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Sommerlich, romantisch, leidenschaftlich und eine Spur traurig - Willkommen im Museum of Broken Hearts Wir sammeln gebrochene Herzen – gib uns einen Gegenstand deiner verflossenen Liebe und lass sie endlich los! Als Juna eine Zeichnung im Museum of Broken Hearts abgibt, hofft sie auf das Versprechen des Museums: Wer einen Gegenstand seiner verflossenen Liebe dalässt, wird sich von der Person lösen können. Perfekt! Denn Link ist nicht nur Junas bester Freund, sondern auch der ihres Bruders, und Juna muss dringend mit diesem Kuss, ihren Gefühlen und dem Bild abschließen, das Link von ihr gezeichnet hat. Um ihre Freundschaft nicht zu gefährden, geht sie dem Tattooartist aus dem Weg. Doch selbst in den kurzen Momenten, in denen sie sich sehen, ist das Feuer zwischen ihnen kaum zu bändigen – egal, wie sehr sie sich bemühen, die Grenzen ihrer Beziehung zu wahren…
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Seitenzahl: 475
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ausführliche Informationen über unsere
Autorinnen und Autoren und ihre Bücher
www.leaf-verlag.de
1. Auflage 2025
Originalausgabe:
Copyright © 2025 by LEAF Verlag, Bücherbüchse OHG,
Siebenbürger Straße 15a, 82538 Geretsried, Deutschland
Copyright © 2025 by Julia Niederstraßer
Dieses Werk wurde vermittelt durch
die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Lektorat: Janika Mielke
Korrektorat: Sarah Di Fabio
Covergestaltung: Emily Bähr unter Verwendung von
Illustrationen von Lea Melcher @leamelcherwww.leamelcher.de
Gesetzt aus der Adobe Caslon
Satz: LEAF Verlag unter Verwendung von Illustrationen von @zips.design und
Stockmaterial von Adobe Stock (©tri, ©Christian Horz, ©Gizele, ©kshk, ©Shemol, ©alamingraphics27, ©Наталья Дьячкова ©rina, ©Christian Horz, ©Kensusei, ©aynurland, ©SKR, ©Wieslaw)
eISBN 978-3-911244-37-4
Für alle, die Narben tragen.Ob sichtbar oder unsichtbar –ich weiß, wie unendlich viel sie wiegen.Doch manchmal gibt es Menschen,durch die sie leichter werden:
Mama
Papa
Steffi
Lina
Tobi
Thore
Ella
Potter
Dobby
Oma
Opa
Fesal
Florian
Mladenka
Pamela
Susi
Stefan
Simone
April
Joy
Manu
René
(…)
Und wer macht deine Narben leichter?
Liebe Leser:innen,dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte, deshalb befindet sich auf der letzten Seite eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.
Taylor Swift – So It Goes…
Lady A – What If I Never Get Over You
Selena Gomez – Same Old Love
Sofia Karlberg – I Wanna Be Yours
Lina Maly – Schön genug
RaeLynn – Bra Off
Silbermond – Sexy
LEA – Kennst du das
Little Mix – Love Me or Leave Me
Camila Cabello – Bam Bam (feat. Ed Sheeran)
Lost Woods – The Legend of Zelda: Ocarina of Time
Harry Styles – Falling
Taylor Swift – Lavender Haze
Linkin Park – Numb
3 Doors Down – Kryptonite
Lewis Capaldi – Hold Me While You Wait
Ron Pope – A Drop in the Ocean
Thirty Seconds To Mars – A Beautiful Lie
George Ezra – Green Green Grass
KAPITEL 1 – Juna
KAPITEL 2 – Juna
KAPITEL 3 – Juna
KAPITEL 4 – Juna
KAPITEL 5 – Link
KAPITEL 6 – Juna
KAPITEL 7 – Link
KAPITEL 8 – Juna
KAPITEL 9 – Juna
KAPITEL 10 – Link
KAPITEL 11 – Juna
KAPITEL 12 – Juna
KAPITEL 13 – Juna
KAPITEL 14 – Juna
KAPITEL 15 – Link
KAPITEL 16 – Juna
KAPITEL 17 – Juna
KAPITEL 18 – Link
KAPITEL 19 – Juna
KAPITEL 20 – Juna
KAPITEL 21 – Juna
KAPITEL 22 – Link
KAPITEL 23 – Juna
KAPITEL 24 – Juna
KAPITEL 25 – Juna
KAPITEL 26 – Link
KAPITEL 27 – Juna
KAPITEL 28 – Juna
KAPITEL 29 – Link
KAPITEL 30 – Juna
KAPITEL 31 – Juna
KAPITEL 32 – Link
KAPITEL 33 – Juna
KAPITEL 34 – Juna
KAPITEL 35 – Juna
KAPITEL 36 – Juna
KAPITEL 37 – Link
KAPITEL 38 – Juna
EPILOG – Juna
DANGSAGUNG
Ich umklammere die Eintrittskarte und den Flyer in meiner Hand, überfliege wieder und wieder die Zeilen, die mich hierhergeführt haben. Ins Museum of Broken Hearts. Schwarze Buchstaben auf weißem Grund und ein gedrucktes Versprechen: Wir sammeln gebrochene Herzen – Gib uns einen Gegenstand deiner verflossenen Liebe und lass sie endlich los!
Mein Blick schweift zu den unterschiedlich hohen weißen Sockeln, die einen Pfad flankieren und mir gegenüber in einem Halbkreis münden. Auf ihnen thronen Glasquader, in denen gewöhnliche Dinge wie ein Bügeleisen, ein Hammer oder Briefe zu finden sind. Nicht weit von mir entdecke ich einen löchrigen Neoprenanzug, der aus dem Kabinett des Alltäglichen herausfällt.
Ich stecke die Eintrittskarte und den Flyer in meinen Jutebeutel mit Möwenmotiv und gehe darauf zu. Meine Schritte klingen in dem Saal nach, da ich die einzige Besucherin bin – selbst der draußen herrschende Frühsommer scheint abwesend zu sein. Vorsichtig streiche ich über den Quader, unter dem der Neoprenanzug steckt. Mein Spiegelbild ist schemenhaft im Glas zu erkennen – kupferroter Pixiecut, seitlich geschnittener Fransenpony und Lippen so dunkelrot geschminkt, dass sie fast schwarz wirken. Alles ist wie immer, nur meine Wangen sind blasser als sonst. Und obwohl es unmöglich ist, stelle ich mir für eine Sekunde vor, dass ich auf dem Sockel liegen würde, dass ich eines der abgegebenen Dinge wäre. Hätte der Quader eine andere Form, könnte er fast als gläserner Sarg durchgehen, der den Tod einer Liebe zelebriert. Ein Schauer läuft mir den Rücken hinab.
Kopfschüttelnd verbanne ich den Gedanken. Anschließend widme ich mich dem kleinen Schild, das auf dem Ausstellungsstück steht. Unterhalb einer Line-Art-Illustration des dargestellten Objekts prangt eine fett geschriebene Überschrift: Neoprenanzug der Wahrheit. Ich beuge mich vor, um die Schrift darunter lesen zu können.
Neoprenanzug der Wahrheit
Kiel,
2012–2015
Ich hätte ihn geheiratet, wir waren sogar schon verlobt. Dann kam der Urlaub auf Teneriffa, und unsere gebuchte Tauchkreuzfahrt entpuppte sich als reinster Horror. Ohne sie hätte ich sein wahres Gesicht wohl erst viel später erkannt. Alles war rosarot – bis zu dem Moment, als er vor meinen Augen mit anderen Frauen und Männern der Reisegruppe zu flirten begann und kurz darauf eine von ihnen mit in unsere Kajüte nahm. Den Neoprenanzug hatte er bei seiner anschließenden Flucht aus unserer Wohnung vergessen, also habe ich ihn etwas verschönert. Löcher hineinzuschneiden, war sehr heilsam, das kann ich nur empfehlen.
Ich schmunzle. Wer auch immer für diesen Text verantwortlich ist, scheint einen Weg gefunden zu haben, mit der eigenen Wut umzugehen. Ich wende mich dem nächsten Gegenstand zu; einer halb heruntergebrannten Kerze in einer Bierflasche. Im Gegensatz zum Neoprenanzug umgibt dieses Ausstellungsstück eine gewisse Melancholie. Womöglich liegt es am Wachs, das am Flaschenhals haftet. Irgendwann an irgendeinem Ort dieser Welt hat er aufgehört zu tropfen ist stattdessen eingetrocknet. Vielleicht sogar in dem Augenblick, in dem die Liebe erlosch, von der das Objekt erzählt. Ich runzle die Stirn. Wahrscheinlich ist es ganz anders gewesen, und mein Hirn malt sich viel zu dramatische Dinge aus.
Bierflasche mit Kerze
Kiel,
Elf Monate und siebzehn Tage
Außer bei meinen Bestellungen haben wir nie ein Wort miteinander gewechselt. Dafür gab es Blicke. Unendlich viele davon. Du hinter dem Tresen, ich am Tisch in der Ecke der Bar. Zunächst war es einmal die Woche, dann jeden Tag. Du hast mir mein Wasser gebracht, und ich war jedes Mal kurz davor, dich in ein Gespräch zu verwickeln. Ich hatte es vor, weil du etwas Magisches an dir hattest, das ich nicht benennen konnte. Aber es war da, wurde immer stärker, bis du plötzlich jemanden an deiner Seite hattest, mit dem du geredet hast. Ihr habt all die Worte gewechselt, die ich auch gern gesagt hätte. Als ihr euch geküsst habt, habe ich die Tischdeko mitgenommen. Sie war mein Andenken, eine Mahnung, nie wieder so lange zu warten. Ich glaube, ich warte auch heute noch, deshalb muss ich sie abgeben.
In mir macht sich eine dumpfe Traurigkeit breit, die meinen Brustkorb enger werden lässt. Ich hatte also recht, diese Geschichte hier ist dramatisch. Zwei Menschen, die nie zueinandergefunden haben, und zumindest einer von ihnen kann nicht loslassen.
Ich hebe meinen Blick, betrachte abermals den löchrigen Neoprenanzug. Im Museum gibt es nicht nur eine Erzählstimme, die wie in einer Märchensammlung alle Geschichten vereint, sondern Hunderte. Bloß ist es keine Märchensammlung. An diesem Ort, an dem alles weiß ist – von den hohen Decken, den Clubsesseln in den Ecken und den stuckverzierten Wänden, bis hin zum perlmuttschimmernden Fußboden –, existiert kein Happy End. Auch wenn die knallroten Origami-Herzen an den Balken über mir wahrscheinlich etwas anderes vermitteln sollen. Aus jedem Winkel des Saals strahlt mir das warmweiße Licht der Scheinwerfer entgegen, obwohl Schwarz viel besser passen würde. Dunkle Töne, die das Scheitern der Liebe widerspiegeln und dem Ort eine gewisse Schwere verleihen. Trotzdem – oder gerade deswegen? – hat das Museum seinen Reiz. Schließlich ist Liebeskummer eine der ältesten Geschichten der Welt.
Ich laufe ein Stück weiter und bleibe vor einem gepunkteten Regenschirm stehen.
Mit dir unterm Schirm
Wuppertal,
April 2025
Danke für unsere Zeit. Danke, dass du mich an diesem einen Abend mit unter deinem Schirm hast laufen lassen. Sonst hätten wir uns nie kennengelernt. Letztlich hat es nicht gepasst, aber dieser eine Monat mit dir war es wert.
Ich atme tief ein. In diesen Zeilen schwingt so viel Gutes mit, dass die dumpfe Traurigkeit in meiner Brust für einen Moment von Leichtigkeit abgelöst wird. Hinter allem, was hier liegt, steckt nicht nur ein Ende, sondern auch das Potenzial, ein Anfang zu sein. Plötzlich fühle ich mich in diesem Raum nicht mehr allein, sondern viel eher verbunden. Ich stehe inmitten unzähliger gebrochener Herzen, aber eines davon wummert in meiner Brust. Es überschlägt sich beinahe, als ob es der Idee nicht hinterherkäme, die sich rasend schnell in meinem Kopf formt. Vielleicht ist das Museum die Antwort, die ich so dringend brauche. Ich habe es immer und immer wieder versucht, habe nach dem Knopf gesucht, mit dem ich alles rückgängig machen kann, doch es gibt ihn nicht. Es gibt kein Zurück. Deshalb bin ich hier, an einem Ort, den ich vor knapp dreißig Minuten gefunden habe, als ich durch Kiels entlegene Gassen geschlendert bin, um nicht in die WG zu müssen.
Zu müssen, hallt es in meinem Geist schmerzhaft wider. Bis vor Kurzem bin ich gern nach Hause gekommen. Da war kein Ziehen in meinem Bauch, das mich förmlich überall hintreibt, nur nicht dorthin, wo mein bester Freund auf mich wartet und so tut, als sei nichts geschehen. Im Gegensatz zu Link kann ich nicht vergessen. Ich kann nicht zur Normalität übergehen. Aber ich kann ihn loslassen, einen Gegenstand von ihm abgeben, um einen Neuanfang zu starten. Automatisch wandern meine Finger zu der Tasche meiner Shorts, und ich nestle an den goldenen Nieten herum. Einen Moment lang kommt es mir vor, als könnte ich die Zeichnung auf dem Papier unter dem Stoff knistern hören. Obwohl ich es sauber gefaltet habe, scheint es schlagartig tonnenschwer und riesig zu sein. Seit Wochen trage ich es wie einen Talisman bei mir, nur dass es mir kein Glück bringt.
Wie in Trance visiere ich den nächsten Sockel an, ohne zu erkennen, was darauf platziert ist. Wichtig ist bloß, dass sich ebendiese Zeichnung genau dort befinden könnte. Ein Teil von uns könnte hierbleiben. Denn sich in seinen besten Freund zu verlieben, hat selten ein Happy End. Noch bevor ich mich für oder gegen die Idee entscheiden kann, ertönen zügige Schritte hinter mir. Als wäre ich ertappt worden, weiche ich ein Stück zurück, bringe Abstand zwischen den Sockel und mich und schaue in die Richtung, aus der die Schritte kommen.
Keine Postkarten mehr
Hamburg,
Zwei Jahre und siebenundachtzig Tage
Verzeih mir, aber ich muss dich loslassen. Sosehr ich es auch liebe, dass du mir Postkarten von deinen Reisen schickst, sosehr zerfetzt es mir das Herz. Du bist überall, nur nicht bei mir, und das ertrage ich nicht. Verzeih mir.
Eine Frau, etwa in meinem Alter, läuft schnurstracks auf mich zu und lächelt so strahlend, dass sich meine Mundwinkel automatisch heben.
»Moin«, begrüßt sie mich und bleibt mit der linken Fußspitze auf dem rechten Fuß lässig vor mir stehen. Die Schnüre ihrer Sandalen sind ihr Schienbein hoch gewickelt, enden unterhalb ihres Bleistiftrocks. »Ich bin Toni. Sorry, dass ich erst jetzt komme, normalerweise ist immer jemand im Saal, der die Gäste bei Bedarf herumführt, allerdings hatten wir im Lager einen kleinen Engpass. Falls du Fragen hast, sag einfach Bescheid.«
»Ja, ähm«, beginne ich, stocke jedoch, weil mein Blick auf das Schild an ihrer Bluse fällt. Dort sind zwei Hälften eines zerbrochenen Herzens zu sehen, darunter die Worte Broken-Hearts-Team. Eigentlich glaube ich nicht an Schicksal, aber mit Toni vor der Nase, die genau dann auftaucht, wenn ich meine Vergangenheit womöglich ziehen lassen will, sollte ich eventuell doch daran glauben. »Man kann bei euch Dinge abgeben, nicht wahr? Wie läuft das ab? Gebe ich dir meinen Gegenstand einfach?« Ich klinge so nüchtern, als würde ich mich nach dem Wetter erkundigen. Nicht zum ersten Mal danke ich im Stillen der Fähigkeit, meine Emotionen meistens verbergen zu können. Dabei ist alles in mir in Aufruhr. Ich weiß nicht, ob ich bereit bin, mich heute von Link und mir zu verabschieden. Müsste ich mich darauf nicht irgendwie vorbereiten?
Ein ernster Ausdruck schleicht sich auf ihr rundliches Gesicht. »Schlussendlich, ja. Die meisten wollen erst mal reden, und einige entscheiden sich dann dafür, ihren Gegenstand wieder mitzunehmen.«
»Ich nicht«, beeile ich mich zu sagen, weil ich plötzlich genau weiß, was zu tun ist. Würde ich mich darauf vorbereiten, die Zeichnung abzugeben, würde ich sie auf ewig behalten. Es muss jetzt geschehen. Schließlich hätte ich sie schon hunderte Male auf die unterschiedlichsten Arten entsorgen können. Das Loswerden ist nicht das Problem, das Loslassen ist es. Dabei hatte ich es wirklich vor. Ich wollte die Zeichnung verbrennen. Wie oft saß ich mit dem Feuerzeug in meinem Zimmer, hielt die Flamme an diese verdammte Seite, die ich aus Links Sketchbook gerissen hatte, ohne mich überwinden zu können? Stattdessen verlangte die Flamme züngelnd nach dem Papier und war gewillt, die Erinnerung in Asche zu verwandeln. Aber bis auf vier angesengte Ecken ist das Papier immer noch da. Ich kann es nicht vernichten. Also muss die verfluchte Seite weg.
»Okay, sicher, dass du nicht reden möchtest? Manchmal kann es …«
»Ganz sicher. Ich möchte es einfach loswerden.«
Kurz schweigt sie, mustert mich mit einer Intensität, dass es in meiner Brust zieht, doch ich sehe sie fest an, mache keinen Rückzieher. »Wie du meinst.«
Zustimmend nicke ich, wische meine schweißnassen Handflächen möglichst unbemerkt am Bandeauxtop ab, und hole den gefalteten Zettel heraus. Als würde er auf Knopfdruck einen alten Film abspielen, erscheinen vor meinem inneren Auge Bildfragmente, die diesen einen wunderbaren Moment ergeben, wenn ich es zuließe. Ich könnte ihn mir immer und immer wieder ansehen, da ich ihn mit jeder Faser meines Körpers gespürt habe. Vielleicht haben Körper eine Gedächtnisfunktion, in der sie wichtige Ereignisse speichern, um sie jederzeit abrufen zu können. Knochen, Muskeln, Sehnen, Zellen – alles weiß, wie es sich angefühlt hat, von meinem besten Freund geküsst und berührt zu werden.
Meine Lider senken sich, und dann verliere ich mich irgendwo in der Zwischenzeit, in der mein Herz zweimal schlägt. Er und ich in unserem Wohnzimmer, er und ich voreinander stehend, er und ich ineinander verschlungen. Er und ich voneinander abgewandt, weil er mich doch nicht will …
Entschlossen öffne ich die Augen, kämpfe gegen den stechenden Schmerz und das wehmütige Ziehen in mir an. Deshalb bin ich hier: um all dem ein Ende zu setzen. Ich atme geräuschvoll aus, starre auf das Papier, ehe Toni mir die Hand entgegenstreckt und ich es ihr gebe. Neugierig betrachtet sie es, ohne es auseinanderzufalten, worüber ich froh bin. Ich glaube nicht, dass ich es ertragen könnte, würde sie sich die Zeichnung in meinem Beisein ansehen. Es wäre zu intim, zu privat, obwohl es für sie wahrscheinlich Routine ist, die Geschichte einer gescheiterten Liebe in den Händen zu halten.
»Du bist dir ganz sicher?«, hakt sie sanft nach.
»Absolut. Muss ich etwas unterschreiben?«
»Du müsstest bloß einen Steckbrief ausfüllen, den wir auf all unsere Exponate stellen. Wir ändern auch nichts, jeder Steckbrief ist individuell. Die Fragen geben lediglich die Richtung vor«, erklärt sie, während sie auf die andere Seite des Saals zugeht. An einem versteckten Schrank angekommen, zaubert sie einen Schnellhefter und ein Klemmbrett aus einem der Fächer hervor und kehrt zu mir zurück. »Wir sammeln alle Objekte, die bei uns eingereicht werden, und entscheiden anschließend, welche wir ausstellen. Für alle ist nicht genug Platz, aber wir katalogisieren jeden Gegenstand für unsere Website. So oder so kannst du dir sicher sein, dass alles anonym ist. Niemand weiß, von wem welches Objekt ist.«
»Also gibt es mehr als hier stehen?«
Sie bläst die Wangen auf, nickt begeistert. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele. Unsere Zweigstelle in Kiel hat erst im Januar eröffnet, trotzdem finden tagtäglich Leute zu uns. In unserer Hauptstelle in Kroatien haben wir doppelt so viele Räumlichkeiten.«
Außer einem »Wow« fällt mir nichts ein. Ich bin schon von all den Gegenständen in diesem Saal erschlagen. Jeder einzelne hat eine Bedeutung, und nun findet mein gefalteter Zettel in ihrer Mitte Platz – oder wird im Internet zu sehen sein. Fremde Personen werden ihn begutachten, ein Urteil fällen, sich eine Meinung bilden. Womöglich löst er etwas in ihnen aus, so wie bei mir der Neoprenanzug, der Regenschirm und die Bierflasche mit der Kerze. Kurz muss ich schlucken. Vielleicht ist es naiv zu glauben, dass sich danach alles ändert. Vielleicht greife ich nach dem dünnsten Strohhalm der Welt, aber ich bin verzweifelt. Wenn Zurückgehen keine Option ist, möchte ich wenigstens weitergehen können.
Entschlossen deute ich auf den Hefter in Tonis Arm. »Darf ich?«
»Selbstverständlich.« Sofort reicht sie mir das Klemmbrett, einen der abgehefteten Zettel in einer Klarsichtfolie und einen Kugelschreiber, den sie aus der Brusttasche ihrer Bluse zieht. »Mach es dir auf den Sesseln bequem. Ich lasse dich ein paar Minuten allein, damit du alles in Ruhe ausfüllen kannst. Falls du mich brauchst, findest du mich am Eingang.« Sie macht eine Pause, räuspert sich und schiebt die Zeichnung, die nicht länger mir gehört, in die Folie. »Die kannst du bestimmt gebrauchen«, prophezeit sie, bevor sie lächelnd verschwindet.
Stille umfängt mich und legt sich drückend auf meine Glieder, gleichzeitig rauscht es in meinen Ohren, weshalb ich eine Sekunde innehalte.
Komm schon, Juna, das schaffst du, ermutige ich mich innerlich. Entschlossen steuere ich auf einen Sessel zu.
Dort angekommen lege ich das Klemmbrett und die Folie auf meine Knie, falte den Zettel mit bebenden Händen auseinander und streiche ihn glatt. Mein Gesicht auf vergilbtem Papier und verkohlten Ecken – eine Erinnerung in Sepia. Instinktiv halte ich die Luft an, als könnte mich die Sehnsucht dadurch nicht treffen. Aber sie kann. Bittersüß zirkuliert sie in meiner Blutbahn, verlässt mein Herz und kehrt zurück. Verlässt es und kehrt zurück, verlässt es und kehrt zurück.
Andächtig fahre ich mit den Fingerspitzen die Linien des Porträts nach. Es sind Links Bleistiftstriche; sie gehören zu mir, zeigen mich. So hat er mich an jenem Abend gesehen. Hinter meinen Lidern steigt ein Brennen auf, das ich fast grob wegblinzle. Dann greife ich hastig nach dem Kugelschreiber.
Welche Überschrift/Titel könnte zu deinem Gegenstand passen? Eine Zeichnung aus einem Sketchbook
Woher stammt der Gegenstand? Kiel
Dauer der Liebe? Eine Ewigkeit, doch in Wirklichkeit war es nicht mehr als eine Stunde.
Bei dem letzten Punkt stoppe ich, weil ich keine Ahnung habe, wie ich das alles erklären soll. Ob ich es überhaupt möchte. Wie ich Toni zu verstehen gegeben habe: Ich will nicht darüber reden. Denn das würde bedeuten, den Moment noch realer werden zu lassen, dabei soll er endlich aufhören. Immer wieder lese ich mir die Zeile durch, versuche, das Chaos in meinem Kopf zu ordnen.
Welche Geschichte steckt hinter deinem Gegenstand? Hier hast du die Chance, dich mit ein paar Worten von deiner Liebe zu verabschieden. Der Steckbrief fragt nach Worten und ob ich sie nun geben will oder nicht, sie sind da. Viel zu viele von ihnen beherrschen meine Gedanken, werden zum Buchstabensalat meiner Gefühle, die ich weder ordnen noch greifen kann. Silben schwirren durcheinander, während mein Blick durch den Raum wandert und ich letztlich auf die stuckverzierte Wand starre.
Plötzlich entsteht in meinem Kopf eine Melodie, Töne, die ich summe. Ihr Echo hallt in dem Saal wider. Es ist kaum mehr als eine kurze Notenabfolge, und doch kriecht mir der traurig-schöne Klang unter die Haut. Die Sehnsucht, die eben noch bittersüß durch meine Adern floss, erfüllt die Luft, umgibt mich.
Ich befinde mich inmitten unzähliger gebrochener Herzen, und auf einmal habe ich das Gefühl, dass sie mich umarmen. Vielleicht ist all das Weiß an diesem Ort gar nicht so unpassend, wie ich dachte. Schwarz wäre nicht richtig, denn hier zu sein, ist nicht nur ein Ende, vielmehr ein Anfang.
Ich werfe einen letzten Blick auf die Zeichnung, die mein bester Freund von mir angefertigt hat, und verabschiede mich, indem ich die ersten Zeilen eines möglichen Songtextes, den ich mir gerade ausgedacht habe, auf den Steckbrief schreibe. Unweigerlich heben sich meine Mundwinkel. Musik ist und bleibt ein Allheilmittel für mich.
Und wenn ich uns jetzt geh’n lasse, komm’ ich dann wieder bei mir an?
Die Schallplatte
Immer mal wieder,
über 10 Jahre hinweg
Niemals hätte ich geglaubt, dass die allererste Liebe auch über zehn Jahre danach noch immer irgendwie weh tut. Es fing so harmlos an. Händchen halten, über Musik reden, eine gebrannte CD und der erste Kuss. Wir trennten uns, wurden Freunde. Waren wieder zusammen und dann doch wieder nur Freunde. Irgendwie war da zwischen uns aber weiter diese Anziehung. Unsere Wege kreuzten sich immer wieder. Wir küssten uns, als wir eigentlich mit anderen Personen zusammen waren. Ich strich dein WGZimmer mit dir. Wegen dir habe ich Pink Floyd entdeckt. Ich durfte die Schallplatte meiner Eltern haben. Dark Side of the Moon. Ich habe sie bewahrt wie einen Schatz. In deiner nächsten Wohnung war Pink Floyd an der Wand. Wieder war ich so kurz davor, dich zu küssen.
Diese Momente gab es immer wieder zwischen uns, bis du mir gesagt hast, dass du mich nie gemocht hast. Ich weiß nicht, warum. Du hast es mir nie erzählt.
Pink Floyd mag ich immer noch. Meine Schallplatte halte ich in allen Ehren. Und irgendwie muss ich immer ein kleines bisschen an dich denken, wenn ich sie sehe. Auch heute noch tut es weh.
Als ich Toni die Sachen am Eingang überreiche, ist ihr Gesicht zu einer mitfühlenden Miene verzogen. »Falls du magst, kann ich dir Bescheid geben, was mit deinem Zettel passiert. Ich bräuchte nur deine E-Mail-Adresse oder Handynummer, damit ich dich erreichen kann. Danach werden deine Daten natürlich gelöscht.« Sie schlängelt sich an fünf riesigen Topfpflanzen vorbei, die auf dem perlmuttschimmernden Boden stehen, und tritt hinter dem Tresen hervor. Die wild wuchernden Gewächse sind der einzige Farbklecks im Eingangsbereich, denn wie im Ausstellungssaal ist hier alles weiß.
Unschlüssig schaue ich Toni an und vergrabe meine Hände in den Taschen meiner Shorts. »Ich weiß nicht, ob ich das möchte. Theoretisch ja, praktisch wäre es kein echter Abschied, oder?«
»Es muss ja kein Abschied für immer sein«, antwortet sie mit einem Funkeln in den braunen Augen.
»Lass mich ein paar Nächte drüber schlafen, okay?«, sage ich und zucke mit den Schultern. Ich habe nur einen Steckbrief ausgefüllt, trotzdem fühle ich mich leer. Zumindest ein großer Teil von mir, der andere ist seltsam leicht.
»Komm einfach vorbei, wenn dir danach ist. Sollte ich nicht da sein, kann eine meiner Kolleginnen nachsehen, das ist gar kein Problem.«
»Danke.«
Ehe eine von uns noch etwas sagen kann, öffnet sich das gläserne Eingangstor und eine Traube Menschen strömt herein. Bei der frischen Sommerbrise, die sie mitbringen, reibe ich mir milde lächelnd über die Unterarme. Da ist sie also wieder, die Außenwelt, die im Herzstück des Museum of Broken Hearts keinen Platz hat. Kurz frage ich mich, ob die Besuchenden ausschließlich wegen der Ausstellung hier sind oder ob jemand von ihnen mit dem Gedanken spielt, einen Gegenstand abzugeben.
»Entschuldigung, ich muss«, unterbricht Toni mein Grübeln und zeigt auf das Grüppchen.
»Klar, ich bin auch schon weg, und danke noch mal.« Ich winke ihr zu, wende mich ab und lasse meine Zeichnung bei ihr am Tresen zurück. Bevor ich mich komplett umgedreht habe, begreife ich, warum sich ein Teil von mir so leer anfühlt, seit ich den Steckbrief ausgefüllt habe. Es ist, als hätte ich nicht nur eine Erinnerung, sondern eine Hälfte meines Herzens in fremde Hände gegeben, die sich bisher nicht von Link und mir trennen konnte. Die dafür verantwortlich ist, dass ich mich damit gequält habe, diesen einen Abend immer und immer wieder Revue passieren zu lassen. Eilig dränge ich mich an den Leuten vorbei, um es mir nicht anders zu überlegen. Ich fliehe, weil es wehtut, Link hinter mir zu lassen. Es tut mir weh, diesen einen Moment abzuhaken, in dem mein bester Freund mich endlich so gesehen hat, wie ich es mir seit einer Ewigkeit gewünscht habe.
Ich bin schon auf halbem Weg nach draußen, als ich die Blicke wahrnehme. Abrupt bleibe ich stehen, meine Nackenhaare stellen sich auf, und ich mache mich klein. Am kleinsten aber wird mein Herz – es soll so wenig wie möglich abbekommen. Es vergeht kaum eine Sekunde, da höre ich die ersten Wörter des Getuschels, die mich zielsicher treffen. Das tun sie immer. Blicke und Worte, die jedes Mal winzige Stücke von mir mit sich nehmen, als wäre ich ein Jenga-Turm und die Einzige, die ihn am Einstürzen hindert.
»Läuft total komisch, oder?«
»Hexenbuckel.«
»Nicht schön …«
Ich schaue nicht nach, wer spricht. Das Wer ist scheiße noch mal belanglos. Scham überrollt mich, obwohl nichts von dem, was sie sagen, neu ist. Ich weiß, was sie sehen, ich sehe es ja selbst. Alle sehen es, aber nicht alle reagieren darauf. Mein Gang irritiert viele, denn ich laufe steifer als manch anderer, weil sich weder meine Hüfte noch meine Schultern viel bewegen. Das können sie auch nicht, denn meine Wirbelsäule wurde vor fünf Jahren mit einer Operation und zwei Titanstäben aufgerichtet. Trotzdem ist mein Rücken leicht schief, und meine Rippenbögen wölben sich etwas nach vorn.
Das wissen die Leute natürlich nicht. Sie wissen nicht, was Skoliose ist, wie krumm meine Wirbelsäule ursprünglich war, und welchen Weg ich gegangen bin, um dort anzukommen, wo ich mittlerweile bin. Dass es ein Dauerlauf ist, weil ich seit meiner Jugend eine chronische Erkrankung habe. Am 05.05.2016 bekam ich die Diagnose. Ein Satz hat alles verändert. Schon davor war mir klar, dass ich nicht einfach ein paar Medikamente nehmen und dann alles wieder gut werden würde. Ich habe es gespürt. Da ist kein Ende in Sicht, keine Heilung, bloß Höhen und Tiefen. Und selbst wenn die Leute eine Ahnung davon hätten, stünde es ihnen nicht zu, über mich zu urteilen. Niemand hat das Recht dazu, ganz gleich, ob ich anwesend bin oder nicht.
Bis vor ein paar Wochen hätte ich an einem guten Tag auf sie reagiert, sei es mit einem vernichtenden Blick oder einem Spruch. Doch seit dem Abend mit Link fehlt ein riesiges Stück meines inneren Jenga-Turms. Durch seine Zurückweisung wanke ich.
Ich wünschte, es würde mich nicht kümmern, was andere über mich denken.
Ich wünschte, es wäre mir egal, ob andere mich schön finden.
Ich wünschte, die anderen wären mir egal.
Fakt ist allerdings, dass es mich verletzt. Besonders heute, obwohl alles daran Routine sein sollte. Aber nur weil etwas zur Gewohnheit wird, bedeutet es nicht, dass es einem nichts ausmacht. An manchen Tagen mehr als an anderen.
Mit gesenktem Kopf husche ich durch die gläserne Eingangstür und verfluche mich, die anderen und vor allem Link. Wäre er nicht gewesen … Wären wir nicht gewesen, wäre diese Situation besser an mir abgeprallt.
Dieser eine Abend war ein Fehler.
»Zwanzig Minuten, Juna. Zwanzig.« Die tadelnde Stimme meines Bruders klingt genau wie die unserer Mutter. Eine Prise Ernsthaftigkeit gemischt mit unendlicher Sanftmut. Das ist nicht das Einzige, was er von ihr geerbt hat: Beide sind sie drahtig und klein.
Lächelnd nehme ich neben ihm auf der Bank Platz, die um den Stamm einer alten Eiche gebaut ist. »Du könntest mich auch einfach dafür loben, dass es keine fünfundzwanzig sind.«
Für einen Moment schließe ich die Augen. Offensichtlich verbringt halb Kiel seine Mittagspause – oder wie in meinem Fall den Feierabend – im Schrevenpark. Sich durch die Menschenmenge zu schlängeln, war wie so oft nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Bei für Ende Mai ungewöhnliche neunzehn Grad im Schatten war das definitiv kein Vergnügen. Außerdem sitzt mir der Besuch im Museum noch immer im Nacken. Ich reibe mir übers Gesicht und spähe hinter mich. Mehr als eine halbe Stunde ist vergangen, und doch habe ich das Gefühl, dass mir die Blicke gefolgt sind. Vielleicht auch das Wissen darum, dass die Zeichnung nicht länger bei mir ist. So oder so fällt es mir schwer, mich zu entspannen.
Der einzige Hoffnungsschimmer: Mir ist nicht aufgefallen, dass Toni mich im Museum so angesehen hat wie viele andere. Da war weder Mitleid noch Neugierde oder Sensationslust. Es wirkte eher so, als würde sie nichts an mir bemerken oder sich nicht dafür interessieren, und in meiner Welt bedeutet das etwas Gutes.
Chris zupft an einem Ende der großen Schleife, die an meiner Cap angenäht ist und kurz über meiner Wirbelsäule aufhört. »Gelobt wird erst, wenn du es jemals schaffen solltest, pünktlich zu kommen. Meinst du, das kriegst du hin?«
»Vermutlich nicht.«
»Ich hoffe, spätestens bei deiner Hochzeit.«
»Vielleicht heirate ich nicht.«
Er verdreht die Augen. »Falls doch, bete ich dafür, dass du pünktlich bist.«
»Als ob du dich auf Gebete verlassen würdest. Du würdest schon selbst dafür sorgen.«
»Doppelt hält besser. Ich sende Stoßgebete gen Himmel und weiche nicht von deiner Seite.«
Lachend lege ich meinen Möwen-Jutebeutel auf die Bank und hole meine Brotdose unter dem Kissen hervor, das ich stets dabeihabe, falls mein Rücken vom Sitzen zu sehr schmerzt. Weder in der Kanzlei noch danach habe ich es geschafft, etwas zu essen, und inzwischen verlangt mein Magen lautstark nach Nahrung. Die Berufsbezeichnung Rechtsanwaltsfachangestellte könnte auch ein Synonym für Oktopus sein. Acht Arme reichen kaum aus, um all die Akten, Telefonate und Mandanten bei Osswald & Partner zu bändigen. Meine Teilzeitstelle in der gut dreißigköpfigen Kanzlei für Umweltrecht sichert mir ein geregeltes Einkommen, aber die Songs, die ich gelegentlich an andere Kunstschaffende verkaufe, sorgen dafür, dass ich mich lebendig fühle. Die Musik ist mein Ausgleich. Von Montag bis Mittwoch arbeite ich vormittags, Donnerstag und Freitag nachmittags. Einmal im Monat kommt ein ganzer Arbeitstag hinzu, damit ich mich in der übrigen Zeit meiner Leidenschaft widmen kann.
Stirnrunzelnd betrachte ich Chris und deute auf sein Polo-Shirt. Es ist hellrot, ein bisschen verwaschen. »Was ist das eigentlich für eine gewagte Farbe?«
»Die ist nicht gewagt.«
»Für jemanden, der ansonsten nur schwarze und weiße Oberteile trägt, schon. Steht dir aber gut.«
»Ach, du übertreibst.« Ein tiefes Rot zeichnet seine Wangen, und seine Stimme ist ungewöhnlich leise.
Ich öffne die Brotdose, beiße in den Käsetoast, und stupse meinem Bruder mit dem Ellenbogen in die Seite. »Wir machen einen Deal: Ich versuche, pünktlicher zu kommen, und du gibst dir Mühe, Komplimente anzunehmen. Besonders wenn sie von deiner kleinen, süßen Schwester sind.«
»Uns trennt ein Jahr. Da hast du also keinen Welpenschutz.«
Ich bedenke ihn mit einem gespielt warnenden Blick, den er mit einem Seufzen quittiert, um mir danach eine liebevolle Kopfnuss zu verpassen.
»Weil du es bist, nehme ich das Kompliment dankend an und verrate dir außerdem, dass es heute dieses Shirt geworden ist, da ich nicht darauf geachtet habe, welche Oberteile ich in die Waschmaschine werfe. Meine weißen und deine bunten Teile harmonieren offensichtlich eher weniger.«
Lachend frage ich: »Du hast also einen Waschmaschinen-Fail an?«
»Das ist nicht der einzige … Es hat eine ganze Ladung getroffen. Und jetzt bitte Themawechsel. Link müsste gleich eintrudeln«, sagt er, während er einen Blick auf seine Armbanduhr wirft. Die digitalen Ziffern verraten ihm auf die Sekunde genau, wie spät es ist. Er trägt sie Tag und Nacht, hütet sie wie einen Schatz, denn er hat sie von seinem ersten Gehalt gekauft und sie hat ihn ein Vermögen gekostet.
»Ach, echt?« Der Themenwechsel ist ihm definitiv geglückt. Scheinbar unbekümmert konzentriere ich mich auf eine Jugendliche, die unweit von uns zwischen zwei hohen Kastanienbäumen auf einer Slackline balanciert. Schräg daneben lassen drei Personen Steine über den Teich springen. Mehrmals hintereinander ist ein leises Platschen zu hören, dann ein wildes Schnattern der Kanadagänse und Teichhühner, die auseinanderstoben. Unter den Bewegungen der jungen Frau gibt das Seil nach, doch sie hält sich aufrecht.
Ich wünschte, ich wäre so gelassen wie sie. Unbekümmert ist so ziemlich der letzte Begriff, den ich für meine Gefühlswelt verwenden würde. Allein die Erwähnung von Link stellt Dinge mit mir an, die ich nicht gebrauchen kann. Meine Hände werden schwitzig, und das Gefühl, irgendetwas säße in meinem Nacken, verstärkt sich. Dabei ist es nicht ungewöhnlich, dass Link zu uns stößt. Wenn Chris und ich uns treffen – oft auch spontan, da er durch seinen Job als Fotograf flexibel sein muss –, fragt meistens einer von uns, ob unser bester Freund dazukommen möchte. Allerdings eben nicht jedes Mal, und heute bräuchte ich dringend ein Geschwister-Meeting.
»Ja, er hat nicht viel Zeit, aber er wollte kurz vorbeischauen.« Chris faltet seine Hände, lehnt sich zurück und atmet tief durch. Egal, wo er ist, er schafft es zu entspannen. Wären wir nicht im Gespräch, würde er einfach einschlafen. Ein Koala in menschlicher Gestalt.
»Cool.« Ich beiße erneut ab und zwinge mich, ruhig zu bleiben. Noch ist Link nicht da, deshalb nehme ich mir ein Beispiel an meinem Bruder und sauge die Friedlichkeit des Ortes auf. In der Baumkrone über mir zwitschern Vögel, ein Fahrradfahrer radelt über einen der gewundenen Sandwege, und eine sommerliche Böe streicht über mein Gesicht. Helle und dunkle Stimmen schweben über den Grünflächen, auf denen zahlreiche Leute auf ausgebreiteten Decken picknicken oder grillen. Teil des Ganzen zu sein, hat etwas Beruhigendes. Wir sitzen hier, ohne aufzufallen, können für uns sein und sind trotzdem nicht allein.
Ich verstaue den Rest meines Toasts in der Brotdose, stecke sie zurück in den Beutel, als sich jemand in unserem Sichtfeld niederlässt und von einem Ohr zum anderen grinst.
»Da bin ich.«
O ja, da ist er. Link Bahlow. Kaum eine Sekunde bei uns, schon trifft seine Anwesenheit auf einen Nerv, der ein feines Kribbeln unter meiner Haut entfacht.
Bujinkan Budō Taijutsu, wie ein Gebet weht der Begriff durch meinen Geist, als wäre es die Erklärung für alles; völlig selbstverständlich. Im Bezug auf Link ist das vielleicht auch so. Denn seit er vor drei Jahren mit der japanischen Kampfkunst begonnen hat, gleichen seine Bewegungen einer grazilen Kraft, die auf mich einen ungeheuren Reiz ausübt. Nicht nur das. Der Mix aus locker lässigem Streetstyle und dem edlen Hut, gepaart mit seinen Tattoos und dem Tunnel im Ohrläppchen, zieht mich ständig in den Bann.
Während sich Chris und er mit einem Faustschlag begrüßen, wandert sein Blick kurz zu mir, und für einen Moment habe ich das Gefühl, er ahnt, dass ich den einzigen Gegenstand abgegeben habe, der an unseren Abend erinnert. Fragend sieht er mich an, ehe er mich umarmt und ich mich versteife. Ich hatte gehofft, es würde nach dem Museum bergauf gehen. Links Anwesenheit belehrt mich eines Besseren. Er und ich, das ist nicht vorbei. Noch immer nehme ich wahr, wie gut er aussieht, und spüre das nervöse Kribbeln in meinem Bauch. Seine Präsenz allein ist der Auslöser für so viele Empfindungen, und mir wird klar, dass es absurd war, zu glauben, sie würden schlagartig vergehen. Mich zu verabschieden, war bloß der Anfang. Mich wirklich von ihm zu lösen, ist allem Anschein nach ein Langzeitprojekt.
Etwas unbeholfen lege ich meine Hände auf seine Schulterblätter. Zumindest fast. Früher haben unsere Umarmungen mehrere Sekunden gedauert, ich habe mich geborgen gefühlt. Doch seit dem einen Abend vor sieben Wochen schaffe ich es kaum, in seinen Armen bis eins zu zählen. Früher habe ich die Lider geschlossen, um seinen Duft zu inhalieren: Tinte aus dem Tattoo-Studio gemischt mit dem Geruch seines Apfelshampoos. Heute sind meine Augen offen, weil sich alles andere falsch anfühlen würde. Wir berühren uns nicht, deuten unsere Bewegungen nur an, als hätten wir ein stilles Einverständnis, dass mehr nicht möglich ist. Wer nicht genau hinsieht, bemerkt die Distanz vielleicht nicht, aber ich spüre die Millimeter, die uns trennen. Sie sind der Unterschied zwischen unseren Millionen von echten Umarmungen und den unechten. In diesen Millimetern liegt all das, was Link und ich einst waren. Rasch verwerfe ich den Gedanken und bin mir sicher, Chris nimmt uns auch heute die vorgetäuschte Normalität ab. Wir müssen gut sein, ansonsten hätte er in den letzten Wochen längst etwas gesagt. Und so lassen wir uns los, ohne uns überhaupt festgehalten zu haben. Den Anflug von Leere ignoriere ich.
Link setzt sich, stützt sich mit den Händen am Boden ab, und nicht zum ersten Mal frage ich mich, ob es ihn nicht schmerzt, was aus uns geworden ist. Es wirkt nicht so. So entspannt, wie er das Gesicht der Sonne entgegenstreckt, scheint ihn für den Moment nichts zu kümmern.
»In einer Stunde muss ich wieder los, dann habe ich einen Kunden«, sagt er.
»Welches Motiv wird es sein?«, fragt Chris.
»Ein in Flammen stehender Drache, der Wasser speit. Ein bisschen paradox, aber hat schon was.« Als Tattoo-Artist verewigt er die abgefahrensten Sachen.
»Durftest du ihn gestalten oder war das Design fertig?«
Sein Strahlen ist Antwort genug, um mich mit Wärme zu überschwemmen. Wenn Link zeichnen darf, ist er glücklich. So glücklich, dass es ansteckend ist.
»Die Kundin hatte die Idee von einem Drachen, der brennt, und hat mich machen lassen.« Zufrieden zieht er sein Mini-Skizzenbuch aus der Hosentasche und legt es auf sein Knie. Es ist Routine, geschieht völlig automatisch, trotzdem krallt sich der Augenblick genau dort fest, wo mein Herz schlägt. Zum ersten Mal, seit er mich gezeichnet hat, holt er sein Skizzenbuch in meinem Beisein hervor. Bisher habe ich ihm möglichst wenig Gelegenheit dazu gegeben, doch nun sind wir hier. Chris und Link, zwei der wichtigsten Männer in meinem Leben, und ich.
Er betrachtet Chris mit einem hoffnungsvollen, schiefen Grinsen. »Sag mal, würdest du demnächst ins Studio kommen? Unsere Website könnte neue Fotos vertragen.«
»Das müsste spontan sein. Ich bin ziemlich ausgebucht, seit …«
»Ich nehme alles, was ich kriegen kann. Besonders von dir«, unterbricht er Chris todernst, wackelt dabei aber mit den dunkelbraunen Augenbrauen.
Scherzhaft kneife ich Chris in die stoppelige Wange. »Unser Starfotograf.« Nachdem er ein paarmal zu viel darüber geredet hat, wie häufig er vom Nordish Interior Magazine gebucht wird, ziehen Link und ich ihn damit auf. Das ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass wir stolz auf ihn sind, was wir ihm oft genug mitteilen.
Schnaubend schiebt Chris meine Hand von seiner Wange und streicht sich verlegen über die Glatze. »Ich meine ja nur, dass es knapp werden könnte. Heute bin ich auch bis mindestens zwanzig Uhr unterwegs. Die Tage danach sieht es kaum besser aus.«
»Alles klar«, erwidert Link schmunzelnd und blättert nebenbei in seinem Skizzenbuch nach einer freien Seite. Das ist ebenfalls Routine. Selbst wenn er kein Motiv vor Augen hat, schlägt er ein leeres Blatt Papier auf. Bei mir hat er das Gleiche getan. Ich atme ein, als könnte ich den Schmerz dadurch lindern – vergeblich. »Das wissen wir doch.«
Die Art, wie er wir sagt, lässt meinen Magen zusätzlich einen Satz nach unten machen. Wir. Das war einmal. Vermutlich denkt sich Link nichts dabei, er spricht dieses simple Wort aus, ohne zu ahnen, welche Wirkung es auf mich hat.
Um mich auf etwas anderes als ihn zu konzentrieren, lasse ich meinen Blick schweifen und verfolge die dichte Rauchwolke, die von einem Grill in der Nähe der Fahrradständer aufsteigt. Sie wabert auf uns zu, kommt bei Link an und hüllt ihn ein. Prustend wedelt er mit den Armen, sein Gelächter vermischt sich mit dem meines Bruders, doch das Wir von eben hallt in mir nach und katapultiert mich zurück in den Moment, als ich dachte, ein Wir sei möglich.
PC-Tastatur
Krefeld,
Sieben Monate, zwölf Tage, zweiundachtzig Minuten und siebzehn Sekunden
Das ist das Gute an der digitalen Welt: Es ist genau aufgezeichnet, wann wir den ersten Kontakt hatten und wann er abgebrochen ist. Zumindest online haben wir eine Spur hinterlassen. Da gibt es uns noch. Vor sieben Monaten, zwölf Tagen, zweiundachtzig Minuten und siebzehn Sekunden hast du mir zum ersten Mal geschrieben. Der Zeitstempel prangt über deiner Nachricht. Ich hätte nicht gedacht, dass ich mein Glück auf einer Dating-App finde. Ich hätte nicht gedacht, dass mir schwarze Buchstaben auf weißem Hintergrund so viel bedeuten könnten. Jetzt ertrage ich es nicht einmal mehr, diese App zu öffnen, denn dort hast du mir geschrieben, wie sehr du in mich verliebt bist. Wenn die Tastatur beim Tippen klackert, bricht mein Herz, weil dieses Geräusch meine Abende gefüllt hat. Sieben Monate, zwölf Tage, zweiundachtzig Minuten und siebzehn Sekunden lang. Ich wollte dich treffen, du mich offenbar nicht. Aber ich habe dir vertraut, schließlich haben wir uns unsere Leben erzählt. Ich dachte, ich wüsste alles über dich. Bei mir tust du es auf jeden Fall. Deshalb habe ich mir nichts dabei gedacht, als du mich bei all meinen Terminvorschlägen auf bald vertröstet hast. Und aus bald wurde nie. Denn du ghostest mich seit zwei Monaten.
Darf ich dich zeichnen, Juna?« Ich spüre Links Blick auf mir.
Für meinen besten Freund könnte die Frage kaum simpler sein.
Für mich bedeutet sie die Welt.
Anderen hat er sie schon hunderte Male gestellt, mir nicht, nicht ein mal. Schätzungsweise bei der Hälfte war ich dabei, doch noch nie hat sich seine Frage so eindringlich angehört. Noch nie war da dieses Flackern in seinen Augen, weshalb ich keine Antwort habe. Und das ist seltsam. Denn für gewöhnlich verleihe ich als Songwriterin meine Worte – aber gerade habe ich kein einziges für mich.
Es ist, als hätte sie mir mein bester Freund genommen.
Jetzt und hier herrscht in meinem Kopf Leere, während die offenstehende Tür zu unserem Balkon mit einem leisen Knarzen vom Wind geschlossen wird. Unser selbst designter Vorhang aus Weinkorken und Perlen klirrt, und mein Herz setzt mehrere Schläge lang aus. Ich verstehe nicht, was sich verändert hat, was anders ist – warum er mich heute zeichnen möchte, obwohl alles wie immer ist. Es sind nur Link und ich und unser Ausklingen des Tages im Wohnzimmer unserer WG. Das tun wir ständig. Er mit seinem Sketchbook und einem Bleistift bewaffnet, ich mit Notizblock und Gitarre.
Unruhig mache ich es mir auf dem pinken Sessel gemütlicher, indem ich mir ein Kissen greife und es mir hinter den Rücken stopfe. In dem Versuch, irgendwo einen Punkt zu finden, der dieses Anders erklärt, lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Weiß verputzte Wände mit einem riesigen Vogelkäfig und einer Tapetenbahn in floralem Muster. In jeder Ecke eine Stehlampe mit verschiedenfarbigen Glühbirnen. Von rechts strahlt das orangene Licht der Abendsonne durch die Fensterfront herein, taucht Link und mich und den Holzfußboden in Wärme. Seit drei Jahren wohnen wir hier. Ich schaue überall hin, versuche, diesen einen Punkt zu finden, der alles erklärt, aber ich lande permanent bei Link, der mir gegenübersitzt. Ich starre ihn an, starre in das Blau seiner Iriden. Einmal mehr erinnert es mich an das Wasser der Kieler Förde kurz vor Einbruch der Nacht, an diesen dunklen Farbton, wenn ich mit der letzten Fähre von einem Ufer zum anderen fahre.
»Ach komm schon, Wildflower, du tust ja gerade so, als hätte ich dich darum gebeten, mit mir eine Bank auszurauben.« Link schmunzelt, legt seine Arme lässig über die Lehne unserer Ledercouch, dennoch wirkt er scheuer als eben. Innerlich stöhne ich auf, weil mein Herz bei der Erwähnung meines Spitznamens einen Satz macht. Wildflower ist seit unserer Kindheit das Zauberwort, mit dem er mich zu allem Möglichen überredet. Die Schule schwänzen, vor dem Mittagessen naschen, mit vierzehn Horrorfilme ab achtzehn schauen. Er fordert mich heraus. Früher hat es einfach Spaß gemacht, mittlerweile übt er mit diesen kleinen Challenges einen ungeheuren Reiz auf mich aus. Mit ihm ist es aufregend. Ich bin seine Wildflower seit er, Chris und ich uns mit dreizehn und zwölf Jahren auf einer Wildblumenwiese kennengelernt und uns um ein verlassenes Baumhaus darauf gestritten haben. Wenige Wochen später wurde es zugunsten einer Wohnhaussiedlung platt gemacht, genau wie die Wiese. Nur wir sind geblieben: eine Einheit, beste Freunde. Mit dem Unterschied, dass mir das Beste-Freunde-Sein mit Link nicht mehr reicht und ich trotzdem daran festhalte. Denn so oder so würde es nicht gut ausgehen. Selbst wenn es ein Happy End für uns geben würde, wäre mein Bruder außen vor. Wir drei, wie wir jetzt sind, gäbe es nicht mehr. Meine Gefühle für Link könnten alles zerstören, also sorge ich seit knapp drei Jahren – seit ich zwanzig war – tagtäglich dafür, dass sie für alle anderen unsichtbar bleiben. Ein plötzliches Flackern in seinen Augen ändert gar nichts. Alles bleibt beim Alten. Möglichst unbemerkt straffe ich die Schultern und schnappe mir meinen Notizblock vom Tisch, kritzle an den Rand der aufgeschlagenen Seite einen Violinschlüssel. Alles wie immer.
»Wie kommst du auf einmal darauf?«, frage ich mit so viel Gelassenheit in meiner Stimme, dass ich mir imaginär ein Highfive schenke.
»Keine Ahnung. Kam mir einfach in den Sinn.«
»Ich spaziere zwanzigmal am Tag an dir vorbei, und auf einmal kommt es dir in den Sinn?«
»Was ist so schlimm daran?«
»Nichts«, sage ich leichthin und male Kästchen um den Violinschlüssel. »Es ist nur wahrscheinlicher, dass du mich darum bittest, mit dir eine Bank auszurauben, als dass du mich zeichnen möchtest. Das wolltest du noch nie.«
»Das stimmt nicht.«
Ruckartig blicke ich auf, ohne etwas zu erwidern. Link raubt mir an diesem Abend wiederholt die Worte, und ein Teil von mir überreicht sie ihm liebend gern. Denn wenn ich keine mehr habe, muss es bedeutend sein. Dieser Moment muss es sein. Dennoch kreisen mich meine Bedenken fast ein, schnüren sich wie eine Schlinge um meinen Brustkorb: Alles muss beim Alten bleiben, meine Gefühle können uns zerstören, alles muss beim Alten bleiben.
Link schiebt die Ärmel seines Oversize-Pullovers hoch, offenbart dadurch die vielen Tattoos an seinen Armen. Ein breiter schwarzer Ring ziert seinen Zeigefinger. »Ich habe dich schon tausendmal gezeichnet, ich habe dich nur noch nie gefragt, ob du mir Modell stehst.«
Obwohl er die Worte beiläufig ausgesprochen hat, entdecke ich abermals dieses Flackern in seinen Augen. Ich habe den Eindruck, dass es sein ganzes Gesicht verändert. Plötzlich scheinen seine spitzen Züge filigraner, die hohen Wangenknochen weicher. Wodurch der Schwung seiner Brauen ebenmäßiger wirkt. Dieses ehrfürchtige Flackern lässt die Grenze zwischen uns verschwimmen, und mit einem Mal bin ich mir sicher: Haben wir sie erst einmal überschritten, gibt es kein Zurück mehr. Keine Ahnung, wann ich Link das erste Mal als meinen besten Freund bezeichnet habe. Auf jeden Fall, bevor ich mich in ihn verliebt habe. Der Übergang war schleichend. Wir waren immer mehr als flüchtige Bekannte, Freunde und beste Freunde. Deshalb tragen er und ich ein Etikett – ich habe es uns selbst verpasst. Zum einen, um mich davor zu schützen, mich ganz in ihm zu verlieren. Zum anderen, weil mir damals kein stärkerer Begriff für das eingefallen ist, was ich für ihn empfinde. Durch dieses Label sind wir definiert, was das Flackern in seinem Blick allerdings nicht zu interessieren scheint. Viel eher hellt es bereits ausgeblichene Stellen des Etiketts auf und treibt das aufgeregte Flattern in mir an, meinen Körper Stück für Stück einzunehmen. Mit jeder Sekunde, die er mich mustert, breitet es sich schneller aus, als müsste es die Zeit aufholen, in der ich es unterdrückt habe.
Er streicht sich durch sein dunkelbraunes Haar, um ein paar abstehende Strähnen aus seinem Sichtfeld zu verbannen, und rutscht bis an die Kante der Couch vor. Wenn er wollte, bräuchte er bloß seinen Arm ausstrecken, um mich zu berühren, und für eine Sekunde bilde ich mir ein, seine Finger zucken genau dorthin, wo der Saum meines Jeansrocks endet. Meine Atmung ist flach, ähnelt dem Tempo des Aufs und Abs seines Brustkorbs. Weder das eine noch das andere ist deutlich zu sehen, dennoch erkenne ich es.
»Also was ist?«, hakt er nach und klingt dabei etwas rau. »Darf ich?«
Obwohl es an diesem Abend nicht das erste Mal ist, löst die Frage eine Sehnsucht in mir aus, die ich schon so lange in die hintersten Ecken meines Ichs verbanne. Was für niemanden sichtbar ist, ist nicht da, oder?
Quälend süß zieht die Sehnsucht ihre Bahnen durch meinen Körper, verweilt unter meinen Rippen auf Höhe meines Herzens. Wie sehr ich mich getäuscht habe. Vielleicht ist all das, was nicht sichtbar ist, doppelt so stark fühlbar.
»Ja«, erwidere ich derart hastig, dass man meinen könnte, ich hätte mir nur dieses eine Wort von ihm zurückgeholt und müsste es verbrauchen, bevor er es mir wieder nimmt.
Statt einer Antwort bekomme ich dieses Lächeln – sein Lächeln –, das unwiderruflich mit ihm verknüpft ist. Ich kenne niemanden, der so lächelt wie er. Viele tun es mit geschlossenen Lippen, er nicht. Bei ihm blitzt immer ein Teil seiner Zähne hervor. Wenn Link lächelt, wird seine Oberlippe noch schmaler. Er versteckt nichts.
»Was soll ich machen?«
»Sieh mich einfach an.«
»Das war’s?«
»Ja, den Rest erledige ich«, erklärt er, streicht sich über den Dreitagebart und steht auf. Drei Tage sind laut ihm das Maximum, danach gefällt er ihm nicht mehr. »Ohne die richtige Atmosphäre geht allerdings gar nichts.«
»Das heißt?«, frage ich skeptisch. Sonst benötigt er fürs Zeichnen nichts als einen Stift. Selbst Papier ist nicht zwingend notwendig. Zur Not nutzt er seine Handfläche für eine erste Skizze.
»Dass ich ein genaues Bild vor mir habe und es jetzt auch in der Wirklichkeit haben möchte.« Mit zwei großen Schritten durchquert er unser Wohnzimmer, zieht eine der Korbschubladen unter dem Flachbildfernseher hervor, der auf weiß gestrichenen Paletten thront, und fischt eines der Dutzenden Streichhölzer heraus. Zielstrebig steuert er die lange Fensterbank zu seiner Rechten an und entzündet die Duftkerzen darauf. Der Duft nach Citrus und Melone hängt in der Luft, die tanzenden Flammen verschmelzen mit dem Licht der untergehenden Sonne.
Ich richte mich auf, lege meinen Notizblock zurück auf den Tisch und beobachte Link, wie er sich wieder auf die Couch setzt, sein Sketchbook in die Hand nimmt und den Bleistift zückt.
Wir schauen uns an. Früher hat er mich betrachtet, und ich war mir sicher, er sah in mir seine beste Freundin, gerade habe ich zum ersten Mal das Gefühl, er sieht mehr in mir.
Mehr von dem, was ich seit einer Ewigkeit entdecke, wenn ich ihn ansehe.
Mehr von dem, was eigentlich unsichtbar sein sollte.
Mehr von dem, was uns zerstören könnte.
Meine Bedenken umkreisen mich immer schneller, ziehen sich dichter und dichter um meinen Brustkorb – alles muss beim Alten bleiben, alles muss beim Alten bleiben –, und die Sehnsucht dringt dennoch bis zu meinem Herz vor. Link atmet geräuschvoll ein; sollte ich noch atmen, spüre ich es nicht. Stattdessen bin ich Zweifel, pure Freude, Angst, Glückseligkeit. Ich bin alles außer einer besten Freundin.
Ich weiß nicht, wie lange ich in der Stille unter Links eindringlicher Musterung verharre. Die Professionalität, die ich schon so oft bei ihm beobachten konnte, während er Motive eingefangen hat, ist verschwunden. Da ist ausschließlich dieses Mehr, das für das Dröhnen in meinen Ohren und meinen trockenen Mund verantwortlich ist. Wie er es verlangt, schaue ich ihn an, doch mein Blick befindet sich auf Wanderschaft, kann sich nicht auf einen Teil von ihm beschränken. Zuerst vertiefe ich mich in sein Gesicht, das ich besser kenne als mein eigenes und von dem ich trotzdem nicht genug bekomme. Danach sehe ich auf seinen Hals, auf seinen Adamsapfel, der sich auf und ab bewegt.
Kurz über dem ausgefransten Rand seines Pullovers verweilt meine Aufmerksamkeit, da die Ausläufer einer seiner Tätowierungen zu erkennen sind. Nur wenige nehmen die fein gestochenen Sandkörner wahr, die in die Waagschale auf seinem Brustbein rieseln. Sie balanciert auf der Spitze des Schwerts aus dem Videospiel The Legend of Zelda. Allein bei der Vorstellung an die Tinte unter seiner Haut überkommt mich ein heißer Schauer. So sollte es definitiv keiner besten Freundin gehen; der ganze Abend sollte unter besten Freunden nicht so vonstattengehen.
Aber heute ist alles anders, Link und ich sind anders, fernab von allem, was wir bisher waren. Mein Blick streift über seinen Brustkorb und die Muskeln, die durch den weiten Stoff verdeckt werden, bis hin zu seinen Fingern. Mit ihnen umschließt er den Bleistift, fährt in grazilen Bewegungen über das Papier, und je länger seine Zeichnung dauert, desto mehr habe ich den Eindruck, es wäre nicht das Papier, sondern meine Haut. Sie glüht unter jedem seiner Striche, antwortet mit einer Gänsehaut und katapultiert die Sehnsucht der Vergangenheit an die Spitze meiner Empfindungen. Meine Bedenken, was passieren könnte, sobald wir diese eine Grenze überschreiten, sind verschüttet, kaum noch vorhanden – obwohl wir nichts anderes tun, als uns anzusehen, zu zeichnen und zusammenzusitzen. Im Grunde ist nichts davon besonders.
Hin und wieder pustet sich Link eine Strähne aus der Stirn, aber selbst dabei behält er mich im Blick. Ich bin sein Fokus, während die Sonne vollends verschwindet und uns der Dunkelheit überlässt. Am Rand meines Sichtfelds flackern die Kerzen, und ihr Schein hüllt uns in blasse Schwärze, bei der ich mich frage, wie Link noch genügend erkennen kann.
Irgendwann legt er sein Skizzenbuch und den Bleistift ab und erhebt sich. Er steht einfach nur da; wäre das Kerzenlicht nicht, würde ihn die Dunkelheit verschlucken.
Irritiert und mit klopfendem Herzen rapple ich mich ebenfalls auf. Die Kühle der Dielen unter meinen nackten Füßen ist ein krasser Kontrast zu der Hitze in mir. Der Ring mit einem einzigen Gänseblümchen drückt an meinem mittleren Zeh, was ungewöhnlich ist, sonst bemerke ich ihn kaum. Doch hier und jetzt ist alles intensiver.
Wir in dem Raum. Wir vollkommen reglos. Wir und der Tisch zwischen uns, der fehl am Platz wirkt.
Ich möchte es der Dunkelheit zuschreiben, darauf, dass meine Gefühle in ihr irgendwie unsichtbar bleiben. Fakt ist allerdings, dass ich es will. Und deshalb umrunde ich den Tisch und stelle mich so dicht zu Link, dass uns keine Handbreit voneinander trennt. Einen Atemzug lang rührt er sich nicht, dann sieht er mir in die Augen.
»Wir sollten das Licht einschalten. Ich möchte dich nämlich nicht aus meiner Erinnerung zeichnen oder dich mit geschlossenen Augen darstellen, wenn du sie eigentlich offen hast. Es fehlt nicht mehr viel, aber … ich möchte, dass es echt ist.«
»Ist es doch.«
»Es ist viel zu dunkel.«
»Vielleicht ist das gut.«
Stille. Und seine Präsenz, die so greifbar ist wie bei einem Open-Air-Konzert, kurz bevor der Hauptact die Bühne betritt. Ein erwartungsvolles Summen.
»Was passiert hier, Juna?« Links Stimme ist so leise, dass sie Schweigen sein könnte. Trotzdem verstehe ich jedes Wort, und diesmal fallen mir nicht nur welche für mich ein, sondern auch für ihn. Worte, die ich ihm leihen kann.
»Alles, was wir möchten.« Ich mache einen winzigen Schritt auf ihn zu, wobei mich der Stoff seiner Jeans am Unterschenkel streift. Wir halten die Luft an, mein Puls rast, als würde er mich antreiben wollen, die Millimeter der Distanz zwischen uns zu überbrücken.
Plötzlich entschlüpft Link ein erstickter Laut, ehe er sich zu mir beugt und seine Lippen beinahe grob auf meine drückt. Eine Sekunde lang bewegen wir uns nicht. Ich kann ihn nicht schmecken, nicht spüren, nicht riechen – ich bin einfach da, mit ihm, wir zusammen in diesem Augenblick. Und dann raunt er unverständliche Silben an meinem Mund, und ich weiß, dass wir spätestens jetzt unser Etikett entfernt haben. Es abgerissen und der heutigen Nacht übergeben haben, die es immer weiter und weiter von uns wegträgt, bis ich ganz und gar aus Empfindungen bestehe, die dem Beste-Freunde-Etikett nicht länger gerecht werden.
Wir küssen uns, pressen uns aneinander, Oberkörper an Oberkörper, seine Nasenspitze reibt an meiner, und ich kralle mich an dem Bund seiner Hose fest, berühre seine Taille. Er umfasst mein Gesicht. Behutsam und stürmisch; in einem Moment überwiegt das eine, im nächsten das andere. Ich streiche mit meiner Zunge seine entlang, entlocke ihm ein Stöhnen. Sein Brustkorb hebt sich im gleichen rasenden Takt wie meiner, als wäre in uns ein und dasselbe Lied. Wir küssen uns, und aus meiner Sehnsucht wird Leidenschaft, die sich unterhalb meines Bauchnabels sammelt. Ihn wirklich zu küssen, ist um Welten besser als in meiner Vorstellung. Wie er mich berührt, ist um Welten besser als in meiner Vorstellung.
Langsam tastet er nach dem Spitzensaum meines Tops, atmet keuchend aus und zieht mit seinen Fingerspitzen eine Spur von meinem Bauch bis zu meinen Rippenbögen. Elektrisierende Hitze erobert mich, ich scheine eins mit dieser imaginären Spur zu sein, die Link auf mir hinterlassen hat, und nestle an dem Knopf seiner Hose. Gleichzeitig wandern seine Hände zu meinem Rücken, wo er oberhalb meines Steißbeins unendlich sanft entlang streicht, ohne den unteren Rand meiner Narbe zu berühren.
Er wartet auf meine Erlaubnis, schießt es mir durch den Kopf, und Dankbarkeit flutet mich bis genau zu der Stelle, an der seine Fingerkuppen über meine Haut fahren und die Narbe nicht passieren. Er wartet, weil er die letzten Jahre miterlebt hat, weil er meine Geschichte kennt, weil ihm klar ist, dass ich vergessen habe, wie es ist, dort berührt zu werden.