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Ich trat hinaus und lief schnell über das Gras an der hell erleuchteten Küche vorbei. Der Lichtschein aus dem Fenster hob ein Stück vom Rasen und den großen Feigenbaum mit unheimlicher Klarheit aus der Dunkelheit hervor. Dahinter lag die Nacht wie glatter, schwarzer Samt.
Da vernahm ich plötzlich ein Geräusch und blieb lauschend stehen. Sehr vorsichtig tastende Schritte auf dem Gras. Jemand war unmittelbar hinter mir.
Ich drehte mich um, und die Angst griff mir an die Kehle. Ich war nahe daran zu schreien, als eine Stimme sagte: »Gilly! Guter Gott! Bist du neuerdings von Wanderlust besessen, oder was ist los?«
Es war Finchs Stimme ganz dicht bei mir. Ich stieß den Atem mit einem zitternden Seufzer der Erleichterung aus. »Du hast mich aber erschreckt.«
Er legte die Hand auf meinen Arm. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, hätte aber den Druck seiner langen, knochigen Finger jederzeit erkannt. In ihrer Berührung lag nichts Beruhigendes. Sie durchzuckte mich, als sei ich mit einem elektrischen Kabel in Kontakt gekommen...
Heather Gardiner (* 1924; † 1954) schrieb nur zwei Romane, die jedoch zu weltweiten Bestsellern wurden: Hotel der toten Gäste (1951) und Wettlauf mit der Vergangenheit (1953). 1954 verunglückte sie bei einem Autounfall tödlich.
Ihr Roman Hotel der toten Gäste war überdies die literarische Vorlage für den gleichnamigen deutsch-spanischen Kriminal-Film aus dem Jahr 1965 (Regie: Eberhard Itzenplitz) mit Joachim Fuchsberger als Barney Blair, Karin Dor als Gilly Powell, Frank Latimore als Larry Cornell, Hans Nielsen als Inspektor Forbes und Gisela Uhlen als Ruth Cornell.
Der Apex-Verlag veröffentlicht die Romane von Heather Gardiner als durchgesehene Neuausgaben in seiner Reihe APEX CRIME und macht diese Krimi-Klassiker erstmals seit über fünfzig Jahren wieder in deutscher Sprache verfügbar.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
HEATHER GARDINER
Wettlauf mit der
Vergangenheit
Roman
Apex Crime, Band 101
Apex-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
Die Autorin
WETTLAUF MIT DER VERGANGENHEIT
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehntes Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Ich trat hinaus und lief schnell über das Gras an der hell erleuchteten Küche vorbei. Der Lichtschein aus dem Fenster hob ein Stück vom Rasen und den großen Feigenbaum mit unheimlicher Klarheit aus der Dunkelheit hervor. Dahinter lag die Nacht wie glatter, schwarzer Samt.
Da vernahm ich plötzlich ein Geräusch und blieb lauschend stehen. Sehr vorsichtig tastende Schritte auf dem Gras. Jemand war unmittelbar hinter mir.
Ich drehte mich um, und die Angst griff mir an die Kehle. Ich war nahe daran zu schreien, als eine Stimme sagte: »Gilly! Guter Gott! Bist du neuerdings von Wanderlust besessen, oder was ist los?«
Es war Finchs Stimme ganz dicht bei mir. Ich stieß den Atem mit einem zitternden Seufzer der Erleichterung aus. »Du hast mich aber erschreckt.«
Er legte die Hand auf meinen Arm. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, hätte aber den Druck seiner langen, knochigen Finger jederzeit erkannt. In ihrer Berührung lag nichts Beruhigendes. Sie durchzuckte mich, als sei ich mit einem elektrischen Kabel in Kontakt gekommen...
Heather Gardiner (* 1924; † 1954) schrieb nur zwei Romane, die jedoch zu weltweiten Bestsellern wurden: Hotel der toten Gäste (1951) und Wettlauf mit der Vergangenheit (1953). 1954 verunglückte sie bei einem Autounfall tödlich.
Ihr Roman Hotel der toten Gäste war überdies die literarische Vorlage für den gleichnamigen deutsch-spanischen Kriminal-Film aus dem Jahr 1965 (Regie: Eberhard Itzenplitz) mit Joachim Fuchsberger als Barney Blair, Karin Dor als Gilly Powell, Frank Latimore als Larry Cornell, Hans Nielsen als Inspektor Forbes und Gisela Uhlen als Ruth Cornell.
Der Apex-Verlag veröffentlicht die Romane von Heather Gardiner als durchgesehene Neuausgaben in seiner Reihe APEX CRIME und macht diese Krimi-Klassiker erstmals seit über fünfzig Jahren wieder in deutscher Sprache verfügbar.
Heather Gardiner (* 1924; † 1954).
Heather Gardiner war eine australische Kriminal-Schriftstellerin.
Sie studierte an der Universität von West-Australien in Perth und war anschließend als Buchhändlerin und Bibliothekarin tätig. Sie verfasste zwei Kriminal-Romane, die zu internationalen Bestsellern wurden: Hotel der toten Gäste (1951, verfilmt im Jahre 1965) und Wettlauf mit der Vergangenheit (1953). Kurz nach Veröffentlichung ihres zweiten Romans wurde der schriftstellerischen Laufbahn dieser höchst vielversprechenden jungen Autorin ein jähes Ende bereitet: Sie verunglückte 1954 bei einem Autounfall tödlich.
Es war an einem heißen, schwülen Nachmittag, als ich Lisa traf.
Sie saß an einem Tischchen des kleinen Cafés und starrte auf die belebte Straße hinaus, aber ich glaube, sie nahm weder die Kette der am Fenster vorbeieilenden Gesichter, noch den endlosen Strom des Verkehrs auf der asphaltierten Fahrbahn in sich auf. Sie schien aus der Welt der Wirklichkeit in eine Traumwelt hinübergewechselt zu sein, in der Zeit und Raum aufgehört hatten zu existieren. Der sanfte Schwung ihrer weichen roten Lippen erinnerte mich an das berühmte Lächeln der Mona Lisa.
Deshalb taufte ich sie heimlich Lisa. Später lernte ich auch ihren richtigen Namen kennen, aber für mich hieß sie von diesem ersten Moment an Lisa.
Sie war weder gut angezogen noch schön oder interessant und sicherlich kein Mädchentyp, über den ich in meiner täglichen Gesellschaftsklatschspalte in der Sydney Daily Times hätte berichten können. Nichts Auffallendes war an ihr, und doch wird mir ihr Gesicht noch lange im Gedächtnis bleiben, nachdem andere, schönere und bedeutendere, längst daraus entschwunden sind. Ich sehe sie noch deutlich vor mir, wie damals in dem Café. Sie wirkte sehr lieb, etwas scheu und ein ganz klein wenig traurig.
Ich kam von einer mondänen, aber anstrengend langweiligen Lunchparty auf dem Rückweg in mein Büro gerade an diesem kleinen Café vorbei, und meine Füße - oder war es mein Schicksal? - trugen mich fast automatisch durch die breiten Schwingtüren hinein. Es war ein drückender und ermüdender Tag, und ich fühlte so etwas wie Selbstmitleid, denn am Abend musste ich noch eine Cocktailparty besuchen, während alle meine Freunde es vernünftigerweise vorgezogen hatten, der Hitzewelle durch einige Urlaubstage zu entgehen. Sogar Barney, Sportreporter und nebenbei Glanzpunkt meines arbeitsreichen Alltags, hatte für sich einen Ausflug nach Melbourne bewerkstelligt, um über die dort stattfindenden Länderkämpfe zwischen England und Australien zu berichten.
Das Café war beinahe leer, denn für die üblichen Nachmittagsbesucher war es noch zu früh. Mabel, die Kellnerin, bewegte sich träge auf mich zu und fuhr sich matt mit der Hand über das platinblonde Haar.
»Eine abscheuliche Hitze, Miss Amery, nicht wahr?« Dabei musterte sie beifällig mein weißes Leinenkleid und den breitrandigen Hut. »Gehen Sie hinüber ans Fenster. Dort, unter dem Ventilator, ist der einzige kühle Platz im ganzen Laden.«
Und als ich auf den bezeichneten Tisch zutrat, da erblickte ich Lisa. Das merkwürdige Lächeln spielte um ihre Mundwinkel, und in ihren blauen Augen lag ein abwesender, verträumter Ausdruck.
Ich setzte mich auf den freien Platz ihr gegenüber, und sie wendete mir langsam das Gesicht zu, nahm mit müder Bewegung die Zeitung auf, die neben ihrem Ellbogen lag, und begann die Nachrichten zu lesen, die aber anscheinend ihre Aufmerksamkeit wenig zu fesseln vermochten. Dann blätterte sie zu den Gesellschaftsnotizen um und ließ ihre Augen darüber hingleiten.
Ich musste lächeln. Die Zeitung, die sie studierte, war die Sydney Daily Times, und der Beitrag, der sie so viel stärker gefangen zu nehmen schien als der politische Leitartikel, war meine Klatschspalte.
Mabel tauchte mit einem Tablett auf und setzte es klirrend vor mich hin, während ich mein Notizbuch und meinen Füller zur Hand nahm und mir über die eben besuchte Lunchparty ein paar Anmerkungen machte.
Lisa rührte gleichgültig in ihrem Tee, und als ich einmal von meiner Schreiberei aufsah, begegnete ich ihren neugierig interessierten Blicken. Ich steckte die Notizen ein und zündete mir eine Zigarette an.
Sie schob mir den Aschenbecher zu, und als ich ihr mit einem Lächeln dafür dankte, schaute sie mich so direkt an, als wollte sie zu mir sprechen, wüsste aber nicht, wie sie anfangen sollte. In diesem Augenblick erfasste ich, wie einsam sie war.
»Es ist schrecklich heiß, nicht wahr?«
Ihr Gesicht hellte sich dankbar auf, und sie antwortete rasch, als fürchtete sie, ich könnte das Gespräch wieder fallenlassen: »Oh, ja! Aber ich werde mich schon daran gewöhnen. Immerhin besser, als diese Eiseskälte.«
Sofort wünschte ich, sie hätte nichts gesagt. Die etwas ordinäre, flache Stimme beraubte ihr Gesicht seiner ätherischen Entrücktheit, die Mona-Lisa-Ähnlichkeit war verschwunden, und stattdessen saß ein ganz hübsches Mädchen vor mir, älter, als ich zunächst angenommen hatte, mit blauen Augen und einem Cockney-Akzent.
Über die Herkunft dieses Akzents war ich mir so sicher, dass ich sie sogleich fragte: »Was brachte Sie zu dem Entschluss, nach Australien zu kommen?«
Sie blickte in die zarten Dampfschleier, die aus ihrer Tasse aufstiegen, und zuckte die Schultern. »Schwer zu sagen. Meine Eltern wurden durch Bomben getötet. So waren noch mein Bruder und ich da. Und Jock...« Sie machte eine Pause. »Als Jock... auch... da wollte ich weg. Er war bei der Luftwaffe.« In ihrer Stimme lag Stolz. Offenbar hatte sie ihren Bruder angebetet. »Ich musste immer daran denken«, fuhr sie schnell fort, »was er von Australien gesagt hatte, dass es schön sei, dort zu leben. Er kannte eine Menge Australier, und wenn er heimkam, erzählte er viel von Melbourne und Sydney und den großen Rinderfarmen auf dem Lande. Mam und Dad lachten darüber und meinten, eines Tages müssten wir uns das alles selbst ansehen. Deswegen, glaube ich, bin ich hergekommen. Eine Art Versprechen, das ich einlöse.«
Arme, kleine Lisa.
»Wie schade, dass Ihr Bruder nicht mit dabei sein kann«, sagte ich mitfühlend. »Aber ich bin sicher, Sie werden hier viele Freunde finden.« Ich hoffte es für sie.
Sie warf mir einen raschen Blick zu und lächelte. »Ich bin erst seit zwei Monaten hier und hatte schon ziemlich viel Glück, denn ich bekam sofort eine Anstellung in einem Hotel in Melbourne. Und dann, als das Mädchen, das ich vertrat, wieder da war und sie mich nicht mehr brauchen konnten, dachte ich, ich versuche mal in Sydney.« Sie zuckte noch einmal leicht die Schultern. »Nach Hause zurück kann ich ja schließlich jederzeit.«
»Wohnen Sie bei Freunden in England oder bei Verwandten?« Es interessierte mich, zu wissen, was eigentlich für ein Mädchen, dessen Eltern und Bruder im Krieg umgekommen waren, zu Hause bedeutete.
Sie schüttelte den Kopf. »Das Kloster ist jetzt eine Art Heimat für mich. Sie waren großartig zu mir. Nahmen mich nach dem Bombenangriff auf und sorgten für mich und fragten nichts weiter. Ich war schrecklich elend.«
Sicher war sie sich der kleinen Bewegung nicht bewusst, mit der ihre Finger nach dem kleinen Goldkreuz fassten, das an einem dünnen Kettchen um ihren Hals hing. Mir schien, die Schwestern hatten sich um ihr Seelenheil nicht weniger gesorgt als um ihr körperliches Wohlbefinden.
Und teils weil ich von ihrer Verlorenheit angerührt war, teils um ihr zu zeigen, dass die Nonnen des Klosters nicht die einzigen Menschen auf der Welt waren, die Fremden Freundlichkeit entgegenbrachten, zog ich mein Notizbuch hervor, riss eine Seite heraus, kritzelte darauf meinen Namen und meine Telefonnummer und gab sie ihr.
»Rufen Sie mich doch einmal an und erzählen Sie mir, wie Sie weiterkommen. Und wenn Sie keine passende Arbeit finden, kann ich Ihnen sicher helfen. Ich kenne eine Menge Leute.«
Sie griff danach, wie ein Ertrinkender nach einem Strohhalm. »Ich danke Ihnen. Das will ich gern tun.« Das aufleuchtende Lächeln in ihren Augen verlieh ihrer durchschnittlichen Hübschheit etwas beinah Auserwähltes und Kostbares.
Sie öffnete ihre braune Handtasche und steckte meinen Zettel in eine Ecke. Dann zögerte sie und brachte gleich darauf einen dicken Umschlag zum Vorschein, in dem sie so lange suchte, bis sie ein Foto in der Hand hielt, das sie mir mit den Worten über den Tisch reichte: »Dies ist eins von Mam und Dad, und hier ist unser alter Hund Toby. Es ist kurz vor dem Krieg auf genommen.«
Es war eine stark kolorierte, ziemlich abgegriffene Bildkarte, die ihre Eltern auf einem altmodischen Sofa sitzend zeigte, einen Hund zu ihren Füßen. Viel Ähnlichkeit konnte ich zwischen Lisa und ihren Eltern nicht erkennen, denn im Gegensatz zu ihren etwas groben Gesichtern war das von Lisa unerwartet feingebildet. Sicher waren sie auf ihre Tochter sehr stolz gewesen.
Während ich noch die üblichen, anerkennenden Bemerkungen murmelte, hatte ich plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich spürte es so deutlich, als hätte sich mir eine Hand auf die Schulter gelegt. Schnell hob ich den Kopf.
Ein Mann saß am Nebentisch. Ich hatte ihn nicht hereinkommen sehen. Eine Sekunde lang trafen sich unsere Blicke, dann senkte ich den meinen wieder auf das Foto in meiner Hand. Etwas Kaltes und Erschreckendes lag in diesen fahlen, blauen Augen. Ich gab Lisa das Bild zurück, und sie steckte es wieder ein.
»Es ist höchste Zeit, dass ich ins Büro gehe«, sagte ich, indem ich meine Geldbörse herausnahm und versuchte, Mabels Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
Wieder spürte ich den beobachtenden Blick der unbekannten Augen auf mir ruhen.
»Oh, Sie wollen schon fort?«, fragte Lisa mit einem leisen Unterton der Enttäuschung.
Ich lächelte ihr freundlich zu. »Eigentlich müsste ich längst bei der Arbeit sein. Je mehr Zeit ich hier versäume, desto länger muss ich in der Redaktion bleiben, um fertig zu werden. Sonst haben Sie morgen in der Sydney Daily Times keine Gesellschaftsnotizen zu lesen.«
Sie schaute noch einmal in die Zeitung auf dem Tisch.
»Kennen Sie alle diese Leute?«
Ihr Finger zeigte auf das ziemlich unscharfe Foto der Familie Welch. Es war eine jener kitschigen Serien, die wir gerade unter der Überschrift Bekannte Persönlichkeiten im eigenen Heim veröffentlichten.
Kein gutes Foto, und doch, als ich es jetzt betrachtete, fand ich, dass es die Atmosphäre der Welchs besonders treffend wiedergab. Sogar ein Uneingeweihter erkannte den Stolz und die Bewunderung in Johns Blick, mit dem er sich seiner überraschend jungen Frau zuwandte. Und obgleich der Schwarzweißdruck den exquisiten Farben Mirandas nicht gerecht wurde, so zeigte er doch das schöne Oval ihres Gesichts, die hohen Backenknochen und den glatten, formvollendeten Kopf. Dagegen fiel Clare etwas aus dem Rahmen, stellte ich fest. Das Lächeln, das sie Miranda schenkte, war zu zuckersüß und zu falsch. Es war absichtlich dazu bestimmt, alle Welt von der Harmonie und dem gegenseitigen Respekt zu überzeugen, der zwischen ihr und ihrer Stiefmutter herrschte. Hinter Clare, die eine Hand leicht auf ihre Schulter gelegt, stand ihr Verlobter, Dr. Tony Cambray, ein solide aussehender, zuverlässiger Mann, der seine Anzüge mit der selbstverständlichen Leichtigkeit und Sicherheit eines in den besten Schulen erzogenen jungen Menschen trug, dessen gesellschaftliche Position niemals umstritten war, weil er zufällig in eine der ersten Pionierfamilien Australiens hineingeboren worden war.
Ich musste noch jetzt beim Gedanken an Clares Protest lächeln, als ich zuerst dieses Familiengruppenbild vorgeschlagen hatte, Aber am Ende hatte sie dann nachgegeben.
Und in einem kleinen Café in Sydneys verkehrsreichster Straße brütete jetzt ein englisches Mädchen, das wahrscheinlich niemals vorher etwas von der Familie Welch gehört hatte, über diesem Bild, als sei es ein neuveröffentlichtes Porträt aus dem Buckingham Palast.
Ich sah mich suchend nach Mabel um und wünschte, sie würde endlich auftauchen. Der Mann am Nebentisch wandte mit scharfer Bewegung seinen Kopf ab und heftete die fahlen, blauen Augen auf seine Hand, die müßig auf dem karierten Tischtuch lag. Es war eine feste, kräftige Hand mit starken Fingern.
Aber er hatte sich zu plötzlich weggedreht. Ich wusste genau, dass sich unsere Blicke wieder, begegnet wären, hätte ich nur den Bruchteil einer Sekunde eher aufgeschaut.
Ich fühlte mich belästigt und fragte mich verwundert, was wohl an meinem Gesicht nicht in Ordnung war. Nachdem ich aber meinen Handspiegel herausgekramt und mich prüfend darin beguckt hatte, fand ich, dass ich nicht anders aussah als gewöhnlich, höchstens etwas überanstrengt.
»Sie sieht aus wie ein Filmstar«, sagte Lisa und schien sich nicht von dem Bild losreißen zu können. Sie war völlig in den Anblick der Welchs versunken, und zwischen ihren Augen kerbte sich eine grübelnde Stirnfalte ein. Doch dann leuchtete ihr Gesicht in plötzlicher Erkennungsfreude auf. »Natürlich! Sie wohnte damals im Hotel Oceana in Melbourne. Wunderhübsch war sie, und was für schöne Kleider sie immer hatte.«
Ich war mir nicht klar, ob sie Clare oder Miranda meinte. Möglich war beides. Denn alle zwei fuhren mit der gleichen raschen Entschlossenheit nach Melbourne, wie ich das Fährboot nach Kirrabilli nahm.
Ich klemmte meine Tasche unter den Arm und machte Anstalten zu gehen, denn ich hatte keine Lust, hier zu sitzen und mit Lisa über die Familie Welch zu sprechen. Es genügte mir vollauf, dass ich in ein paar Stunden eine langweilige, offizielle Cocktailparty in ihrem Haus besuchen musste. Und noch dazu an einem solchen Tag! Wenn es wenigstens etwas kühler wäre!
Ich beugte mich über den Tisch, um mich zu verabschieden. Aber meine Worte erstarben mir auf der Zunge, denn etwas an Lisa erweckte und fesselte meine Aufmerksamkeit. Sie hatte nichts gesagt und auch keine Bewegung gemacht. Sie schien mich vollkommen vergessen zu haben. Eine Stille war um sie, als ob sie den Atem anhielte und lauschte, gespannt, angestrengt und intensiv.
»Leben Sie wohl, Lisa!« Meine Stimme versuchte sanft die Mauer zu durchbrechen.
Sie hob die Augen, sah mich aber nicht an. Ich glaube, sie hörte mich nicht einmal. Mit einer harten Wendung warf sie den Kopf herum, als würde sie plötzlich gewahr, dass wir nicht allein seien, als spürte sie die Gegenwart eines Menschen mit feindlichen... oder irgendwie erschreckenden Absichten... ganz dicht in ihrer Nähe.
Die fahlen, blauen Augen vom Nebentisch trafen die ihren, hielten sie eine Sekunde lang fest und blickten wieder weg. Ich beobachtete den Mann, wie er in seiner Tasche nach Zigaretten und Streichhölzern suchte, beides in der Hand wog, es vor sich auf den Tisch legte und zu vergessen schien.
Ich sah zu Lisa zurück. Sie starrte auf die offene Zeitung, las aber nicht darin, denn das Papier raschelte in ihren zitternden Fingern wie Laub im Wind.
»Lisa! Was ist mit Ihnen?« Meine Stimme klang erschreckt und drängend, und ich war mir kaum bewusst, dass ich sie mit einem Namen anredete, den sie ja gar nicht kannte. »Sind sie krank?«
Ihr Gesicht war totenblass und ihre Augen groß und geistesabwesend.
»Oh, nein. Es ist nur die Hitze, glaube ich.«
Sie schloss ihre braune Tasche mit einem lauten Schnappen und faltete die Zeitung zusammen.
»Oh, nein«, sagte sie noch einmal mit einer kleinen, dünnen Stimme. »Mir geht es gut.«
Sie sprang heftig auf, floh zur Tür und bahnte sich ihren Weg auf den menschenüberfüllten Bürgersteig hinaus.
Ihr Aufbruch war so unvermittelt, dass er mich völlig überraschte. Vor mir auf dem Tischtuch glänzte und glitzerte etwas Kleines, Goldenes. Ich zögerte nur einen Moment, um es aufzunehmen, ehe ich in dem verzweifelt nutzlosen Versuch, sie einzuholen, zum Ausgang rannte. Ich hatte das Gefühl, ich müsste unbedingt wissen, was ihr fehlte.
Aber jemand kam mir zuvor, schlüpfte an mir vorbei auf die Straße und ließ mich an der Innenseite der Tür stehen, von wo aus ich hoffnungslos auf die bummelnden Passanten starrte, die den Fußweg bevölkerten. Lisa war so spurlos verschwunden, als hätte die Menge sie verschluckt.
Ich ging wieder zu meinem Tisch zurück. Lisa war nicht der einzige Mensch, der sich plötzlich in Nichts aufgelöst hatte. Der Tisch neben dem meinen war ebenfalls leer, die Tasse Kaffee stand fast unberührt, und ein Paket Zigaretten und eine Schachtel Streichhölzer lagen achtlos hinter dem Teller. Ein Zwei-Schilling-Stück thronte an der äußersten Kante des Tisches, wo das Tuch von einer eiligen Hand zurückgeschoben worden war.
Der fahläugige Beobachter war fort.
Wie merkwürdig, dachte ich, dass er hinter Lisa hergerannt war wie ein Wirbelsturm. Ganz unterbewusst fühlte ich eine leise Beunruhigung über diesen Vorfall.
Ich nahm meine Sachen auf, und als ich noch stand und auf Mabel wartete, fiel mein Blick wieder auf den Gegenstand, den ich noch in der Hand hielt. Es war ein kleines goldenes Kreuz.
Ich steckte es in meine Tasche und hoffte dabei, Lisa würde mich bald anrufen, denn irgendwie hatte ich den Eindruck, dass ihr das Kreuzchen sehr viel mehr bedeutete als nur ein Stückchen Gold, das an einem zerrissenen Kettchen hing. Und weil es ihr wertvoll war, wollte ich es ihr möglichst schnell wiedergeben. Vielleicht könnte ich eine Anzeige in die morgige Zeitung setzen lassen...
Mabel schwebte auf mich zu und gabelte im Vorübergehen das Geldstück vom Tisch, mit der Geschicklichkeit eines Vogels, der einen Wurm aufpickt.
»Das war ein Gentleman. So was sieht man sofort. Ein feiner Herr.«
Mabel hatte kein Urteil, entschied ich bei mir. Jedes männliche Wesen über Einundzwanzig sah in ihren Augen nach etwas Besserem aus.
»Sie hat’s wohl sehr eilig gehabt, wie?« Damit nickte sie zornig in Richtung auf Lisas leeren Platz. »Ihre Rechnung hat sie auch nicht bezahlt. Schauen Sie sich das an, Miss Amery, auf keinen Menschen kann man sich verlassen. Und sie wirkte so lieb und unschuldig...«
Ich schnitt ihr das Wort ab, denn ich war an ihrer Meinung über Lisa nicht interessiert. »Ich sagte ihr, dass ich für sie mitbezahlen würde. Wieviel?«
Ihre Augenbrauen gingen in die Höhe. »Eine Freundin von Ihnen, Miss Amery?« Ihr Ton war missbilligend. Mabel war in ihrer Art ein ausgemachter Snob.
Sie gab mir die Rechnung, ich zahlte und ging auf die heiße Straße hinaus, wobei ich mir den Gedanken an Lisa und den blassäugigen Fremden aus dem Kopf schlug, denn ich hatte mich schon reichlich verspätet.
Aber ich werde immer froh sein, dass ich meiner Eingebung folgte, die mich drängte, mit Lisa zu sprechen, und glücklich, dass ich ihr den kleinen Dienst erweisen und ihre vergessene Rechnung bezahlen konnte. Ich hoffe, meine Freundlichkeit, wenn sie sie überhaupt bemerkte, half ihr und ermutigte sie, denn Lisas Welt war hart und grausam und ohne Gnade.
Als ich nachmittags das Büro verließ, war die Hitze womöglich noch größer als mittags. Ein guter Vorwand, mir den Luxus eines Taxis zu gönnen.
Ich winkte einen Wagen herbei, sank dankbar hinein, stieß die Schuhe von mir und bewegte erleichtert die Zehen auf und ab. Der Fahrer schob seine Kappe nach hinten und kratzte sich den struppigen Haarschopf. »Wohin, Miss?«
Ich gab ihm meine Adresse und ließ mich in den weichen Sitz zurückfallen.
Fast fünf Uhr. In einer Stunde sollte ich in Coolibah sein, dem bezaubernden Heim der Welchs. Es half nichts, dass ich mich jetzt verfluchte, die Einladung zum Cocktail von 6 bis 8 angenommen zu haben, ich musste hingehen. John Welch war geschäftsführender Direktor einer der größten Konzerne in Sydney, The Stock and Station Co., und aus irgendeinem Grund galten seine Parties als wichtige gesellschaftliche Ereignisse. Niemand amüsierte sich auf ihnen, nichtsdestoweniger nahm jedermann von Bedeutung daran teil, und Frauen bemühten sich bereits Wochen im Voraus um Einladungen. Auf einer Party bei Welchs gesehen zu werden, war die erste Stufe auf der ehrgeizigen Leiter zum Erfolg. Ehefrauen zwängten ihre widerstrebenden Männer in neue Anzüge, warfen sich selbst in die letzten und teuersten Modelle und zogen aus mit der grimmigen Entschlossenheit, sich unter die Mächtigen zu mischen.
Armer John. Er war in ein ewiges Einerlei von Vergnügungen und Aufsichtsratssitzungen eingespannt. Nicht etwa, dass er es nötig gehabt hätte zu arbeiten. Es war einfach so, dass er es sich nicht angewöhnen konnte, es lag ihm nicht, sich gehenzulassen und die Füße aufs Kaminsims zu legen. Er hatte mehr als nur ein Vermögen von seinem Vater geerbt - nämlich auch dessen enorme Energie und die Meinung, dass Arbeit der Sinn und Zweck des Lebens sei.
Vielleicht hätte sich seine Daseinsform geändert, wenn seine Frau Clarissa - zugleich seine Jugendliebe - nicht bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben wäre. John hatte seine Tochter Clare getauft, eine tüchtige Kinderschwester engagiert und sich selbst in einen Strudel von Arbeit gestürzt, um seine Wunden zu heilen.
Als ich klein war, hatte ich immer etwas Angst vor John gehabt, sooft er zu uns kam, um meinen Väter zu besuchen. Vielleicht ahnte mein Vater das, und da er John gern mochte und mir zeigen wollte, was unter der unpersönlichen äußeren Schicht lag, erzählte er mir Johns Lebensgeschichte. Seither war meine Furcht einem Gefühl der Hochachtung und der Zuneigung gewichen.
Clare und ich waren Schulfreundinnen gewesen, kamen aber später auseinander. Ich musste mir mein Brot verdienen, und Clares Milieu war zu ungebunden und verschwenderisch für meine begrenzten Mittel. Nach und nach hatte sie aufgehört, mich zu ihren Parties oder turbulenten Weekends am Strand einzuladen. Ihr Freundeskreis wurde sogar noch umfangreicher, als sie das Geld ihrer Mutter erbte, und von Zeit zu Zeit vernahm ich pikante Einzelheiten über ihre Art Vergnügungen, die ihrer Mutter sicherlich Haarsträuben verursacht hätten.
Und dann geschahen zwei Ereignisse, die Sydney in krasses Erstaunen versetzten. John heiratete nach fünfundzwanzigjähriger Witwerschaft ein Mädchen, das jung genug aussah, um seine Tochter zu sein, ein heiteres, entzückendes Mädchen namens Miranda Grey, das die langen Wimpern nach ihm auswarf und ihn mit Erfolg um ihren schlanken, kleinen Finger wickelte. Und Clare verblüffte ihre Freunde damit, dass sie sich in einen respektablen jungen Mann verliebte.
Das Leben in Coolibah hatte einen ganz neuen Kurs erhalten. Miranda füllte ihre Rolle als Gattin und Gastgeberin vorbildlich aus, und Clare, eine seltsam gebändigte Clare, machte ernsthafte Pläne für eine Ehe mit Tony Cambray. Alle waren glücklich...
Ich war so beschäftigt mit meinen Gedanken über die Welchs, dass ich gar nicht gemerkt hatte, wie die Straßen vorüberflogen. Jetzt bog der Wagen von der Hauptstraße ab und fuhr den steilen Hügel hinauf, der zu meiner Wohnung führte.
Ich würde froh sein, wenn der heutige Tag zu Ende war. Der kurze Zwischenfall mit Lisa kam mir wieder ins Gedächtnis zurück. Sie hatte so weiß und erschrocken ausgesehen; als sei sie von einer plötzlichen Erschütterung ergriffen Worden. Und doch waren wir eben zuvor noch in eine ruhige Plauderei über ihre Heimat und ihre Arbeit vertieft gewesen. Wenn ich sie wenigstens gefragt hätte, wo sie in Sydney wohnte, dann könnte ich mit ihr in Verbindung treten und mich erkundigen, ob irgendetwas nicht in Ordnung sei. So aber gab es nichts für mich zu tun, als zu warten und zu hoffen, dass sie mich anrufen würde.
Und dieser Mann im Café... Ich zuckte die Schultern. Einer der zahlreichen Wölfe auf dem Pirschgang, höchstwahrscheinlich. Schließlich war ja Lisa kein Kind mehr. Sie war alt genug, um auf sich selbst zu achten.
Der Wagen bremste vor dem weißen Gitter, deshalb schlüpfte ich in meine Schuhe zurück und kletterte hinaus. Endlich zu Hause.
Als ich den Fahrer bezahlte, rief mich jemand an, und ich drehte mich um. Es war Blue, der riesige, täppische, gute Blue, der faul gegen die Hausmauer lehnte und vergnügt zu mir sagte: »He, Gilly. Willst du nicht hereinkommen und ein Bier bei uns trinken?«
Damit schlenderte er über den schmalen Rasenstreifen und stützte sich auf den Zaun. Er war nur mit einer kurzen Badehose bekleidet, und seine Haut hatte einen tief dunkelbraunen Farbton.
»Sieht aus, als ob wir den Sieg im Länderkampf sicher haben, meinst du nicht?« Er öffnete mir die Tür und trottete neben mir die Stufen hinauf in die rotgekachelte Eingangsdiele. »Grauenhafte Hitze heute. Wie wär’s mit einem kleinen Kopfsprung ins Wasser?«
Ich stöhnte, weil es gar zu verlockend klang. »Ich habe ja mehr oder weniger Dienst heute Abend. Muss um sechs in Coolibah drüben sein. Gott sei Dank, dass es nur über die Straße ist... Was macht dein Sprössling?«
»Joey?« Sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen. »Mr. Welch bot ihm zehn Schillinge, wenn er ihm bis zur Party den Rasen mäht, deshalb ist er gleich nach der Schule verschwunden. Du wirst ihn dort finden. Er spart nämlich für ein Fahrrad.«
Ich grinste zurück. »Na, wenn das kein Unternehmungsgeist ist.«
»Hat er von seinem Vater«, meinte Blue bescheiden.
Dawn steckte den Kopf aus ihrer Wohnungstür. »Hallo, Gilly.« Sie sah mich aus ihren ehrlichen, grauen Augen an. »Warum kommst du nicht zu einem kleinen Erfrischungstrunk herein. Und dann mit uns an den Strand. Wir bringen die anderen später wieder mit uns zurück.«
Blue rekelte sich faul wie ein großer brauner Bär. »Gilly muss zur Welch-Party. Armes Kind.«
Ihre Gesichter drückten so deutliches Mitgefühl aus, dass ich lachen musste. Dawn und Blue waren Menschen, die elegante und feierliche Gesellschaften in jeder Form hassten. Sie waren geradeaus und natürlich und wussten stets, wohin sie ihr Weg führte - gewöhnlich im Gänsemarsch zum nächstgelegenen Strand. Sie schwelgten in Hitzewellen wie alle Menschen, die die meiste Zeit ihres Lebens im Wasser verbringen.
Ich presste den Finger auf die Liftklingel.
»Dann komm doch heute Abend noch auf einen Sprung vorbei«, sagte Blue. »Nach dem Theater bei Welchs wird es vielleicht für dich eine hübsche Abwechslung sein, zu sehen, wie einfache Leute leben. Ich wünschte, der gute Barney wäre hier.«
Er wünschte es nicht halb so sehr wie ich. »Viel Spaß!«, rief ich ihm noch zu, als ich den alten, klapprigen Aufzug betrat.
Das zu wünschen war dumm. Meine Nachbarn Dawn und Blue Bailey hatten immer Spaß. Sie lebten mit ungeheurer Lust und Daseinsfreude. Man konnte schwerlich glauben, dass sie alt genug waren, um die Eltern eines Jungen wie Joey zu sein.
Der Fahrstuhl ächzte müde aufwärts, an der leeren Wohnung der Simpsons vorbei, und ich beneidete sie flüchtig, dass sie nach Brisbane geflogen waren, weg von dieser fürchterlichen, drückenden Hitze. Ein plötzlicher Ruck zeigte an, dass ich den zweiten Stock erreicht hatte. Ich schob die Tür auf und trat hinaus.
Es war ein gutes Gefühl, in meine eigene kleine Wohnung zu kommen und alle meine Möbel und Gegenstände um mich verteilt zu sehen. Ich sank in einen Sessel und schaute hinaus über die roten Dachgiebel, hinter denen sich windstill und ruhig ein klarer Streifen blaues Wasser erstreckte.
Meine Diele war sehr hübsch mit ihren lustigen Chintz-Überzügen, dem kleinen Schreibtisch unter den Fenstern mit den grünen Vorhängen und dem cremefarbenen Kaffeetisch, der mit Büchern und Magazinen bedeckt war. Ich wünschte, ich könnte den Abend still zu Hause verbringen - es war merkwürdig, wie ausgesprochen ungern ich heute zu dieser Party bei Welchs ging.
Ich begab mich ins Schlafzimmer, um zu überlegen, welches Kleid ich anziehen sollte. Natürlich wusste ich von vornherein, dass es das Graue sein würde, aber es war angenehm, sich vorzugaukeln, man habe eine so reichhaltige Kleiderauswahl wie Miranda oder Clare.
Nachdem ich geduscht und mich angezogen hatte, war ich in besserer Stimmung. Ich studierte mich im Spiegel und stellte fest, dass das Graue wirklich das Monatsgehalt wert war, das ich dafür ausgegeben hatte. Es passte zur Farbe meiner Augen und brachte die Goldreflexe meines braunen Haares zur Geltung. Und dass meine Figur um einen kleinen Grad zu dünn und mein Mund um eine Spur zu groß war, dafür konnte ich das Kleid nicht verantwortlich machen.
Nach einem letzten Blick auf mein Spiegelbild ging ich in die Diele und begann, Lippenstift, Kamm und Puderdose aus meiner großen Handtasche in die kleine, wildlederne Cocktailtasche umzupacken.
Plötzlich berührten meine Finger einen kleinen, kalten Gegenstand. Ich zog ihn heraus - es war Lisas Goldkreuz. Einen Augenblick hielt ich es in der Hand, dann legte ich es auf das Kaminsims, wo ich es sofort sehen musste, falls Lisa mich anrief.
Es war genau sechs Uhr, als ich meine Wohnung verließ und die Tür hinter mir zuschlug. Geschäftige Geräusche waren aus den Räumen der Baileys zu hören, als ich vorbeikam, und als ich den Pfad vor dem Haus hinunterschlenderte, trat Dawn durch eins der französischen Fenster. »Gilly, du siehst bezaubernd aus, Liebes. Ich bitte dich, schicke mir um Himmels willen Joey nach Hause, ja? Er sollte schon seit Stunden hier sein. Sag ihm, wir warten auf ihn, um schwimmen zu gehen. Das wird nützen.«
Ich lächelte ihr zu und überquerte die Straße.
In knapp einer Minute erreichte ich den langen, gewundenen Auffahrtsweg von Coolibah. Hier und dort bemerkte ich Anzeichen von Joeys Arbeit auf dem sauber gemähten Rasen. Das große Haus wirkte einladend und freundlich im sinkenden Licht. Es war auf einem hohen Abhang gebaut, und man konnte von oben den ganzen Hafen überblicken. Vor dem Erdgeschoss erstreckte sich eine weite Veranda wie ein Verbindungsbalkon zwischen den einzelnen Räumen, die zur Auffahrt hinaus lagen, und heute Abend waren die tief herabreichenden Fenster aufgeschoben in der Hoffnung, eine etwa aufkommende kühle Brise einzufangen. Auf der anderen Seite, von der Auffahrt aus nicht zu sehen, fiel das Land steil zum Wasser hin ab, und zwei Steintreppen führten von dem kleinen Salon und dem Sonnenplatz davor auf eine mit Platten belegte Terrasse hinunter.
Als ich mich näherte, hörte ich ein Radio aus der Diele plärren und konnte Tony sehen, der mit der Zigarette in der Hand in einem Stuhl ausgestreckt lag.
Ich winkte - aber die einzige Antwort darauf kam von einer kleinen Gestalt, die bäuchlings unter einem Gummibaum lag, die Ohren zum Radio gespitzt. Es war Joey. Er sprang hoch und fegte auf mich zu.
»Hast du die letzten Nachrichten gehört? Vic Richardson gibt gerade die Aufstellungen und Ergebnisse durch. Die Poms liegen schon mit 196 Punkten zurück.«
Und irgendwo in Melbourne verfolgte Barney eifrig die Kämpfe, dachte ich sehnsüchtig.
Ich grinste in Joeys ziemlich schmutziges Gesicht. »Ich nahm an, du solltest den Rasen schneiden.«
»Ooch, ich kann ja nicht den ganzen Abend nur schuften, nicht?«, antwortete er entrüstet, als wollte ich die Gärtnerinnung sabotieren. Dann kehrte er gleich zu den wichtigsten Ereignissen der Aschenbahn zurück. »Du hättest eben hören sollen, wie Neil Harvey den Ball fing. Die Wucht legte ihn glatt um, aber das brachte die Entscheidung. Die armen Poms«, sagte er mit einem halb mitfühlenden, halb triumphierenden Lächeln.
»Mach dir nur keine Sorgen über die Poms, die werden die Aussies noch haushoch schlagen. Morgen erreichen wir bestimmt keine 196 mehr!« Es machte mir Spaß, ihn damit zu necken.
»Ach, Frauen verstehen ja nichts davon!« Er war voller Verachtung. »Wart nur, bis Miller kommt, der wird’s denen schon zeigen.«
»Und dein Vater wird’s dir zeigen, wenn du nicht sofort zu Hause erscheinst. Sie wollen mit dir schwimmen gehen.«
Die Freude, die über sein Gesicht zog, verlieh ihm plötzlich gewinnenden Charme und verblüffende Ähnlichkeit mit Blue.
»Schwimmen? Donnerwetter, warum sagst du das nicht gleich? Mach’s gut, Gilly.«
Er schob mit einer schnellen, charakteristischen Bewegung seine kurzen Khakihosen hoch und sauste auf und davon die Auffahrt hinab - eine dreckige, kleine Gestalt mit zerzaustem blondem Haarschopf und einer Hautfarbe wie altes Mahagoni.
Dawn kannte ihren Sprössling genau, dachte ich. Das Wort Schwimmen wirkte wie ein magischer Zauber. Ich sah ihm eine Sekunde lang nach und wandte mich dann wieder dem Haus zu.
Ich war viel zu früh da, denn es standen noch keine Wagen dort außer Tonys großem dunklem Bentley. Ein Auto, das wunderbar zu ihm passte, stellte ich fest - geschmeidig und luxuriös, aber ohne Aufdringlichkeit.
Ich verweilte noch eine Minute im Garten und bewunderte die lodernden Flammen der roten und gelben Zinnien-Rabatten und die sauber geschnittene Ligusterhecke, die Coolibah von Finch Martyns Villa nebenan trennte.
Gegen Coolibah stach es allerdings sehr ab - ein modernes, kleines Landhäuschen mit fröhlich gestreiften Markisen auf der Veranda und einer knallgelben Tür. Finch würde natürlich auch auf der Party sein. Für ihn als Innenarchitekt war die Freundschaft mit den Welchs eine unschätzbare Einnahmequelle. Unwillkürlich fragte ich mich, ob es wohl nur reiner Zufall oder pure Berechnung gewesen waren, die ihn bewogen hatten, in die Cottrill Street zu ziehen. Ausgezahlt hatte es sich auf jeden Fall. Er war fix genug gewesen, alle Möglichkeiten zu erkennen, die sich ihm dadurch boten, und er hatte eine flüchtige Grußbekanntschaft mit den Welchs geschickt und anscheinend zwanglos zu einer festen und dauerhaften Freundschaft ausgebaut. Jetzt war er ein unentbehrlicher Bestandteil ihres Lebens geworden, ein begehrter, ungebundener Junggeselle, mit dem man rechnen konnte, wenn es galt, die Zahl der Gäste aufzurunden, die Unterhaltung in Gang zu halten, und der seine Aufmerksamkeit gleichmäßig auf Alt und Jung verteilte, vorausgesetzt, sie waren weiblich und vielversprechende Auftraggeber. Das musste ich Finch zugestehen! Er war liebenswürdig, aber schlau - anziehend und berechnend. Der leichte Skandalfleck seiner Scheidung hatte ihm nur noch mehr Glanz verliehen, und mochten die Männer ihn auch mit Argwohn betrachten, die Frauen fanden ihn hinreißend.
Ich stieg langsam die breiten Steinstufen zur Haustür empor und drückte den Finger auf die Klingel. Nichts rührte sich. Sogar das Radio war nicht mehr zu hören.
Alles war merkwürdig still - viel zu still für ein Haus, das an einem heißen Sommerabend Gäste erwartete und für eine Sekunde kroch eine leise, unerklärliche Furcht in mir auf. Eine unheilvolle Bedeutung lag in diesem Schweigen um mich herum, als ob die steinernen Mauern beobachteten und lauerten - auf was?
Auch Joey war mittlerweile durch das große, schmiedeeiserne Tor am Anfang der Auffahrt verschwunden. Es wehte nicht der kleinste Hauch eines Windes. Keine Regung war zu spüren.
Allmählich fühlte ich mein Kleid feucht am Rücken kleben. Heute Nacht würde es wieder keine Erleichterung von der Hitze geben, die Sydney seit ein paar Tagen fast erstickte. Der Regen würde, wenn er überhaupt kam, schwer und schwül sein, und morgen würden wir wieder unter der drückenden Atmosphäre stöhnen, wie immer.
Ich wandte mich wieder der Tür zu und horchte, ob sich nicht schnelle Schritte oder andere kleine Laute vernehmen ließen, die ein Haus in ein Heim verwandeln. Aber Coolibah schien ausgestorben und vergessen, als ob es nur Tote beherbergte.
Ich schauderte über meine Gedankengänge, musste dann aber über mich selbst lächeln und klingelte erneut.
Diesmal kam eine Antwort. Ein untadelig gekleideter Butler schritt durch die Halle auf mich zu und nahm meine Einladungskarte entgegen. Offenbar lag das Arrangement des Abends in den Händen des renommierten und kundigen Gerard, denn nur ein Institut wie das seine konnte, zu einem unerschwinglichen Preis, einen Stab von Dienern zur Verfügung stellen, die wie Filmstars auf Urlaub aussahen.
Ich folgte dem eleganten Rücken meines Führers, den Korridor entlang. Zu meiner Rechten lag die Diele, noch von einem Rauchschleier durchzogen, der von Tonys Zigarettenende aus dem Aschenbecher aufstieg. Zur Linken stand die Tür zum kleinen Salon offen, und ich konnte am anderen Ende durch die hohen Terrassenfenster auf das bleifarbene Wasser am Horizont sehen, das mit einem ebenso bleifarbenen Himmel verschmolz. Doch da stutzte ich. Etwas auf dem Tisch nahe der Tür fiel mir ins Auge. Es war eine Tasche, eine schäbige braune Handtasche mit einem Messingschloss. Sie war zu alt und abgetragen, um Miranda oder Clare zu gehören, und doch kamen mir ihre ausgebeulten Seiten und der Lederriemen so bekannt vor.
Ich blieb stehen. Eine gespenstische, flüchtige Erinnerung tauchte in mir auf und verschwand wieder.
Der elegante junge Mann war ebenfalls, stehengeblieben, gelangweilt, geduldig und missbilligend. Seine Augen gemahnten mich daran, dass auch befreundete Gäste nicht in den Privaträumen der Gastgeber herumspionierten. Ich schritt langsam weiter und bemühte mich, das irrlichternde Verbindungsglied zwischen dieser Erinnerung und einer braunen Handtasche aufzugreifen.
Aber schon hörte ich Mirandas Stimme, und die hauchdünne Verbindung riss wieder auseinander. Sie kam mit ihrem eigenartig graziösen Gang auf mich zu geglitten.