind hier nicht beim Öffentlich-Rechtlichen, wir sind von unseren Werbekunden abhängig. Und da sind alle einer Meinung: dass Sie sich schofelig verhalten haben. Einer Frau über Jahre Hoffnung zu machen, um dann zu kneifen. Das haben unsere Kunden gar nicht gern gesehen.«

»Vielleicht versuchen Sie es mal mit Parship?« Schmitz grinst süffisant. »Immer noch besser als nichts.«

»Wesemann, verstehen Sie uns.« Baxmann schaut gequält. »Wir müssen Sie aus der vordersten Front zurückziehen. Dem Gegner sozusagen die Angriffsfläche nehmen.«

»Sie können mich doch nach all den Jahren nicht …«

»Mir wurde die Pistole auf die Brust gesetzt. Im letzten Monat Rückgang der Werbeeinnahmen um 12,8 Prozent, ich kann Ihnen die genauen Zahlen ausdrucken.«

»Nicht nötig. Ich bin also raus?«

»Wesemann, wir wollen nicht gleich übertreiben. Es geht nur um die aktuelle Berichterstattung. Wir wissen doch, was wir an Ihnen haben.«

»Aber meine …«

»Sicher, Ihre Beiträge wurden immer gern gehört, auch wenn Ihre Fans allmählich überaltern. Sie müssen sich in Zukunft nach ungewöhnlichen Spezialthemen umsehen.«

»Spezialthemen? Wie Parship? Dafür haben Sie jetzt ja Ihren Möchte-gern-Ulrich-Wickert.«

»Papperlapapp. Da wäre zum Beispiel das U-Boot vom Steinhuder Meer oder das Rätsel der Pyramide auf der Hämelschenburg oder …«

Die Tür zum Schneideraum geht auf. Eine Frau kommt rückwärts heraus, redet noch mit jemandem im Inneren, ganz in Weiß, durchaus ansehnlich, obwohl Wesemann bisher nur ihre Rückenansicht sieht. Zum figurbetonten Hosenanzug mittelhohe High Heels und eine blonde Löwenmähne.

Wesemanns Herz pocht wie auf Kommando bis hinter die Ohren.

Sie dreht sich um.

Karola! Gleichgültiger Blick, neu sind die Brille mit schwarz-weißem Zebragestell und ihre Frisur, eher Berlin als Hameln.

Wesemanns Knie zittern.

Karola schaut nur Baxmann an. »Der Termin mit der neuen Leitung des Jugendamts ist gecancelt.« Sie verlässt den Empfang durch die Tür zum Besprechungsraum. Da wurden einst die ersten zaghaften Liebesfäden zwischen ihnen gesponnen. Ein lautes Lachen dringt durch die geschlossene Tür.

»U-Boot im Steinhuder Meer?« Wesemann kann den Blick nicht von der Tür zum Besprechungsraum wenden.

»Tolles Thema«, sagt Baxmann, und Schmitz grinst. »Der ›Steinhuder Hecht‹«, fährt Baxmann fort, »1762 als Entwurf Graf Wilhelm zu Schaumburg-Lippe vorgelegt. Eine Variante davon soll zwölf Minuten im Steinhuder Meer getaucht sein.«

»Im Steinhuder Meer? Das ist an keiner Stelle tiefer als drei Meter.«

Wieder dieses Lachen aus dem Nachbarraum.

»Da riskieren die Schaumburger eine zu große Lippe. Ich nicht. Ich bin raus.« Wesemann geht ohne Verabschiedung, so viel Strafe muss sein.

*

Kalenberger schwänzt den Arzttermin. Immer dieselben Vorhaltungen, immer dieselben Ratschläge, und abnehmen solle sie auch. Sie braucht neue Schuhe. Bequeme Schuhe, die ihre Füße das jahrzehntelange Stehen wenigstens kurzzeitig vergessen lassen. Robust sollten sie sein und elegant, obwohl sich die Kombination meist widerspricht. Schuhkauf tröstet. Sie sollte nach Hannover, S5, 45 Minuten, und zu Schuh-Neumann gehen, dem Schuhgeschäft ihres Vertrauens in der City. Statt in diesem Hameln die Schuhgeschäfte abzuklappern. Gedankenverloren schlendert sie durch Hamelns Altstadt.

Eigentlich könnte sie froh sein, die Kriminalfachinspektion 1, kurz KFI 1, in Hannovers Waterloostraße hinter sich zu haben. Doch nicht mit diesem Abgang! Wegen posttraumatischer Belastungsstörung zur Polizeiinspektion Hameln-Pyrmont/Holzminden versetzt. Von heute auf morgen, nach oberflächlicher medizinischer Begutachtung. Dabei haben nur ihre Konzentrationsfähigkeit und der Glaube an den Sinn von Überstunden gelitten. Es gab keine Aussprache, nur eine Mitteilung über eine zeitlich unbefristete Freistellung vom Dienst, dann war sie weg. Sie hat es als persönliche Schmach empfunden und spürt den Tritt ins Kreuz noch immer. Das bedeutet Verzicht auf Lebensqualität.

An einem Café beschließt sie, sich einen Eiskaffee zu gönnen. Einen großen mit doppelter Sahne. Als sie sich gerade an den letzten freien Tisch gesetzt hat und die Speisekarte studiert – sie ist inzwischen hungrig geworden –, wird sie von einem Gast angesprochen.

»Hallo!«

»Der Platz ist besetzt«, sagt Kalenberger, ohne aufzublicken, und deutet dabei auf den zweiten Stuhl am Tisch.

»Ähhh … Moin auch.«

Die Stimme kennt sie doch … Unwillig schaut sie auf und ist angenehm überrascht.

»Harryboo, du hier?«

Groß, Glatze, Kutte, Springerstiefel – eine Seele von Mensch. Mit Ecken und Kanten, nicht jedermanns Freund. Sie kennen sich aus Hannover. Kalenberger hat ihm aus einer misslichen Lage geholfen, und er hat einen verunglückten Motorraddeal von Kalenbergers früherem Kollegen Obanczek ohne großes Aufsehen korrigiert. Ihr Kollege verkaufte einem Biker aus Harryboos Gang ein Motorrad, bei dem der Kilometerstand mit den tatsächlich gefahrenen Kilometern nicht einmal annähernd übereinstimmte. Harryboo vermittelte, und Obanczek kam mit halbwegs heiler Haut aus der Sache heraus.

»Wie geht’s denn so?« Harryboo, der sich inzwischen gesetzt hat, bestellt sich einen doppelten Espresso.

»Und selbst?«

Harryboo grinst. »Alles legal, keine Ausreißer mehr, und Steuern bezahle ich auch.«

Kalenberger nickt anerkennend. Harryboo ist ein begnadeter Bastler und Schrauber, nicht nur an Motorrädern, sondern auch im IT-Bereich. Nur habe er seine Fähigkeiten nicht gerade systemkonform angewandt, munkelt man. Seine Spezialität soll das Verticken illegaler Musikvideos gewesen sein. Aber dann kamen die Streamingdienste, und die brachten ihn auf Hartz IV.

»Ich bin nicht mehr so hibbelig und raste auch nicht gleich aus, wenn mir einer krumm kommt. So fällt das Leben leichter.« Harryboo trinkt seinen Espresso mit einem Schluck aus und bestellt über die Tische hinweg ein Weizen.

»Alkohol? Fährst du etwa S-Bahn?«

»So tief bin ich noch nicht gesunken.« Harryboo grinst. »Meine Harley habe ich vorschriftsmäßig in der Tiefgarage geparkt.«

»Das kostet Parkgebühr.« Kalenberger grinst. »Kannst du dir von Hartz IV doch gar nicht leisten.«

»Nach ein paar Fortbildungskursen biete ich meine IT-Kenntnisse interessierten Firmen und Privatpersonen an, die ihr Netzwerk optimieren wollen. Da ich gut bin, kann ich mich vor Anfragen kaum retten.«

»Hast du einen Auftrag im Weserbergland oder warum bist du hier?« Kalenbergers verhaltenes Lächeln soll gleichzeitig Vertrauen und Neugierde signalisieren. In unzähligen Verhören erprobt.

»Eine absichtslose Spritztour von der Leine an die Weser und in die Berge. Mein zweirädriges Mädel braucht ein bisschen Abwechslung.« Harryboo sieht sich um.

Kalenberger möchte das Gespräch noch nicht beenden. Sie bestellt sich ein Mineralwasser, spontan fällt ihr nichts anderes ein. »Und wie geht’s sonst?«

»Schon. Insgesamt. Also allgemein.«

»Und dem Moped?« Kalenberger outet sich als Insiderin.

»Neuer Auspuff, volle Power. Man muss sich auch mal was gönnen.« Harryboo schaut auf Kalenbergers Plastiktüte mit dem Aufdruck eines Kaufhauses und grinst. »Siehst du auch so, oder?«

Kalenberger wird rot. Gerade meldet sich abrupt ein fast verkümmerter Gedanke. Längst verdrängt und überwunden. »Ich würde gerne den Motorradführerschein machen.« Hat sie das jetzt gesagt?

Harryboos Grinsen wird nachdenklicher.

»Oder gibt es da eine Altersbeschränkung?«

»Ich kann dir das Motorradfahren beibringen …« Harryboo schaut verklärt einer üppigen Oberweite hinterher, spricht jedoch gleichzeitig weiter – männliches Multitasking. »Aber den formellen Kram musst du selber erledigen.«

»Darf nur nicht zu teuer werden.« Sie wird in Zukunft wieder ein bisschen mehr auf sich achten, und Oberweite hat sie auch.

*

Für Wesemann kann’s nicht schlimmer kommen? Doch! Seit der Trennung hat er in einem kleinen Pensionszimmer gehaust, er konnte die gemeinsamen vier Wände nicht ertragen. Doch das wurde auf Dauer zu teuer. Heute Morgen hat er das Zimmer endgültig verlassen und muss nun zurück in die gemeinsame Wohnung. Gemeinsam sind allerdings nur noch die Schlüssel und die Kiste Rotwein von der Ahr, Schnäppchenangebot einer Zeitschriftenbeilage. Ansonsten hat Karola fast alles ausgeräumt. Nur das Notwendigste ist Wesemann geblieben.

Ans Essen hat er nicht gedacht, deshalb macht er sich noch einmal auf den Weg und steuert den Discounter an. Hühnertopf mit Nudeln und Geflügelklößchen oder Erbseneintopf mit Würstchen? Wesemann entscheidet sich für Spaghetti in Tomatensoße. Gut und günstig.

Der Briefkasten kann das Überangebot an neuen Küchen, italienischen Wochen, Hundefutter und Lichterketten mit wechselndem Farbspiel kaum fassen. Dazwischen eine Mitteilung von Karolas Anwalt. Eine Kostenaufstellung über 4.200 Euro, zahlbar bis … Hoffentlich haben die Stadtwerke den Strom noch nicht abgestellt.

Nur die Sicherungen hat Karola vorsichtshalber ausgeknipst. Zack, zack und das Licht brennt. Fremdheit, Leere, Nichts. Bloß nicht unterkriegen lassen, Wesemann! Du hast Zukunft! Spaghetti aufwärmen, Laptop auf den Küchentisch, eine Flasche Wasser daneben. Ein kühles Veltins wäre ihm lieber. An was soll er denn noch alles denken?

Er schaltet den Laptop ein, gabelt nebenbei seine Spaghetti, lauwarme Matschepatsche, und sucht im Netz nach Interneterpressungen. Bald wird er auf einen Trojaner aufmerksam, der zu Nelas Problem passen könnte. Er liest sich den Eintrag genauer durch:

Locky ist eine gefährliche Ransomware, die persönliche Dateien der Computerbenutzer sperrt und ein Lösegeld fordert, um diese wiederherzustellen. Der Locky-Trojaner ersetzt die Dateinamen durch eine einzigartige, aus 16 Buchstaben und Zahlen bestehende Kombination und fügt die Dateierweiterung ».locky«