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Mitreißend und tiefgründig: Ein Second-Chance-Roman, der ein verborgenes Trauma ans Licht bringt und heilende Kräfte wachruft.
Nach dem verheerenden Schul-Amoklauf, bei dem sie ihre beste Freundin verliert, will Lina nur weg und vergessen. Sie lässt alles hinter sich – auch Liam, der sie durch die dunkelste Zeit begleitete. Als Lina Tom kennenlernt und sich verliebt, fühlt sie sich wieder geborgen. Doch was als glückliche Beziehung beginnt, wird schon bald zu einem Alptraum. Tom kontrolliert, demütigt und gaslightet sie. Lina muss die Kraft aufbringen und zu dem Menschen zurückkehren, der ihr schon einmal beim Überleben geholfen hat. Aber wird Liam immer noch für sie da sein? Und kann Lina sich selbst und der Liebe jemals wieder trauen?
Tropes: Broken Heroes, Friends to Lovers
Mit Farbschnitt in limitierter Erstauflage
{heartlines} = True Story + New Adult: Inspiriert von den echten Geschichten und Persönlichkeiten der Storygeber*innen schreiben die Autor*innen Romane zum Eintauchen und Mitfühlen. Mit Charakteren, die Mut machen, und unvergesslichen Lovestorys, die unsere Herzen erobern.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 564
Veröffentlichungsjahr: 2025
Der Roman »When The Rain Burns« based on Sina’s True Story thematisiert potenziell triggernde Inhalte. Sollte es daher Themen geben, die ihr vermeiden oder nur vorbereitet lesen möchtet, dann werft bitte einen Blick auf S. 455, wo die sensibleren Themen des Romans aufgelistet sind. Bitte denkt jedoch daran, dass die Liste die Handlung des Buches spoilern könnte.
– based on a true story
Weil das Leben die besten Geschichten schreibt.
Jede Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Wir schaffen einen Safe Space für die Begegnung von Autor*innen mit jungen Menschen, die ihre Erlebnisse teilen möchten. Inspiriert von den echten Geschichten und Persönlichkeiten der Storygeber*innen schreiben die Autor*innen Romane zum Eintauchen und Mitfühlen. Mit Charakteren, die Mut machen, und unvergesslichen Lovestorys, die unsere Herzen erobern. Wenn auch du als Storygeber*in dabei sein möchtest, dann schicke uns eine E-Mail an
mit folgendem Inhalt: eine kurze Schilderung deiner wahren Erlebnisse und deine Motivation, daraus einen Roman zu machen. Die Länge sollte maximal 2 – 3 Seiten sein.
Wir freuen uns, von dir zu hören!
www.penguin.de/verlage/heartlines
@penguinlovestories
JUSTINE PUST
Based on Sina’s true story
Roman
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Dieses Buch basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte, einen Anspruch auf Faktizität erhebt es aber nicht. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerkes gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist. Für alle Leser und Leserinnen erkennbar, erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt, wodurch Grenzen bewusst verschwimmen.
Originalausgabe 04/2025
Copyright © 2025 by Justine Pust
Copyright © 2025 by {heartlines} Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Diana Mantel
Sensitivity Reading: Nora Bendzko
Umschlaggestaltung: Emily Bähr (www.emilybaehr.de)
Umschlagmotiv: © Msnty studioX via Shutterstock
Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg
ISBN 978-3-641-32195-6V001
www.penguin.de/verlage/heartlines
@penguinlovestories
Für jede dritte Frau, die Gewalt erlebt hat und deren Geschichte unerzählt bleibt:
Du bist nicht allein. Wir sind viele. Und mit jeder von uns, die ihre Stimme findet, bricht eine andere ihr Schweigen.
Linas dunkle Zeiten sind vorüber. Sie studiert, geht abends ins Tanzstudio und ist verliebt. Tom hat ihr Herz im Sturm erobert und gibt Lina das Gefühl, bei ihm endlich in Sicherheit zu sein. Besonders in den Nächten, wenn sie immer noch von dem Amoklauf an ihrer Schule träumt und von Liam, den sie zutiefst verletzt hat.
Doch Tom wird besitzergreifender, demütigt Lina, macht ihr Schuldgefühle, isoliert sie. Sie spürt, dass die Beziehung immer toxischer wird, weiß aber nicht, wie sie sich befreien kann. Und sie ahnt, dass Liam um Hilfe zu bitten, ihr zum Verhängnis werden kann …
»Ich wollte Hilfe, doch ich wusste nicht wie. Vor allem war es die Scham, die mich davon abgehalten hat, tätig zu werden. Was sollen nur meine Freund*innen denken, was meine Familie? Ich wollte nicht, dass man meine Schwächen sieht, diese konnte ich schon immer gut verstecken.« Sina, Storygeberin
Justine Pust ist Sozialarbeiterin, die in ihrer Freizeit nicht nur für Bücher lebt, sondern auch gern Hunde ausführt. Über ihre Lieblingsbücher, das Schreiben und Mental Health berichtet sie auf Social Media unter @justinepust.
Sina ist gelernte Erzieherin und Sonderpädagogin. Der Amoklauf in einer Kleinstadt in Baden-Württemberg löst in der Folge Panikattacken und depressive Episoden aus. Sie versucht Halt in der Beziehung zu einem Mann zu finden, der ihr Liebe verspricht. Tatsächlich tut er ihr physische und psychische Gewalt an, bis ihr die Flucht gelingt. Nach einem Klinikaufenthalt und einer erfolgreichen Traumatherapie lebt sie heute in der Nähe von Stuttgart.
Liebe Lesende,
in diesem Roman werden viele Themen angesprochen, die triggern können. Wir bitten euch deshalb, vor dem Lesen einen Blick in die Triggerwarnung auf Seite 455 zu werfen.
Achtet während des Lesens auf euch.
Solltet ihr Hilfe oder Unterstützung brauchen, könnt ihr euch jederzeit an das Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen« wenden: Unter der 116 016 erreicht ihr die Beraterinnen rund um die Uhr, auch an Wochenenden und Feiertagen – an 365 Tagen im Jahr.
In Liebe
Sina, Ju und das Team von Heartlines
Lina
Es heißt, es braucht nur einen Augenblick, um ein ganzes Leben zu verändern. Aber niemand sagt einem, wie man diese Momente erkennen kann.
Ich stehe wie versteinert da. Kann nichts anderes tun, als in die kalten blauen Augen zu blicken, die mich genauso anstarren. Zwischen uns liegen wenige Meter, aber es könnten auch Ozeane sein, so unwirklich fühlt sich das alles an.
Auf dem Schulhof regt sich nichts. Sogar der Wind scheint den Atem angehalten zu haben, während ich den Mann anstarre. Die schwarze Kleidung liegt eng an seinem Körper an. Nur durch die hochgeschobenen Ärmel blitzt etwas Haut hervor und macht klar, dass es sich um einen echten Menschen handelt. Ein echter Mensch in schwarzer Kleidung und mit einer Waffe in der Hand.
Ein Polizist? Aus dem Fenster des Klassenzimmers haben wir sie gesehen. Die Männer, die aus den Wagen geströmt sind. Ebenso schwarz gekleidet. Mit Waffen in den Händen.
Nur warum?
Und warum wird jetzt eine Waffe auf mich gerichtet?
Auf dem Schulhof ist nichts zu erkennen, was eine Gefahr darstellen würde. Niemand ist hier. Die Plätze um die hölzernen Bänke sind ebenso verwaist wie die Ecke, in der sich sonst heimlich die Raucher versammeln und hoffen, dass keine der Lehrkräfte sie erwischt. Dennoch bin ich mir bewusst, dass der Lauf des Gewehres auf mich zeigt.
Ein Polizist?
Nein.
Ich kenne diese Augen.
Mein Kopf kann das Bild nicht wirklich verarbeiten, fragt sich stattdessen nur, wo die anderen Polizisten sind. Und was sie an unserer Schule machen. Was hier gerade passiert und warum die Luft geschwängert ist von einer Angst, die ich zwar spüren, aber nicht begreifen kann.
Ich kenne ihn. Oder bilde ich mir das ein?
Mein Mund öffnet sich, als wollte ich der dunklen Gestalt mir gegenüber diese Fragen stellen, doch dazu komme ich nicht mehr. Jemand packt mich so plötzlich, dass es sich anfühlt, als würde die ganze Welt ins Wanken geraten.
Mein Blick verschwimmt kurz. Ich stolpere, falle fast, doch der Griff ist so fest, dass er mich oben hält. Dann spüre ich die kühle Steinwand in meinem Rücken, und das Bild vor mir wird wieder klarer.
»Lina, was machst du hier, verdammt?«
Erst jetzt wird mir bewusst, dass es Liam ist, der mich gepackt hat. Das blonde Haar fällt ihm in die Augen, die angsterfüllt hinter sich blicken. Er sucht Schutz hinter einer steinernen Säule, ehe er mich ansieht.
Ich habe seine Frage verstanden, doch ich kann nicht darauf antworten. Vielleicht erwartet er das auch gar nicht, denn als sein Blick meinen findet, fügt er nur hinzu: »Wir müssen hier weg.«
Weg.
Das Wort klingt anders. So viel bedeutungsvoller, als es die drei Buchstaben ausdrücken können.
Die Welt droht wieder zu verschwimmen, während ich den Kopf schüttle. »Ich wollte nur nachsehen, was los ist«, kommt es viel zu spät aus meinem Mund. »Frau Michalski ist schwanger, und ich wollte nicht …«
Ehe ich den Satz zu Ende bringen kann, ist Liam plötzlich ganz nah. Seine Hand legt sich auf meinen Mund, während seine Augen panisch nach hinten blicken. Dann erst verstehe ich: Schritte.
Da sind Schritte auf dem Gang zu hören – und sie kommen näher.
Näher zu uns.
Die Schockstarre meines Körpers löst sich auf. Das Adrenalin flutet meine Adern, sorgt dafür, dass ich die Augen aufreiße und Liam anstarre. Nichts anderes, nur ihn.
Weil ich nicht wissen will, was passiert, wenn die Schritte uns erreicht haben.
»Ihr solltet nicht hier sein«, wispert jemand, und sofort löst sich die Anspannung in Liams Schultern auf. Er sackt in sich zusammen, ehe er von mir zurücktritt.
Hinter ihm steht ein Lehrer. Ich habe ihn schon einmal gesehen, aber ich komme nicht auf seinen Namen. Vielleicht etwas mit B. Bauer? Brauer? Etwas in der Art. Mein Gehirn klammert sich wahrscheinlich deshalb an diese vollkommen unwichtigen Fragen, weil es die Antworten auf die anderen vielleicht nicht ertragen könnte.
Der Lehrer tritt näher. Bedacht und vorsichtig sagt er mit gesenkter Stimme: »Ihr müsst zurück in euer Klassenzimmer, sofort.«
Liam nickt.
Ich nicht.
Weil ich noch damit beschäftigt bin, mich zu fragen, ob der Mann in Schwarz das Meer, das zwischen uns lag, überwunden hat und auf dem Weg zu uns ist.
Nur warum? Warum sollte er das tun?
Liam nimmt meine Hand, umschließt sie so fest, dass ich nicht weiß, ob er mich festhalten will oder sich selbst. Dann zieht er mich hinter sich her. Die Treppen nach oben, die ich doch gerade erst heruntergegangen bin, um nachzusehen, was los ist, als ich den ersten Knall gehört habe.
Dann hören wir es: Den zweiten Knall.
Aber wir bleiben nicht stehen.
Keiner von uns.
Unsere Schritte werden nur schneller.
Schlitternd kommt der Lehrer vor unserem Klassenzimmer zum Stehen, klopft und sagt: »Frau Michalski, es sind noch Schüler hier.«
Die Tür öffnet sich, und Liam zieht mich ins Innere des Raumes. Dutzende panische Augen sehen uns an.
Und ich frage mich: Für wie viele von uns wird dieser Moment nicht nur das gesamte Leben verändern, sondern beenden?
Lina
Wenn jedem Neuanfang ein Zauber innewohnt, dann hat die Magie verdammt viel zu tun. Denn wenn wir es genau nehmen, ist immer alles neu.
Ein neues Jahr.
Ein neuer Tag.
Ein neuer Vorsatz, sich oder etwas in seinem Leben zu verändern. Dabei ändert sich ständig alles.
Mit jedem neuen Atemzug verändert sich der Körper.
Es sind immer andere Atome, die durch unsere Lungenflügel in unser Blut gelangen. Die immer wieder dafür sorgen, dass wir uns ein kleines bisschen verändern. Nicht immer merklich. Nicht immer wahrnehmbar, schon gar nicht von außen.
Aber irgendwo tief in uns können wir ihn spüren.
Den ständigen Wandel.
Das Gegenteil von Stillstand.
Mit einem Lächeln atme ich noch einmal tief ein.
Dass ich einmal einen Tanzkurs besuchen würde, der Contemporary Dance für Paare anbietet, ist definitiv etwas Neues. Zumal ich gar keinen Partner habe. Und wenn ich ehrlich bin, wird mir das jetzt erst so richtig klar, und das ist beängstigend. Ich weiß nicht genau, was mir daran Angst macht. Dass mir eine Tanzpartnerin, ein Partner zugewiesen wird? Allgemein die fremden Menschen in dem Kurs? Dass ich ihre Blicke nicht richtig deuten kann? Oder dass ich etwas lernen will, das außerhalb meiner Komfortzone ist?
Ich stehe nervös am Eingang des Tanzstudios, während die Musik durch die Wände dringt und die rhythmischen Klänge meine Vorfreude endlich wachruft. Immerhin kenne ich die Schule bereits durch die Kurse, die ich mit meiner Mitbewohnerin und Freundin Esra besuche – doch eine moderne Choreografie für Paare hat sie nicht gereizt.
Als ich die Tür öffne, strömt mir der Duft von frischem Holz und ein Hauch von Schweiß entgegen. Es ist vertraut, aber meine Fingerspitzen kribbeln dennoch, als ich mich umziehe. Vielleicht wäre es doch besser, einfach wieder umzudrehen und mich auf das zu konzentrieren, was ich schon kann. Als Einzelne in einer Gruppe zu tanzen, sorgt dafür, dass ich Teil von etwas werde. Der Fokus liegt nicht so sehr auf mir selbst, sondern auf der Einheit, die ich mit forme mit den Schritten, die den Tanz ausmachen. Aber mit einem Partner bin ich nicht mehr Solistin und muss ganz anders performen. Ich muss mich auf jemanden einlassen, auf seine Bewegungen, seinen Körper. Was, wenn ich das nicht kann?
Ich atme tief ein und mache einen Schritt in den Kursraum hinein.
Die meisten sind schon da, stehen in Paaren zusammen und sprechen über die vergangene Stunde. Einige machen Übungen, drehen sich umeinander oder gehen Schrittfolgen durch.
Mein Herz schlägt etwas schneller, ehe ich mich an den Paaren vorbei zum anderen Ende des Raumes bewege. Meine Wasserflasche ist die einzige Begleitung, die ich habe. Spätestens jetzt bin ich mir sicher: Das war eine schreckliche Idee. Für den Bruchteil einer Sekunde denke ich darüber nach, einfach wieder zu gehen. Aber in dem Moment, als meine Füße sich bewegen wollen, betritt die Lehrerin den Raum.
»Willkommen«, ruft sie und fixiert mit ihrem Blick ausgerechnet mich, sodass ich keine Chance habe, noch unbemerkt aus dieser Nummer herauszukommen.
Ich bin tatsächlich die Einzige, die allein in einem Paartanzkurs steht, und werde wahrscheinlich mit der Lehrerin meine Schritte üben müssen. Warum setze ich mich immer noch Situationen aus, die mich in Angst versetzen können?
Besagte Lehrerin klatscht gerade in die Hände und will uns erklären, was in dieser Stunde ansteht, als die Tür noch einmal aufgeht.
»Oh, Entschuldigung. Ich hatte Probleme, einen Parkplatz zu finden.«
Er steht in der Tür und fährt sich durch die dunklen Haare. Seine Augen funkeln im Licht der bunten Scheinwerfer, als er zaghaft einen Schritt nach vorn macht.
»Kein Problem, Tom, wir wollten gerade anfangen.«
Ich weiß nicht, warum ich meinen Blick nicht von ihm lösen kann. Vielleicht, weil er mich an mich selbst erinnert.
Er ist allein.
Als er mich bemerkt, lächelt er, und mein Herz schlägt schneller. Es ist, als ob die Musik für einen Moment stillsteht und nur wir beide existieren. Nur uns beide sehen in einem Raum voller Fremden, doch wir fühlen uns nicht fremd. Nichts an der Art, wie wir uns ansehen, kommt mir fremd vor.
»Gut, dann sucht euch bitte einen Partner oder eine Partnerin, und wir machen erst mal ein paar Improvisationsschritte zu zweit, bevor wir dann eine kleine Choreografie einstudieren«, ruft die Lehrerin aus und reißt mich damit aus meinen verwirrten Gedanken. Die meisten Paare vom Beginn finden sich wieder – nur ich bleibe am Rand der Tanzfläche stehen und diskutiere mit mir, ob ich es nicht doch noch schaffe, mich rauszuschleichen, ohne dass mich jemand bemerkt.
»Darf ich?«
Tom steht vor mir.
Die hellen blauen Augen bilden einen deutlichen Kontrast zu seinen dunklen Haaren, die er abermals nach hinten streicht, als würde ihn etwas nervös machen. Und auch wenn ich mich selbst dafür verurteile, wünsche ich mir für einen Moment, dass ich es bin, die ihn nervös macht.
Er hält mir seine Hand entgegen, und das Lächeln in meinem Gesicht wird etwas breiter, als ich sie ergreife. »Wir haben wohl beide nicht viele Optionen«, sage ich scherzhaft, und er lacht.
»Für mich bist du die einzige Option in diesem Raum«, gibt er so charmant zurück, dass ich ebenfalls lachen muss.
»Wow, hat das schon mal bei einer Frau geklappt?«
Tom verzieht den Mund kurz, ohne seinen Blick von mir zu lassen. »Keine Ahnung, sag du es mir.«
Gerade als ich ihm eine schlagfertige Antwort entgegnen will, schiebt sich die Lehrerin dazwischen. »Sehr schön, aber noch etwas verkrampft, lasst euch von der Musik führen. Versuch mal die Hände an die Hüften zu legen«, weist sie Tom an. Er wartet, bis ich leicht nicke, dann spüre ich den sanften Druck seiner Hände an meinem unteren Rücken.
»Wie plakativ wird es, wenn ich dich frage, ob du öfter hier bist«, will er wissen, während er auf unsere Füße schaut, als könnte er sich nicht auf die einfache Schrittfolge konzentrieren.
»Ziemlich«, gebe ich zurück. Meine Hände liegen um seinen Nacken. Das dunkle Haar streicht sachte über meine Finger, als er den Kopf in den Nacken legt. »Ich bin Tom.«
Mein Lächeln kommt mir albern vor, aber ich kann nicht anders. »Lina.«
»Ein wunderschöner Name«, murmelt er gedämpft. Seine Stimme ist warm und einladend.
»Mach mal halblang, Casanova«, sage ich betont ernst. »Ich bin nur zum Tanzen hier.«
Amüsiert verzieht er das Gesicht. »Das war auch mein Plan«, gibt er zu. Wir bewegen uns im Takt der Musik, und mit jeder Minute, die verstreicht, werden seine Schritte weniger zögerlich. Er wird sicherer, je länger seine Arme um mich liegen. Kaum merklich zieht er mich etwas näher an sich heran. Der Geruch von Lavendel und einem Hauch Muskatnuss kitzelt in meiner Nase, als er mich langsam in eine Drehung bringt.
»Nicht schlecht«, lobe ich, als ich etwas zu schnell gegen seine Brust stolpere.
»Wenn du mich führen lässt, könnte es sogar noch besser werden.«
Ich lache auf. »Tue ich das nicht schon?«
Kopfschüttelnd zieht er mich näher. »Nein, aber ich habe das Gefühl, das muss ich mir auch erst verdienen.«
Mein Herz stolpert kurz. Jeder Schritt, den wir gemeinsam machen, bringt uns näher, ohne dass ich es verhindern könnte. Vielleicht will ich es, auch wenn ich es nicht wollen sollte. Ich kenne ihn nicht. Er ist ein Fremder. Und eigentlich sollte mich das doch vor einem Gefühl der Verbundenheit bewahren. Aber es ist dennoch da.
Unsere Blicke treffen sich immer wieder, und ich genieße es, wie unsere Körper von der Musik getragen werden. Von der Einheit, die wir bilden, obwohl wir uns gar nicht kennen. Fast, als könnten wir einander ganz ohne Worte verstehen.
»Kann ich dich wiedersehen, Lina?«, fragt Tom am Ende der Stunde, als ich mir den Schweiß von der Stirn tupfe.
Für einen Moment denke ich darüber nach. Denn auch wenn sich gerade alles magisch angefühlt hat, bin ich nicht an einem Date interessiert. Mein Fokus soll gerade nicht auf einer Beziehung liegen, sondern auf mir selbst. Etwas unsicher wische ich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wenn du weiterhin im Kurs bist, klar.«
Tom greift sich an die Brust. »Diese Abfuhr schmerzt.«
»Tut mir leid.«
Der dunkle Klang seines Lachens lässt einen kleinen Schauder über meinen Rücken laufen. »Tut es nicht«, meint er grinsend. »Aber ich bleib dran.«
Ich bin mir nicht sicher, was genau er damit meint und ob ich mich geschmeichelt fühlen sollte. Aber irgendwie bin ich es schon. Vielleicht ist es die Art, wie er mich ansieht, fast so, als würde er nur mich sehen.
»Hey, ich …« Tom stoppt sich selbst und blickt kurz auf seine Füße, als wäre er sich nicht sicher, ob er das Folgende wirklich sagen soll. »Wäre es unverschämt, nach deiner Nummer zu fragen?«
Mein Mund öffnet sich kurz, nur um sich gleich wieder zu schließen. Ein Teil von mir will Ja sagen, während der andere, der vorsichtige Teil von mir, noch nicht bereit ist, dieses Risiko einzugehen. »Nicht unverschämt«, sage ich. »Aber die Antwort ist trotzdem Nein.«
Tom nickt. »Okay, kein Problem. Darf ich dich das nächste Mal wieder fragen?«
Unwillkürlich presse ich meine Lippen kurz aufeinander. »Gut, dann bis zum nächsten Training, Tom.«
»Danke für den Tanz, Lina.«
Ich drehe mich um und laufe zum Ausgang, und als ich noch einmal über meine Schultern blicke, sieht Tom mich noch immer an, als könnte er die Magie ebenso spüren wie ich.
Lina
»Als ob Liam jemals freiwillig eine Tanzfläche betreten würde«, schnaubt Mareile und wirft ihr rotes Haar nach hinten.
Nele verbirgt kichernd ihr Gesicht an seiner Schulter, als würde ihm dadurch nicht auffallen, dass sie lachen muss.
»Ich versuche das jetzt nicht persönlich zu nehmen«, murmelt Liam und stöhnt auf.
»Wir haben eben alle andere Qualitäten«, versucht Nele die Wogen etwas zu glätten und drückt sich noch fester an ihren Freund.
Die Sonne strahlt am Himmel, und ich kann das sanfte Rauschen der Blätter hören, während wir zur Schule laufen. Wir sind spät dran, aber das Wetter ist zu schön und der Sommer zu nahe, als dass wir uns darum kümmern würden.
»Welche Qualitäten habe ich denn?«, fragt Liam, doch ehe er eine Antwort von meiner besten Freundin erhält, mache ich Würgegeräusche. »Bitte, so was ertrag ich vor der ersten Stunde nicht.«
»Irgendwann bist du auch schrecklich verliebt und gehst uns allen damit auf die Nerven«, prophezeit Nele lachend. Das dunkelblonde Haar schwingt im leichten Wind, während sie mir die Zunge herausstreckt.
»Ich bin zu beschäftigt für so was«, gebe ich zurück und mache eine wegwerfende Handbewegung.
»Stimmt, wenn ihr irgendwann mal in New York tanzen wollt, habt ihr natürlich keine Zeit für so was«, stimmt Nele mir zu.
Mareile und ich laufen ein paar Schritte voraus und nutzen die Gelegenheit, um unsere Tanzschritte vorzuführen. »Okay, noch einmal! Fünf, sechs, sieben, acht!«, ruft Mareile, während wir uns in die richtige Position bringen. Ich lache und wirble herum, als wir versuchen, die neuen Schritte aus dem Musikvideo von Beyoncé nachzutanzen.
»Kommt ihr uns noch besuchen, wenn ihr mit Weltstars auf Tour geht?«, will Nele wissen und zieht mich näher.
»Touren kann Mareile machen, ich glaube, das ist nichts für mich«, gebe ich zu.
»Du wärst klasse.«
»Vielleicht«, murmle ich. »Aber ich will lieber für mich selbst tanzen als für andere. Verstehst du?«
Nele überlegt einen Moment, dann nickt sie.
»Lina steht nur gern im Mittelpunkt, wenn es um die Schulsprecherwahl geht«, ruft Mareile mit einem schelmischen Grinsen. Ich schlage spielerisch gegen ihren Arm. »Stimmt gar nicht, ich wollte nicht mal Klassensprecherin werden.«
»Aber du bist es«, stellt Liam fest.
»Es war eine Verkettung von Umständen.«
»Irgendwann wirst du wegen einer Verkettung von Umständen die neue Kanzlerin«, sagt Nele grinsend. »Meine Stimme hättest du.«
»Wie willst du mich denn wählen, wenn ihr beide nach Australien auswandert, um irgendwelche Seemonster zu retten«, schnaube ich und verdrehe die Augen.
Nele bleibt kurz stehen. Sie sieht mich so ernst an, dass ich für einen schrecklichen Moment glaube, dass sie tatsächlich böse auf mich ist. »Haie sind keine Monster, sie sind eine faszinierende Spezies, die unter den Nachwirkungen von Horrorfilmen ein schlechtes Image haben.«
Mareile nickt streng. »Klar, arme Haie. Die wahren Opfer einer medialen Verschwörung gegen sie.«
»Darüber macht man keine Witze«, belehrt Nele, aber das kleine Grinsen zeigt, dass unsere schlechten Witze trotzdem ihren Humor treffen.
»Und für dich ist es okay, zu studieren, um dich dann von einem Hai fressen zu lassen?«, will ich von Liam wissen.
Er legt den Kopf in den Nacken, ehe er Nele ansieht. »Ich gehe dahin, wo sie hingeht.«
»Das ist so romantisch, ich möchte kotzen«, kommentiert Mareile.
»Ich freue mich schon darauf, es euch beiden mal heimzuzahlen, wenn ihr jemanden mitbringt«, stöhnte Nele auf.
»Oh, das habe ich noch gar nicht bedacht«, sage ich nachdenklich. »Wahrscheinlich wirst du uns in die Knie zwingen.«
Sie grinst. »Aber so was von.«
Während wir weiter zur Schule gehen, genieße ich die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut und das Lachen meiner Freunde. Die Schule selbst ist ein altes Gebäude mit hohen Fenstern und einem großen Garten, der im Sommer in voller Blüte steht. Mareile grinst, und während wir durch die Flure der Schule laufen, fühlt es sich an, als würden wir den Sommerferien immer näher kommen.
»Wir sehen uns nach der Schule«, verabschiedet sich Nele und drückt Liam einen Kuss auf die Lippen, ehe sie sich zu uns dreht. »Wieso noch mal hat niemand von euch Bio-Leistungskurs?«, will sie wissen, als sie sich zwischen uns einhängt und wir gemeinsam durch die Menschen laufen.
Mareile zuckt mit den Schultern. »Weil wir nichts mit Haien am Hut haben.«
»Oder mit Fröschen«, ergänze ich.
»Oder anderen Dingen, die nicht niedlich und flauschig sind.«
Nele seufzt schwer. »Irgendwann werdet ihr es verstehen.«
»Falls es hilft, wir lieben dich, auch wenn deine Hobbys creepy sind«, setze ich nach und drücke ihr einen Kuss auf die Wange, als sie vor dem Bio-Raum stehen bleibt.
»Sehen wir uns beim Mittagessen?«
»Klar, wir holen dich ab«, verspricht Mareile.
Und dann laufen wir in unsere Klassen, ohne zu wissen, dass wir Nele nie wiedersehen werden.
Lina
Manchmal frage ich mich, ob man die Vergangenheit wirklich loslassen kann oder ob sie nur deshalb in den Hintergrund tritt, um dann wieder aufzutauchen, wenn man am wenigsten mit ihr rechnet. Wenn man keine Schutzmauer mehr um sich herum hat, die einen vor all dem schützt, vor dem Schmerz, den sie wieder aufleben lässt, als wären keine Jahre vergangen, sondern höchstens Sekunden.
»Was tust du da?«
Esras Stimme dringt kaum zu mir durch, während ich immer wieder mit den Fingerspitzen über den kleinen Schlüsselanhänger aus Plüsch streiche, dessen gute Jahre lange vorbei sind. Die Schnauze des Hais ist abgewetzt, doch sein Lächeln ist noch erkennbar.
Ich sitze auf dem fleckigen Sofa in unserer WG, das Licht der Nachmittagssonne wird durch den Schein der Straßenlaterne ersetzt und wirft Schatten auf den Boden. Schatten, die näher zu kommen scheinen, je länger ich den Schlüsselanhänger betrachte.
»Lina?«
Ich blicke zu meiner Mitbewohnerin auf und schaffe es irgendwie zu lächeln. »Tut mir leid, ich war so in Gedanken – was hast du gesagt?«
Esra greift sich in die langen schwarzen Haare und beginnt damit, sie zu einem großen Knoten auf ihrem Kopf zu binden, ehe sie sich neben mich sinken lässt. »Möchtest du einen Tee?«
Mein Lächeln wird etwas breiter, ein wenig echter. Denn diese Frage ist bei Esra der Code für Geht es dir gut? oder Brauchst du etwas? – und ich weiß es zu schätzen, dass sie mir offenbar an der Nasenspitze ansehen kann, dass die Vergangenheit mich mal wieder für sich beansprucht, obwohl ich so sehr versuche, ihr zu entwischen.
»Haben wir noch etwas von dem Apfeltee?«, frage ich, was dafür sorgt, dass Esra lächelt.
»Nur ungefähr dreihundert Packungen, seit du meiner Mutter gesagt hast, dass du ihn magst.« Grinsend steht sie auf, um in die Küche zu laufen und uns einen Tee zu machen.
»Wir fliegen in den Ferien wieder in die Türkei zu unserer Familie, also wenn du noch einen Vorrat für deine Eltern möchtest, sag Bescheid«, ruft Esra aus der Küche, während ich die Beine an meine Brust ziehe. Der Schlüsselanhänger ist noch immer in meiner Hand.
»Das ist wirklich nicht nötig«, rufe ich zurück.
Das Lächeln des Hais sorgt für ein schmerzhaftes Ziehen in meiner Brust, das erst aufhört, als Esra mit zwei dampfenden Tassen in der Hand zurück auf dem Sofa ist.
»Meine Mutter wird nicht ohne ein Geschenk für dich zurückfliegen, also sag mir besser, womit man dir eine Freude machen kann«, sagt sie grinsend.
»Deine Mutter ist wirklich zu lieb.«
»Stimmt, und du bist heute eindeutig zu ruhig«, kommentiert sie und pustet demonstrativ in ihren Tee. »Was ist mit dem Anhänger?«
»Nele hat uns allen einen geschenkt«, erkläre ich. »Sie wollte uns davon überzeugen, dass Haie keine Monster sind.«
Esra hebt eine Augenbraue. »Hat es geklappt?«
»Damals nicht.«
»Und heute?«
»Heute frag ich mich, ob die Haie es ohne sie schaffen werden«, gestehe ich und und bekomme es irgendwie hin, den Schlüsselanhänger auf den Tisch zu legen.
»Wo es dir wehtut, da ist dein Herz«, sagt Esra gedämpft und nickt verständnisvoll.
»Ich dachte nur, es sollte langsam weniger wehtun«, gebe ich zurück und versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie der Druck in meiner Brust zunimmt. »Immerhin ist es Jahre her. Ich bin aus Frankfurt weggegangen, weil ich all dem entfliehen wollte – und nun sitze ich hier in Freiburg und schaffe es nicht, mich auf das zu konzentrieren, was vor mir liegt.«
Für einen Augenblick schweigen wir, trinken unseren Tee und sehen dem Schneeregen zu, der gegen das Fenster prasselt. »Vielleicht brauchst du etwas Ablenkung«, murmelt Esra nachdenklich.
»Vielleicht.«
»Und vielleicht wäre es gut, wenn du noch andere Menschen triffst, außer der Leute im Studium und deiner großartigen Mitbewohnerin.« Ich verdrehe die Augen. »Bitte, nicht dieses Thema«, stöhne ich, aber Esra stoppt nicht.
»Zum Beispiel Menschen wie diesen Tom, den du beim Tanzen kennengelernt hast.«
Ich lasse mich in die Kissen sinken und schüttle den Kopf. »Wieso bereue ich es jetzt, dass ich dir davon erzählt habe?«, schnaube ich.
»Aber du bereust es nicht, ihm deine Nummer gegeben zu haben«, hält sie dagegen, und ich kann es nicht einmal leugnen. Nach unserer zweiten Stunde hat er mich wieder nach meiner Nummer gefragt. Und ich habe sie ihm gegeben, ohne dass ich wirklich erklären kann, wieso. Vielleicht, weil der Gedanke, ihn nur alle zwei Wochen im Contemporary-Paarkurs zu sehen, mir irgendwie zu wenig ist. Auch wenn ich mir das noch nicht eingestehen kann. Vielleicht auch, weil ich mir noch nicht sicher bin, ob ich morgen noch mal teilnehme.
Die vielen Vielleichts verunsichern mich.
»Das Letzte, was ich gerade möchte, ist eine Beziehung.«
»Das ist auch völlig in Ordnung«, stimmt Esra zu. »Aber du kannst auch Menschen treffen, etwas Spaß haben und musst nicht direkt heiraten.«
»Ist nicht genau das der Punkt beim Dating?«
»Es muss ja nicht gleich ein Date sein.«
Gerade will ich etwas erwidern, als mein Handy vibriert. Als ich danach greife und die Nachricht lese, beginnt mein Herz unwillkürlich schneller zu schlagen.
Tom Ich freue mich darauf, morgen mit dir zu tanzen.
Mit einem Grinsen auf meinem Gesicht, für das ich mich ein kleines bisschen schäme, zeige ich Esra die Nachricht.
»Scheiße, das ist ziemlich süß.«
»Ich weiß«, gebe ich zu und schüttle den Kopf. »Er ist auch ziemlich süß.«
»Aber?« Sie nippt an ihrem Tee. »Dann wirst du ihm nicht antworten.«
Ich stöhne. »Doch.«
Lina Ich freu mich auch.
Nur rein theoretisch:
Wie stehst du zu Überraschungen?
Rein theoretisch:
Es kommt auf die Überraschung an.
Gut, dann werden wir es wohl auf uns zukommen lassen.
Hättest du am Sonntag Zeit für einen Tanz außerhalb der Reihe?
Rein theoretisch, ja.
Mehr Hinweise bekomme ich nicht?
Nein, denn ich möchte ja, dass es eine Überraschung bleibt.
Und hoffentlich dein Lächeln sehen, wenn du dich freust.
Esra grinst.
»Bitte«, stöhne ich. »Keine Kommentare.«
Sie schüttelt den Kopf. »Okay, aber trink deinen Tee, bevor er kalt wird.«
Lina
Es heißt immer, um glücklich zu werden, soll man das Glück auch zulassen. Die Chancen und Optionen, die sich ergeben, willkommen heißen. Auf Instagram oder TikTok sehe ich jeden Tag Sprüche, die mir das Leben erklären – nein, die mir sagen, was ich falsch mache. Demnach bin ich blockiert. Sabotiere ich mich selbst. Ich lasse die guten Dinge nicht zu. Kann es wirklich so leicht sein? Kann sich alles verändern, wenn ich jetzt den Mut finde, einfach Ja zu sagen und das seltsame Ziehen in meinem Magen zu ignorieren, das mich davor warnt, dass überall Gefahr lauert?
Tom sieht mich lächelnd an. »Und hast du darüber nachgedacht?«
Er tupft sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn, während er sich gegen einen der Wandspiegel lehnt und mich betrachtet. Die anderen Menschen aus dem Kurs sind bereits dabei, in die Umkleidekabinen zu verschwinden, während wir beide noch immer hier stehen.
Meine Mundwinkel heben sich leicht. »Nur weil ich darüber nachgedacht habe, heißt das nicht, dass ich schon eine Antwort habe«, sage ich.
Sein Lachen lässt sämtliche Schmetterlinge in meinem Bauch aufschrecken.
»Du machst es mir nicht gerade einfach.«
»Kann schon sein«, gebe ich zu.
»Ich mag Herausforderungen.«
Lachend schüttle ich den Kopf. »Ist das so?«
Er nickt und macht einen Schritt auf mich zu. Obwohl wir uns beim Tanzen auch nahe sind, ist es dieses Mal anders. Seine Nähe fühlt sich anders an. Intensiver. Wir berühren einander nicht, doch mein Körper reagiert mit einem Prickeln.
»Okay, vielleicht mag ich auch einfach nur dich«, gesteht er mit gedämpfter Stimme. »Und ich würde mich freuen, wenn ich mehr Zeit mit dir verbringen könnte, als diese Stunde alle zwei Wochen.«
Ich lege den Kopf schief.
Mein Zögern sorgt dafür, dass Tom weiterspricht. »Ich garantiere dir, wenn du danach keine Lust mehr auf mich hast, werde ich es nie wieder versuchen.«
Mein Blick gleitet von ihm zum Fenster. Wenn er mich so intensiv anschaut, kann ich nicht klar denken. Der Regen hat Tausende Tropfen an die Scheibe gezeichnet, und das Licht der Straßenlaterne und der einsamen Lichterkette im Garten kann das Grau kaum durchdringen.
»Ich weiß nicht«, sage ich zögernd.
Tom folgt meinem Blick. »Ich verspreche dir, wir machen bei dem Wetter nichts draußen.«
Mein Lachen kommt so unvermittelt, dass ich mir eine Hand vor dem Mund halte. »Der Regen stört mich nicht«, erkläre ich lächelnd. »Aber ich vermisse die ganzen Lichter aus der Weihnachtszeit. Ohne sie ist der Winter in Deutschland nicht mehr als eine Aneinanderreihung von Grautönen.«
Tom greift nach meiner Hand, und ich lasse es zu. Seine Hände umschließen meine, ehe er mich kaum merklich näher zu sich heranzieht. »Dann lass mich das Grau vertreiben, nur für ein paar Stunden.«
In meinem Kopf spielen die Optionen Pingpong. Denn etwas in mir will sich darauf einlassen, will das Grau verschwinden lassen und mehr von dem Prickeln spüren. Und noch ehe mein Kopf eine endgültige Entscheidung getroffen hat, sagt mein Mund: »Okay.«
Toms Augenbrauen zucken nach oben. »Wirklich?«
»Willst du, dass ich noch mehr darüber nachdenke?«, frage ich grinsend zurück.
»Nein, nein, auf keinen Fall«, antwortet er schnell. »Gut, dann treffen wir uns Sonntag genau hier.«
»Hier?«, echoe ich verdutzt.
»Ja, denn du weißt, ich tanze mit niemanden so gern wie mit dir«, entgegnet er lächelnd.
»Aber die Tanzschule ist doch sonntags gar nicht geöffnet.« Ich versuche zu verstehen, was genau er vorhat. Doch Tom zuckt nur mit den Schultern. »Lass das mal meine Sorge sein, immerhin ist es eine Überraschung.«
»Na gut«, stimme ich zu und werfe mir mein eignes Handtuch über die Schulter. »Dann sehen wir uns am Sonntag.«
Ich versuche die letzten Reste meiner Coolness zu bewahren und gehe an ihm vorbei, doch als ich an der Tür angekommen bin, werfe ich noch einmal einen Blick über die Schulter.
Tom sieht mir hinterher, und aus irgendeinem Grund sorgt das dafür, dass ich den restlichen Tag lächeln muss.
Lina
»Bist du bereit?«
Seine Stimme verursacht ein warmes Kribbeln, das sich wie ein sanfter Schauer durch meinen Körper zieht.
»Habe ich eine andere Wahl?«, frage ich, während Tom mir weiterhin die Augen zuhält und mich sanft nach vorne schiebt, damit ich mit wackeligen Schritten vorangehe.
Ich kann zwischen seinen Finger grob erkennen, dass er mich in den Kursraum bringt, aber bisher verstehe ich noch nicht, warum.
»Noch hast du sie«, meint Tom lachend, und dieses Geräusch sorgt dafür, dass mir noch wärmer wird. Ich kann nicht anders, als zu grinsen, obwohl ich keine Ahnung habe, was hier passiert.
»Okay, du darfst gucken.«
Tom nimmt seine Hände von meinen Augen.
Der Trainingsraum ist kaum wiederzuerkennen.
Die großen Spiegel reflektieren das sanfte Licht der vielen Lichterketten, die entlang der Wände drapiert sind. Tücher in verschiedenen Rosatönen fallen von der Decke und über die Fenster, vor denen sich der Schnee sammelt. Es fühlt sich an, als würde ich in eine andere Welt eintreten. Eine Welt, die er nur für mich gestaltet hat.
»Das ist …«
Das Parkett, auf dem wir sonst tanzen, ist mit einer bunten Decke bedeckt. Als wollte Tom den Winter für mich vertreiben und den Frühling zu einem Picknick zwingen. Überall liegen kleine Kissen in verschiedenen Farben.
»Wenn du mir nur diese eine Stunde geben kannst, dann will ich, dass es die beste Stunde der Woche für dich wird«, murmelt Tom hinter mir.
Ich drehe mich halb zu ihm herum. So etwas hat noch nie jemand für mich getan. Und ich bin überfordert von der Art, wie er mich ansieht, und von meinem viel zu schnell schlagenden Herzen.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, gebe ich zu.
»Du musst nichts sagen«, entgegnet er und schiebt sich das dunkle Haar nach hinten. In seinen Augen scheint etwas zu funkeln. »Möchtest du mit mir essen?«
Ich lache auf. »Ja.«
In der Mitte des Raumes steht ein großer, runder Korb, gefüllt mit frischen Früchten, kleinen Sandwiches und Säften in Glasflaschen. Tom setzt sich auf eines der Kissen. Mit einem Feuerzeug öffnet er eine Flasche und reicht sie mir, ehe er sich selbst eine nimmt.
Ich lasse mich auf Knien neben ihm sinken, sehe mich noch immer um, ohne wirklich zu verstehen, dass jemand all das hier für mich gemacht hat. An einer Wand ist ein Tisch mit einer weißen Tischdecke gedeckt, auf dem eine kleine Vase mit frischen Rosen steht. Darüber hängt eine weitere Lichterkette.
»Bist du eher der Schinken- oder Käse-Typ?«, möchte Tom wissen und deutet auf die Sandwiches.
»Hast du die selbst gemacht?«
»Ich würde gern Ja sagen, aber ehrlich gesagt war ich beim Bäcker«, gibt er lachend zu und schüttelt den Kopf.
»Gott sei Dank.«
»Was?«
»Wenn du auch noch selbst Brote geschmiert hättest, wäre ich mir sicher, dass du ein Alien bist oder so was«, sage ich scherzend und blicke ihm in die Augen.
Nichts hiervon gehört zu meinem Plan.
Aber jedes Mal, wenn ich Tom treffe, passiert etwas in meinem Inneren, das ich nicht verhindern kann. Er sorgt dafür, dass all meine Abwehrmechanismen sich freiwillig ergeben. Wenn er spricht, hänge ich an seinen Lippen, weil so viel Liebe in seinen Worten steckt. So viele Dinge, nach denen ich nie gefragt habe, aber nach denen ich mich mehr sehne, als ich es zugeben möchte.
»Ich habe dir versprochen, dass ich mich ins Zeug lege«, sagt Tom und hält die Flasche hoch, damit wir anstoßen können.
»Das sehe ich.«
»Du hast nur das Beste verdient, Lina«, murmelt er etwas leiser, und sein Blick hält mich fest. »Und ich wünschte, ich könnte dir die gesamte Welt zu Füßen legen.«
Ich rutsche etwas näher, wage es noch nicht, ihn zu berühren, weil das alles hier zu perfekt ist. Zu schön.
»Die gesamte Welt, ja?«, frage ich scherzend, und seine Augen verengen sich etwas, ehe er eine Hand nach meinem Gesicht ausstreckt und eine verirrte Strähne hinter mein Ohr schiebt.
»Für eine Frau wie dich würde ich alles tun«, haucht er nahe an meinen Lippen. »Ich schenke dir die Welt oder brenne sie nieder, alles, was du willst, wenn ich dafür nur an deiner Seite sein kann.«
Mir stockt der Atem, und die Zeit scheint stillzustehen. Dann beugt Tom sich vor. Unsere Lippen treffen sich, und es fühlt sich an, als hätte dieser Kuss etwas besiegelt, das sich nicht mehr rückgängig machen lässt.
TomDanke für dieses wunderschöne Date. Ich kann kaum glauben, dass ich so ein Glück habe, dich kennenlernen zu dürfen.
LINAEs war wirklich wunderschön.
Gute Nacht, Tom.
Guten Morgen, Schönheit, ich kann nicht aufhören, an dich und unseren Kuss zu denken …
Das klingt ja fast, als hätte ich dir den Kopf verdreht.
Nein, aber du hast dafür gesorgt, dass meine Welt sich plötzlich um dich dreht, Lina.
Nur um dich.
Lina
»Du solltest einen Hoodie einpacken, das Wetter ist gerade unberechenbar«, ertönt Esras Stimme aus dem Lautsprecher meines Handys, während ich zwischen den drei Stapeln an Kleidung hin und her gerissen bin.
»Ich hasse diese Phase zwischen Winter und Frühling, in der man nie weiß, ob man eine dicke Jacke braucht«, stöhne ich.
Esra lacht auf. »Hast du nichts mehr bei deinen Eltern?«, will sie wissen und zwirbelt auf dem Bildschirm an ihrem dunklen Haar.
»Doch, aber ich bin nicht sicher, was davon mir noch passt«, gebe ich zu, um nicht zu sagen, dass ich die alte Kleidung auch nicht mehr tragen will, weil ich jetzt anders bin als früher. Und diese Version meiner Selbst mag zwar noch immer düster sein, aber Schwarz ist nicht mehr die Farbe, die alles bestimmt. Diese Version von mir selbst will mehr Licht, mehr Farbe. Weniger Schatten und Dunkelheit, die meine Ängste nach außen trägt.
»Pack einfach von allem etwas ein, dann gehst du auf Nummer sicher«, sagt sie leichthin und beugt sich etwas näher zur Kamera, um mir einen Kuss zuzuwerfen. »Das langärmelige schwarze Kleid liegt in meinem Zimmer, ich habe vergessen zu erwähnen, dass ich es mir geliehen habe.«
»Vergessen, ja?«
Esra grinst. Ehe sie dazu kommt, noch etwas zu sagen, platzt einer ihrer Brüder in der Raum. Ich kann der Konversation auf Türkisch zwar nicht folgen, muss aber dennoch grinsend. Die Geschwister haben untereinander eine Dynamik, die erstaunlich oft damit endet, dass einer der Beteiligten aus dem Zimmer geworfen wird. Esra verdreht die Augen und wendet sich wieder mir zu, aber ich weiß, dass sie nicht wirklich genervt ist, sondern froh ist, nach der anstrengenden Studienphase wieder im Haus ihrer Eltern zu sein. Vielleicht gehen ihr ihre kleinen Brüder manchmal auf die Nerven, aber am Ende strahlt sie jedes Mal besonders stark, wenn sie von ihrer Familie zurück in die WG kommt. »Ich muss Schluss machen, wann kommst du wieder?«
Ich puste mir eine meiner blonden Strähnen aus dem Gesicht, die immer wieder nach vorn fallen, egal wie oft ich sie zurückstreife. »Nächste Woche, aber wehe du guckst die nächste Folge Temptation Island ohne mich!«, sage ich warnend.
»Das ist eine harte Bürde, die du mir auferlegst.«
»Dafür zahl ich die Pizza.«
Zufrieden nickt Esra, als würde die Aussicht auf einen Pizza-Abend das lange Warten besser machen. »Ich hab dich lieb. Grüß deine Eltern von mir.« Und damit wird der Bildschirm wieder schwarz, und ich sitze immer noch vor den Stapeln meiner Kleidung. Eigentlich wollte ich nur für ein Wochenende verreisen, nicht für ein halbes Leben. Aber ich kann mich einfach nicht entscheiden, welche Option die beste ist. Unwillkürlich beiße ich mir auf die Unterlippe und frage mich, wie es sein kann, dass ich als erwachsene Frau so einen Stress allein beim Packen spüre.
»War deine Mitbewohnerin keine Hilfe?«, höre ich Toms Stimme und muss unwillkürlich lächeln. Er lehnt lässig im Türrahmen. In den Händen hält er zwei dampfende Becher, von denen der Geruch von frischem Kaffee bis zu mir dringt.
»Na ja, immerhin weiß ich jetzt, wo das schwarze Kleid ist«, gebe ich zurück und nehme meinen Becher entgegen, ehe ich mir einen kleinen Kuss von seinen Lippen stehle.
Seine dunklen Haare fallen ihm vor die Augen, und er streicht sie lässig zurück, während er sein scharf geschnittenes Kinn hebt.
Ich hatte nicht vor, mich zu verlieben, schon gar nicht so schnell. Aber irgendwas an Tom hat mich sofort in seinen Bann gezogen, und auch wenn ich nicht viel von Kitsch halte, fühlt es sich so an, als könnte ich mit ihm endlich ankommen. Was auch immer das genau heißt.
»Das mit den langen Ärmeln, das ich so mag?«, fragt er zurück, und ich nicke, weil ich mich wieder daran erinnere, dass wir über mein Kleid gesprochen haben. Tom setzt sich in den knallgelben Lesesessel vor meinem Bett, den ich viel zu selten benutze, während er mich ansieht.
»Ich könnte mitkommen und dich warmhalten«, meint er scherzend und sieht mich auf eine Art an, bei dem mein Herz einen kleinen Extra-Schlag macht. Mein Körper reagiert auf seine Worte, schickt ein kleines Kribbeln über meine Haut, das sich in meiner Körpermitte sammelt.
»Das wäre vielleicht etwas verfrüht«, sage ich und streiche mir wieder eine Strähne hinters Ohr, die einfach nicht an ihrem Platz bleiben will.
Tom beugt sich leicht nach vorne, sodass ich die kleinen Stoppeln auf seinen Wangen besser sehen kann. »Es gefällt mir nicht, dass du allein nach Frankfurt reist«, gibt er zu und steht langsam auf.
Dass er näher kommt, muss ich nicht sehen. Ich kann es spüren. Als würde ihn ein Gravitationsfeld umgeben, auf das nur mein Körper und mein Herz reagieren.
Mit einem stillen Lächeln auf den Lippen lasse ich ihn näher kommen und kümmere mich um meine Wäsche. Ich lege einen der gemütlichen Pullis in den Koffer, als ich seine Hand auf meiner Hüfte spüre.
»Es ist bei Frankfurt, und bei den vier Häusern und dem Wald drum herum ist die Stadt nun wirklich nicht das Problem«, gebe ich zurück, als er mich näher an sich zieht.
»Schon klar, niemand legt sich mit meinem Mädchen an.«
»Frau«, korrigiere ich scherzhaft und nippe an meinem Kaffee.
Tom lacht auf und lässt meine Hüfte wieder los. Er stellt seine Tasse ab, ohne mich aus den Augen zu lassen.
»Entschuldigung, niemand legt sich mit meiner Frau an.«
Ohne dass ich es verhindern könnte, schießt mir Röte in die Wangen. Das Wort aus seinem Mund zu hören, macht etwas mit mir, das ich nicht erklären kann. Es fühlt sich an wie ein Versprechen. Auch wenn ich mir noch nicht sicher bin, ob ich das wirklich will.
»Glaubst du nicht, dass ich auf mich allein aufpassen kann?«, frage ich, damit ich nicht nur ihn, sondern auch mich selbst davon ablenken kann.
Sein Lächeln bringt meinen gesamten Körper zum Schwingen, als er wieder näher tritt, die Hände auf meine Hüften legt und mich näher zu sich heranzieht. »Doch. Aber ich hatte mich auf etwas gemeinsame Zeit gefreut.«
Sachte nimmt er mir meine Tasse ab, damit ich die Hände frei haben. Frei für ihn. »Ich werde dich auch vermissen«, gebe ich zu und lege die Arme um seinen Hals. »Aber es sind ja nur drei Tage.«
»Drei Tage ohne dich können verdammt lang sein«, raunt er an meine Lippen und zieht mich etwas näher.
»Es ist wirklich grausam, was ich dir antue«, scherze ich und lasse den Kopf in den Nacken fallen. »Was könnten wir nur dagegen tun?«
»Na ja, ich könnte mitkommen.«
Mein Mund klappt auf. »Und meine Eltern kennenlernen?« Der Tonfall meiner Stimme ist einen Tick zu schrill, um meine Verunsicherung zu vertuschen.
Tom lacht angesichts meines verdutzten Gesichtsausdrucks. »Warum nicht?«
Für einen Moment starre ich ihn nur an, dann realisiere ich, dass er es ernst meint. Bisher hat keiner der Männer, die ich gedatet habe, von sich aus gesagt, dass er gern meine Eltern kennenlernen würde. Die meisten hatten schon vorher viel zu kalte Füße, oder ich war genervt von dem Katz-und-Maus-Spiel, bei dem sie Frauen als eine Art Beute betrachtet haben. »Ich weiß nicht, es ist so … offiziell«, kommt es unbeholfen aus meinem Mund.
Tom sieht mich an. Er kratzt sich am Kinn, als würde er versuchen, das zu deuten, was irgendwo zwischen meinen Worten steht. »Und das ist etwas Schlechtes?«
»Nein, also ich meine, … es ist nur noch alles so frisch.«
Und obwohl ich weiß, dass ich damit recht habe, fühlt es sich trotzdem anders an. Dieses ganze Liebe-auf-den-ersten-Blick-Ding war nie meins. Ich habe weder die Filme noch die Bücher verstanden, in denen sich von einem auf den anderen Tag so viel Gefühl entwickelt hat. Aber bei Tom?
Da ist alles anders.
Und vielleicht ist es gerade das, was mir Angst macht. Weil ich es nicht kenne, dass alles so schnell geht. Und so real wird.
»Wenn du unsicher bist, akzeptiere ich das, Lina«, sagt er und tippt mein Kinn an, damit ich ihm in die braunen Augen blicke. »Aber ich bin mir sicher, und ich würde mich freuen, deine Eltern kennenzulernen.«
Vielleicht war es das, was ich hören musste.
Dass er sich sicher ist.
Sicher mit mir und mit einem Uns.
Sicher genug, damit er mit zu meinen Eltern kommt.
Sicher genug, damit er mir das Gefühl gibt, dass ich endlich in dem Leben angekommen bin, das ich immer führen wollte. Sicher. Geborgen. Nicht allein.
Und doch sind da noch Zweifel in meinem Kopf, in endlosen Spiralen, die mir immer wieder einreden wollen, dass das nicht gut sein kann. »Musst du nicht arbeiten?«, frage ich vorsichtig. Aber Tom zuckt mit den Schultern, als würde er diese Frage einfach fortwischen wollen. »Nein, ich habe alle Zeit dieser Welt. Besonders, wenn es um dich geht.«
… wenn es um dich geht …
Diese fünf Worte wiederholt mein Verstand flüsternd, als würden sie einen Fluch aufheben, der schon immer auf meinem Leben gelegen hat. Und endlich ist der Prinz gekommen, der diesen Fluch bricht und mich rettet.
Und ich weiß, wie das klingt, aber ich weiß noch mehr, wie es sich anfühlt. Diese Wärme, diese Geborgenheit und dieses Versprechen auf ein Leben ohne Angst und stattdessen erfüllt mit Liebe. »Es ist eine ziemliche Strecke bis Frankfurt«, meine ich neckend, und Tom lacht.
»Ja, und wäre es da nicht hilfreich, wenn dir jemand mit deinem Gepäck hilft?«
Lachend lege ich den Kopf in den Nacken. »Okay.«
»Okay?«
»Okay, dann lernst du eben meine Eltern kennen«, sage ich, auch wenn ich selbst kaum glauben kann, dass diese Worte wirklich aus meinem Mund kommen.
Er lacht auf, hebt mich in seine Arme und wirbelt mich durch den Raum. Und auch wenn ich noch immer unsicher bin, fühlt es sich in seinen Armen zu gut an, um noch weiter darüber nachzudenken.
Liam
Es gibt wenig Dinge im Leben, auf die man einen wirklichen Einfluss hat. Die meisten Dinge passieren einfach. Ohne einen großen Plan dahinter. Das Leben passiert, während wir versuchen, einen Sinn in all dem Chaos zu finden.
Oder es passiert, während wir versuchen, dem wütenden Blick der kleinen Schwester auszuweichen. Mit Daumen und Zeigefinger massiere ich meine Nasenwurzel und versuche mit allen Mitteln ruhig zu bleiben, auch wenn Ella mich auf eine Art ansieht, die mir deutlich sagt, dass sie nicht ruhig bleiben wird. »Hör auf, mich wie ein Kind zu behandeln.«
»Das mach ich doch gar nicht.«
»Und wie würdest du es sonst nennen?«
Ella funkelt mich wütend an. Sie hat die Hände in die Hüften gestemmt, was nie ein gutes Zeichen ist, und ihre kleine Nase wird bereits rot, als würde sie die Wut darin speichern.
Und das Schlimmste ist: Meine kleine Schwester hat recht.
In unserem kleinen Laden ist nicht genug Platz für all die verletzten Gefühle unserer Familie. Selbst wenn ich die Holztische und Kommoden ausräumen würde, gäbe es nicht genug Raum. Trotzdem knirsche ich mit den Zähnen. »Du bist einfach noch nicht so weit.«
Ihr Stöhnen lässt es in meinen Ohren klingeln. Wahrscheinlich könnte ich meinen Standpunkt besser vertreten, wenn es auch wirklich meiner wäre – aber ich bin nur die Stimme unseres Vaters, weil es besser ist, sie hasst mich als ihn.
»Mama hat immer gesagt …« Aber meine Schwester lässt mich den Satz gar nicht aussprechen.
»Wenn du jetzt die ›Unsere Mutter ist tot‹-Karte spielst, werde ich über den Tresen springen und dich an den Haaren ziehen.« Drohend hebt sie einen Finger in meine Richtung.
Ergeben hebe ich die Hände. »Aber du weißt, was sie sagen würde«, versuche ich es trotzdem.
Ella schüttelt den Kopf. »Sie würde mir verdammt noch mal recht geben.«
Vielleicht würde sie das. Ich bin mir nicht sicher. Die letzten zwei Jahre ohne unsere Mutter haben mich irgendwie von ihr entfremdet. Von dem Bild, das ich von ihr und meinem Vater hatte, und dem Wort Familie, dessen Bedeutung vor ihrem Tod eine andere war. Alles wäre einfacher, wenn ich sie fragen könnte, was ich jetzt tun soll. Doch jedes Mal, wenn ich vor ihrem Grab stehe, kommt kein Ton über meine Lippen, weil ich Angst davor habe, dass wirklich nichts mehr da ist, was mir antworten kann.
Ich wische mir über die Augen, um nicht zu tief in diese Gedanken abzurutschen, sondern mich auf das zu konzentrieren, was gerade wichtig ist: die Wut meiner kleinen Schwester.
Räuspernd suche ich ihren Blick und gebe mir Mühe, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Nein, Mama würde sagen, dass Papa es nur gut gemeint hat.«
Das ist zwar nicht gelogen, aber auch nur halb wahr.
Mama hätte versucht, das Gegengewicht zu sein. Das hat sie immer. Selbst als die Chemo anfing, die Schmerzen schlimmer wurden und sie schon wusste, dass sie es nicht schaffen würde. Sie hat immer dafür gesorgt, dass diese Familie im Gleichgewicht ist. Und ohne sie ist da nur noch Chaos.
Ella schnaubt und wird rot. »Gut gemeint ist offenbar der große Bruder von Scheiße.«
Ich verziehe das Gesicht. »Das war gemein.«
Ella denkt einen Moment darüber nach und scheint auch zu merken, dass ihre Wut sie dazu gebracht hat, ausfallender zu werden, als ich es verdiene. Es ist ein unausgesprochenes Gesetz zwischen uns, dass wir uns, egal wie sehr wir uns streiten, am Ende immer wieder zusammenraufen.
Denn viel mehr als uns zwei haben wir nicht mehr.
Vor allem jetzt, da es immer schwerer wird.
Blut ist nicht dicker als Wasser, und irgendwann weint man es mit den vielen Tränen einfach aus sich heraus, bis nichts mehr von dem Band, das sich zwischen der Familie spannen sollte, übrig bleibt.
»Woher willst du das wissen, wenn du mir nicht einmal die Möglichkeit gibst, es zu probieren?«, fragt sie nach, und ich schaffe es kaum, ihr in die Augen zu sehen.
»Du sollst dich auf dein Studium konzentrieren.«
Ella pustet sich eine Strähne aus dem Gesicht, die sich aus ihrem Zopf gelöst hat. »Niemand braucht mehr ein BWL-Studium, ich kann hier viel nützlicher sein als in der Uni.«
Es fällt mir schwer, ihr nicht zu sagen, dass ich liebend gern mit ihr tauschen würde. Immerhin hat sie eine Möglichkeit, die für mich nie infrage kam. Dass ich studiere, war keine Option. Und auch wenn ich weiß, dass es unfair ist, verhärten sich meine Gesichtszüge, als ich sage: »Wir haben uns entschieden, Ella.«
Wir.
Eine Lüge, aber manchmal ist das besser als eine Wahrheit, die man nicht verteidigen kann. Oder?
»Hörst du dir eigentlich selbst zu? Papa kann wohl kaum etwas tun, solange er immer noch im Krankenhaus liegt. Lass es mich doch einfach versuchen. Was soll schon schiefgehen?«
Nun muss ich sie doch ansehen.
Ihre grünen Augen blicken in meine.
Es ist Segen und Fluch zugleich, dass wir uns so ähnlich sind. Wenn ich sie ansehe, sehe ich auch ein Stück von mir und von all dem, was ich niemals laut ausgesprochen habe und sie doch fühlen muss.
Darum fällt es mir noch schwerer zu sagen: »Dieser Kunde ist wichtig, Ella.«
Ich versuche, sie nicht zu genau anzusehen, sondern fixiere lieber die dreckigen Fensterscheiben unseres Ladens und die spiegelverkehrte Schrift auf dem Glas. Sie wirft die Arme in die Luft. »Und du meinst, das wüsste ich nicht?«
Natürlich weiß sie es.
Wir sind beide in der Schreinerei meines Vaters aufgewachsen. Dieser Laden ist ebenso unser Zuhause wie das angrenzende Haus, in dem wir unsere Kindheit verbracht haben.
Ella weiß sehr genau, wie schlimm es um uns und den Betrieb steht. Zumindest denkt sie das, denn wie schlimm es wirklich ist, versuche ich so weit wie möglich von ihr fernzuhalten. Seit mein Vater beschlossen hat, dass wir uns nicht mehr um Dienstleistungen, sondern nur noch um handgefertigte Möbel kümmern, ist jede Woche ein ständiges Zittern und Bangen. Und die wenigen Stammkunden, die wir noch haben, können nicht mehr auffangen, was schiefläuft.
»So habe ich das nicht gemeint«, versuche ich irgendwie aus der verbalen Schlinge um meinen Hals zu entkommen.
»Dann klär mich mal auf, denn gerade kommt nur Bullshit aus deinem Mund.«
Meine kleine Schwester kennt keine Gnade.
Sie stützt sich provozierend auf dem Tresen ab, hinter dem ich stehe. Es ist niemand außer uns hier, keine Kunden, keine anderen Mitarbeiter. Nur wir und die simple Tatsache, dass dieser Konflikt zwischen uns schwebt wie der Holzstaub in der Luft. Meine Schultern sacken nach unten. »Das ist nicht fair.«
»Stimmt, ist es nicht.«
Einen Moment zögert sie noch, als wäre sie sich nicht sicher, ob ich es wert bin, den Streit fortzuführen. Dann schüttelt sie den Kopf und dreht mir den Rücken zu.
»Ella …«
»Vergiss es.«
»Ella, komm schon, wir können doch …«
Aber die Tür fällt hinter ihr zu, und ich stehe allein im Laden, während ich mich frage, warum ich ihr nicht einfach zugestimmt habe. Alles wäre so viel leichter, wenn ich allen Menschen genau das geben könnte, was sie brauchen und wollen. Aber zum Erwachsenwerden gehört offenbar dazu, dass man lernt, dass das, was man geben kann, nie reicht. Dass es nie genug ist, nie ausreichend. Immer nur ein Tropfen auf dem heißen Stein und das Bewusstsein, dass es noch mehr hätte sein können. Müssen.
Ich lasse den Kopf sinken und versuche den Druck in meiner Brust zu ignorieren, der mit jedem Schlag meines Herzens schlimmer wird. Mit jedem Gedanken daran, dass ich nicht weiß, wie ich es schaffen soll, meine Familie zusammenzuhalten.
Lina
Zuhause ist ein Wort, dessen Bedeutung ich nicht ganz begreifen kann. Ich weiß, was es heißt und wie andere Menschen es definieren, doch das Gefühl, das es in mir auslöst, ist etwas anderes.
Nach Hause kommen heißt, sich erinnern zu müssen.
»Aktuell haben wir eine Verspätung von knapp 20 Minuten, aber dafür müssen Sie nicht im Regen auf Ihre Anschlusszüge warten«, erklingt die Stimme aus den knarrenden Lautsprechern und ringt einigen der Menschen in der Bahn ein Grinsen ab. Tom hingegen schüttelt nur den Kopf. »Die halten sich wirklich für witzig, oder?«
Ich antworte nicht darauf, sondern drehe meinen Kopf wieder zum Fenster. Die Farben vor der Glasscheibe verschwimmen, werden von den Regentropfen unterbrochen, während mein Blick versucht, sich an etwas festzuhalten. Doch immer wieder rutsche ich ab in die blaugraue Mischung.
Nach Hause zu fahren, fühlt sich immer an, als würde etwas an meiner Seele zerren. Ich liebe meine Eltern, das Gefühl von Heimat, aber es ist auch jedes Mal wieder so, als würde ich Schorf von einer Wunde pulen und mich dann wundern, dass es wieder blutet. Nur habe ich keine andere Lösung dafür, als es immer wieder zu versuchen, bis kein Schorf mehr da ist.
Denn wie ich es auch drehe und wende, irgendwann kommt immer der Moment, in dem ich wieder nach Hause muss. Nicht nur, weil es irgendwelche Verpflichtungen gibt, sondern auch weil ein Stück von mir noch weiterhin dort ist – und es wahrscheinlich immer bleiben wird, auch wenn es mir lieber wäre, ich könnte es einfach vergessen.
»Willst du auch was?«
Toms Stimme reißt mich aus meinen Gedanken und sorgt dafür, dass meine Augen sich nun doch an etwas festhalten können. An ihm. Er hebt die Hand mit der knittrigen Brötchentüte.
»Nein, danke, alles gut.«
Kauend betrachtet er mich. »Du solltest etwas essen, wir hatten noch nichts zum Mittag.«
Der Gedanke an eines der pappigen Brötchen vom Hauptbahnhof ist nicht gerade verlockend, aber seine Fürsorge macht mein Herz weich. Also lächle ich und greife zu. »Stimmt, danke.«
Während ich eine kleine Ecke abreiße und mir in den Mund stecke, versuche ich nicht zu viel nachzudenken.
Jedes Mal, wenn ich nach Hause fahre, ist da diese Schwere. Sie legt sich auf meine Brust, raubt mir den Atem und lässt Gedankenkreise wie Wirbelstürme durch meinen Kopf fegen. Erinnerungsfetzen. Bruchstücke, die ich immer zu vergraben versuche und die doch an die Oberfläche gespült werden. Scherben eines alten Lebens, das nichts mehr mit dem jetzigen zu tun hat und die es dennoch schaffen, in meine Seele zu schneiden.
Ich lasse die Reste des Brötchens in die Tüte fallen. Unwillkürlich rutsche ich tiefer in den dunkelblauen Sitz hinein. Tom greift nach meiner Hand.
Es kommt mir so vor, als würde er es spüren.
Als könnte er die Scherben sehen, auf denen ich laufe, weil er der Einzige ist, der wirklich hinsieht. Mich sieht mit all meinen Fehlern und dem Stückchen Dunkelheit, das ich nie ganz loswerde, egal wie oft ich mich zum Licht drehe. Aber er nimmt dennoch meine Hand, küsst meine Fingerknöchel und sieht mir in die Augen. Er vertreibt ein Stückchen der Schwere. Doch eben nur das: nur ein Stück.
»Ich freu mich auf das Wochenende mit dir.«
Ich lächle, will mich auch freuen, bin mir aber nicht sicher, ob ich die Freude auch wirklich fühle oder sie nur fühlen will, weil es so offensichtlich ist, was Tom sich wünscht. Und ich bin glücklich, wenn er mich so ansieht. Wenn ich ihn glücklich gemacht habe. Also bin ich doch offenbar auch glücklich, oder?
Zumindest wäre das der logische Schluss.
Schon seltsam, wie sich das eigene Leben in nur zwei Monaten so verändern kann. Ich schließe die Augen und kann es sehen. Kann Tom sehen, wie ich ihn bei unserem ersten Treffen gesehen habe. Als würde er es spüren, zieht er mich in seine Arme, und ich lasse es zu.
Weil ich nie mehr wollte als dieses Gefühl der absoluten Sicherheit. Denn das ist es doch, was die Liebe ausmacht, oder?
Liam
Frankfurt ist schon wieder grau.