Wessen Moral? Eine Autobiografie zum Thema: Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern - Cécile Koch - E-Book

Wessen Moral? Eine Autobiografie zum Thema: Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern E-Book

Cécile Koch

4,9

Beschreibung

"Wessen Moral?" ist ein autobiografischer Roman über eine junge Frau, die retrospektiv das Verhältnis zu ihrer suchtkranken Mutter beleuchtet und zu verstehen versucht. Zunächst noch mit den Augen eines Kindes beobachtet die Autorin wie ihre Mutter Stück für Stück an Stärke und Lebenswillen verliert. Ihre einst attraktive, charmante und geistreiche Mutter verliert mit der Zeit die Kontrolle über ihr eigenes Leben und dasjenige ihrer Familie. Mit ausschlaggebend dafür ist die Hochzeit mit einem manisch-depressiven, medikamentenabhängigen Alkoholiker. Mehr und mehr lässt sich die Mutter von ihren eigenen Süchten leiten, bis sie schließlich an ihnen zerbricht. Cécile Koch versuchte lange, sich ihre verstörende Welt mit kindlicher Fantasie zurechtzurücken. Als Außenseiterin in der Nachbarschaft und Schule erfindet sie sich Freunde und erschafft sich eine eigene Realität. Mit zunehmendem Alter reift in ihr jedoch die Einsicht, dass sie der Welt, wie sie ist, nicht durch Träumereien entfliehen kann. Mehrmals reißt sie aus. Mit vierzehn Jahren reist sie sechs Wochen mit einem kleinen Wanderzirkus mit und bezahlt dafür mit dem einzigen, was sie hat - mit sich selbst. Nach ihrer unfreiwilligen Rückkehr bricht ihr der Boden unter den Füßen weg. Mit Gewalt versucht sie ihrem Leben Sinn einzuflößen, klammert sich an sinnlose Beziehungen, fängt selbst an zu trinken und zu kiffen und versucht mehrmals, sich das Leben zu nehmen. Parallel dazu setzt bei ihrer Mutter eine Leberzirrhose ein. Im Alter von fünfundvierzig Jahren stirbt die Mutter. Für die zu diesem Zeitpunkt neunzehn Jahre alte Autorin bedeutet der Tod der Mutter einen Wendepunkt. Sie fühlt, wie sehr sie leben möchte und macht sich auf, gesund zu werden. Mit einfachen, nüchternen Worten betrachtet die Autorin rückblickend ihr Leben ohne geborgene Kindheit und ihren Versuch, aus eigener Kraft erwachsen zu werden. Nicht die nachträgliche Betroffenheit steht im Vordergrund ihrer Schilderungen. Vielmehr geht es um den Mut und auch die Probleme, das eigene Leben anzunehmen und selbstbestimmt zu führen. Der Titel "Wessen Moral?" steht stellvertretend für alle Fragen nach den Gründen und der Gerechtigkeit der Welt, welche Cécile Koch beschäftigen.

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Cécile Koch

Wessen Moral?

Eine Autobiografie zum Thema:

Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern

Koch, Cécile: Wessen Moral? Eine Autobiografie zum Thema: Erwachsene Kinder suchtkranker Eltern, Hamburg, ACABUS Verlag 2010

1. Auflage

ISBN: 978-3-941404-38-0

Die Buch-Ausgabe dieses Titels trägt die ISBN 978-3-941404-35-9

und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Lektorat: Miriam Tröndle, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: Daniela Sechtig, ACABUS Verlag

Umschlagsmotiv: © mhp - Fotolia.com

Autorenfoto: ©YC-Fotografie

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen

Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2010

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Für meine Mutter

Was bringt die Zeit

Sag was bringt die Zeit,

während sie weiterläuft,

während Du Dein Leben lebst

ob Du’s trinkst,

oder ob Du’s säufst.

Sag was bringt die Zeit,

während sie weitergeht,

wenn Du lachst,

wenn Du weinst,

oder neben Dir stehst.

Sag was bringt die Zeit,

während sie verrinnt,

während ich frage,

oder schreie

oder frei bin

wie ein Kind.

Sag was bringt die Zeit –

sie wird weitergehen

und ich kann fragen,

ich kann bohren,

kann versuchen zu verstehen.

Sag mir nur –

dass es weitergeht,

sag mir nur –

dass die Zeit nie steht,

sag mir nur –

dass es aufhört weh zu tun,

denn auch die schlechten Dinge

werden einmal ruhen.

Sag was bringt die Zeit,

während Du älter wirst,

während Du Wege suchst

und findest

oder Dich verirrst.

Sag was bringt die Zeit,

während wir weitergehen,

während wir laufen

oder stolpern

oder auch mal stehen.

Sag was bringt die Zeit, jeden Tag,

jede Nacht,

viele Ängste,

viele Träume,

Stärke oder Macht.

Sag was bringt die Zeit –

sie wird weitergehen

und ich kann fragen,

ich kann bohren,

kann versuchen zu verstehen.

Sag mir nur –

dass es weitergeht,

sag mir nur –

dass die Zeit nie steht,

sag mir nur –

dass es aufhört weh zu tun,

denn auch die schlechten Dinge

werden einmal ruhen.

Prolog

In einem alten Film hörte ich einmal die Worte „… man ist so lange nicht tot, so lange man noch eine Geschichte zu erzählen hat ...“. Dies ist meine Geschichte.

Jeder Mensch trägt seine Geschichte in sich, seine Ängste, seine Zweifel, die Steine, auf denen das Fundament gebaut wurde. Manchmal lehne ich mich zurück und starre an die Decke, bin völlig gedankenleer, starre durch sie hindurch, weit an den Wolken, dem Mond und den Sternen vorbei, starre ins Irgendwo, in ein imaginäres Irgendetwas, und manchmal, in diesen kurzen, kleinen Momenten frage ich mich: „Wessen Moral?“

Meine Geschichte fängt – wie jede Geschichte – vor meiner Geschichte an, denn wie jede Geschichte ist auch meine nur ein Ausschnitt aus einer anderen, die unter einem anderen Blickwinkel betrachtet, wieder eine ganz andere ist, und vielleicht glaubt der eine oder andere im Vorbeigehen, im flüchtigen Draufschauen auch, dass beide nichts miteinander zu tun haben.

Ich glaube, dass jeder Mensch eine Ur-Angst in sich trägt, sei es der pubertierende Wille, niemals wie die Eltern zu werden oder die Angst davor verlassen zu werden, die Angst Verantwortung zu übernehmen, oder die Angst, das zu sagen, was man wirklich denkt. Ich hatte immer Angst vor den Menschen die Angst haben. Angst zwingt zur Lüge, zwingt einen zum Fortlaufen, zum Flüchten. Wer verängstigt ist, zieht eine Maske hoch, hinter der er sich verstecken kann. Eine in oft mühseliger, lebenslanger Arbeit erschaffene Mauer, hinter der irgendwann jegliches Gefühl der Angst und der Bitterkeit weicht.

Mit meinem eigenen Bestreben, die Ängste von mir abzuschütteln, eine offene und ehrliche Persönlichkeit zu werden, schien ich ein Magnet für all diese Menschen geworden zu sein, die in scheinbarer Glückseligkeit unantastbar für tiefere Emotionen oder Bindungen lebten.

In jeder Geschichte gibt es eine Geschichte der Liebe, doch meine ist eine einzige Liebesgeschichte, eine Liebeserklärung an das Leben, dessen Lebendigkeit ich in all seinen Facetten und Erscheinungen lieben gelernt habe, zum Beispiel im Lachen der Sonne, im Blinzeln des Mondes, in Momenten der Tiefe und Schwere. Das Leben und ich führten eine zerfleischende, tief emotionale Liebesbeziehung, aber ab dem Punkt, ab dem wir keine Angst mehr voreinander hatten, von da an, wurde es schön.

Doch bevor dieser Punkt erreicht wurde, ist viel Blut die Arme hinuntergetropft, sind viele Spiegel zerschlagen worden. Die Strecke vor dem Zieleinlauf war lang, und viele Menschen, Erinnerungen, viele Träume und Hoffnungen wurden auf diesem Weg beerdigt.

Wie oft musste ich Abschied nehmen, sowohl von anderen, als auch von mir. War allein. Um mich herum absolute Stille. In diesen Momenten hörte ich nur das Rauschen des Blutes in meinen Ohren, das Klopfen meines Pulses viel zu laut in die Stille des Abschieds hinein.

Man verliert irgendwann die Angst davor alleine zu sein, wenn man einsieht, dass man im Ist- Zustand, im hier und jetzt, in dem Moment, in dem man einatmet und vielleicht gerade denkt, dass man nicht alleine sein möchte, dass man in diesem Moment allein ist.

Ich bin nie mit Diktiergeräten in der Hand durch Städte gelaufen und habe die Menschen nach ihren größten Ängsten befragt, aber ich glaube fest daran, dass die Angst des Verletzt-, Verlassen-, Allein-Gelassen-Werdens, die größte innere Angst ist, die wir als Menschen unser Leben lang in uns tragen.

Ich besitze manchmal die Frechheit zu sagen: „Ich habe keine Familie.“ Rein genetisch ist das eine Lüge, denn wie jeder Mensch, bin auch ich nur ein Glied in einer langen Familienkette. Ich habe – heute noch – einen Vater und eine Schwester, die ich beide über alles liebe. Doch unsere Wege liefen oft getrennt voneinander, und viele Situationen musste jeder von uns alleine durchleben. Wahr ist, dass ich nicht weiß, wie sich das anfühlt: Familie. Weil es nie stimmte, nie passte und vielleicht auch nie da war. Ich hatte viele Lieben in meinem Leben, mit denen ich oft diesen Augenblick der Geborgenheit erlebte, und ich habe Freunde, die sich manchmal wie Familie anfühlen.

Was ich damit sagen möchte, ist, dass ich meine Wurzeln niemals negieren möchte, ich habe sie nur nie gefühlt.

Auch erzähle ich diese Geschichte aus meinen Augen, und aus meiner Erinnerung. Es mag sein, dass sie aus manchem Munde anders klingt und manche Augen es anders gesehen haben.

Erstes Kapitel

Ich weiß nicht, wie viele unzählige Male ich aus der schweren Eichentür in die Sonne geblinzelt habe, mit dem Entschluss nie wieder zurückzukehren. Ich bin immer wieder nach Hause zurückgekehrt. Auch wenn sie mich nicht schlafen ließen, die Geräusche in der Nacht, die Schreie meiner Mutter, das Zerschlagen von Glas auf dem Küchenfußboden – es war etwas Vertrautes. Mit dem Selbsterhaltungstrieb eines Kindes lernte ich, in einem Scherbenhaufen zu laufen. So, wie ich mich heute oft in meine Kindheit zurückwünsche, immer noch den Traum in mir trage, einen einzigen Tag Kind einer heilen Welt zu sein, mit gesundem Herzen lachen und mit begeisterten Augen sehen zu können, so sehr und noch viel stärker wünschte ich mir damals, ganz schnell erwachsen zu werden, um endlich frei sein zu können. Der Begriff „erwachsen“ bedeutete für mich mit den Augen eines Kindes betrachtet nur eins: Freiheit.

Doch so sehr ich mir die Freiheit wünschte, war ich oft selbst diejenige, die sich im letzten Augenblick hinter ihrer Mutter versteckte, und einem perfekt einstudiertem Theaterstück gleich mit vollkommener Überzeugung verkündete, dass sie hier glücklich sei. Mit dem Instinkt einer Katze erkannte meine Mutter die Tage, an denen das Jugendamt seine Routinebesuche bei uns absolvierte, und wenn ich ehrlich bin, zählen sie zu den Tagen meiner Kindheit, an die ich mich gerne zurückerinnere. Ich mochte diesen beschwingten, souveränen Klang in der Stimme meiner Mutter und ich mochte die Schönheit, die sie in diesen Tagen ausstrahlte. Ich mochte den intensiven Scheuermilchgeruch in unserem Haus – auch wenn es manchmal eine Nacht mit wenig Schlaf war, die ich dafür aufbringen musste. Und wie ein Akku auf der Ladestation genoss ich jedes demonstrative Kopfstreicheln, ihre Anreden, wenn sie mich laut „Stups“ oder „Fusselkopf“ nannte. Nur für dieses kleine Theater, für einen kurzen Bühnenakt „heile Welt“, ließ ich meine Akte lange beim Jugendamt liegen und die Betreuer glauben, dass nichts für mich getan werden musste.

Nach all den Jahren ist das Gesicht meiner Mutter verschwommen, und immer wieder ertappe ich mich dabei, dass ich ihr zwei Gesichter aufsetze. So wie ich sie auch wahrgenommen habe: wunderschön und sanft, Dämonen zerfressen und schwer. Ich hatte nicht eine Mutter, ich hatte zwei. Heute weiß ich, dass die Frau mit einer tiefgründigen Wissensbildung und einem tadellosen Geist, dem akkuraten Make-up und dem grazilen Gang, dass die Dame mit den lackierten Fingernägeln, dem wunderschönen Lachen und dem makellosen Körper, dass diese Frau, von der ich mir manchmal einbilde, ihre Berührung in meinem Nacken zu spüren, dass sie schon vor meiner Geburt ausgezogen ist. Anfangs war sie noch gut mit der anderen befreundet, die sich gehen ließ, die an nichts außer ihren Untergang glaubte, die in ihrer eigenen Welt verschwand, doch im Laufe unserer Jahre wurden ihre Besuche weniger.

Als ich damals an ihrem Bett stand, begleitet von dem monotonen Piepen ihres Herzschlag-Überprüfungs-Gerätes, da waren sie beide bereits gegangen. Unter diesem weißen Haar, der eingefallenen Haut, der Vaseline in den Augen, „piep, piep, piep“ … ich konnte sie nicht berühren, hatte keinen Bezug zu diesem „Etwas“, was dort steril, klinisch rein, auf den Tod vorbereitet wurde. Ich habe mit meinen Fingern Muster auf ihrem Laken gezogen und konnte nicht sprechen. Unwirkliche Wirklichkeit schlug mit dem Vorschlaghammer auf mich ein, und wenn ich ehrlich bin, ich wäre am liebsten fortgerannt. In dem Moment, in dem ich den Anruf bekam, dass meine Mutter im Krankenhaus im Koma lag, in dem Moment wusste ich, dass ich ihr Lachen nie wieder hören werde. Und ich stand da vor ihrem Bett und starrte auf den einzigen Fleck Wand zwischen all den Geräten hinter ihrem Kopf, und bat sie sich zu entscheiden, ob sie leben oder sterben möchte. Noch in derselben Nacht ist sie gestorben.

Ich war 19 Jahre alt, und sie ist 45 geworden.

Wein’ noch einmal deine Tränen

und ich wisch sie weg,

mag sein,

dass ich heute stärker bin.

Sprich noch einmal deine Zweifel

und ich halt Dich fest,

mag sein,

dass ich heute stärker bin.

Zeig noch einmal deine Angst

und ich nehm sie dir,

mag sein,

dass ich heute stärker bin.

Halt noch einmal meine Hand

und ich drück Dir Deine,

mag sein,

dass ich heute stärker bin.

Mit welcher Kraft geht ein Mensch durchs Leben? Wie wichtig sind die Wurzeln, aus denen wir wachsen? Ich habe die Geschichte meiner Mutter nie begriffen. Sie war so von Schwere überladen, angsterfüllt, und alle Figuren aus ihrer Vergangenheit waren Dämonen gleichgesetzt. Ich weiß nur, dass sie immer gerannt ist, so lange, bis sie irgendwann ihren Atem und sich selbst verlor. In einem strengkatholischen Elternhaus wurde meine Mutter als erstes von zwei Kindern geboren. Ihre Eltern wollten weder die Kinder noch ihre eigene Ehe. Doch als meine Großeltern nach einer versoffenen Nacht nach einem Kirmesfest zusammen in den Büschen verschwanden und meine Großmutter daraufhin schwanger wurde, verlangten es der Anstand und die gute Sitte, dass sie heirateten. Meine Großmutter war eine sehr strenge, herrische Frau, die alles unter ihrer Kontrolle hatte und mit Brutalität ihre Unterweisungen durchsetzte. Meine Mutter lebte in panischer Angst vor ihrer Mutter, die sie schlug, oder sie von ihrem Ehemann schlagen ließ. Brav wurde jeden Sonntag in die Kirche gegangen, der Familienfrieden durfte nicht kaputt gemacht werden. Immer brav sein, immer still sein, was sollen sonst die Leute denken.

Meine Mutter flüchtete sich oft zu ihren Großeltern, sang im Kirchenchor, und hatte ihren Lieblingsplatz bei den alten Gräbern auf dem jüdischen Friedhof in der Nähe ihres Dorfes.

Als sie 14 Jahre alt war, wurde sie über mehrere Jahre lang von ihrem Religions- und Gesangslehrer, der gleichzeitig Küster der Kirche war, sexuell missbraucht. Als sie mit sechzehn endlich den Mut fasste, ihrer Mutter alles zu erzählen, wurde sie von ihr brutal verprügelt und über mehrere Wochen zu Hause eingesperrt. Mein Großvater negierte es genauso wie meine Großmutter. So etwas gibt es nicht. Was sollen denn die Leute denken? Wehe, du sprichst mit jemanden darüber!

Die erste Chance, die meine Mutter hatte, ihr Elternhaus zu verlassen, nutzte sie. Sie floh, fand Halt in einer Hippie-WG auf einem alten Bauernhof, machte ihr Abitur zu Ende, fand Kraft durch Alkohol und heiratete bald darauf den Vater meiner Schwester. Meine Mutter knallte sich zu, mit Studium – welches sie in Rekordzeit als eine der besten Absolventinnen beendete, politischen Aktivitäten, Kabarett und Gesang, mit Alkohol und bald darauf mit der Mutter-Rolle. Die Ehe hatte keine Chance. Meine Mutter verbuddelte sich in Arbeit und machte sich unersetzlich in allem was sie tat. Meine Schwester immer unter dem Arm gab es nichts, an dem sie nicht interessiert war, außer ihrem Mann. Und als die beiden irgendwann voreinander standen und sich nichts mehr zu sagen hatten, haben sie sich getrennt.

So oder so ähnlich wird es wohl gewesen sein.

Vor einigen Jahren fasste ich den Mut, Kontakt zu meinem Großvater aufzunehmen, doch um Licht in das Dunkel der Vergangenheit zu bringen, war es schon zu spät. Mein Großvater war nach seinem zweiten Schlaganfall halbseitig gelähmt und seine Erinnerungen fanden keine Worte mehr. Seine Zunge konnte der Lähmung nicht mehr widersprechen. Mir blieben ein paar wenige Momente mit ihm. Mit seinem Begräbnis wurde ein weiteres Kapitel beendet, und als ich brav meine Erde auf seine Asche schaufelte, fragte ich mich, wo ich jemals Klarheit finden werde. Auf der Beerdigung meiner Mutter hatte ich meinen Großvater zum ersten Mal seit über zehn Jahren wiedergesehen. Wer erklärt mir all den Zorn?

Dieses Gefühl ist nicht zu beschreiben, das da irgendwo zwischen Magen und Herzen krampfhaft entsteht. Meine ganze Kindheit lang haben mich Sätze wie „meine Oma hat“, „mein Onkel macht“, „mein Papa sagt“, verletzt und eifersüchtig gemacht. Eifersucht ist eines der prägendsten Gefühle meiner Kindheit. Dieses ewige Gefühl vernachlässigt zu werden, hat auch immer bedeutet, dass ich mit dem Hier und Jetzt niemals zufrieden war, ganz egal wie schön es war und wie viel Mühe es gekostet hatte. Es blieb dieses Grundgefühl, dass es anderen viel besser ging. Damit habe ich mir immer selbst im Weg gestanden. Wenn mir heute jemand nach einen netten Abend sagt, dass es ein schöner Abend war, schaue ich immer noch verschämt zu Boden, und denke, dass es mit jemand anderem, nicht mit mir, bestimmt netter gewesen wäre.

Narben bleiben, Selbstzweifel auch.

Ich besitze nur ein einziges Bild, auf dem meine Mutter gemeinsam mit meinem Vater abgebildet ist. Wenn man dieses Bild neutral betrachtet, ist es schrecklich: ein Hippiepaar vor einer 70er Jahre Mandala-Tapete, mein Vater unvorteilhaft im Moment des Trinkens getroffen, meine Mutter schaut müde auf ihr Glas. Aber sie halten sich an den Händen. Und das ist mir unglaublich wichtig, zu wissen, dass sie sich und somit mich geliebt haben.

Ich kenne die Geschichten der Trennung, ich weiß, dass diese Liebe schon vor meiner Geburt beendet war und in meinem ersten Lebensjahr einen zweiten verzweifelten Versuch erlitt. Ich weiß, dass sie sich am Ende zerfleischt haben, nicht zusammen gepasst haben, und doch nicht voneinander lassen konnten. Dennoch macht es mich unglaublich glücklich zu wissen, dass es einen Moment gab, in dem sie mich beide wollten.

Ich habe mir meinen Vater oft gewünscht, noch heute habe ich Schwierigkeiten, ihn so wie er ist anzunehmen. Träume schaffen neue Bilder.

Als ich geboren wurde, hat man es, glaube ich, gut mit mir gemeint. Mein Leben ist bis heute von einer unerschütterlichen Hoffnung geprägt, die, wenn auch mit einigen Einschnitten, nie zu sterben drohte, und mich am Leben hielt. Es waren meine Träume und die Hoffnung, die mir immer wieder Kraft gaben, und mich wieder aufrichteten, wenn ich am Boden lag.

Ich erinnere mich an so viele Morgen, die alle den gleichen, monotonen angsterfüllten Rhythmus hatten. Ich werde wach und weiß nicht wie spät es ist, aber es ist schon hell. Meine Schwester ist schon lange gegangen, und ich höre keine Geräusche in der Wohnung. Mit dem Traum sind auch die Seifenblasen gegangen, mit müden Augen starre ich in unser Kinderzimmer. Ich fühle mich wie gelähmt. Jede Nacht ist es der gleiche Traum, dass mich eine Hand sanft wach rüttelt, dass ich von den Klappern der Teller in der Küche wach werde. Einfach das Gefühl zu haben, dass jemand den Morgen mit mir teilen möchte.

Es ist zu spät, zu spät um jetzt loszugehen. Ich weiß nicht, was ich anziehen soll, stehe mit nackten Füßen auf dem ungesaugten Fußboden, liegengelassene Krümel bohren sich in meine Sohlen. Mein Blick fällt auf einen Haufen Kleider, ich nehme mir ein paar heraus. Ich habe Hunger, ich habe Durst. Ich will jetzt nicht zur Schule gehen, will nicht an allen Kindern vorbeigehen, die mich auslachen, sich die Nase zu halten, und in der Pause nicht mit mir spielen.

Mama schläft, ich bin sechs und seit einem halben Jahr in der Schule. Meine Schwester ist zehn, sie kann schon alleine aufstehen, sie weckt mich nie, ich habe keinen Wecker. Ich habe gefroren heute Nacht, und ein bisschen friere ich immer noch. Ich bin traurig, ich bin wütend, irgendetwas in mir sagt mir, dass dies nicht richtig ist, dass es falsch ist. Ich finde es ungerecht. Ich ziehe mich zornig an, viel zu hastig versuche ich in meinen Pullover zu schlüpfen. Der Ärmel ist verdreht und zwickt mich in den Oberarm, ich habe mich in meinem eigenen Pullover verlaufen und ich bin so unglaublich wütend darüber. Wütend auch auf die Kälte, die mich so zittern und meine Zähne so laut klappern lässt, wütend auf die Krümel unter meinen Fußsohlen, die mich zwacken und wütend auf die doofe Schule. Zornige Tränen laufen hektisch über meine Wangen. Böse schmeiße ich den Pullover weg und meckere ihn an, ich trampele mit den Füßen auf der Stelle und balle meine Hände zu Fäusten. Erst als alle Wut aus mir draußen ist, fange ich von Neuem an mich anzuziehen.

Ich schleiche mich in die Küche, mit der trotzigen Traurigkeit aber auch Angst, denn wenn Mama jetzt wach werden würde, wäre ich Schuld, denn es gibt für sie keinen erklärbaren Grund, warum ich nicht in der Schule bin. Ich weiß, dass das ungerecht ist, vielleicht weiß sie das auch irgendwo, aber ihr Zorn ist schlimmer: ich, das Kind, das sie die Haare raufen lässt. Meine wunderschöne Mutter, wie oft hab ich um sie geweint. Ich schnappe mir meine Sachen und gehe raus, ich werde einfach so lange spielen, bis ich die anderen Kinder aus der Schule kommen sehe, und morgen muss ich dann den Zorn der Lehrerin aushalten. In meinen Spielen vergesse ich die Welt, ich buddele in der Erde und erforsche neugierig meine Umgebung.

Erinnerung kann verwischen mit den Jahren, und kann einen Geschichten glauben lassen. Man kann vergessen mit den Jahren, doch irgendwann holt einen die Erinnerung ein. Ich bin alt geworden.

Ich habe mir immer einen Freund gewünscht, einen besten, so wie im Bonbon-Lied, und ich hätte so gerne jemanden gehabt, der mit mir händchenhaltend und mit dem Kopf wackelnd durch Neo-Kitsch-Gärten hüpfte. Ich hatte keinen. Doch in meinem Kopf, da gab es ihn, den starken, großen Jungen, der immer auf mich aufpasste, dem ich alles erzählen konnte. Ein steter Begleiter an meiner Seite. Die Kinder lachten so oder so über mich, weil ich stank, weil ich unmoderne Klamotten trug, weil ich nie Sportzeug mithatte, meine Mutter nie zu Elternabenden oder Ähnlichem kam, und weil ich zu naiv war, um ihre Gemeinheiten zu durchschauen. Sie lachten auch, weil ich – in ihren Augen – mit mir selber sprach. Doch auch genau dann, wenn ich nicht alleine war, wenn mein „großer Freund“ neben mir stand, dann war mir das alles egal. Sollten sie doch lachen, ich wusste, dass ich eines Tages über sie lachen würde.

Als wir in das Haus gegenüber von dem Friedhof zogen, auf dem meine Mutter heute beerdigt ist, war ich drei Jahre alt. Meine Mutter machte ihr Referendariat an einem Gymnasium und meine Schwester war gerade eingeschult wurden. Das Haus war ironischerweise eine alte Schnapsbrennerei und nach einer Komplettsanierung bezogen wir es im Erstbezug. Die ersten Wochen waren wir drei und unsere beiden Katzen auch tatsächlich die einzigen in diesem Haus. Nach und nach zogen dann Nachbarn über, neben und unter uns ein. Altbau, hohe Decken, ein riesiges Treppenhaus mit einer uralten Wendeltreppe, es war ein bisschen wie ein Palast. Meine Mutter freundete sich schnell mit allen Nachbarn an. Man tauschte Butter und passte abwechselnd auf die Kinder auf. Es war eine Idylle, die zeigte, wie einfach das Leben sein konnte. Ich ging in eine evangelische Kindergruppe, das war eine alternative Form des Kindergartens. Die Kinder wurden hier länger betreut, als in der herkömmlichen Form des Kindergartens, außerdem war es kostenlos und man bekam gleich noch die christliche Werterziehung für seine Kinder gratis dazu.

Es war eine sehr engagierte Gruppe, die oft Aufführungen machte, Kinderfeste, Kindergottesdienste, das ganze Programm. Eines der Mädchen aus unserem Haus ging auch in die Gruppe. Sie hieß Cindy und war die erste Freundin, die ich hatte. Wir gingen gemeinsam dort hin oder wurden abwechselnd von unseren Müttern gebracht und abgeholt. Wir verstanden uns, die Mütter verstanden sich, alles war so einfach.

Manchmal, in heißen Sommernächten, erlaubten uns unsere Eltern im Garten zu zelten. Dann stellten wir das Zelt auf und meine Schwester Rebecca, Cindy und ich übernachteten im Garten. Das war immer besonders aufregend, ein bisschen Urlaub mitten im Leben. Für meine Schwester war die ganze Konstellation eher belastend als erfüllend. Sie fühlte sich zu alt, um an unseren Spielen teilzuhaben und so wurde sie stillschweigend der Babysitter für Cindys jüngeren Bruder.

Ein Spiel, das wir alle gleichermaßen liebten, war das Treppenrutschspiel. Man lehnte sich mit dem Oberkörper über das Geländer, hielt sich mit beiden Armen am Geländer fest, zog die Knie an, so dass man schwebte, und rutschte.

Als ich sechs Jahre alt war, spielte ich dieses Spiel zum letzten Mal. Ich war hoch in Cindys Stockwerk gegangen und hatte geklingelt, aber es hat niemand aufgemacht. Also rutschte ich die Treppe runter. Als ich ein Drittel der Strecke hinter mir hatte, riss Cindy die Tür auf und schrie: „Hallo, Cécile …“, und ich riss die Arme hoch um ihr zuzuwinken. Ich verlor das Gleichgewicht und flog.

Ich kann mich an den Flug nicht mehr erinnern. Offenbar kam ich auf der letzten Holzstufe der Treppe auf, danach wäre, dem Palast entsprechend, der Marmorfußboden gefolgt. Ich brach mir den Schädel, und trage heute noch eine Narbe über der linken Augenbraue. Meine Nieren waren durch eine gebrochene Rippe gequetscht und ich hatte innere Blutungen.

Ich hatte verdammt viel Glück. Meine Erinnerung setzte in der Notaufnahme des Klinikums wieder ein. Ich öffnete die Augen, sah verschwommen Menschen um mich herum, die ich nicht zu ordnen konnte, drehte mich zur Seite und spuckte von der Trage. Dann wusste ich wieder lange Zeit nichts mehr.

Über drei Wochen lang lag ich im Krankenhaus und trotz meines anfangs kritischen Zustands war es eine verdammt schöne Zeit für mich. Ich mochte den besorgten Gesichtsausdruck an meiner Mutter, mochte die liebevolle Art, wie sich meine Schwester um mich kümmerte. Mochte es, dass meine Mutter und mein Vater gemeinsam an meinem Bett standen und mir vorlasen. Sie gaben mir das Gefühl, dass alles wieder gut würde, wenn ich nur gesund werde.

Ich wurde gesund.

Aber nichts wurde gut.

Nichts wurde besser.

Ich war sieben Jahre alt, als mir meine Mutter verkündete, dass sie heiraten würde. Den Mann, der bis zu ihrem Tod mein Stiefvater sein würde, hatte ich vorher mehrmals als Patient bei uns gesehen. Meine Mutter hatte nach ihrem Studium als Oberstufenlehrerin für Germanistik und Politik eine Ausbildung zur Gesprächstherapeutin absolviert. Täglich gingen fremde Menschen bei uns aus und ein, und wenn sich hinter ihnen die Tür schloss, durfte meine Mutter nicht gestört werden. Udo war einer von ihnen. Damals begriff ich nicht, wie fatal diese Ausgangssituation war. Meine Schwester nahm die Nachricht von der Hochzeit mit wenig Freude entgegen. Vielleicht gaben ihr die vier Jahre, die sie älter war als ich, den Weitblick, die Konsequenzen abzusehen. Ich fand es großartig und klammerte mich an die Vorstellung, endlich einen Vater zu haben. Mir wurden abends Geschichten vorgelesen und es war jemand da, der mit mir spielte und mich fragte, wie es mir ging. Wir besuchten manchmal seine Eltern und ich hatte dann für kurze Momente das Gefühl in einer richtigen Familie zu sein, Oma und Opa zu haben.

Die Nacht vor ihrer Hochzeit war die erste Nacht der Schreie. Ich weiß nicht mehr, worum es ging, erinnere mich nur noch daran, wie ich das Kissen auf meinen Kopf drückte, und in der Dunkelheit das Gesicht meiner Schwester suchte und es nicht fand. Sie schrien und heulten, und sie bewarfen sich mit Gläsern und Flaschen. Es steigerte sich und wurde immer lauter und lauter, bis es irgendwann ruhiger wurde, und die Wand neben mir rhythmisch angestoßen wurde, dann wurde es noch einmal ganz laut, bis es ruhig war, bis zum nächsten Morgen.

Am nächsten Morgen hatte ich Angst, die Tür zu öffnen. Mein Stiefvater hockte schwitzend im Flur und sammelte die Scherben in einen Eimer, er lächelte, irgendetwas war in seinem Blick, aber ich konnte es nicht verstehen. Er arbeitete eifrig, wischte, schrubbte, saugte, verwischte die Spuren der Nacht. Es wurde nichts erklärt.

Meine Mutter war an diesem Tag wunderschön. Vielleicht war es das Strahlen in ihren Augen, vielleicht war es ihr Kostüm. Sie hatte ein rosa-creme-farbenes Kostüm an, Rock, Bluse und Jacke, es sah edel aus an ihr, ihre Nägel waren akkurat lackiert. Sie lächelte die ganze Zeit. In diesem Moment hat sie wirklich an die Liebe geglaubt. Wir sind zum Standesamt gefahren und trafen da mit den Trauzeugen zusammen.

Ich habe mich geschämt an diesem Tag, als sie von ihren Freunden Geschenke überreicht bekommen haben. Also habe ich mich aus dem Trubel geschlichen und habe mir zusammengesucht, was ich finden konnte, ich weiß es noch heute: zwei leere Weinflaschen, das rosafarbene Papier vom Schlachter, eine leere Zigarettenschachtel und ein Stift. Daraus bastelte ich dann ein Brautpaar, was ich stolz als Dekorationsgeschenk präsentierte. Meine Mutter stellte es auf die Anrichte, zu den anderen Geschenken. Ich habe immer wieder hingeguckt in der Hoffnung, dass irgendjemand meinem Blick folgen würde und mich loben würde. Ich wollte, dass jemand darin nicht unsere Armut erkannte. In meiner Fantasie waren es zwei teuer gestaltete Puppen, und ich hoffte, irgendjemand würde es genauso sehen.

Am nächsten Tag war die kirchliche Trauung. Ich streute Blumen und fand es großartig. Es war eine richtige Feier. Wir gingen in ein Gasthaus, es gab Musik und leckeres Essen, und es waren andere Kinder da, mit denen ich spielen und tanzen konnte. Ich hatte den Schrecken vergessen und genoss den Moment. Eine Schutzreaktion, die mich mein Leben lang begleitet.

Es wurde nichts besser, es wurde nichts einfacher. Ehrlich gesagt, von diesem Augenblick an ging es steil bergab, und ich kam langsam in das Alter, in dem ich anfing, die Welt zu realisieren. Doch ich wollte die Welt, wie sie ist, nicht sehen und flüchtete mich in Träume, floh in eine mir eigene Welt, die mich lachen ließ und in der ich etwas Besonderes war.

Als ich am nächsten Tag zur Schule ging, wusste ich, dass meine Mutter gemeinsam mit meiner Schwester und meinem neuen Stiefvater weg sein würde. Ich spielte auf dem Heimweg mit einem Jungen, und wir beschlossen, nachmittags weiter zu spielen. Zu Hause waren noch letzte Reste von den Festen. Ungespülte Teller stapelten sich im Waschbecken, vollgerauchte Aschenbecher standen in eingetrockneten Weinflecken auf den Tischen, die Katzen schliefen satt und glücklich zusammengerollt inmitten des Drecks. Anscheinend hatten sie die Teller ein bisschen vorgespült und sich die leckersten Reste von ihnen geklaut. Die Styroporkisten vom Partyservice stapelten sich in der Küche. Mir war ihr Wert nicht bekannt. Als der Junge nachmittags zum Spielen kam, spielten wir Zoo. Wir nahmen die Kisten als Käfige, hauten Löcher hinein, damit die Tiere atmen konnten, und reihten sie alle hübsch säuberlich auf. Den ganzen Tag spielten wir. Als er ging, ging ich ins Bett, die anderen waren noch nicht zurück und ich hatte nicht zu Abend gegessen.

Ich wurde wach, vom hysterischen Schimpfen meiner Mutter: „Dieses Kind ...“ Es ist komisch, aber in meiner Erinnerung war ich immer „dieses Kind“, irgendetwas Nicht-Zugehöriges, was zufällig mal da war. Meine Schwester war immer „meine Tochter“. Sie war ihre ganze Kindheit lang ein Traumkind, so ruhig, so unauffällig, dass sie an meinem Leben irgendwie total vorbeigegangen ist.

Es gab nie etwas gemeinsames, etwas, das uns verbunden hätte. Als kleine Einzelkämpferinnen buhlten wir, eine jede auf ihre Art, um die Liebe unserer Mutter und fanden dabei nicht zueinander.

So still wie sie war, so laut war ich. Ich war immer weg, in mir tobte es, ich fand mein Leben ungerecht, und das habe ich immer lautstark von mir gegeben. Heute weine ich leise.

Ich hatte Angst, als die Tür aufging, denn ich wusste, dass mich niemand fragen würde, wie mein Tag war, ob ich was gegessen hatte, ob es mir gut ging. Ich wurde von einer rauen, starken Hand am Nacken gepackt und an den Haaren aus dem Bett gezogen. Mein Stiefvater schleifte mich ins Wohnzimmer.

Meine Schwester saß still auf ihrem Stuhl und träumte sich in eine andere Welt. Ich weiß nicht, ob sie je auch nur ein bisschen von meiner Art zu leben verstanden hat. Definitiv hat sie immer verstanden, dass ich schwierig bin, und dass ich unserer Mutter viele Sorgen bereitete. Manchmal frage ich mich sogar, ob so mancher böser Gedanke durch ihren Kopf geht, wenn sie über den frühen Tod unserer Mutter nachdenkt.

Meine Mutter stand erst mit dem Rücken zu mir. Sie drehte sich schwer atmend um. Ein leicht alkoholischer Geruch strömte von ihr und meinem Stiefvater auf mich ein. Sie rauchte. Ihre Mimik war einer Theatermaske gleich zwanzig Jahre gealtert, ihre Figur war eine absonderliche Mischung aus graziler Dame und zerschlagener Frau. Sie sprach mit schwerer Stimme, sie schrie nicht, sie weinte schwermütig und hielt mir eine Predigt, die nicht enden wollte, und die – wie immer – allumfassend war. Die Wut über meinen Vater tauchte darin auf, über mein generelles Ich und überhaupt alles an mir. Immer wieder schaute sie meine Schwester und meinen Stiefvater bedeutungsschwanger an, als ob sie dem noch schwerwiegendere Aspekte hinzufügen wollte. Sie beendete ihren Vortrag mit dem Satz: „Aber nun haben wir ja wieder einen Mann im Haus“, sie nickte meinem Stiefvater zu.

Er schob mich zurück in unser Kinderzimmer und legte mich über einen Stuhl. Ich weiß nicht mehr, ob es seine Hand oder sein Gürtel war, es erschien mir auf jeden Fall unendlich, und die Schmerzen zogen durch den ganzen Körper. Ich konnte so laut gar nicht schreien und weinen. Und ich weiß auch nicht mehr, was mehr wehtat, die Schläge oder dieses Gefühl des Alleinseins.

Ich war sieben Jahre alt. Heute glaube ich, dass das Alleinsein am stärksten schmerzte, neben dem Wissen, dass der Mann im Haus nicht für mich und somit auch nicht für mein Vertrauen da war.

Es war nie jemand da, der mir sagte, tu dies nicht, tu das nicht, hier ist dein Essen, wie war dein Tag. Unsere Mutter ist nie morgens mit uns aufgestanden und hat uns Frühstück gemacht, wir hatten auch keine Brote dabei oder eine Mark, von der wir uns was kaufen konnten. Bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr aß ich nur, wenn mir etwas gegeben wurde. Dies bedeutete, dass ich an der Ganztagsschule mein Mittagessen bekam, und wenn meine Mutter gekocht hatte (das war abhängig von ihrer Stimmung und unserer finanziellen Situation) abends eine weitere Mahlzeit. Ich konnte Tage ohne Essen verbringen oder aber fressen wie ein Scheunendrescher. Als ich vierzehn Jahre alt war, wurden die Lehrer darauf aufmerksam, dass ich unterernährt war. Zu dieser Zeit grassierte an unserer Schule eine Welle von Bulimie und Magersucht. Ihnen lag die Vermutung nahe, dass auch ich magersüchtig sei. Eine wirkliche Magersucht hatte ich nie. Es war nur Protest. Wenn ich den einen oder anderen Tag zu schwer oder zu ausweglos empfand, er mich wortwörtlich angekotzt hat, kam es vor, dass ich eine Nacht über der Toilettenschüssel verbrachte und spuckte. Der Grund lag nie in einem Schönheitsideal. Vielmehr war es ein Signal, meine Art, die Außenwelt auf meine Innenwelt aufmerksam zu machen. Der Schönheitswahn und die harte Kritik mir selbst gegenüber kamen erst viele Jahre später. Dennoch ertappe ich mich heute noch dabei, dass ich mir wünsche abzunehmen, wenn es mir nicht gut geht. Das Gesicht kann man überschminken, eine schlackernde Hose bleibt sichtbar. Ich fühle mich verstanden, wenn jemand seine Hand vor den Mund schlägt und sagt: „Mein Gott, bist du dürr geworden.“

Meine Schwester und ich sind so unterschiedlich, wie zwei Menschen nur sein können. Rückblickend war meine Schwester immer still und zurückhaltend. Sie konnte Tage in ihrem Zimmer verbringen, ein Buch lesen oder die Wand anstarren, sie war sehr in sich gekehrt. Von klein auf hatte sie einen absonderlichen Drang zu Reinheit und Sauberkeit. Ihr Zimmer war immer akkurat aufgeräumt und makellos waren alle Flächen geputzt. Nie lag irgendwo Staub rum, ihr Zimmer war so klinisch rein, dass es mir fast unbelebt vorkam. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich nicht daran erinnern, jemals lang in ihrem Zimmer gewesen zu sein, geschweige denn mit ihr gesprochen zu haben.

Mein Zimmer war immer ein einziges Chaos, ein Drecksloch sozusagen oder ein Handgranatenwurfstand, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Und ich glaube, ich war unglaublich dreckig als Kind. Ich wurde in der Schule immer von allen gemieden, weil ich stank, weil ich blöd war, weil ich komisch gekleidet war, und weil ich mir die Realitäten so erfand, wie sie für mich erträglich waren. Und ehrlich, ich kann mich auch nicht daran erinnern, mich sonderlich oft gewaschen zu haben.

Dennoch gab es immer Engel in meinem Leben, Menschen, die es gut mit mir meinten und, die für mich da waren. Menschen, die mich wie kleine Inseln umgaben, mich all die Jahre über einen kleinen Schritt weiter brachten, kleine Wunder aus dem Nichts, die sich zu mir herunterbeugten und mir ihre Hände reichten.

Habe ich mich je richtig bedankt?

Einer dieser Engel war Frau Krüger, eine alte Dame, die wir schon aus der Referendariatszeit meiner Mutter kannten, in der sie für meine Schwester und mich die Tagesmutter war.

Frau Krüger hatte grau-weiß gelocktes Haar, war ein wenig rundlich und hatte dieses milde, wissende Lächeln, so, als wenn sie nichts aus der Ruhe bringen könnte. So, wie eine richtige Oma.

Als sie noch unsere Tagesmutter war, lebte sie in einem riesigen Haus, mit einem riesigen Garten, in dem wir Kinder spielen konnten. Und manchmal übernachteten wir in dem Zimmer direkt unter dem Dach. Und ich liebte es, in dem alten, riesigen Bett zu schlafen und den Regentropfen zuzuhören, wie sie donnernd und drohend oder fröhlich und tanzend auf das Dach prasselten. Ich liebte es, dem Knacken des alten Holzes zuzuhören, nachts, wenn das Haus müde atmete, und ich versank voll Glück in der alten ausgelegen Matratze, die mich fast ganz verschluckte.

Noch bevor ich in die Grundschule kam, zog Frau Krüger in eine kleine Wohnung näher an der Innenstadt. Vielleicht wurde ihr die Arbeit in dem großen Haus zuviel, vielleicht fühlte sie sich aber auch einfach nur einsam. Nachdem ihr Mann verstorben war und ihre Kinder ausgezogen waren, fühlte sich vielleicht erdrückt von den Erinnerungen des alten Hauses.

Ich war in der zweiten Klasse und wurde zum Direktor gerufen. Während die anderen Kinder Religionsunterricht hatten, saß ich auf dem Stuhl vor dem Sekretariat und überlegte, wie ich meine Hände halten sollte, so dass man den Dreck unter den Fingernägeln nicht sah. Immer, wenn keiner schaute, schob ich eine Kante eines Fingernagels vorsichtig über meine spitzen Eckzähne, doch so sehr ich mich auch bemühte, die Arbeit war vergebens.

Ich saß ziemlich lange auf dem Stuhl, hatte schon mehrmals die weißen und die schwarzen Fliesen gezählt, hatte die Bilder betrachtet, die Schiffe, die Vögel, die Bäume gezählt, hatte die Namen der malenden Kinder gelesen und wusste, dass in der Vitrine getöpferte Sachen ausgestellt waren. Ich hatte meine Hände unter den Pobacken versteckt, schlackerte mit den Füßen und zählte die Lampen an der Decke.

Dann ging die Tür auf und ich wurde hereingebeten.

Der in meiner Fantasie böse Direktor war eine Frau, die mich freundlich anlächelte und mir einen Platz ihr gegenüber anbot. Ein Erwachsenenstuhl, auf dem ich ein wenig verloren saß und sie fragend ansah.

„Kannst du dir vorstellen, warum ich dich zu mir gebeten habe?“, fragte sie mich und lächelte. Ich zog die Schultern hoch.

„Deine Lehrerin, Frau Spatz … das ist doch deine Lehrerin?“ Sie sah mich kurz an, und ich nickte. Irgendetwas machte mir Angst, aber ich konnte es nicht benennen. Ich ließ meine Schuhspitzen nach außen und nach innen klappen und nahm mir vor, nie wieder woanders hinzuschauen als auf meine Fußspitzen. Vielleicht passierte dann nichts Schlimmes.

„Nun, Frau Spatz hat mir erzählt, dass sie ein wenig hilflos sei, da du seit Wochen keine ordentlichen Schulsachen dabei hast.“ Ich versuchte nur auf die Fußspitzen zu sehen und ihr gar nicht zuzuhören, doch die Fußspitzen fingen langsam an zu verschwimmen. Meine Augen füllten sich immer weiter mit Tränen und legten bunte Regenbogenstreifen um meine Schuhe. Ich wollte hier nicht mehr sein.

Die Direktorin sprach weiter: „Frau Spatz hat mir auch erzählt, dass sie schon mehrmals mit dir gesprochen hätte und auch schon versucht hätte Kontakt zu deiner Mutter aufzunehmen. Nur leider ohne Erfolg.“

Nur auf die Fußspitzen schauen …

„Um in die Schule zu gehen brauchst du Sportzeug, also Turnschuhe, du brauchst Hefte, Bücher, Stifte … all dies hast du aber nie dabei. Nun sag mir, Cécile, liegt das daran, weil du immer vergisst es mitzunehmen, oder hast du es einfach nicht?“

Nun waren die Fußspitzen völlig hinter einer dicken, tropfenden Nebelwand verschwunden. Ich weinte. Natürlich könnte ich sagen, dass ich dies tatsächlich nicht besaß, natürlich könnte ich meiner Mutter in den Rücken fallen und sagen, dass sie darauf nicht achtete und dass wir kein Geld für so was hatten. Doch ich konnte das nicht sagen. Ich hätte nie etwas gegen meine Mutter gesagt. Also saß ich da, die Augen heulend an meinen Füßen klebend, und sprach bildlich Bände, doch ich sagte nur: „Ich weiß nicht.“

Ich bekam einen Brief mit, den ich meiner Mutter geben sollte, und durfte wieder in den Unterricht gehen. Als ich die Tür öffnete, grinsten mich die anderen Kinder an, vielleicht dachten sie, ich wäre von der Schule geschmissen worden. Ich war mir sicher, dass sie sich das wünschten. Von allen Seiten kam dieses Gefühl, nicht gewollt zu sein und nicht dazuzugehören.

Ich setzte mich auf meinen Platz und malte die Arche Noah auf ein Stück Papier, genau, wie alle anderen Kinder auch.

Die Miene meiner Mutter verfinsterte sich deutlich, als ich ihr den Brief in die Hand drückte. Sie las ihn, legte ihn beiseite und sah mich ernst an.

„Kannst du mir das mal erklären, Frollein?“

Während ich vor anderen oft „dieses Kind“ war, war ich in der direkten Anrede von ihr oft die hessische Variante der von ihr verhassten Anrede Fräulein.

Es gab nur wenige Worte, in denen ihre hessische Wurzel zum Ausdruck kam, neben den Worten Kirsche, Kirche, Tisch und Fisch, die aus ihrem Mund die Kirsche und die Kirche vertauschten und aus dem Tisch einen Tich machten, sprach sie dialektfrei.

Sie hielt mir den Brief entgegen und in ihren Augen spiegelte sich blank und deutlich ihre Enttäuschung. Und auch wenn ich ihr so gerne erzählt hätte, wie ich empfand und wie die Geschichte aus meiner Sicht aussah, spürte ich diese Schwere, die mich runterzog, die mir sprachlos die Tränen in die Augen trieb und ich hörte, wie es in meinem Kopf hämmerte „Du bist ein schlechter Mensch! Keiner will dich! Du machst alles kaputt!“

Doch parallel dazu, war da auch meine Wahrheit …

Kurz vor den ersten großen Sommerferien hatte ich einen Joghurt mit zur Schule genommen. Ich hatte den Becher einfach in meinen Ranzen getan. Durch das Ruckeln auf den Weg zur Schule war der Becher geplatzt.

Ich weiß noch, wie ich die Schnappverschlüsse geöffnet habe und eine weiße, klebrige Hand aus meinem Ranzen hervorholte. Ich hatte mich wahnsinnig erschrocken und entsetzt „igitt“ gerufen. Die Kinder lachten. Die Lehrerin wies mich an, die Sachen aus dem Ranzen zu nehmen und ihn auszuwaschen. Die Hefte waren nicht zu retten und wurden weggeworfen. Die Bücher wurden abgewischt, Seite für Seite, und auf der Heizung zum Trocknen ausgelegt. Der Ranzen wurde, so gut es ging, ausgewaschen.

Zu Hause bekam ich riesigen Ärger, wie ich denn auf die Idee kommen könnte, mir einen Joghurt mit zur Schule zu nehmen, das wäre doch logisch, dass der auslaufen würde.

Dabei war ich so stolz auf meinen Weg zur Schule. So stolz, dass ich morgens alleine in den Kühlschrank geschaut hatte, dass ich mir einen Becher Joghurt heraus genommen hatte und – genau wie alle anderen Kinder auch – in der Pause etwas zu essen haben würde. Ich bin glücklich, euphorisch zur Schule gehüpft (was den Joghurt wohl zum Platzen brachte). Denn an diesem Tag würde ich dazu gehören, ich würde wie alle anderen Kinder auch in der Pause in meinen Ranzen greifen und mein Essen rausholen.