When The Moon Hatched - Sarah A. Parker - E-Book
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When The Moon Hatched E-Book

Sarah A. Parker

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Beschreibung

☽ MAGIE. DRACHEN. ROMANCE. DAS FANTASY PHÄNOMEN DES JAHRES ☽

Sie sind dazu verdammt, einander zu ZERSTÖREN. Doch er würde die Welt in STÜCKE reißen, nur um sie LÄCHELN zu sehen. Ist sie bereit, für ihn in FLAMMEN aufzugehen?

Raeve kennt nur ein Ziel: Als Mitglied der Rebellion hat sie geschworen, bis zu ihrem letzten Atemzug zu kämpfen. Als ihre beste Freundin bei einem grausamen Attentat stirbt, ist Vergeltung alles, woran sie denken kann. Doch als sie sich im ausweglosesten Gefängnis wiederfindet, steht plötzlich Kaan vor ihr. Der mächtige Herrscher, der all das verkörpert, was Raeve verabscheut – und dessen Drache ihr doch das Leben rettet. In Kaans dunklen Augen verbergen sich Abgründe, und Raeve spürt, dass ihr Kampf um die Freiheit unweigerlich mit ihm verbunden ist …

Bestsellerautorin Sarah A. Parker zeichnet eine unvergessliche Welt, in der der Kampf um die Macht von mächtigen Gottheiten, uralter Magie und einem Himmel voller Drachen bestimmt wird.

Schon jetzt ein Phänomen – die Leser*innen sind begeistert!

»Dieses Buch hat mich verändert!«
»Der Fantasy-Roman, auf den ich gewartet habe!«
»Der Schreibstil ist herzzerreißend schön. Ich habe ein ganzes Kapitel lang geweint.«
»Es gibt Drachen (natürlich). Ein ungleiches Liebespaar. Er verliebt sich zuerst. Echte Abgründe. Rache. Geheimnisse. Gewalt. Finsternis. Hoffnung.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 903

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Sarah Ashleigh Parker wuchs auf einer Farm in Neuseeland auf, wo sie ihre Zeit am liebsten damit verbrachte, auf Bäume zu klettern und Waldwege zu erkunden. Schon damals liebte sie es, sich Geschichten auszudenken. Heute lebt Sarah mit ihrem Mann, ihren drei Kindern und einem Hund in Australien. Ihre Moonfall-Serie begeisterte Millionen Fans auf TikTok und machte sie über Nacht weltbekannt. In When The Moon Hatched verbindet sie eine unvergessliche Liebesgeschichte mit einem einzigartigen Worldbuilding.

www.penguin-verlag.de

Sarah A. Parker

WHEN

THEMOON

HATCHED

DIE AUSERWÄHLTEN

Roman

Aus dem Englischen von Franca Fritz;

Heinrich Koop; Kerstin Fricke;

Christine Heinzius; Mo Zuber

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel When The Moon Hatched bei Avon.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Copyright © der Originalausgabe by Sarah A. Parker

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Karte: @virginiaalllyn

Illustrationen am Kapitelanfang: @alicecaoillustration

Covergestaltung: bürosüd nach einem Entwurf von A.T. Cover Designs, LLC

Covermotiv: © stock.adobe.com

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN978-3-641-32644-9V002

www.penguin-verlag.de

Liebe Leser*innen,

es könnte sein, dass einige Passagen des Buches euch persönlich nahegehen. Aus diesem Grund findet ihr hier eine Triggerwarnung, die aufzeigt, um welche Inhalte es sich hierbei handelt.

Ab hier findet ihr zudem das Glossar zum Roman.

Sarah A. Parker und der Penguin Verlag

Für alle, die sich klein und unbedeutend fühlen.

Breitet eure Schwingen aus und brüllt.

Am Anfang waren es fünf.

Zuerst kam Caelis, der Gott des Äthers, unsichtbar für das bloße Auge. Der leere Raum, den man überall dort, wo Materie entstand, einfach beiseiteschob.

Sein Bariton war tief und gehaltvoll, und doch fehlte ihm jede Substanz. Ein einsames Echo, das in der Leere des Raums umherirrte, zwischen den nahen und fernen Sonnen – unhörbar in seiner Tiefe, egal, wie laut er sang.

Der verzweifelte Wunsch, wahrgenommen zu werden, brachte Caelis dazu, eine leere Leinwand zu erschaffen, die die anderen mit Leben füllen sollten.

Bulder, der Gott der Erde, formte die Kugel mit einem einzigen krachenden Aufbrüllen und erschuf einen stabilen Globus, der sich nicht drehte. Eine Welt, die zur Hälfte im Sonnenlicht badete und mit üppigen Wogen aus rostfarbenem Sand bestreut war, während die andere Hälfte auf ewig im Schatten lag – ein Schatten, so dunkel, dass er die Steine durchdrang und sie schwarz färbte.

Mit weiteren derben und dröhnenden Worten formte Bulder die Landschaft, schuf Vertiefungen, Hügel und Risse in der Welt. Dann ließ er eine Mauer entstehen, die quer durch Fade hindurchschnitt – dort, wo Sonnenlicht und Schatten sich nicht begegnen wollten und wo der Himmel für immer in Rosa, Lila und Gold getaucht war.

Auf ihn folgte die Göttin des Wassers.

Rayne prasselte in einer Milliarde sehnsüchtiger Tränen unerwiderter Liebe zu Boden – Tropfen, die sich in Bulders Vertiefungen sammelten und seine Schluchten mit ihren sprudelnden Zärtlichkeiten füllten. Auf der Schattenseite rieselte sie in schweren Flocken herab, die die zerklüfteten Gebirgsketten mit ihrer frostigen Umarmung umfingen.

Ihre Liebe klang wie das Brausen eines Sturzbachs. Das tiefe, herzzerreißende Heulen einer Lawine. Der kaum hörbare Schrei des prasselnden Regens.

Raynes schwermütiger Gesang ähnelte in nichts dem ihrer Schwester Clode, der Göttin der Luft, die am Abgrund des unermesslichen Wahnsinns schwebte. Ihre Stimme war wie ein seidenes Band, das sich weich anfühlte – bis es sich zur Seite drehte und jeden mit seinem Rand aufschlitzte.

Ihre geflüsterten Worte fegten an den mit Blättern beladenen Ästen vorbei und forderten sie zu einem koketten Tanz auf. Ihre gellenden Schreie fauchten mit gieriger Geschwindigkeit um jede Ecke – einfach deshalb, weil ihr das Geräusch gefiel. Da sie Raynes düstere Stille nicht ertragen konnte, verwandelte Clode mit ihrem böigen Heulen den Loff regelmäßig in eine wogende Masse, die auf das Ufer einprügelte wie auf eine Trommel.

Ignos konnte von Clode nie genug bekommen. Der Gott des Feuers ergötzte sich an ihr. Verzehrte sie.

Liebte sie so sehr, dass er ohne sie nicht atmen konnte.

Sein glühender Gesang lockte mit wildem Hunger und leidenschaftlicher Gier, aber Clode ließ sich nicht von seiner rasenden Verzückung einfangen, selbst als er ganze Dschungel für sie abfackelte und ihr den Rauch zum Tanzen schenkte. Sogar als er Teile von Bulders Gestein zum Schmelzen brachte, bis sie sich in kochende rote Flüsse verwandelten – verzweifelt bemüht, Clode mit Vulkanexplosionen zu umwerben, die den Himmel erschütterten.

Caelis, gefangen in seiner trübsinnigen Einsamkeit, beobachtete dies alles. Er war eifersüchtig auf die anderen Schöpfer, die gesehen, berührt oder gehört wurden, aber zugleich dankbar dafür, Teil von etwas zu sein.

Von irgendetwas.

Und er beobachtete mit stiller Verwunderung, wie auf dieser üppigen und fruchtbaren Leinwand, die er in seiner Leere erschaffen hatte, das Leben erblühte. Eine vielfältige Kakofonie aus Wesen, die das Land und den Schnee und den Sand bevölkerten. Einige verfügten über ein Gehör, das schärfer war als die Spitzen ihrer Ohren und das sie in die Geheimnisse der vier anderen elementaren Gesänge einweihte. Manche von ihnen erlernten diese Sprachen. Benutzten sie.

Fanden Macht in ihnen.

Andere entdeckten ein silbernes Buch für sich, das Caelis angeblich im verzweifelten Wunsch nach Gehör geschrieben hatte. Sie fanden eine andere Form der Macht in diesen Runen, die niemand lesen oder aussprechen konnte, und entdeckten, dass sich diese seltsamen Zeichen beherrschen ließen. Mit ihrer Hilfe konnte man Knochen heilen, Blut verzaubern, Gegenstände verbergen …

Die vielen Wesen bevölkerten jeden Winkel dieser Welt, aber auf keines waren die Schöpfer so stolz wie auf die großen geflügelten Kreaturen, die den Himmel beherrschten.

Die Drachen.

Auf den scheinbar unbewohnbaren höchsten Gipfeln von Burn, wo die grellen Strahlen der Sonne die Haut zu fleischigen Striemen aufplatzen ließen, gediehen die Sabersythe-Drachen – große, massige Bestien mit schwarzen, rötlichen und bronzefarbenen Schuppen. Und mit einer Fähigkeit zur Grausamkeit, über die kein anderes Wesen verfügte.

Sie machten Gondragh zu ihrem Brutplatz.

Einige Leute waren mutig genug, sich dorthin vorzuwagen. Um ein Nest zu plündern und ein Ei zu stehlen.

Mutig … oder dumm.

Die Moltenmaws, weniger impulsiv als ihre entfernten Verwandten, fanden in Fade ihre Heimat. Sie brüteten in Bhoggith – einem nebligen Stück Sumpfland, in dem fast alles Leben von schlammigen, schwefelhaltigen Erdrülpsern verschlungen wurde.

Ihre geschliffenen Schnäbel waren scharf genug, um jeden Gegner aufzuschlitzen – und ihre Krallen waren fast noch schärfer. Ihr Gefieder schillerte so farbenfroh wie der immer leuchtende Himmel in ihrem Teil der Welt, und keine zwei Moltenmaws besaßen das gleiche prächtige Farbkleid.

Auch zum Stehlen eines Moltenmaw-Eis musste man mutig oder dumm sein … aber vielleicht ein bisschen weniger.

Dagegen erschien ein Raubzug nach Netheryn – dem auserwählten Brutplatz der eleganten und listigen Moonplume-Drachen – fast wie ein Ding der Unmöglichkeit.

Da Netheryn am weitesten von der Sonne entfernt lag und somit der dunkelste Ort in Shade war, herrschte dort eine so eisige Kälte, dass das Blut der meisten gewöhnlichen Wesen in ihren Adern andickte und sie langsam machte. Doch das galt nicht für die Moonplumes –mit ihrer leuchtenden ledrigen Haut, die sich so kühl anfühlte. Mit ihren langen seidigen Schwänzen und ihren tintenschwarzen Augen, in denen feiner Glitzer funkelte.

Versteckt zwischen Schnee und Eis und umgeben von einer hungrigen Stille, die Geräusche verschluckte und sie dann wie ein warnendes Gebrüll wieder ausspuckte, blühten die Moonplume-Drachen aufund wurden immer zahlreicher, stärker und glitzernder.

Nur jemand, der so verrückt war wie Clode oder genug Macht besaß, um sich selbst schützen zu können, würde je versuchen, ein Moonplume-Ei zu stehlen …

Die meisten scheiterten bei diesem Versuch, zerfetzt von den furchterregenden, um sich schlagenden Bestien oder vernichtet von der feindseligen Umgebung.

Einige wenige hatten allerdings Erfolg – gefeierte Helden, die mithilfe der Drachen Kriege für die aufstrebenden Königreiche führten.

Doch als die Burgen langsam die Berge zu überragen begannen und die Könige und Königinnen ihre Kronen mit immer größeren und funkelnderen Juwelen schmückten, lernten die Leute auch, wie man Drachenblut vergießt.

Für viele Moonplumes, Moltenmaws und Sabersythes endete ihr ewiges Leben mit ein paar Schwerthieben.

Die Schöpfer hatten nicht damit gerechnet, dass ihre geliebten Wesen nach ihrem Ende himmelwärts schweben würden und sich so viele dem Einfluss der Schwerkraft entziehen, zu Kugeln zusammenrollen und verkalken würden, um den Himmel mit Grabsteinen zu übersäen.

Mit Monden.

Und vor allem hatten sie nicht damit gerechnet, dass diese Monde kurz nach dem Erreichen ihres Platzes am Himmel wieder zur Erde stürzen würden. Dass sie mit der Welt kollidieren würden – und mit diesem Zusammenprall ein zersplitterndes Unheil mit sich brachten, das alles Entstandene zu zerstören drohte.

Es dauerte sieben Mondstürze, bis Clode, Rayne, Ignos und Bulder erkannten, dass Caelis der Schuldige war. Dass seine Leere, die sich danach sehnte, gefüllt zu werden, stark genug war, um einen Drachen von seinem Ruheplatz zu vertreiben und ihn vom Himmel zu stoßen.

Sie benötigten einen weiteren Mondsturz, bis sie einen Plan zur Rettung der von ihnen so geliebten Welt geschmiedet hatten.

Mit leeren Versprechungen und treulosen Schwüren lockten sie Caelis in eine Falle und nahmen ihn gefangen.

Unterwarfen ihn.

Sie sangen ihre peitschenden, brennenden, zerbrechenden Lieder und zerkleinerten Caelis’ Essenz in Stücke, so winzig, dass sie in einen Käfig aus Ebenholzkristall passten – einen Käfig, der nicht größer war als ein Kern und von da an als Ätherstein bezeichnet wurde. Während Caelis um sich schlug und kämpfte, rissen Stücke seines silbernen Mantels ab, aber die anderen Schöpfer machten sich nicht die Mühe, die Fetzen aufzusammeln, sodass sie sich schließlich an den beiden Polen der Welt festhakten. Eine schimmernde Aurora, die sich um den Globus drehte und den Leuten etwas gab, mit dem sie ihre Dae- und Schlummerzeiten einteilen konnten.

Caelis wurde in ein Diadem aus Sterlingsilber eingefasst, verziert mit einer Reihe Runen, die bösartige Kräfte enthielten. Stark genug, um ihn bis in alle Ewigkeit in dem Stein gefangen zu halten – solange die Runen etwas hatten, von dem sie zehren konnten.

Einen Wächter.

Darum verliehen die Schöpfer einem mächtigen Fae-Krieger, der für seine Stärke und Weisheit bekannt war, eine besondere Gabe – eine Macht, die so groß war, dass er mit ihrer Hilfe den Ätherstein auf seiner Stirn tragen und Caelis darin gefangen halten konnte. Eine Gabe, die sich in seinem Familienzweig weitervererbte wie ein hüpfender Stein.

Viele Aurora-Zyklen vergingen, und weitere Monde sammelten sich am Himmel …

Und blieben dort.

Letztlich trat Frieden ein – trotz einer Reihe von Tragödien und unvorhergesehenen Todesfällen, die den katastrophalen Ursprung des Äthersteins verschleierten, bis der Sinn seiner Existenz zu einem verworrenen Mythos verschwamm, den man an Lagerfeuern weitererzählte oder weinenden Babys zur Beruhigung vorsang.

Bis eines Aurora-Aufgangs, zum ersten Mal in über fünf Millionen Phasen …

… ein weiterer Mond auf die Erde herabstürzte.

Kapitel 1

5.000.165 Phasen Nach dem Stein

Ich ziehe die Schultern hoch und krümme mich so zusammen, dass meine Haltung erschöpft und demütig wirkt. Verängstigt.

Dann biege ich um die Ecke und erreiche den untersten Treppenabsatz. Eine Pergamentlerche flattert so dicht an mir vorbei, dass ich mich wundere, wieso sie mir keinen Stups gibt – als Aufforderung, sie aus der Luft zu pflücken.

Ich drehe den dünnen Eisenring an meinem Mittelfinger und blicke vorsichtig hinauf zu dem schwer gepanzerten Wachmann, der den düsteren Durchgang vor mir versperrt. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt, und sein kahl geschorener Kopf berührt fast die gewölbte Decke, während sich eine Schar von Pergamentlerchen gegen die Tür hinter seinem Rücken drängt. Er ist doppelt so groß wie ich, und sein finsterer Blick scheint sein Gesicht auf Dauer verzogen zu haben.

Mit einem gehässigen Grinsen mustert er die Kerbe, die man mir in mein linkes Ohr geschnitten hat, oben, wo die Ohrmuschel spitz zusammenläuft. Als hätte dort jemand mit einem winzigen Mund ein kleines Stück herausgebissen.

Mein Clip.

»Kein Token, kein Zutritt«, knurrt er und wehrt mich sofort als minderwertig ab. Als Null. Als jemanden, der keinen der vier Elementargesänge hören kann.

Ich greife in meine Tasche und hole das Token hervor: eine steinerne Marke mit den Insignien des exklusiven Clubs – ein Maul aus Stalaktiten, das von allen Seiten zubeißt. Mit einem vorgetäuschten leichten Zittern meiner Hand gebe ich sie ihm.

Er mustert mich von Kopf bis Fuß, während er das Token umdreht und seine blaue Rüstung bei jeder Bewegung klirrt.

Ich würde gern wissen, warum er die Lerchen vor der Tür warten lässt, statt sie direkt einzulassen. Raeve hätte ihn das geradeheraus gefragt – aber ich bin im Moment nicht Raeve.

»Ich heiße Kemori Daphidone«, sage ich leise und unterwürfig. »Reisende Bardin.«

»Woher?«

»Orig.«

Eine Mauersiedlung, in der ich noch nie war. Was mich nicht davon abhalten wird, ohne Pause davon zu erzählen, falls er nach Einzelheiten fragt.

Vorbereitung ist meine Rüstung. Leg sie an – oder stirb.

Er prüft die Marke und gibt sie mir mit einem schroffen »Kein Schleier« zurück.

Ich werfe ihm unter meinen mit Federn besetzten Wimpern einen langen Blick zu. »Teil meiner Vorführung. Ich gehöre zur heutigen Abendunterhaltung.« Rasch ziehe ich eine Pergamentrolle aus der Tasche und halte sie ihm entgegen. »Man hat mich vor dem Schleierverbot gewarnt, deshalb habe ich nur die untere Hälfte meines Gesichts bedeckt.«

Mit finsterer Miene rollt er das Pergament aus, wobei sein wachsamer anzüglicher Blick so langsam über mein Anstellungsschreiben schweift, dass ich einen steifen Hals bekomme und Ungeduld in mir hochkocht.

Irgendwann weiten sich seine Augen. »Ach, du bist die Vertretung!«

Ich nicke schüchtern und sittsam, obwohl ich eigentlich seinen Kopf gegen die Wand schlagen möchte.

Hart.

Er rollt die Schriftrolle wieder ein, gibt sie mir zurück und tritt zur Seite, um die Tür zu öffnen. »Dritte Ebene. Pass auf den Waif auf. So spät im Aurora-Zyklus ist er immer besonders hungrig.«

Mein Schaudern ist alles andere als vorgetäuscht.

Ich tauche ein in die warme, dunstige Atmosphäre der Hungrigen Höhle, und während die Tür hinter mir und dem Schwarm der sich zerstreuenden Pergamentlerchen zuschlägt, werde ich von einer Wolke aus üppigem Moschus mit einem Schwefelunterton überwältigt. Durch einen dunklen Tunnel gelange ich zum schmalen Eingang einer riesigen hohen Höhle, deren Form an eine steinerne Lunge erinnert.

Ein paar Stufen führen mich auf einen der vielen Pfade, die sich zwischen einer Reihe leuchtender Quellen hindurchschlängeln, aus deren türkisfarbenen Tiefen Dampf aufsteigt. Überall auf den Stufen der Quellen rekeln sich Leute mit gesenkten Köpfen in der plätschernden Wärme. Ein wahres Paradies für diejenigen, die genug Macht oder politischen Einfluss besitzen, um die Krone auf ihrer richtigen Seite zu wissen.

Ich schnaube verächtlich.

Hier lässt sich leicht vergessen, dass unser farbenfrohes Königreich auf einem Fundament aus Knochen errichtet wurde.

Eine frei stehende Treppe führt auf die zweite Ebene, die von moosbewachsenen Säulen getragen wird. Ich gehe darauf zu und schlängle mich durch das Labyrinth der Pfade, als sich eine Dampfschwade zu einer bleichen schlaksigen Kreatur mit Augen wie Ebenholzjuwelen verdichtet.

»Mist«, murmle ich und bleibe stehen.

Mit unnatürlich verdrehtem Kopf schaut mir der Waif geradewegs ins Gesicht. Das nebelähnliche Wesen schnuppert die Luft und stößt dann ein gefräßiges Keuchen aus. »Sieh an, sieh an, sieh an … Ist deine Seele nicht ein pralles, saftiges Ding?«

Ahh.

»Vielen Dank für deine freundlichen Worte. Ich bin dann mal …«

»Hier sind viele schreiende Geister, die unbedingt mit dir sprechen wollen. Wie wäre es, wenn du mich ein wenig an deiner Seele knabbern lässt?«, fragt das Wesen, und ich könnte schwören, dass ihm dabei der Sabber aus dem Mund läuft. »Dann kannst du alles hören, was sie dir zu sagen haben.«

Kommt überhaupt nicht infrage.

»Ich verzichte.«

Von ganzem Herzen.

Der Waif scheint meine Abfuhr zu ignorieren und huscht auf mich zu. Dabei sammelt er Dampfschwaden zusammen, die sich wie nebelhafte Finger in meine Richtung recken und nach mir greifen.

Ich drehe mich auf dem Absatz um und laufe einen anderen Pfad entlang, meine Nackenhaare sträuben sich. Als ich einen Blick über die Schulter werfe, sehe ich, dass sich die Kreatur inzwischen über einen Mann gebeugt hat, der sich am Rande einer Quelle rekelt, und etwas Schattiges zwischen dessen geöffneten Lippen hervorsaugt.

Ein Schauer jagt mir über den Rücken. Im Stillen danke ich den Schöpfern, dass Waifs auf dieser Welt nur sehr selten vorkommen und nur in Nebelschwaden herumspuken, wo sie im Austausch für Botschaften von bereitwilligen Toten die Seelen ihrer Opfer anknabbern.

Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen. Denn die Geister, die unbedingt mit mir sprechen wollen, haben garantiert nichts Nettes zu sagen.

Was ich ihnen nicht verübeln kann.

Glücklicherweise lassen sich die gruseligen Seelensauger leicht ablenken.

Ich husche eine Treppe hinauf, die sich hoch über die ausgebreiteten Nebelfinger erhebt. Als ich die zweite Ebene mit den Skripi-Tischen erreiche, schlagen mir Gelächter und das Klirren von Gläsern entgegen.

Horden von Leuten hocken an den Tischen, paffen Rauchstäbchen und trinken schimmernde Spirituosen, die Spielscherben fest gegen die Brust gedrückt. Überall hört man Würfel rollen, und Stapel von Drachenblutsteinen wandern von Hand zu Hand.

Ich werfe verstohlene Blicke auf die Kleidung der Anwesenden. Einige sind in farbenfrohe, mit Edelsteinen besetzte Gewänder gehüllt. Andere tragen maßgeschneiderte Mäntel, rasierte Federzeichnungen in den Kurzhaarfrisuren und Elementarperlen an den Ohrläppchen. Ein protziger Beweis für ihre Fähigkeit, die verschiedenen Elementargesänge hören zu können:

Rot für Ignos, den Gott des Feuers.

Blau für Rayne, die Göttin des Wassers.

Braun für Bulder, den Gott der Erde.

Durchsichtig für Clode, die Göttin der Luft.

Aber auch ohne Perlen kann man einen hochrangigen Fade-Elementar normalerweise schon von Weitem erkennen: Diese Leute brüsten sich mit mehr als zehn Farben an einem einzigen Gewand – als ob sie dadurch so mächtig würden wie die leuchtenden Drachen, die den Himmel dieses Königreichs beherrschen.

Die gewaltigen Moltenmaws.

Eigentlich komisch: Schließlich wären diese Leute die Ersten, die die Bestien ausbluten lassen würden, sollten die Drachenblutstein-Minen jemals versiegen.

Ich habe gerade die Hälfte einer schmalen, in die Rückwand gehauenen Treppe erklommen, als jemand Großes, Breites und Vermummtes von oben herabstürmt.

Ich halte inne und kann nicht viel von seinem Gesicht erkennen außer einem kräftigen Kiefer, der von einem dunklen Bart umrahmt wird, da die Kapuze seines Umhangs alles andere in tiefen Schatten hüllt.

Er wird nicht langsamer, sondern stampft einfach weiter die Treppe hinunter – obwohl ich ein gewagtes knallrotes Kleid trage, das nicht zu übersehen ist.

Fast knirsche ich mit den Zähnen – und erinnere mich gerade noch rechtzeitig an die Metallkappe, die meinen hinteren Backenzahn bedeckt, um eine spontane Aktivierung meiner Geheimwaffe zu verhindern.

Der Mann passt allein schon kaum auf die Treppe, was bedeutet, dass wir uns eng aneinander vorbeischieben müssen.

Na großartig.

Typisches Elementar-Arschloch … denkt nur an sich selbst.

Seufzend krümme ich meine Schultern erneut, trete zur Seite und ermahne mich, dass ich Kemori Daphidone bin, eine reisende Bardin aus Orig. Ich bin erschöpft. Verängstigt. Und gewiss nicht hier, um diesen Mann aus Versehen ins Stolpern zu bringen und zuzusehen, wie er die Treppe hinunterstürzt.

Ganz gewiss nicht.

Also presse ich den Rücken gegen die Wand, halte den Blick gesenkt und warte darauf, dass er sich an mir vorbeidrängt. Seine schweren Schritte kommen näher. So nah, dass mich eine Mischung aus rauchigem Moschusduft und dem Geruch von frisch gespaltenem Stein umweht, gemildert durch einen Anflug von etwas Angenehmerem.

Mir stockt der Atem – und entweicht dann zitternd wieder, als wollte er sich nur ungern von dem sinnlichen Duft trennen, der vermutlich einer der besten Gerüche ist, die ich je eingeatmet habe …

Der Mann tritt zur Seite, schiebt sich an mir vorbei.

Und bleibt stehen.

Ich bin in seinem Schatten gefangen wie eine Flamme in der Dunkelheit. Mein Herz schlägt schnell und laut. Mit jeder Sekunde, die verstreicht, schnürt es mir noch weiter die Kehle zu.

Warum bewegt er sich nicht?

Ich schiebe mich seitwärts weiter die Treppe hinauf und entziehe mich seinem Einfluss. »Ich bitte um Entschuldigung.«

Ich muss los, ein paar Hände abhacken.

Ein angestrengtes knirschendes Geräusch drängt aus ihm hervor, als hätte es sich losgerungen.

Die Luft bewegt sich.

Und ich bewege mich mit ihr.

Ich wirble herum und packe blitzschnell sein Handgelenk. Spannung liegt in der Luft, und mein Blick fällt auf seine große, stark vernarbte Hand, die ausgestreckt und in der Bewegung erstarrt ist, als hätte er mir gerade den Schleier herunterreißen wollen.

Was für ein Mistkerl.

Obwohl ich seine Augen nicht erkennen kann, spüre ich seinen durchdringenden Blick mit solcher Intensität, dass sich meine Lunge mit Steinen zu füllen scheint. Spüre, wie seine Aufmerksamkeit zu der runden Kerbe an meinem Ohr hinaufwandert.

Dann wieder zurück zu meinen Augen.

Spitze Worte liegen mir auf der Zunge wie Dornen, und ich muss mich mit aller Macht beherrschen, um sie ihm nicht ins Gesicht zu spucken. Doch dann erinnere ich mich daran, dass Leute, die sich gegen hochrangige Elementare wehren, für gewöhnlich als Drachenfutter enden.

Also schlucke ich die Worte hinunter – das fühlt sich nie gut an, egal, wie oft ich es tue.

Ich lockere meinen Griff, neige den Kopf und bewege mich ein paar Schritte rückwärts, bis ich hoch genug bin, um auf den Mann hinabzusehen. Weit genug entfernt, um nicht der Versuchung zu erliegen, ihm den Kehlkopf einzuschlagen – nur weil er denkt, er könnte mich entschleiern.

»Verzeihung«, stoße ich hervor und versuche, unterwürfig zu klingen – wobei ich allerdings kläglich versage. »Der Schleier ist Teil meiner Vorführung.«

Schweigen breitet sich aus, dickflüssig wie klebriger Sirup.

Mach schon, Raeve.

Ich bewege mich langsam aus seiner Reichweite, drehe mich um und haste die Treppe hinauf.

Ohne mich noch einmal umzuschauen, präsentiere ich meine Schriftrolle und mein Token der zweiten Reihe ausdrucksloser Wächter – von denen einer sich schließlich von der Gruppe löst und mich zur Bühne geleitet. Der Mann führt mich in eine dämmerige Höhle, wo mich der Geruch von Torfrauch und Met einhüllt und ich von der dramatischen Veränderung der Atmosphäre überrascht werde.

Steinzähne ragen von der Decke herab und unterteilen den Raum in einzelne Gewölbe, die in den rostroten Feuerschein lodernder Leuchter getaucht sind. Entlang der Außenwände ziehen sich dämmrige Sitznischen, die von schweren Vorhängen eingefasst sind und all denen, die es wünschen, Privatsphäre bieten. Null-Diener gleiten durch den Raum und tragen Tabletts mit Bechern voll Met und anderen trüben Getränken zu angeheiterten Elementaren, die an den überall im Raum verteilten Steintischen sitzen.

Verdeckt im Schatten des Wächters, werfe ich einen scharfen Blick auf die bunte Mischung der versammelten Gäste – und als ich das von mir gesuchte Gesicht nicht entdecke, macht sich Frustration in mir breit.

Bitte sei in einer der Nischen.

Der Wachmann bringt mich zu einem Podium in der Mitte des Raums, umringt von zahlreichen Stalagmiten wie von Gitterstäben eines Käfigs. Der Anblick lässt mich fast auflachen – weil ich mir nichts vorstellen kann, das noch passender und morbider wäre.

Auf dem Podium sitzt eine schlanke zierliche Frau auf einem Schemel und hält eine weiße Fiedel in der Hand, die mit leuchtenden Runen verziert ist – vermutlich um den Klang des Instruments zu verstärken. Sie trägt ein schlichtes gerüschtes Gewand, das meinem ähnelt, aber blau ist und locker über die diskrete Wölbung ihres von der Schwangerschaft gerundeten Bauchs fällt.

Mit geschlossenen Augen stimmt sie eine melancholische Melodie an, während Punkte aus weißem Licht von der gewölbten Decke fallen wie Schneeflocken. Sie lassen sich auf ihren blonden Haaren nieder und erlöschen.

Ich bedanke mich bei dem Wachmann und setze mich auf den Schemel neben der Musikerin. Ihr Lied erreicht seinen melodischen Höhepunkt, während ich nach einem Verstärkerstock suche.

»Ihre Runei arbeiten daran«, flüstert sie, senkt die Fiedel und sieht mich mit durchdringenden grünen Augen an, die von blauen Federwimpern gesäumt sind. »Er ist im letzten Zyklus immer wieder ausgefallen.«

Ah.

»Es wird nicht lange dauern. Übrigens, ich heiße Levvi.«

»Kemori Daphidone, reisende Bardin aus Orig.«

Sie schenkt mir ein freundliches Lächeln – das ein wenig verblasst, als ihr Blick an irgendetwas hinter meinem Rücken hängen bleibt.

Mein Herz schlägt mir in der Kehle, während ein rothaariger Mann vorbeischreitet und sich durch die Menge schlängelt. Er trägt einen makellosen blutroten Mantel – eine Farbe, die perfekt zu der roten Elementarperle passt, die er stolz zur Schau stellt.

Erleichterung jagt durch meine Adern, und die Vorfreude lässt mich die Fäuste ballen und wieder öffnen.

Tarik Relaken.

Er betrachtet uns lange, und sein gieriges Grinsen schweift über meine in ein Korsett gezwängte Brust. Dann geht er zu einer Sitznische, in der schon drei andere Männer sitzen. Er lässt den Vorhang offen, unterhält sich angeregt mit den anderen und wirft mir gelegentlich einen Blick zu. Er tut es mit halb geschlossenen Lidern, sodass ich mir vorkomme wie ein gut ausgeleuchtetes Stück Fleisch, an dem er liebend gern herumnagen würde.

Ich weiß, wer du bist, Arsch.

Dann entdecke ich den Mann mit der Kapuze, dem ich auf der Treppe begegnet bin und der sich nun durch den düsteren Raum bewegt …

Mein Herz sackt mir in den Magen.

Er schiebt sich an einigen anderen Gästen vorbei, und meine Gedanken verheddern sich zu einem verschlungenen Knoten, während er eine leere Sitznische im hinteren Teil des Raums ansteuert.

Vorhin hatte er es so eilig, dass er mich auf der Treppe fast umgerannt hätte. Jetzt ist er wieder da. Warum?

Aus geschäftlichen Gründen? Aus Neugier? Oder hat er auf der Treppe einen falschen Eindruck von mir bekommen?

Schöpfer, ist das der Grund, warum er wieder hier ist? Weil er sich gern mit Nullen abgibt und auf eine schnelle Nummer hofft?

Er wendet mir den Kopf zu, und sein Blick streift über meine obere Gesichtshälfte und bringt die Luft zwischen uns zum Knistern.

Ich unterdrücke ein Stöhnen.

Ich habe hart dafür gekämpft, dass diese Operation genehmigt wird. Sie bedeutet mir alles. Und wenn dieser Mistkerl unseren sorgfältig ausgearbeiteten Plan zunichtemacht, bekommen wir wahrscheinlich für wer weiß wie lange keine neue Chance. Vorausgesetzt, ein weiterer Versuch wird überhaupt genehmigt.

»Bist du neu, Süße? Ich hab dich hier noch nie gesehen.«

Ich zwinge mich, eine sanftere Miene aufzusetzen, und schaue Levvi an. Ihr Null-Clip ist deutlich an dem Ohr zu erkennen, das zwischen ihrer üppigen Mähne hervorragt. »Ich helfe heute nur aus.«

»Verstehe.« Sie wirft einen Blick durch den Raum und flüstert dann, ohne die Lippen zu bewegen: »Der Mann mit den roten Haaren, der gerade vorbeigekommen ist … das ist Lord Tarik Relaken. Halt dich von ihm fern. Viele Künstler, die seine Aufmerksamkeit erregen, verschwinden danach.«

Ich reiße in gespieltem Schock die Augen auf. »Wirklich?«

Sie nickt.

»Die Farbe deines Kleids, dein sittsames Auftreten und dein langes schwarzes Haar …« Sie lässt den Blick an meinem Körper hinunter- und wieder hinaufschweifen. »Du bist genau sein Typ.«

Ich verrate ihr nicht, dass das der Sinn der Sache ist.

Die Hoffnung.

Zumindest war das so, bis ich die Aufmerksamkeit des Mannes mit der Kapuze geweckt habe, der mich jetzt vom hinteren Teil des Raums aus beobachtet – mit verschränkten Armen, gegen den Tisch seiner ansonsten leeren Sitznische gelehnt.

»Es gibt einen Grund, warum hier so viele Null-Rekruten kommen und gehen – und das liegt nicht an der beschissenen Bezahlung«, sagt sie und schenkt mir ein säuerliches Lächeln.

Ich mache mir nicht die Mühe, zu fragen, warum sie bleibt – die Schwellung ihres Bauchs ist Antwort genug. Für eine Null gibt es in Gore nur wenige Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu verdienen – es sei denn, man will sich in den Minen abrackern, und das ist kein Platz für eine schwangere Frau. Die Leute hier tun alles, um über die Runden zu kommen, selbst wenn das bedeutet, dass sie auf dem schmalen Grat zwischen einer sicheren und einer gefährlichen Existenz wandeln.

»Danke für die Warnung«, flüstere ich und denke an den mysteriösen Hinweis, den Sereme anscheinend zu Beginn des Dae erhalten hat, als unsere aktuellen Pläne bereits in Gang gesetzt waren. Ich frage mich, ob der Tipp von Levvi kam – zu ängstlich, um sich die Hände schmutzig zu machen, auch wenn sie mit der Rebellengruppe Fíur du Athund unseren zugegebenermaßen blutigen Aktionen sympathisiert.

Verständlich.

Es gibt keinen einfacheren Weg, unseren Tyrannen von einem König zu verärgern, als mit seinen Feinden zusammenzuarbeiten.

Ein Runei tritt zu uns; er ist schlank, trägt ein weißes weites Gewand und hat das dunkle Haar am Hinterkopf zu einem Knoten zusammengebunden. Er schaut mich hochnäsig an, aber mein Blick fällt auf den einzigen Knopf, der sein wallendes Gewand an Ort und Stelle hält. Auf dem runden Holz ist das Symbol eines Ätzstabs zu sehen – was bedeutet, dass er die Fähigkeit besitzt, einfache Runen zu ätzen.

So anzüglich, wie er mich anstarrt, hatte ich eigentlich zwei oder drei Fähigkeiten erwartet – vielleicht eine besondere Gabe wie Blutbinden oder etwas anderes Spektakuläres. Zumindest hatte ich erwartet, dass sein Ätzknopf aus Silber oder Gold bestehen würde.

Wie gern würde ich ihm das sagen.

Stattdessen nehme ich den Verstärkerstab mit einem schüchternen Nicken entgegen und lege meine verschwitzten Handflächen um das hohle Metallstück, das mit Punkten und Wirbeln übersät ist, von denen ein Strahlen ausgeht.

Erneut werfe ich einen schnellen Blick auf Tarik Relaken und beiße die Zähne zusammen, als ich zu dem Beobachter mit der Kapuze hinüberschaue, mit dem ich ganz sicher nicht gerechnet hatte. Unbehagen beschleicht mich.

»Alles in Ordnung?«

Nein.

Eine Pergamentlerche flattert heran, reckt ihren Schnabel, faltet die Flügel ein und plumpst in meinen Schoß. »Ich habe noch nie vor einer so großen Menge gesungen«, murmle ich und stecke die Nachricht ein, um sie später zu lesen.

»Das versteh ich«, sagt Levvi und schenkt mir ein beruhigendes Lächeln. »Aber sie sind meist viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um uns zu bemerken.« Sie hebt ihre Fiedel und legt sich den Kinnhalter an den Hals. »Kennst du die ›Ballade vom gefallenen Mond‹?«

Alle Wärme weicht aus meinem Gesicht, während sich eine Erinnerung wie ein Band durch meine Gedanken windet. Frei von Gefühlen. Von Schönheit.

Von Schmerz.

Der Geist von etwas, das ich kaum fassen kann, dessen Leichnam in meinem eisigen Unterbewusstsein verankert ist. Der Ort in mir, der so unermesslich groß ist wie die Ergor-Ebene, die ich einst allein durchwandert habe – befleckt vom Blut eines anderen, das an den Lumpen um meinen skelettartigen Körper klebte.

»Ja«, krächze ich. »Dieses Lied kenne ich gut.«

Levvi zieht ihren Bogen über die gespannten Saiten aus dem Schwanzhaar der prächtigen Moonplume-Drachen, das im Halbdunkel glänzt, und lässt den ersten Ton erklingen. Er ist so lang und tief, dass er fast greifbar wirkt. Die nächsten Töne spielt Levvi mit einer solchen Leidenschaft, als hätte sie die Melodie persönlich geschrieben. Als wären die schönen Worte der Fabel mit der Asche ihrer eigenen verborgenen Vergangenheit geschrieben worden.

Ich hebe den Verstärker an meine verschleierten Lippen und hole tief Luft, wobei ich mein Gewicht etwas verlagere, damit der versteckte Dolch in meinem Mieder nicht gegen meine Rippen stößt. Dann schließe ich die Augen und stürze mich in die Melodie, wie ich mich einst ins Leben gestürzt habe – nur mit den Worten, die ich inzwischen auszusprechen gelernt habe, und gewappnet durch das Grauen, das ich seitdem erlebt habe.

Flammendes Grauen.

Unfassbares Grauen.

Die Menge löst sich im Nichts auf, während ich von einem tintenschwarzen Sabersythe-Drachen singe, der in einen schwarzen Samthimmel fliegt, sich zusammenrollt und in der Dunkelheit stirbt, um nie wieder gesehen zu werden. Von einer schimmernden Moonplume, die sich neben den rußschwarzen Drachen schmiegt und seine Gestalt erhellt.

Ihr Licht schenkt.

Ich singe vom allmählichen Verblassen der Moonplume. Singe davon, wie ihr Glanz allmählich, mit jedem neuen Aurora-Aufgang, in die Sabersythe eindringt und deren Schuppen weiß färbt. Die Melodie wird immer düsterer und quälender, während ich davon singe, wie die Moonplume am Himmel ihren Halt verliert.

Von ihrem Sturz.

Von der Sabersythe, die sich an ihrem Platz zwischen den Sternen wieder entfaltete, voll geschenktem Leben und Licht, bis sie zurück in die Welt unter ihr flog und ihrer Freundin nachjagte. Davon, wie sie die tintenschwarzen, über den Schnee verstreuten Gesteinsbrocken zusammenkratzte und versuchte, sie wieder zusammenzusetzen.

Von ihrem Scheitern.

Als ich die Augen wieder öffne, wird mir vage bewusst, dass alle Augenpaare im Raum auf uns gerichtet sind und uns anstarren. Weit aufgerissen vor Gier oder feucht vor Empfindungen, die über geschminkte Wangen rinnen.

Aber es ist der Mann im Umhang, der meine Aufmerksamkeit fesselt. Die obere Hälfte seines Gesichts liegt noch immer im Schatten seiner Kapuze verborgen, und dennoch durchdringt sein Blick den Raum und umklammert mich mit einem eisernen Griff, den ich nicht sprengen kann.

Während weitere Worte über meine Lippen strömen, wird mir unmissverständlich bewusst, dass von diesem Mann – der mit der selbstbewussten Leichtigkeit eines Unberührbaren dasteht und alle anderen im Raum an Größe und Präsenz weit überragt – enorme Gefahr ausgeht.

Die ernüchternde Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag, und mein Blick wandert zu Tarik, der in seiner Nische sitzt und mich mit einem solch tödlichen Hunger betrachtet, dass mir klar wird: Ich werde diesen Ort nicht verlassen, ohne dass er mir folgt. Das perfekte Ergebnis.

Bis auf …

Erneut blicke ich zu meinem unbekannten Beobachter, in die Kapuzenschatten, die seine Identität verschleiern.

Ich bin hierhergekommen, um ein Monster zu ködern, und habe gleich zwei angelockt.

Kapitel 2

Es geht doch nichts über sieben Stunden ununterbrochenen Gesang – wenn man sich fühlen will, als hätte man eine Scheuerbürste aus Metall verschluckt und sie dann gleich wieder hochgewürgt.

Ich ziehe an der Kette des Toilettenkastens und räuspere mich, um das Kratzen auf meinen Stimmbändern loszuwerden. Dann schließe ich die Toilettentür hinter mir, trete an eines der Waschbecken und seife mir die Hände ein, während ich mein Spiegelbild betrachte. Himmelblaue Augen starren mich an; die untere Hälfte meines Gesichts wird von einem dichten roten Schleier verhüllt. Er steht in krassem Gegensatz zu meiner schneeweißen Haut und verdeckt die Hälfte meiner langen pechschwarzen Locken mit einem dramatischen Schwung.

»Du singst wie ein Schöpfer.«

Ich sehe die Frau neben mir an, die sich die Hände abtrocknet, während sie ihr eigenes Spiegelbild studiert. Mit hocherhobenem Kinn dreht sie den Kopf hin und her und begutachtet ihr perfekt geschminktes Gesicht.

»Danke.« Schätze ich.

Es könnte aber auch eine Beleidigung sein. Wer weiß das schon bei diesen Leuten.

Sie mustert mein geclipptes Ohr. »So eine Stimme … scheint für eine Null verschwendet zu sein«, sinniert sie, als wäre ich gar nicht da.

Definitiv eine Beleidigung.

»Ignos würde mir aus der Hand fressen, wenn meine Stimme einen solchen Tonumfang hätte.«

Ich beiße mir so fest auf die Zunge, dass sie blutet, und mein Blick wandert zu der roten Perle an ihrem Ohr. Dann neige ich unterwürfig den Kopf. »Ja. Wirklich eine Verschwendung für jemanden, den die Schöpfer nicht für würdig hielten, ihre Lieder zu hören.«

Die Frau summt vor sich hin und betrachtet erneut ihr Spiegelbild, während sie eine Haarsträhne zurechtrückt, offenbar bestätigt durch mein Nicken, meine Anerkennung ihrer vorbestimmten Überlegenheit, die sie erwartet hat.

Als die Tür hinter ihr zufällt, rolle ich mit den Augen und trockne mir die Hände ab.

Eines schönen Aurora-Zyklus werde ich gezwungen sein, mir so fest auf die Zunge zu beißen, dass ich die Spitze abtrenne – da bin ich mir ganz sicher. Es ist ein verdammtes Wunder, dass sie immer noch dran ist.

Als ich aus der Toilette trete, entdecke ich einen Mann im Flur. Er lehnt an der Wand und versperrt den einzigen Ausgang – abgesehen vom Toilettenfenster im Raum hinter mir.

Abrupt bleibe ich auf der Schwelle stehen und halte die Tür einen Spalt geöffnet. Mein Herz schlägt wie wild angesichts dieser … unerwarteten Entwicklung.

Ich dachte, es würde länger dauern, ihn anzulocken. Und dass ich wenigstens in Ruhe pinkeln könnte, bevor es zur Sache geht.

Tarik Relaken starrt in das Glas, das er umklammert. Bernsteinfarbene Flüssigkeit wirbelt darin herum, bis Rauch daraus aufsteigt. Rote Haarsträhnen hängen vor seinen Augen, orangefarbene Flammen sind in die kurz geschnittenen Seiten geschoren und umrahmen die Elementarperle, die wie ein Blutstropfen an seinem Ohrläppchen hängt.

»Du hast eine sensationelle Stimme«, dröhnt er, den Blick noch immer in die Tiefen seines Drinks gesenkt. »Und die Farbe deines Kleids …« Er legt den Kopf schräg, und Flammen spiegeln sich in seinen dunkelbraunen Augen, die mich schon von Weitem versengen. »Außergewöhnlich.«

Ich ziehe die Tür hinter mir zu und schließe mich mit dem Mann im Flur ein. Meine Gedanken überschlagen sich. Ich habe seine volle Aufmerksamkeit – jetzt muss ich ihn nur noch aus diesem Etablissement herausschaffen.

Ich neige den Kopf zum Dank und will an ihm vorbeigehen, als er sich von der Wand abstößt und sich mir zuwendet.

Und den Ausgang damit endgültig blockiert.

»Bleib«, murmelt er und führt sein Glas an die Lippen. Er nimmt einen Schluck und säuselt ein schmieriges »Trink mit mir«.

Mein Magen ballt sich zusammen.

Sein Mund mag vielleicht vom Trinken sprechen, aber seine Augen sagen andere, viel hässlichere Dinge: Sie wollen mich Stück für Stück auseinandernehmen, bis nichts mehr für die Aasgeier übrig ist.

Du bist wirklich ein Dreckskerl.

»Mit so einer Stimme«, fährt er fort, wobei sein Blick wie ein öliger Pinsel über meinen Körper schweift und mir Gänsehaut bereitet, »ist dein Mund sicher ein verdammtes Vergnügen.«

Eine Kugel aus eisiger Wut sammelt sich in meiner Brust, pulsiert mit ihrem eigenen brutalen Herzschlag und giert danach, die Sache jetzt und hier zu beenden.

Sofort.

Es wäre dumm, es nicht zu tun. Schließlich bettelt er förmlich darum.

Ich werfe einen Blick auf den verschlossenen Ausgang. Auf den Riegel genau vor mir – nur drei große Schritte entfernt. Wenn es mir gelingt, an ihm vorbeizukommen und den Riegel vorzuschieben, kann ich dafür sorgen, dass niemand diese improvisierte Zusammenkunft unterbricht, bis die Tat vollbracht ist.

»Verzeihen Sie, Sir, aber es ist ein weiter Weg nach Hause. Ich muss mich wirklich aufmachen, wenn ich vor dem Aurora-Aufgang noch etwas Schlaf bekommen will.«

Ich bewege mich leicht nach rechts, um mich an ihm vorbeizuschieben …

Seine Hand schlägt so hart gegen die Wand, dass die Flamme im Wandleuchter flackert und meine Füße verharren. »Ich bestehe darauf«, knurrt er, und seine Augen verhärten sich zu dunklen Feuersteinen, die etwas in mir innehalten lassen.

Nachdenken lassen.

Ich überlege, ob es sinnvoll ist, die Tür zu verriegeln. Ja, das wäre riskant. Aber um ehrlich zu sein, trage ich den Schleier genau aus diesem Grund – für den unwahrscheinlichen Fall, dass ich gezwungen sein werde, mit einer abgetrennten Gliedmaße in der Tasche durch ein Hinterfenster zu fliehen. Damit mich später niemand festhalten kann, wenn er mir auf der Treppe begegnet, mir ins Gesicht sieht und mich als die Hauptverdächtige wiedererkennt, die Tarik Relaken – hand- und pulslos – in eine Toilettenkabine gestoßen hat.

Egal.

Meine Aufmerksamkeit konzentriert sich auf ihr Ziel, mein Körper macht sich bereit. Meine Fingerspitzen kribbeln erwartungsvoll, als ich nach dem Dolch greife, der in der versteckten Scheide in meinem Mieder steckt …

Die Tür hinter Tarik schwingt auf, und ich fluche unterdrückt. Wir blicken beide über seine Schulter zu dem großen Mann mit der Kapuze, der mich den ganzen Schlummer über vom hinteren Ende des Raums aus beim Singen beobachtet hat – so unerschütterlich ruhig wie eine Statue.

Der Flur ist plötzlich wie eine Ader, durch die zu viel heißes Blut pulsiert. Als hätte sich ein glühender Sturm zwischen die eng stehenden Wände gezwängt und den ganzen Sauerstoff aufgesaugt, sodass mir kaum noch Luft zum Atmen bleibt.

Frustration und Wut brodeln und kämpfen in mir. Meine Hand rutscht von meinem Mieder und versinkt in den Falten meines Rocks, wo ich den Stoff mit der geballten Faust umklammern kann, ohne dass es auffällt.

Wirklich ein unglücklicher Zeitpunkt, um pinkeln zu gehen – aber weniger unglücklich für ihn: Wäre er ein paar Sekunden später gekommen, hätte er eine Situation miterlebt, aus der er nicht mehr lebend herausgekommen wäre.

Tarik räuspert sich, nimmt seine äußerst glückliche Hand von der Wand und dreht sich zur Seite, um mir Platz zu machen. Ehrlich gesagt, sollte er sie benutzen, um diesem Mann die Hand zu schütteln – schließlich hat er ihm gerade das Leben gerettet.

Vorläufig.

»Milady«, stößt Tarik hervor und zwingt sich ein aufdringliches Lächeln ab. »Habt einen von den Schöpfern gesegneten Schlummer.«

Ich kämpfe gegen den Drang an, meine Augenbrauen bis zum Haaransatz hochzuziehen. Anscheinend bin ich nicht die Einzige, die die explosive Energie dieses mysteriösen Mannes spürt.

Ich wünschte nur, er würde diese Energie woanders einsetzen.

»Danke«, murmle ich, und meine Dolchhand zuckt, während ich an Tarik vorbei zum Ausgang gehe und dem Kapuzenmann, der die Tür aufhält, einen Blick zuwerfe. Aber seine Aufmerksamkeit gilt nicht mir, sondern einzig und allein Tarik.

Seltsam.

Seufzend schiebe ich mich durch die sich lichtende Menge, vorbei an Leuten, die in dunklen Ecken oder auf Tischen miteinander vögeln. Andere hocken zusammengesackt in niedrigen Sesseln, komatös, ihre Getränke immer noch in der erschlaffenden Hand. Einige wenige sind noch nüchtern genug, dass sie mich vorbeigehen sehen und mir zurufen, dass ich singen soll.

Sing.

Sing.

Wenn sie wüssten, dass ich genau das vorhabe …

Während in meiner Brust nur mühsam unterdrückte Gewaltfantasien toben, mache ich mich geradewegs auf den Weg zum Ausgang, denn ich bin mir sicher, dass Tarik mir mit seinem eigenen mühsam unterdrückten Verlangen auf dem Fuße folgen wird. Vermutlich bleiben mir nur ein paar Sekunden, während sich der Kapuzenmann auf der Toilette erleichtert. Nur ein paar Sekunden, um Tarik ohne den zeitraubenden Begleiter, den ich nicht einkalkuliert habe, hier herauszuschaffen.

Mein ohnehin enger Zeitplan wird dadurch noch enger.

»Kemori, warte!«

Ich brauche zwei Schritte, bis mir klar wird, dass jemand meinen Namen ruft.

Mist.

Ich bleibe stehen und unterdrücke einen Fluch, bevor ich einen Blick über die Schulter werfe.

Levvi packt gerade ihr Instrument in den Koffer, den sie auf unseren Hockern aufgeklappt hat, und schiebt sich die Haare hinters Ohr, während sie mich ansieht. Das verwischte Make-up unter ihren Augen verrät, wie lange wir ohne Pausen oder Erfrischungen gesungen und gespielt haben.

»Hier.« Sie wedelt mit einem kleinen Beutel. »Unsere Gage.«

Ah.

Sie steigt vom Podium und kommt auf mich zu. »Ich glaube, der ansässige Runei hat etwas abgezweigt«, sagt sie mit einem Augenrollen und hält mir den Beutel entgegen. »Aber es sollte für ein paar herzhafte Mahlzeiten reichen.«

Mein Blick wandert zwischen ihrem geclippten Ohr, ihrem prallen Bauch und dem, was von der schwindenden Menge übrig geblieben ist, hin und her. Dann strecke ich den Arm aus, lege meine Hand um ihre und zwinge sie, den Griff um den Beutel zu schließen. »Behalte ihn. Und danke, dass du mit mir gespielt hast. Es war etwas ganz Besonderes.«

Eine Falte bildet sich zwischen ihren Brauen.

Ich wende mich ab und bin drei Schritte näher an der Treppe, als ihre Stimme mich einholt: »Lass mich dich nach Hause begleiten!«

Mein Herz sackt mir in den Magen.

»Mein Freund wartet draußen auf mich«, fährt sie fort. »Er ist ein freundlicher, fleißiger Mann, der noch niemandem etwas zuleide getan hat. Er kann auch dich begleiten.«

Ich werfe einen Blick über die Schulter und bemerke die tiefe Besorgnis in ihren hübschen grünen Augen. »Danke, aber das ist nicht nötig. Mein Zuhause ist so nah, dass ich schon schlafen werde, wenn du noch die Schnallen deines Koffers zuziehst.«

Eine Lüge.

Mein Zuhause liegt ganz am anderen Ende des Grabens. Wenn ich so weitermache, kann ich froh sein, wenn ich es bis zum Aurora-Aufgang erreiche – denn ich habe nicht vor, in diese Richtung zu gehen, sobald ich es endlich nach draußen geschafft habe.

Ich bin dem Ausgang weitere zwei Schritte näher, als sich ihre Hand auf meinen Arm legt und mich festhält, obwohl meine Nerven in vollem Galopp voranpreschen.

Levvi schiebt sich vor mich.

Mit bleichem Gesicht blickt sie sich in unserer dämmrigen Umgebung um und rückt dann dicht an mich heran. »Ich habe gesehen, wie Tarik dich beobachtet hat, Kemori. Ich fürchte um deine Sicherheit. Diese Zeit des Schlummers ist nicht gut für Leute wie uns. Bitte, lass uns dich nach Hause begleiten …«

Der entschlossene Ton in ihrer Stimme dämpft meine aufkeimende Frustration.

Sie wird mir immer sympathischer.

Ich hasse es, wenn Leute mir sympathisch werden.

Ich schaue mich rasch um. Dann greife ich in die linke Tasche meines Kleids, zertrenne die Sicherheitsnaht mit dem Fingernagel, krame in der verborgenen Tasche herum und hole eine kleine Glaskugel hervor. Die Kugel ist durchsichtig – bis auf die Darstellung eines mythischen Elding-Vogels, der aus einem flammenden Ei schlüpft, gefangen in der Tiefe der Kugel.

»Mach dir um mich keine Sorgen«, flüstere ich und nehme ihre Hand.

Stirnrunzelnd schaut sie nach unten, und ich lockere meinen Griff gerade so weit, dass sie einen Blick auf den zwischen unseren Handflächen gepressten Schatz erhaschen kann. Als ihr langsam die Erkenntnis kommt, werden ihre Augen groß.

»O-oh«, sagt sie, und das Wort kommt zittrig, wie in Bruchstücken aus ihrem Mund. Als ob irgendetwas in ihrem Innern gerade zerfallen wäre. »T-Tarik?«

Ich nicke und stecke die Kugel ein, mit der sie besser nicht erwischt werden sollte.

Sie holt tief Luft, aber es gelingt ihr nicht, sie in Worte zu verwandeln. Stattdessen atmet sie zitternd aus und starrt wie gebannt auf ihre Hände, die jetzt die Wölbung ihres Bauchs umklammern. Ein Anblick, der etwas Seltsames mit meinem Herzen macht. Es fühlt sich an, als würde es platzen – und das ist kein gutes Gefühl.

Ich muss hier raus.

»Pass auf dich auf«, flüstere ich und will mich gerade abwenden, als sie erneut meinen Arm ergreift. Mit vor Rührung glasigen Augen hält sie mir ein gefaltetes Pergament entgegen.

»Was ist das?«

»Meine … äh, wie du mich erreichst. Für den Fall, dass du mal wieder gemeinsam auftreten willst«, flüstert sie und zwingt ihre Lippen zu einem Lächeln, das eher traurig als glücklich wirkt. Als wüsste sie bereits, dass ich mich nicht bei ihr melden werde.

Dass wir uns nie wiedersehen werden.

Ich nehme das Pergament trotzdem entgegen und neige dankbar den Kopf, als Tarik aus der Toilette kommt und mich sieht.

Da bist du ja.

Ich wirbele zur Treppe herum und verlasse eilig die Hungrige Höhle.

In einem anderen Leben hätte ich mich vielleicht mit Levvi angefreundet. Aber …

So viele Aber.

Ich erinnere mich an jemanden, den ich einmal kannte. Jemand anderes mit einem sorglosen Lächeln und einem warmen Blick. Eine Frau, die jetzt nur noch eine blasse Erinnerung ist und mir keinen Stich mehr ins Herz versetzt. Nicht nachdem ich all diese schweren, schmerzhaften Empfindungen an einen Stein gebunden habe, der nun auf dem Grund meines eisigen inneren Sees verankert ist.

Freundschaft ist etwas, das ich mit Macht zu vermeiden versuche. Und zwar meistens erfolgreich. Je mehr man jemanden mag, desto zerbrechlicher erscheint alles.

Es ist einfacher, das alles zu …

... vergessen.

Kapitel 3

Es schneit – dicke Flocken, die sich in meinen Federwimpern verfangen und das Pflaster bestäuben. Der Schnee knirscht unter meinen Stiefeln, während ich den tristen Graben entlanggehe, der zu dieser späten Stunde fast völlig ausgestorben ist.

Die beiden Hälften der gewaltigen Steinmauer ragen rechts und links neben mir auf und verlaufen parallel von Ost nach West, so weit das Auge reicht. Sie wirken wie zwei gigantische Bücherregale, und die Straße zwischen ihnen ist breit genug, dass Karren darauf nebeneinander herfahren können.

Die Mauer legt sich wie ein Gürtel um den dicken Bauch der Welt und ist nur in dicht besiedelten Abschnitten, wie hier in Gore, zweigeteilt. Tief genug eingeschnitten, damit sich die Leute in dieser langen Senke sicher fühlen – weit weg von der unmittelbaren Bedrohung durch Raubtiere.

Was ganz und gar nicht der Fall ist.

Hier unten, auf dem geschützten Graben, gibt es genauso viele Raubtiere, wenn nicht noch mehr. Sie sind nur gut getarnt.

Eine silberne Saumotte löst sich aus einem Schwarm, der über mir kreist, und flattert so nah an mir vorbei, dass ihre pelzigen Flügel mich mit einem Sprühnebel aus leuchtendem Puder einhüllen.

Ich lächle.

Ich mag diese Zeit des Schlummers, in der es ist, als gäbe es nur mich, die Saumotten und die bonbonrosa Wolken. Auch wenn es nicht stimmt.

Auch wenn mir ein Monster auf den Fersen ist.

Obwohl Tarik seine Schritte perfekt auf meine abstimmt und seine Füße so leise aufsetzt, dass ihr Geräusch beinahe im Rieseln der Schneeflocken untergeht, spüre ich seine Anwesenheit wie einen bedrohlichen Schatten, der mich zu verschlingen droht.

Eigentlich sollte ich ängstlich sein. Nervös. Vielleicht sogar ein wenig traurig über das, was ich tun werde.

Überleben ist ein seltsames Gefühl. Manche empfinden es wie ein Flüstern, andere wie einen Schrei. Ich fühle mich wie ein verbranntes Skelett aus flammengeschmiedeter Wut. Ein Skelett, das mich aufrecht hält, das mich vorwärtstreibt.

In meiner Brust gibt es nicht mehr viel, das sich weich und nachgiebig anfühlt – alles ist hart und feindselig, unempfindlich gegen so etwas wie Mitgefühl für Tarik Relaken und seinesgleichen. Selbst wenn er nur ein Haufen Mist auf dem Bürgersteig wäre, würde ich mir noch die Mühe machen, auf ihm herumzutrampeln.

Vielleicht macht mich das ja auch zu einem Monster.

Ich schiebe den Gedanken beiseite, während ich eine Treppe auf der Innenseite der Südhälfte der Mauer hinaufsteige, im Zickzack die Ebenen hinauf, vorbei an Türen, die während des Schlummers geschlossen sind. Ich gehe weiter, bis die Mauer nur noch eine Mauer ist – ohne in die Seite gehauene Behausungen.

Die Leute mögen es nicht, so nah an den Wolken zu leben, denn so weit oben fühlt sich die Luft an wie … geliehen. Als gehöre sie nicht uns.

Als gehöre sie den Drachen.

Mir läuft ein Schauer über den Rücken, und ich wende mich in Richtung Süden, hinein in einen langen Windkanal, der den Blick auf die Welt jenseits der Mauer freigibt – vollgepackt mit Wolken, die so nah sind, dass ich fast die Hand ausstrecken könnte, um ihre schweren Rundungen zu berühren.

Als ich nur noch wenige Schritte von einem tödlichen Sturz in die Tiefe entfernt bin, greife ich in meine Tasche und ziehe meinen Eisenring ab – wodurch ich mich einer Flut von Liedern aussetze, die mein Gehirn zu feinem Schlamm zu zermahlen drohen.

Verdammtes … Chaos.

Die Sehnen in meinem Nacken dehnen sich, die Adern in meinen Schläfen pulsieren von zu viel rauschendem Blut und Gesang.

Ich stimme meinen Geist auf die höchste Frequenz ein, als würde ich die Saite einer Fiedel spannen, und verschließe dann meine Gedanken wie mit einem Filter, um Clodes manische Melodie zu isolieren, die sie mit der ganzen Gewalt ihrer wogenden Lunge hervorstößt. Die Göttin der Luft erzeugt einen heulenden Wirbel, der meinen Schleier flattern lässt und ein schiefes Grinsen auf mein Gesicht zaubert.

Sie will spielen.

Genau wie ich.

Die Haare in meinem Nacken richten sich auf, Tariks Schritte kommen näher …

Immer näher.

Komm schon, du schleimiger Mistkerl. Greif mich an …

Seine Hand krallt sich in meinen Nacken, und er presst mich mit dem Gesicht gegen die Mauer, wobei er sein Gewicht einsetzt, um mich festzunageln.

Als ich sein Gewicht spüre, läuft mir ein Schauer über den Rücken. Die lähmende Macht eines Mannes, der entschlossen ist, sich zu nehmen, was er will.

Ich täusche ein Wimmern vor. Einen Anflug von Verzweiflung.

»Sch, sch, sch«, krächzt er an meinem Ohr – was mir das Blut in den Adern gerinnen lässt. »Sei eine gute kleine Null.«

Wut explodiert in meinem Bauch. Er hat das so vielen anderen angetan. So viele wurden von seiner gefräßigen Gier verschlungen, als wären sie nichts weiter als ein Snack.

Nie wieder.

Ich hebe meinen Stiefel und beiße auf die Metallkappe, die meinen hinteren Backenzahn krönt. Mit einem Klick schiebt sich ein Eisenspieß aus meiner Ferse. »Glei te ah no veirie«, psalmodiere ich flüsternd, spucke die Worte aus wie einen erstickten Schmerz.

Der Sprechgesang überredet Clode, Tarik fast jeden Hauch von Luft aus der Lunge zu saugen.

Sie kichert.

Als sich seine Organe zusammenziehen, bringt Tarik ein ersticktes Keuchen hervor, und ich stoße den Annullierungsstift durch die Oberseite seines Stiefels. Dann beiße ich ein zweites Mal auf die Kappe und jage den Stift so tief zwischen Tariks Fußknochen und Sehnen, dass er ihn nur dann loswerden könnte, wenn er sich seinen eigenen Knöchel durchhackt und den Fuß abtrennt.

Eine Vorsichtsmaßnahme.

Ich bezweifle, dass Clode ihren Griff um seine Lunge lockern wird, aber ich werde verdammt noch mal nicht zulassen, dass er Ignos mit ein paar flammenden Worten auf mich hetzt. Der Gott des Feuers liebt Festessen, und ich würde lieber lebendig gehäutet werden, als ihn an mir nagen zu lassen.

Ein weiteres Mal.

Tariks Griff lockert sich, und er stolpert humpelnd zurück. Seine Stiefel schrammen über den Schnee, während ich mein Gewand glatt streiche und mich aufrichte. »Tarik fucking Relaken«, murmle ich und ziehe die mit Runen versehene Drachenschuppenklinge aus dem Geheimfach meines Mieders. Sie ist scharf genug, um durch Knochen zu schneiden wie ein Messer durch Butter.

Dann wende ich mich ihm ganz zu, den Kopf schräg gelegt, und schaue direkt in seine großen blutunterlaufenen Augen – während meine Fingerspitzen vor Vorfreude kribbeln. »Hast du einen von den Schöpfern gesegneten Schlummer?«

Seine Augen quellen hervor, dann verengen sie sich und starren auf die Klinge, die ich in den Fingern herumwirbele. Tarik verliert den Halt, greift sich verzweifelt an die Kehle und taumelt mit offenem Mund gegen die gegenüberliegende Tunnelwand.

Schätze, das ist ein Nein.

Sein Brustkorb zuckt. Mühevoll pfeift sein Atem durch die Luftröhre und hilft ihm, seine eingefallene Lunge mit Luft zu füllen. Geradegenug, um ihn am Leben zu erhalten, bis er meine gut vorbereitete Rede gehört hat.

Einmal habe ich beobachtet, wie jemand eine Angel in einem eisigen See auswarf und einen langen, sich windenden Eahl an die Oberfläche holte. Der Fisch zappelte im Schnee, und seine schillernden Schuppen glitzerten, während sein Maul unaufhörlich nach Luft schnappte, bis er schließlich ganz still dalag.

Dieses Spiel hier erinnert mich immer an diesen Augenblick – nur dass mir der Eahl leidgetan tat.

Ich empfinde nichts für Tarik außer dem unbändigen Wunsch, ihm die Kehle aufzuschlitzen, bevor er noch mehr Leben ruiniert. Aber so weit sind wir noch nicht.

Zuerst muss er leiden.

Ich bewege mich auf ihn zu, während mein Blick zwischen seinen Händen hin und her wandert und versucht, sich für eine von beiden zu entscheiden. Schwierig – sie sind sich so ähnlich.

»Eine der anderen Elding-Klingen hätte dich vermutlich auf die sanfte Art in den Tod geführt«, murmle ich und entscheide mich für die rechte Hand. Ich packe sie, zerre daran und ziehe meine Klinge so schnell über sein Handgelenk, dass er gar nicht merkt, was geschieht – bis ich ihm das abgetrennte Glied entgegenhalte. »Wahrscheinlich hätten sie das hier erst nach deinem Tod getan.«

Zu Tariks Pech besitze ich eine besondere Quelle der Wut, die ich speziell für Leute wie ihn reserviere.

Er starrt mich an, fasst sich an den Hals, als wäre seine Hand noch da, während Blut hervorspritzt. Sein Mund ist so weit aufgerissen, dass ich seine Mandeln sehen kann.

»Vielleicht sollte ich das erklären«, sage ich und hole einen Wachstuchbeutel aus der Tasche, stecke meine neu geerntete Hand hinein und ziehe die Kordel fest zu. »Ich habe mich in der Unterstadt herumgetrieben und bin auf dein kleines Geschäft gestoßen.«

Klein ist eine Untertreibung. Sein weitläufiges Etablissement ist so groß wie eine Stadt, ausgestattet mit einer amphitheatergroßen Kampfgrube, Schlafsuiten für diejenigen, die kein einziges Duell verpassen wollen, und Zellen voll mit eingesperrten Kindern. Nullen, die er von der Mauer gepflückt oder verzweifelten Eltern abgekauft hat, die nicht genug Geld hatten, um sie zu ernähren – in der Hoffnung, dass sie ihren Sprösslingen damit die Chance auf ein besseres Leben geben würden.

Die Chance, sich ein Leben zu erkämpfen.

Keines der Kinder sah unterernährt aus, aber es gibt viele Möglichkeiten, eine Seele auszuhungern.

»Ich habe versucht, deine Gefangenen zu befreien, von denen einige – wie ich hinzufügen möchte – dringend einen Heiler brauchten, um ihre kleinen gebrochenen Körper zu heilen.« Ich winke ihm mit dem schweren Wachstuchbeutel zu und zucke die Schultern. »Aber stell dir meine Enttäuschung vor, als ich entdeckt habe, dass ich deinen Handabdruck benötige, um ihre Zellen zu öffnen.«

An seinem panischen Blick erkenne ich, dass er sich das nicht deutlich genug vorstellt. Dass er zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist.

Ich werfe den Beutel auf einen zusammengewehten Haufen Schnee, während er mit der verbleibenden Hand in seiner Tasche herumfummelt und eine Klinge herauszieht. Mühelos entreiße ich sie seinem lächerlichen Griff und schnalze missbilligend mit der Zunge, bevor ich sie ihm in den Oberschenkel ramme.

»Nicht dass ich zu diesem Zeitpunkt gewusst hätte, wer du bist«, murmle ich und beobachte, wie er zittert und zuckt.

Und genieße es förmlich.

Sein Gesicht ist noch roter als sein Gewand, mit hervortretenden Adern an den Schläfen und in seinem Nacken, als ich seine blutrote Tunika aufschneide, seine Brust entblöße und dann seine andere Hand packe, die nicht aufhören will, nach mir zu greifen. Ich hebe sie hoch, presse sie gegen die Mauer und spieße sie dort mit meiner Klinge fest, damit ich mich auf meine Aufgabe konzentrieren kann.

Erneut verkrampft sich sein gesamter Körper, und etwas Feuchtes rinnt seine Hosenbeine hinunter.

»Weißt du, was das Komische ist? Am nächsten Dae hat deine Gebundene einen Weg gefunden, uns zu kontaktieren. Du weißt natürlich, wer wir sind. Die Fíur du Ath.«

Aus der Asche.

Seine Gesichtszüge verzerren sich.

Ich hebe meinen Rock und ziehe eine weitere Klinge aus dem Schaft meines Stiefels. »Sie ist schön, deine Gebundene. Wirklich umwerfend. Ich würde den gesamten Inhalt meiner Schatulle darauf verwetten, dass du sie ebenfalls gekauft hast – in der Hoffnung, dass die braune Perle in ihrem Ohr dir mächtige Nachkommen garantiert.«

Weitere würgende Zuckungen – sein keuchender Brustkorb ist rot vom Blut. Es entgeht mir nicht, dass er jetzt von Kopf bis Fuß in der Farbe vor mir steht, die er so sehr liebt.

Die Farbe, mit der er prahlt.

Mit schräg gelegtem Kopf studiere ich mein karmesinrotes Gemälde und ziehe die Spitze meiner Klinge quer über seine Brust. Dann erhöhe ich den Druck ein wenig und mache mich daran, grobe Buchstaben in seine Haut zu schlitzen.

»Sie hat uns erzählt, dass du ihr schreckliche Dinge angetan hast. Und anderen ebenfalls«, sage ich, während ich ihn weiter aufschlitze.

Schlitz.

Schlitz.

»Allen, die du in deine dreckigen Finger bekommst.«

V.

Vergewaltiger.

Aus dem Buchstaben quillt mehr von seiner bevorzugten Farbe hervor, während er sich windet und den Mund zu einem stummen Schrei weit aufreißt.

Göttliche gesegnete Stille. In solchen Momenten könnte ich Clode küssen.

»Sie erwähnte auch, dass du deinen Null-Sohn zwar nicht dazu zwingst, in deiner berühmten Arena in der Unterstadt zu kämpfen, aber dass du Ignos regelmäßig dazu aufforderst, ihn mit Flammen zu überziehen, weil er eine so große Enttäuschung für deinen Stammbaum ist.«

Die Worte pressen sich durch meine zusammengebissenen Zähne, und die immense eisige Präsenz in mir verändert sich.

Brodelt.

Ich schlitze ein K. Dann ein S.

Kinderschänder.

Eigentlich bin ich versucht, ihm das ganze Alphabet in die Haut zu ritzen, aber die Zeit drängt. Stattdessen bekommt er noch drei weitere Buchstaben:

S-A-U.

Selbsterklärend.

Der Wind wird zu einem reißenden Strom, der um die Ecken pfeift und meinen Schleier lüftet.

Mich entblößt.

Aber ich mache mir nicht die Mühe, mich zu bedecken, und frage mich, ob ihm meine Stimme immer noch gefällt. Und die Farbe meines Kleids.

Ob er bereut, dass er mir gefolgt ist und versucht hat, mich an der Mauer zu vergewaltigen.

Sein Brustkorb zuckt zur manischen Melodie von Clodes wirbelndem Kichern. Er hängt praktisch an seiner an die Mauer genagelten Hand, während sich sein kostbarer Atem pfeifend durch seine Kehle presst.

»Ignos hat angefangen, zu deiner Tochter zu sprechen, wusstest du das?«

Sein Gesicht verzerrt sich und zeigt tiefe Falten der Qual, während sich seine Stiefel in den blutgetränkten Schnee bohren.

»Sie wurde während des Schlummers aus der Stadt gebracht, zusammen mit dem Rest deiner Familie – aber nicht, bevor deine Gebundene uns alles erzählt hat, was wir brauchen, um dein beschissenes Geschäft auszulöschen und die Kinder zu befreien.«

Und sie an einen sicheren Ort zu bringen, wo sie wieder lernen können, Kinder zu sein.

Ich wiederhole Clodes erstickenden Gesang, und sie rauscht mit unersättlicher Geschwindigkeit um mich herum und verwandelt mein Haar in ein pechschwarzes Chaos, während Tariks Gesicht blau anläuft.

Dann violett.

»Wie ist es, zur Null erklärt zu werden, Tarik?«