Und zwischen uns die Welt - Julia Niederstraßer - E-Book
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Und zwischen uns die Welt E-Book

Julia Niederstraßer

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Beschreibung

Und manchmal findet dich die Liebe eben doch – eine humorvolle und romantische Geschichte auf den amerikanischen Jungferninseln  »›Siehst du, Sandkörner passen zu allem. Es wirkt nie so, als würde irgendwas zu groß, zu klein … zu anders sein.‹  ›Alles passt hier‹, bekomme ich raus und meine: Ich passe hier.«  Enya studiert Jura auf der Insel St. Thomsen, ihre Gefühle drückt sie in Make-up Art aus. Obwohl sie nicht an die Liebe glaubt, wagt sie einen letzten Versuch, doch durch die ersten Nachrichten in einem Dating-Portal fühlt sie sich bestätigt: Sie wird immer das Mädchen im Rollstuhl sein. Deshalb beschließt sie, ihre Behinderung vorerst zu verschweigen – und auf einmal tauchen gleich zwei Männer auf, die ihr Herz zum Rasen bringen. Doch wie soll das funktionieren, wenn so viel zwischen ihnen steht?  »Einzigartig, gefühlvoll und voller kleiner Worte, die große Wellen schlagen. Eine Geschichte, die mit Herzklopfen und Sommerfeeling überzeugt. Für mich ein absolutes Jahreshighlight.« (waystowrite_) »Eine tolle Geschichte, die mich positiv überrascht hat.« ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Patrizia Spanke + www.tintenweber-lektorat.de

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Umschlaggestaltung und Motiv: www.bookcoverstore.com

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Cover & Impressum

Gedicht

Prolog

Kapitel 1: Willige Erntehelfer

Kapitel 2: Lügen-Prinzessin

Kapitel 3: Skarabäus-Tarnung

Kapitel 4: Merkwürdig witzig

Kapitel 5: Dominic Sherwood vs. Löwenherz1–2=0

Kapitel 6: Sichtbarkeit im lila Licht

Kapitel 7: Flauschige Herzen

Kapitel 8: Mehr als nur Muskeln?

Kapitel 9: Löwenherz, o Löwenherz, du bist …

Kapitel 10: Verschwinde!

Kapitel 11: Ungünstige Blickwinkel

Kapitel 12: Wanderliebe und Rutschpartien

Kapitel 13: Kitsch, der furchtbar schön ist

Kapitel 14: Her mit der Wahrheit

Kapitel 15: Schildkröten und Abgründe

Kapitel 16: Bride-to-be und jede Menge Sekt

Kapitel 17: Nummer drei

Kapitel 18: Sandkörner

Epilog

Danksagung

An dich zu denken ist so, als würde ich passen.

In die Welt, die mich schräg ansieht und doch nichts sagt.

In dein Leben, das schwarz schillert und lautlos nach mir ruft.

Und in mich, die immer ein Stück zur Seite geht, obwohl sie mittendrin sein möchte.

An dich zu denken ist so, als würde ich passen.

Nur tue ich es nicht.

An dich zu denken ist so, als würde ich dazugehören.

Nur tue ich es nicht.

An dich zu denken ist so, als wäre ich ich.

Prolog

Es gibt Tage, an denen kann ich die Welt nicht leiden. Da nervt mich jeder Hügel, der die ebenen Flächen durchbricht. Jede einzelne Stufe, die vor den Häusern zu überwinden ist, könnte ich anschreien. Und allen abenteuerlichen Ausflügen möchte ich den Mittelfinger zeigen, weil ich dafür zu langsam oder zu unbeweglich bin.

Ich hasse diese Tage, denn die Wut macht mich unerträglich. Doch irgendwann flaut sie wieder ab, also stehe ich diese Phasen irgendwie durch.

Viel schlimmer ist die Isolation, hinter der ich mich verbarrikadiere.

Manchmal bin ich so allein, dass mir erst durch andere bewusst wird, wie einsam ich bin.

Dann errichtet sich eine Mauer zwischen mir und dem Rest der Menschen, die diejenigen fernhält, die mir das Gefühl geben, nicht dazuzugehören. Ich passe nicht rein, habe keinen Platz in ihren Normen.

An den meisten Tagen ist das in Ordnung, es scheint nicht wichtig zu sein.

Aber dann ist sie plötzlich da. Ganz ohne Vorwarnung nistet sich die Einsamkeit bei mir ein.

Und eine meterhohe Mauer, die keinem auffällt.

Kapitel 1: Willige Erntehelfer

»Jetzt sind die Flügel an der Reihe. Das ist das Schwierigste daran, das Highlight. Und das heißt, du musst echt still sitzen bleiben. Am besten wäre es, wenn du so wenig atmest wie möglich! Dann wird auch der 3-D-Effekt besser«, erkläre ich Melody, nachdem die Grundierung fertig ist, und strecke mich ein letztes Mal für die nächsten Minuten. Damit nach der nächsten Runde die bunten Töne von Eyeliner, Lipliner und Foundation mehr hervorstechen, habe ich ihrer hellen Haut gerade mithilfe von Make-up einen ebenmäßigen Teint verliehen. Das Nasenpiercing hat sie vorher extra entfernt.

»Dir ist schon klar, dass du morgen nur Kinder bemalst, oder? Das hier«, meine beste Freundin zeigt auf ihr Gesicht, »ist keine Übung für den Wettbewerb ›Kreiere einen Schmetterling, der so echt auf meinen Wangen prangt, dass ich mich frage, ob er nicht doch lebendig ist.‹« Sie kommt mit den Anführungsstrichen, die sie beim Sprechen mit den Fingern in die Luft zeichnet, kaum hinterher.

Vorsichtig verschiebe ich die Palette mit den flüssigen Farben des Liquids auf dem fahrbaren Schminkkoffer, damit ich gleich leichter an sie herankomme. »Das Bild von dir kommt wie immer auf mein Insta-Profil. So wenige es auch sind, meine 157 Follower werden begeistert sein, inklusive dir. Die 250.000 Fans von Diamondface wären glücklich, so häufig neuen Content zu bekommen wie meine.«

»Sie hat sowieso nur so viele Follower, weil sie bei den Bildern ihre Möpse mit abfotografiert.«

»Definitiv.« Ich tunke den Pinsel in das Ozeanblau und streiche ihn am Rand ab, um Klümpchen oder einen Überschuss an Farbe zu vermeiden. »Obwohl ich schon zugeben muss, dass sie wirklich talentiert ist. Aber so berühmt wie sie muss ich gar nicht sein. Mir würde ein einziger Mensch völlig ausreichen, der mich abseits des Kinderschminkens immer mal wieder bucht.« Mit der ozeanblauen Spitze auf Mel zeigend, betrachte ich das halb fertige Motiv. »Deshalb gebe ich mir auch so viel Mühe. Morgen braucht nur die eine richtige Person da zu sein, um mich für ein Shooting zu buchen. Wenn nicht hier, wo sonst?«

Das karibische Flair von St. Thomsen lädt nämlich nicht bloß massenweise Touristen ein, sich auf den amerikanischen Jungferninseln zu entspannen, sondern lockt auch VIPs von nah und fern an. Eine einzige Person davon würde mir für den Anfang schon ausreichen, um einen Fuß in ihre glamouröse Welt zu bekommen, die zum Großteil aus Blitzlichtgewitter und Make-up besteht.

»Ich wünsche es dir, das weißt du. Niemand macht das Make-up besser als du. Aber glaub mir, die Kinder werden nicht so still sitzen bleiben wie ich.«

»Dafür habe ich den hier«, entgegne ich und hebe den Zeigefinger. Mit der freien Hand öffne ich ein Scharnier am Koffer und zaubere aus der darin verborgenen Schublade ein Tablet hervor. Es ist an einem Metallgestänge befestigt, das nach dem Herausziehen auf meiner Kopfhöhe hängt. »Die Kinder gucken Serien, und ich kann sie in Ruhe schminken.«

Mel macht es sich im Schneidersitz auf dem Holzhocker gemütlich. »Sehr gut!« Sie streicht sich die stahlgrau gefärbten Haare zurück, da einige Spitzen ihres bis zu den Ohrläppchen reichenden Pagenschnitts nicht vom Haarband gehalten werden. »Ich bin so froh, dass ich morgen zur gleichen Zeit Schicht habe. Falls die Leute, denen ich das Surfen beibringen soll, wieder mal Schnarchnasen sind, kann ich nämlich schön beobachten, wie du lauter Schmetterlinge auf Kindergesichtern zum Leben erweckst.«

Lachend lege ich den Pinsel doch noch mal zur Seite, um mir die fuchsroten Locken hochzubinden. Dabei stoße ich gegen den farbigen Stein neben meinem rechten Auge und merke, wie er abfällt. Ich stöhne genervt, lasse den unfertigen Zopf los, entferne auch den anderen Stein und entsorge beide in dem Abfalleimer, der im Schminkkoffer integriert ist. »Erinnere mich daran, dass die neue Marke Schrott ist, wenn wir im Laden sind, ja?«

Meine beste Freundin malt ein Häkchen in die Luft.

Normalerweise hält der Schmuck besser, den ich mir fast täglich an die äußerste Stelle meiner Lider klebe. Heute habe ich mich für zwei gelbe Exemplare entschieden, passend zum Sonnenschein, der mich morgens geweckt hat. Erneut fasse ich meine Haare zusammen und zwirbele sie zu einem Dutt. Anschließend greife ich zu dem Pinsel und nicke dem einzigen Modell zu, das sich bereit erklärt, meine Kreationen regelmäßig auszuprobieren.

Ich atme durch, setze die weichen Borsten neben Melodys Nase an und spüre sofort die innere Wärme, die in meinem Bauch wie ein Farbfleck verläuft. Genau deshalb mache ich Make-up Art. Für dieses eine Gefühl gebe ich neben dem Jurastudium alles, obwohl ich keine Ahnung habe, ob ich jemals von dieser Kunst werde leben können. Unter meiner Pinselführung wandert das Ozeanblau auf Mels Haut entlang. Der Strich wird an den Wangenknochen dicker und beginnt, parallel zum Kinn etwas dünner zu werden, bis er an der Nase zurückkehrend eine sehr schmale Form einnimmt. Mit einem Kajal schraffiere ich die Ecken des gerade gezeichneten Flügels und verwende einen Make-up Schwamm, um das Schwarz zu verwischen. Dadurch entsteht ein Schatten. Ich klappe das dritte Fach des Schminkkoffers auf, suche zwischen den verschiedenen Farbnuancen der Puder-Lidschatten nach einem Döschen, in dem ich einen Blauton angemischt habe, der fast in Weiß übergeht. Als ich den Behälter finde, ertönt aus meiner Hosentasche das Lied Let’s Talk About Sex und kündigt eine Nachricht an. Ohne mein Handy zu überprüfen, wende ich mich Mel zu, während ich meinen Zeigefinger in die pudrige Substanz tauche.

»Eine Nachricht von deinem Dating-Profil?« In dem Versuch, den Mund möglichst wenig zu bewegen, nuschelt sie, was allerdings nicht über das Blitzen in ihren Augen hinwegtäuschen kann.

Natürlich kennt sie den Ton, schließlich haben sie und die Mädels ihn eingerichtet. Außerdem war diese App, die mir Singles im Umkreis von 150 Kilometern anzeigt, bei Tracy, April, Reesy und Mel in den letzten Tagen oft genug Thema. Öfter noch als die Stundenpläne, die wir für das nächste College-Semester erstellen müssen. Was sehr verwunderlich ist, da April und Tracy ihr Studium in Wirtschaftsinformatik und Betriebswirtschaftslehre sehr ernst nehmen. Obwohl Mel und ich Reesy, April und Tracy, die schon seit dem Kindergarten durch dick und dünn gehen, erst bei unserem Umzug nach dem Highschool-Abschluss auf die Insel vor eineinhalb Jahren kennengelernt haben, fühlt sich die Freundschaft von uns fünfen an, als würde sie schon ewig bestehen.

»Ja«, bestätige ich knapp und verteile den blauen Lidschatten unterhalb des Schattens, wodurch der Kontrast, den ich ausgehend von den Flügelecken aufgebaut habe, verstärkt wird. Mels Haut, und damit auch meine Leinwand, spannt und lockert sich wenig später wieder, nur um sich dann wieder anzuspannen. Wie aufgeregt sie ist. »Das ist nicht unbedingt still sitzen.« Mit einigem Abstand zu ihrem Gesicht halte ich die Hände in die Luft.

»Ich bin sofort wieder ruhig, wenn du mir sagst, dass du dein Postfach endlich überprüft hast und dich nur noch nicht entscheiden kannst, welchem der heißen Kerle du als Erstes schreibst«, sagt sie und zieht dabei die Brauen zusammen.

Ich muss nicht darauf eingehen, denn sie weiß genau, dass ich nicht nachschauen werde. Das Problem ist nur: Ich habe es wider Erwarten vor ein paar Tagen doch getan. Habe mir hoffnungsvoll angesehen, wer mir geschrieben hat, und wurde verletzt.

»Wenn du dich weiter so viel bewegst, verschmiert dein Flügel und wir müssen von vorn anfangen. Was wiederum bedeutet, dass die Badewanne für dich ausfällt, weil es dir heute Abend zu spät wird.« Alles nach 22 Uhr ist für sie in der Regel indiskutabel.

Sie schnaubt.

Eindeutig kein wahrer Schmetterling. Vielleicht sollte ich sie lieber in ein Nashorn verwandeln.

Fast schon verzweifelt schaut sie mich an. »Wieso siehst du nicht nach? Nenn mir nur einen akzeptablen Grund, weshalb du der alles verändernden, atemberaubenden Liebe keine Chance gibst und sie tötest, noch bevor irgendwas passieren kann!«

Ihr Hang zu blumigen Worten wird von Jahr zu Jahr extremer.

»Ich möchte keine Serienmörder daten, also brauche ich die Nachrichten nicht zu lesen«, scherze ich.

»Enya Marie Mason, du spinnst! Weißt du, wie viele Menschen inzwischen über das Internet die große Liebe gefunden haben? Online-Dating ist das neue Clubbing!«

Und auch dabei wäre ich nicht erfolgreich.

Innerlich versteife und verkrampfe ich mich. Da ist es wieder, das Gefühl, als würden meine Blutbahnen nach und nach zu einer großen Mauer werden.

Einsamkeit.

Ich spüre, wie sie mir die Leichtigkeit nimmt. Unauffällig schaue ich auf die Adern an meinem Arm, betrachte die bläulichen Verästelungen, die völlig normal wirken.

Niemand sieht, wie es in mir aussieht.

Niemand weiß, wie ich mich fühle.

Daran habe ich mich gewöhnt. Es ist normal. Und deshalb kann ich es abschütteln.

Trotzdem ist es nicht verschwunden, nicht für mich.

»Diesen Dave hast du wohl auch dabei kennengelernt?« Grinsend tupfe ich den pudrigen Zeigefinger auf ihre Wange, um die Zeichnung des Schmetterlings zu vervollständigen.

Sie seufzt und hält still.

Es ist erstaunlich, wie unsichtbar Mauern sein können.

Ich sitze am Schreibtisch in meinem Zimmer und starre auf den Laptop-Bildschirm. Der Schmetterling in acht unterschiedlichen Blautönen auf Mels Gesicht ist gelungen. Er wirkt selbst auf dem kleinen Bildausschnitt, den Instagram zulässt, richtig plastisch. Meine Follower mögen das Motiv ebenfalls, dennoch lässt mich das Gefühl von heute Nachmittag nicht mehr los. Von Mel blieb es unbemerkt, was mich nicht verwundert. Denn das ist dieser eine Punkt, den sie nie verstehen wird. Dieser eine Teil von mir, den ich verheimliche. Schließlich haben sie und meine Eltern schon damals nicht gewusst, was ich meine. Ihr Trost kam nicht bei mir an, weil das Problem für sie ungreifbar ist. Wenn man immer wieder versucht, anderen die eigenen Emotionen zu beschreiben und jedes Mal auf Unverständnis trifft, hört man irgendwann damit auf.

Wie soll man mein Alleinsein unter all den Menschen auch nachvollziehen können? Deshalb verbarrikadiere ich mich in manchen Momenten hinter dem dicken Bollwerk, das durch die Personen entsteht, die mir zeigen, dass ich es wirklich bin. Allein.

Ich schüttle den Kopf, trotze der Verkrampfung und Versteifung und richte meine Aufmerksamkeit auf den länglichen Spiegel, der neben meinem Laptop hängt. Auf diese Weise kann ich mir selbst Motive schminken und gleichzeitig auf dem Bildschirm überprüfen, wie die Fotos wirken. Ich streiche über die verblasste Hummel an der Haarspange. Früher hat sie mich überallhin begleitet. Mittlerweile hängt sie an einem Band am Rahmen, erinnert mich an alles, wofür sie bis heute steht.

Vierzehn Jahre zuvor

»Du bist anders, Eni, damit muss die Welt erst mal klarkommen«, tröstet mich Mom und bändigt meine rote Lockenmähne, indem sie die Spange mit der Hummel hineinschiebt. Die restlichen Strähnen streicht sie hinter mein Ohr, damit wenigstens eine Seite meines Gesichts sichtbar ist.

»Aber warum? Ich hab doch nichts Böses gemacht! Oder bin ich komisch?« Traurig ziehe ich die Haare wieder hervor.

Es ist besser, nicht gesehen zu werden. Dann kann auch niemand gemein zu mir sein.

Mom greift nach meinen Händen und bedeckt sie mit ihrer auf meinem Schoß. Kurz muss ich hinter den Locken grinsen, denn sie baut unseren Turm, zu dem eigentlich noch Dads Hand gehört.

»Keiner kann uns umhauen, niemand macht uns kaputt. Das weißt du doch«, wiederholt sie unser Motto.

Wäre Dad nicht bei der Arbeit, würde er jetzt eine Augenbraue hochziehen und scherzen: »Wer es versucht, bekommt eben keinen Pudding mit Gummibärchen nach Granny Elisabeths Rezept. Selbst schuld!«

Ich nicke, aber das Wichtigste fehlt. Die Wärme, die jedes Mal durch unsere Hände ausgelöst wird und überall in mir tanzt.

Eine dicke Träne kullert mein Gesicht hinab, brennt beim Sprechen auf meiner Haut. »Trotzdem lädt mich niemand ein, Mom. Melody wollte gern, aber sie darf nicht.« Ich muss den Gedanken noch mal rauslassen, weil er so schwer wiegt. »Ich hab wirklich nichts Böses gemacht!«

Mom hebt mein Kinn an, drückt mit der anderen Hand die meine. »Du bist toll, Eni. Du bist lieb, aufmerksam, verspielt und denkst an andere. Natürlich hast du nichts Falsches oder Böses getan. Das musst du dir merken, und dein Dad und ich werden dich immer daran erinnern. Denn die Leute werden dir noch oft das Gefühl geben, dass du komisch bist.« Sie lässt das Kinn und meine Hände los, schiebt meine Haare nach hinten und platziert ihre Finger wie einen Rahmen um mein Gesicht. Das kühle Gold ihres Eherings liegt an meiner Schläfe. »Aber das bist du nicht. Du. Bist. Nicht. Komisch! Es liegt an den anderen, weil sie nicht wissen, wie man damit umgeht, wenn etwas oder jemand anders ist als das, was sie kennen. Deshalb sind sie vorsichtig und lassen dich lieber in Ruhe, als dass sie etwas verkehrt machen. Also musst du dich ihnen zeigen. Zeig, wer du bist, und dann kann dir niemand mehr widerstehen. Irgendwann wird dein Rollstuhl gar nicht mehr auffallen, glaub mir. Bald kannst du dich vor Geburtstagseinladungen gar nicht mehr retten.« Sie wischt unter meinem Auge entlang, verteilt die Feuchtigkeit der Tränen und sieht mich erwartungsvoll an. »Okay? Es liegt nicht an dir.« Sie löst die Hummel-Haarspange, um sie noch einmal ordentlich zu drapieren. »Du musst dich allerdings zeigen, genau wie die Hummeln«, fordert sie. »Die sind nämlich eigentlich viel zu schwer für ihre kleinen Flügelchen, und trotzdem fliegen sie. Sie präsentieren sich, und jeder achtet auf sie.« Sie tippt gegen die Spange und stupst mir anschließend gegen die Nase.

Ich verziehe das Gesicht.

Wie soll ich mich zeigen, wenn niemand hinsieht?

Mittlerweile brauche ich die Hummel nicht mehr, denn ich habe begriffen, wie ich mich zeigen kann. Ich lenke von meinen Flügelchen ab. Betone alles, was mir an mir gefällt, und gehe auf den Rest so wenig wie möglich ein. Meine Finger gleiten an dem dicken Körper des Insekts an der Spange entlang. Nur weil ich versuche, den Rollstuhl zu übergehen, bedeutet das noch lange nicht, dass andere das genauso machen. Ihnen fällt nur auf, was an mir anders ist. Da nützen weder die schwarzen Kajalstriche, die ich unter meine Augen male, noch die ständig wechselnden, farbigen Schmucksteine, die sich von meinem blassen, roséfarbenen Teint abheben und neben den Lidern kleben. Auch meine schmale Gesichtsform mit den leicht hervortretenden Wangenknochen, die mir laut meiner Mom einen edlen Touch geben, hilft nicht. Das beweisen die Nachrichten auf dem Dating-Portal, die ich zwar gelöscht habe, aber nach wie vor auswendig kann. Es waren zwar auch nette dabei gewesen, trotzdem haben sich mir die anderen ins Gedächtnis gebrannt. Die, die mir die Leichtigkeit nehmen.

PartyPierre: Sag mal, trägst du Windeln? Interessiert mich nur.

Mir muss niemand sagen, was für ein Arsch der Typ ist, das ist mir klar. Es ändert bloß nichts an der Tatsache, wieder mal nicht aufzufallen. Weder mein Lächeln noch die vierYoshi-Kuscheltiere, die in meinem Zimmer wohnen und die ich im Profil erwähnt habe.

RasenmäherHans: Hey, ich wohne auf einer Farm, inwieweit könntest du denn überhaupt mit anpacken?

Zwei Sekunden lang habe ich wirklich getippt, nachdem ich die Nachricht gelesen hatte. Habe angefangen zu erläutern, wie gut ich kochen könnte, was ich auch im Steckbrief des Portals angegeben habe, und dass ich hervorragend im Motivieren bin. Danach habe ich alles gelöscht und ihm einen Link zu einer Plattform für Erntehelfer geschickt.

ArmyMan28: Hallo, du sitzt ja im Rollstuhl, darauf stehe ich total! ;)

Ich habe versucht, mir einzureden, dass das halt seine Vorliebe sei. Manche finden Braunhaarige anziehend, andere eben … das. Aber selbst wenn das stimmen und viel weniger schlimm sein sollte, als es sich anhört, bin da wieder nicht ich.

Keiner von ihnen hat gefragt, weshalb ich lieber ältere Musik höre als irgendwelche Interpreten, die derzeit aktuell sind. Niemand ist auf mein Profil eingegangen, sondern hat mir den Eindruck vermittelt, als Person außen vor zu sein. Selbst die netteren Kontaktaufnahmen haben mich lediglich dazu beglückwünscht, wie offen ich mit meiner Krankheit umgehe.

Es bringt nichts, sich aufzuregen. Ich werde das Portal in Zukunft meiden und mich auf alles andere konzentrieren. Zum Beispiel auf das Muster für ein Nashorn, das ich auf Mels Gesicht zaubern kann. Mein Schmunzeln fühlt sich ein bisschen schwerfällig an, beinahe, als ob bei der Bewegung kleine Steinchen aus der Mauer fallen.

Kapitel 2: Lügen-Prinzessin

Okay, die Situation könnte weitaus bescheuerter sein, aber eben auch angenehmer. Selbst schuld, wenn man rücksichtsvoll sein will und Shadowhunters in absoluter Dunkelheit schaut, weil Mel nicht schlafen kann, sobald auch nur ein winziger Lichtstrahl unter der Tür hervordringt. Dann sitzt man nämlich im stockfinsteren Wohnzimmer, sobald man den Fernseher ausgeschaltet hat, um selbst ins Bett zu gehen, und wird von besagter bester Freundin überrascht.

Obwohl sie eigentlich längst schlafen wollte, stolpert sie nun kichernd durch die Haustür. »Pst! Wir wecken sonst Eni!«

Eine männliche Stimme knurrt etwas Unverständliches, woraufhin ein verzücktes Quietschen ertönt, gefolgt von schmatzenden Kussgeräuschen.

Geht ins Zimmer, beschwöre ich sie gedanklich und versuche, so leise wie möglich zu atmen. Wäre Melody allein, hätte ich längst auf mich aufmerksam gemacht, gerade will ich sie aber nicht stören. Davonzuschleichen ist mir allerdings auch nicht möglich, denn auf dem Weg von der Couch bis zu meinem Rollstuhl wäre ich zu laut. Spätestens beim Reinsetzen würde irgendetwas am Gestell klappern oder knarzen.

Wie in Zeitlupe drehe ich den Kopf, um möglichst keinen Ton von mir zu geben, und spähe über die Schulter zur Haustür. Ein Nachteil unserer Wohnung ist der fehlende Flur, wodurch man automatisch im Wohnzimmer landet, wenn man in die anderen Zimmer gelangen möchte. Das heißt, ich habe freie Sicht auf die zwei Gestalten. In der Dunkelheit taumeln sie eng umschlungen in die Richtung von Melodys Zimmer und stoppen zwischendurch für hingebungsvolle Küsse. Derzeitig befinden sie sich ganz in meiner Nähe.

Vorhin war sie noch müde, grummle ich im Kopf und treibe sie innerlich an, sich zu beeilen. Vermutlich ist der Kerl dieser Dave, von dem sie ständig spricht. Ich wende mich ab und bekomme nur noch aus dem Augenwinkel mit, wie der größere Schatten den kleineren hochhebt, dabei ins Wanken gerät und einen Ausfallschritt in meine Richtung macht. Reflexartig halte ich die Hände vor das Gesicht und kann mir einen erschrockenen Laut nicht verkneifen.

Gleichzeitig stößt der Mann ein »Ah!« hervor, und Mel verschluckt sich an ihrem Kichern. Sie krachen in meinen Rollstuhl, der polternd ein Stück nach vorn setzt, da die Handbremsen angezogen sind. In dem Versuch, nicht zu fallen, klammern sie sich an der Rückenlehne fest, wodurch ihr Sturz für den Bruchteil einer Sekunde verzögert wird. Trotzdem bleibt mir keine Zeit zu reagieren. Zwei schwere Oberkörper fallen neben mir auf die Couch, und die verkeilten Beine hängen plötzlich über der Sitzfläche des Rollstuhls. Ein dunkles Gesicht blickt mir von meinem Schoß entgegen. Der zweite Kopf befindet sich auf Bauchhöhe der anderen Gestalt.

Einen Moment lang regt sich niemand, das Atmen scheinen wir drei ebenfalls eingestellt zu haben. Nur mein Herz muss mit einem Hechtsprung in meine Kehle geflohen sein. Es schlägt wie wild, hält mich davon ab, mich zu bewegen. Plötzlich ertönen zwei ähnlich klingende Schnaufgeräusche.

Bitte lass Mel diejenige auf meinem Schoß sein!

Jemand rappelt sich auf und … Verdammt! Das sind die klackernden Geräusche von hochhackigen Schuhen und dem unverkennbaren Tasten nach der Stehlampe. Auf meinen Beinen liegt also ein wildfremder Mann. Klasse! Das Licht wird eingeschaltet und taucht das Wohnzimmer in einen orangegelben Schein. Als Melody uns beide auf der Couch entdeckt, bricht sie in schallendes Gelächter aus.

Okay, das hier ist eine richtig bescheuerte Situation, dagegen war das eben geradezu lachhaft. Denn auf meinen Beinen liegt der Kopf der Eroberung meiner besten Freundin. Der Kerl müsste das Gesicht nur wenige Millimeter drehen, um mit der Nase an meinen Schritt zu stoßen.

Seine Augen weiten sich. Mir schießt das Blut in die Wangen, aber mehr als ein gequiektes »Hey!« bringe ich nicht hervor.

Abrupt setzt er sich auf, lässt den Blick zwischen Melody, mir und meiner Mitte hin und her fliegen und bleibt als letztes an dem Rollstuhl hängen.

»O fu… habe ich dir wehgetan?« Bestürzt rückt er von mir ab und starrt mich an.

Durch seine offenkundige Erschütterung über die Situation haben der Schreck und die Scham keine Chance mehr bei mir. Irgendwie scheint es für viele schrecklicher zu sein, eine körperlich beeinträchtigte Person zu verletzen als eine vermeintlich fitte.

Grinsend klopfe ich mir auf die Schenkel und beruhige ihn: »Alles gut, ich war nur überrascht. Das ist das Gute an einer Lähmung. Du spürst es nicht, wenn zwei Körper auf dich stürzen.«

Das Schnauben neben der Lampe lenkt meine Aufmerksamkeit auf die wohl schlechteste Reinschleicherin des Jahrhunderts, weshalb ich die überforderte Miene des Mannes nur am Rande wahrnehme.

»Du wolltest doch eigentlich schlafen gehen!«, fangen Mel und ich gleichzeitig an, woraufhin sie sich nachdenklich an die Stirn fasst und den schrägen Pony glatt streicht. Der Kerl neigt anscheinend dazu, beim Küssen die Haare zu durchwühlen.

Ich grinse sie an und ernte ein anzügliches Brauenwackeln. Der Tag, an dem ihr etwas peinlich ist, wird niemals kommen.

»Wollte ich auch. Ich war sogar schon im Schlafanzug, aber dann hat Dave mir geschrieben, und als ich los bin, war alles ruhig in deinem Zimmer. Deshalb dachte ich, du bist schlafen gegangen, zumal du ja morgen arbeiten musst.«

Immerhin hat der Kopf kurz vor meinem Schritt jetzt einen Namen. Nett.

»Und ich wollte nur noch eine Folge Shadowhunters gucken, weil ich nicht einschlafen konnte«, erkläre ich lapidar, während Mel ihr piependes Handy aus dem Ausschnitt fischt. Ich schaue kurz zu Dave und verdrehe die Augen, da ihm ihr eigenwilliges Versteck und die Tatsache, dass Mel zu jeder Zeit ans Telefon geht, sicherlich schon aufgefallen sind.

Anstatt auf meinen Blick zu reagieren, scheint er jedoch woanders zu sein. Sein breites Kreuz hebt sich bei seinen Atemzügen ein wenig zu rasch, die schulterlangen, blonden Haare streicht er sich nervös aus dem Gesicht. Die Verstörung in seinen Augen ist kaum zu übersehen.

»Alles in Ordnung?«, frage ich. Keine Ahnung, ob er mich hört. »Hast du dich beim Sturz verletzt?«

Langsam schüttelt er den Kopf, fährt sich über den kantigen Kiefer und schaut mich an. Er braucht einen Moment, bis er antwortet: »Mir ist nichts passiert, es ist nur …« Den Rest des Satzes muss er nicht aussprechen, denn seine ausladenden Gesten mit den Armen in meine Richtung reichen völlig.

Bevor ich etwas sagen kann, schaltet sich Mel ein. Sie steckt das Handy zurück in die Rocktasche. »Wieso hast du dich eigentlich nicht bemerkbar gemacht?« So großartig sie auch ist, manchmal steht sie gewaltig auf dem Schlauch und bekommt bloß die Hälfte von dem mit, was um sie herum geschieht.

Dave steht zerstreut auf und fährt sich über den Nacken, wobei seine Haare auf und ab wippen. Sein Brustkorb bewegt sich ruhiger als zuvor, dennoch behalte ich ihn im Auge. Irgendetwas ist merkwürdig.

»Na ja, ich bin davon ausgegangen, dass ihr direkt in dein Zimmer geht, da wollte ich nicht unbedingt stören. Hätte ich gewusst, dass ihr … ähm, etwas länger braucht, hätte ich von Anfang an was gesagt.«

Während ich rede, greift Dave nach Melodys Hand. Immer wieder blickt er entschuldigend zu mir.

»Es ist nichts passiert«, winke ich ab. »Bei mir ist alles in Ordnung. Mel sieht fit aus und du kannst dich anscheinend auch noch bewegen, also ist wirklich alles gut.« Ich lächle und sehe ihm fest in die Augen.

»Sei mir nicht böse, aber woher willst du das wissen? Ich meine … Klar, du kennst dich am besten und weißt, was Sache ist, aber du hast es selbst gesagt: Du spürst nichts in den Beinen. Vielleicht ist also doch was passiert, ohne dass du es merkst.«

Wie bitte?

»Deswegen fände ich es gut, wenn wir das kurz abklären lassen könnten. Ich bin mit dem Auto hier, ich kann dich ins Krankenhaus fahren«, schließt er etwas zögerlich und meidet nun nicht mehr nur meinen, sondern auch Mels Blick, die ihn mit hochgezogener Braue mustert.

»Das ist süß, aber denkst du nicht, dass das etwas übertrieben ist? Sonst bist du doch auch nicht so ängstlich.« Sie schaut ihn irritiert und durchdringend an.

Ich seufze innerlich. Anscheinend gehört Mels Eroberung zu dem Typ ›O mein Gott, du sitzt im Rollstuhl, du könntest zerbrechen‹. Davon gibt es viele. Viel zu viele, aber sie alle meinen es gut.

Seine Miene verfinstert sich. Die Lippen werden zu Strichen, durch die seine Antwort kaum hindurchpasst: »… kommt vor, dass man etwas übersieht.«

Da ist mehr, ganz eindeutig. Ich sehe es ihm an. Es geht überhaupt nicht um mich, sondern um ihn. Sein eigener Ballast überdeckt meine Behinderung. Er braucht keine Bestätigung, dass ich nicht zerbrechlich bin. Sein Geheimnis – ich bin überzeugt, er hat eins – steht anstelle meiner Andersartigkeit im Vordergrund.

Ich möchte ihm geben, was er braucht, damit er sich wohler fühlt. Ernst versichere ich ihm: »Krankenhaus ist echt nicht nötig, glaub mir. Aber ich werde gleich beim Umziehen darauf achten, ob an den Beinen irgendwas dick oder blau ist. Sobald mir etwas Ungewöhnliches auffällt, gebe ich dir Bescheid und wir fahren los, ja?«

Er schweigt, verzieht den Mund zu einem schmalen Lächeln und zieht Melody in ihr Zimmer. Zuerst macht sie Anstalten, ihn zu stoppen, doch dann folgt sie ihm schulterzuckend.

»Gute Nacht, wir reden morgen!«, verabschiedet sie sich im Gehen und schließt die Tür hinter sich. Eine Sekunde später reißt sie sie noch mal auf. »Eni? Es ist wirklich alles in Ordnung, oder?«

Hat Dave sie etwa mit seiner Sorge angesteckt? »Geh schon, es ist alles okay. Versprochen.« Belustigt schüttle ich den Kopf.

 

Melody fläzt sich auf ihr Bett und zupft dabei den Überwurf der Decke zurecht. »Er hat mich ernsthaft nicht eingeladen!«

Es ist amtlich: Meine beste Freundin ist ein Echo, denn inzwischen hat sie diesen Satz mindestens zehnmal wiederholt. Weitere Details über ihre Misere konnte ich noch nicht herausfinden, außer dass es sich um Dave handelt.

»Aber ich darf mich ja nicht aufregen.« Sie lässt sich mit dem Oberkörper gegen die Wand mit den zwei aufgemalten Dreiecken fallen.

Himmel, ist sie quengelig!

Ich stelle mich so dicht wie möglich an das Bettgestell, stütze mich mit den Armen auf der Sitzfläche des Rollstuhls ab, stemme mich hoch und wuchte mich zu Melody hinüber. Trotz ihrer Traurigkeit schafft sie es immer noch, den Stoff, den ich beim Hinsetzen zerknittere, glatt zu streichen.

»Du bist unglaublich«, ziehe ich sie auf, woraufhin sie ihr Gesicht unter dem Oberarm verbirgt. »Meinetwegen, fang an. Aber sobald irgendwelche hektischen Flecken auftauchen, unterbreche ich dich.« Warnend deute ich auf ihr Dekolleté, das gut sichtbar ist, weil sie niemals Oberteile trägt, die die Tattoos verdecken. Zwischen ihren Schlüsselbeinen sind die beiden Dreiecke verewigt, die auch die Wand ihres Zimmers zieren und ebenfalls auf meinem Nacken zu finden sind. Je eine Spitze von ihnen ragt in die andere, symbolisiert jeweils eine von uns beiden. Auf Mels Variante des Motivs sind auf den Linien Herzen abgebildet, auf meiner Pinsel.

»Noch mal: Die Flecken sind nicht schlimm«, protestiert sie jetzt.

»Du bist jung und hast Bluthochdruck, da ist jeder einzelne verdammte Punkt schlimm!«

Sie stößt ein genervtes Heulen aus und setzt sich auf. »Schon gut, ich werde mich beherrschen.«

Vielleicht sollte ich für sie ein Schminkmotiv erfinden, das nach einer Kreuzung zwischen Nashorn und Wolf aussieht.

»Und jetzt lass mich bitte kurz ausrasten, denn ernsthaft: Dave hat mich nicht eingeladen. Der Typ, mit dem ich seit Wochen was am Laufen habe, bei dem ich beinahe glauben könnte, dass in seinen Pupillen Herzchen aufploppen, wenn er mich sieht, will mich nicht bei seiner Geburtstagsfeier dabeihaben!«

Wie immer, wenn sie sich aufregt, erinnern mich ihre braunen, runden Augen an die Schlammkugeln, mit denen sie früher beim Sandburgenbauen um sich geworfen hat. Niemand war vor ihr sicher, sobald man sich ihrem Bauwerk genähert hat.

»Hat er das so zu dir gesagt?«

»Natürlich nicht, er ist ja nicht blöd.«

Ich betrachte ihre hochgewachsene Gestalt. »Komm schon, Mel. Was hat er gesagt, dass du direkt davon ausgehst, er will dich nicht bei sich haben?«

Egal, was es ist, ich bin mir sicher, Melody hat eine gehörige Portion Drama dazugemischt. Sie ist eine Meisterin darin, merkwürdigen Kram zwischen den Zeilen zu lesen.

»Der Geburtstag wird groß, an die hundert Gäste, da muss er sich um einige Leute kümmern. Und deshalb, weil er mich sooo«, die Länge des Wortes scheint ihre Empörung in etwa widerzuspiegeln, »sehr mag, möchte er lieber den Morgen mit mir allein verbringen. Ist das zu fassen? Ernsthaft, Eni! Man sollte doch meinen, Dave will den ganzen Tag mit mir zusammen sein, mich seinen Freunden vorstellen und mit mir feiern, oder? Immerhin läuft schon seit acht Wochen was bei uns! Acht!«

»Okay, entspann dich.« Routiniert packe ich ihren Arm und führe ihn zu meinem Handgelenk, da kleine rote Flecken beginnen, ihren Hals zu bedecken.

Melody schnaubt zwar, umgreift es jedoch mit Daumen und Zeigefinger, als sie meinen Blick bemerkt. Meine Perlenarmbänder klimpern, dann ist es still, und die Atmung meiner besten Freundin passt sich meinem Puls an. Sie rutscht nervös auf dem Bett hin und her, doch ich lege den Finger an meine Lippen, um sie zum Ruhigsein zu bewegen. Im Grunde genommen ist die Geste unnötig. Ihr ist klar, dass ich nichts anderes zulassen werde, bevor sie sich ein wenig beruhigt hat. Denn das eine Mal, als ich sie fast verloren habe, ist noch viel zu präsent in meinem Kopf. Vor drei Jahren, zu unseren Highschool-Zeiten, ist der dauernde Streit mit ihrer Mutter plötzlich eskaliert. Vor meinen Augen ist sie zusammengebrochen, weshalb wir den Notruf wählen mussten. Das taube Gefühl während der Unsicherheit, ob die Ärzte ihren Blutdruck wieder in den Griff bekommen, war schrecklich. Das stehe ich auf keinen Fall ein weiteres Mal durch. Deswegen ziehe ich, um Melodys Gesundheit Willen und um meine Nerven zu schützen, mittlerweile deutlich früher die Reißleine.

Ich konzentriere mich auf ihre langsamer werdenden Atembewegungen und starre die hektischen Punkte auf ihrem Dekolleté in Grund und Boden, hoffe irgendwie, sie auf diese Weise dazu zu zwingen, zu verschwinden.

Nach einigen Minuten räuspert sich Mel. »Es wäre nichts passiert.«

»Kann sein.« Die Perlenbänder, die ich von meinen Eltern zum Umzug geschenkt bekommen habe, klimpern, als ich meine Hand wegnehme. »Aber sicher ist sicher. Auch wenn du deine Medikamente nimmst, weiß man nie, ob nicht doch irgendetwas passiert.«

»Niemand wird mich je so aufregen wie Mom. Wie soll da also etwas passieren?«

Ihren scherzhaften Unterton kaufe ich ihr nicht ab, weshalb ich sie einen Moment lang an mich drücke. Es tut mir leid, dass sie so über ihre eigene Mutter reden muss. Dass Mrs Lark sie nicht in ihrer Leidenschaft unterstützt, sondern immer nur von ihr fordert, ein genauso erfolgreiches Model zu werden, wie sie es war. Anfangs war es in Ordnung, denn Mel mochte das Scheinwerferlicht. Je älter sie wurde, desto weniger Spaß hatte sie allerdings, und der Druck vonseiten ihrer Mom steigerte sich. Ich glaube, die Gier nach Erfolg überwuchs eines Tages die Mutterliebe. Sie hatte an diesem Tag nicht einmal mitbekommen, wie ihre eigene Tochter während des Streits hektisch nach Luft geschnappt hatte, bevor sie zusammengebrochen war.

Bei der Umarmung spielt Melody an meinem Rücken mit dem Träger meines Tops herum und geht dann auf Abstand. »Und sollte mich wirklich mal noch jemand so sehr in Rage bringen, kennen wir die beste Medizin: Nichts ist so gut wie dein Puls«, erklärt sie grinsend.

»Auch kein Dave?«

Nachdenklich verzieht sie die Mundwinkel, streicht sich die Haare hinter das Ohr. »Er ist toll. Manchmal wirkt es so, als würde er mich viel besser kennen als ich mich selbst.«

»Du kennst dich.«

Ihr Schnauben ist Antwort genug.

Das kann sie meinetwegen jedes Mal tun. Ich werde sie dennoch immer wieder darin bestärken, dass sie weiß, wer sie ist, denn ihre Familie hat es versäumt, sie richtig kennenzulernen. Da meint jeder, besser zu wissen, wer Melody Lark ist. »Wirklich, Mel, wenn es das ist, was dich an ihm so fasziniert, vergiss es. Du kannst ihn wegen allem anderen toll finden, aber nicht nur deswegen.«

»Mache ich ja auch gar nicht, da gibt’s noch viel mehr. Und seit gestern Abend dachte ich wirklich, dass wir uns noch nähergekommen sind. Nachdem wir ins Zimmer gegangen sind, hat er sogar zugegeben, ein Geheimnis zu haben … Na ja, eher, dass es da etwas gibt, worüber er nicht sprechen kann. Und er hat sich dafür entschuldigt, dass er so komisch war nach unserer Kollision.«

Ich runzle die Stirn. Wenn er nicht mal hinter geschlossenen Türen mit Mel hatte reden wollen, muss es ihn sehr belasten.

Hilfe! Jetzt fange ich schon an wie sie und interpretiere Dinge in etwas hinein, bei dem es wahrscheinlich gar nichts zu deuten gibt. Obwohl ich ihm nur kurz begegnet bin und er sich merkwürdig verhalten hat, mag ich ihn. Irgendetwas hat er an sich, was mir für Melody gefällt.

»Dann sollten wir eventuell in Erwägung ziehen, dass er tatsächlich mit dir allein feiern möchte, weil er am Abend keine Zeit hat?« Ich wühle in der sonst nur bei Hoodies üblichen Bauchtasche meines Tops – Mom näht mir diese auf alle Oberteile, da ich sie zum einen schick finde und sie zum anderen sehr praktisch für den Transport von Kleinigkeiten sind – nach dem Snickers. Ihr Ruf vorhin, wegen dem ich überhaupt erst in ihr Zimmer geeilt bin, hat sehr nach der zweiten Stufe kurz vor dem Notfall geklungen. Daher habe ich den Riegel vorsorglich eingesteckt. Ich habe keine Chance, ihn aus seiner Verpackung zu befreien, denn sie greift bereits danach und bricht ihn entzwei.

»Ich muss doch nicht beschäftigt werden!« Empört reicht sie mir das kleinere Stück. Das ist unsere eiserne Regel: Wer es gerade dringender braucht, bekommt mehr Schokolade.

»Nein, absolut nicht. Aber manchen Leuten ist es vielleicht unangenehm, wenn sie wichtigen Personen nicht die volle Aufmerksamkeit schenken können.« Ich beiße vom Snickers ab.

Mel schaut mich skeptisch an. »Meinst du? Glaubst du nicht, dass er mich hinhalten will?«

»Ich kenne ihn nicht, also keine Ahnung, wie viele Gedanken er sich macht, wie ernst er Dinge nimmt und so weiter. Aber du bist Mel, der Mensch mit dem größten Herzen, das ich je erlebt habe. Und wenn du sagst, er ist toll, dann ist er das auch. Also schieß ihn nicht gleich ab, sondern sprich mit ihm. Vermutlich ist ihm gar nicht klar, dass du verletzt bist. Außerdem sah es gestern Abend nicht danach aus, als wärst du ihm egal.«

Ihre Lippen kräuseln sich. »Das sollte er eigentlich merken.«

Ich verdrehe die Augen und kann mir einen zynischen Unterton nicht verkneifen. »Mel, ehrlich, nicht jeder ist mit einem Romantik-Gen ausgestattet. Wie soll der arme Dave wissen, was du fühlst, wenn du nicht mit ihm redest?«

Wir haben schon häufig darüber gesprochen, dass sie die unangefochtene Romantikerin ist. Ganz im Gegensatz zu mir. Trotzdem fühlt es sich bei meinen Worten an, als würde mir jemand gegen den Hinterkopf schlagen, um mich daran zu erinnern, mich an die eigene Nase zu fassen. Schließlich gebe ich selbst viel zu selten meine Gefühle preis.

»Man kann es lernen. Zumindest ein bisschen.« Völlig überzeugt steht sie auf und geht zum Schreibtisch.

In unserer WG ist ihr Zimmer bis auf die zwei Dreiecke auf der Tapete der scheinbar unspektakulärste Raum. Weiße Wände, ein Holzbett, Schrank und besagter Arbeitsplatz, mehr nicht. Nur, wer sie wirklich kennt, weiß, was sich in der tiefen Schublade ihres Tisches befindet: Melodys Plattenspieler.

Sie holt ihn hervor und hantiert an dem Gerät herum. Bitte nicht. Seit Monaten spielt sie immer wieder Bridge over Troubled Water ab und zwingt mich dazu, die Stimmung des Lieds zu spüren.

»Irgendwann wirst du auch so weit sein, dann fühlst du es und bist bereit für die Liebe. Du musst nämlich endlich dein Profil checken, damit du auf die ganzen Nachrichten reagieren kannst«, wechselt sie das Thema, sobald die ersten Klänge des Songs ertönen.

Nicht schon wieder.

»Woher willst du wissen, dass überhaupt jemand geschrieben hat?«, spule ich die Standardfrage ab, die ich gestern nicht aussprechen konnte, aber jetzt umso leichter stellen kann. Gleichzeitig strecke ich die Arme durch, um mich in den Rollstuhl zu hieven.

»Ich war dabei, als die lieblichen Klänge der Benachrichtigung eingetrudelt sind, schon vergessen? Also guck nach. Du siehst mega aus und hast auf deinem Profil nicht angegeben, dass du Kinder frisst. Weshalb sollte sich also niemand melden?«

»Weshalb sollte Dave dich nicht bei sich haben wollen?« Kontern kann ich.

»Du bist unmöglich.«

»Klär das mit ihm, ehrlich. Es widerspricht all deinen Romantikregeln, schon klar, aber hinterher geht’s dir besser, garantiert.«

Sie verzieht das Gesicht und schließt die Augen. »Und du würdest dich besser fühlen, wenn du den Zauber der Liebe spüren könntest. Das Lied ist atemberaubend, das musst du doch hören!«

»Wunderschön, ja. Aber dein Surfkurs und meine Kinderschminkgruppe warten nicht.«

Mel sieht aus, als bereite es ihr physische Schmerzen, den Plattenspieler auszuschalten.

Ich halte ihr die Tür auf. »Wenn es dich glücklich macht, probiere ich es nachher noch mal mit dem Lied. Vielleicht spüre ich ja dann die besonderen Schwing…«

Schnaubend geht sie an mir vorbei und kneift in das Tattoo in meinem Nacken. »Au!«

»Verarsch mich nicht, ich meine das ernst!«

Eine Entschuldigung klingt anders.

»Weiß ich wohl.« Ich reibe über die malträtierte Stelle. »Deshalb versuche ich es nachher ja auch noch mal. Für mich selbst bestimmt nicht. Und jetzt lass uns endlich losgehen.«

 

Nach dem dritten quengelnden Mädchen, das meine Tablet-Idee nicht überzeugen konnte, hatte ich mich für einfachere Schmetterlingsmotive entschieden und bin froh, jetzt endlich fertig zu sein. Nach getaner Arbeit hatte ich die flatternden Wesen zu den Animateuren des Thomsen Queen Resorts geschickt, da die Mädchen-Mottoparty dieses Mal in einem der angrenzenden Wälder stattfindet. Letzte Woche waren die Jungs der Urlauber dort als Tiger unterwegs.

Bei meinem ersten Auftrag, den ich dank Reesys Vermittlung für das Resort hatte ausführen dürfen, war ich davon überzeugt gewesen, dass die Kinder der hier eincheckenden Gäste keinen Spaß an solch banalen Dingen wie Gesichtsbemalung mit anschließender Party hätten. Doch bereits nach wenigen Minuten musste ich meine Meinung revidieren. Obwohl im Hotel alles blitzt und funkelt – sogar die Gäste! –, kehren die Kinder nach den Ausflügen mit den Animateuren in dreckigen Hosen und mit einem Lachen auf dem Gesicht zurück. Es gibt also Zeiten, in denen das Foyer des Hotels, in dem ich nun auf meine zwei Helfer warte, lebendig wirkt und nicht nur ein Abbild der perfekt inszenierten Hochglanzfotos der Touri-Broschüren ist. Die pikierte Miene zu sehen, die den grauen Schnauzer des Chefportiers Cattermole zum Beben bringt, ist jedes Mal eine wahre Freude. Die Spiegelungen der beschmutzten Kleidungsstücke in den Diamantapplikationen der Rezeption sind für ihn wohl der zweitschlimmste Makel, den der Eingangsbereich bieten kann, nur noch übertroffen von dem liegen bleibenden Dreck. Sobald er den Pagen Anweisungen erteilt, wie der hereingeschleppte Sand ordnungsgemäß vom glänzenden Marmorboden gefegt werden soll, muss ich mich immer wegdrehen. Wofür einerseits die weißen Seidenhandschuhe verantwortlich sind, die durch seine hektischen Gesten ein Eigenleben entwickeln zu scheinen, und andererseits die Gefahr, von ihm beim Grinsen erwischt zu werden. Denn das ist in etwa so witzig, wie zu vergessen, Mom anzurufen. Beide sind dann nicht wütend, sondern enttäuscht. Der Chefportier, weil er dachte, unter Kollegen ziehe man an einem Strang und respektiere die Arbeit des anderen, und Mom, da ich mich ja wohl wenigstens ab und zu mal melden könne, wenn ich unbedingt auf eine knapp neun Flugstunden entfernte Insel ziehen musste.

Ich seufze und schaue mich nach den zwei Personen um, die hoffentlich Zeit für mich haben werden. Seit mich der Resort-Chef, Mr Queen Junior, für das Schminken der Kinder bucht, darf ich den abgesperrten Strandbereich der Urlauber mitbenutzen. Viele der Angestellten entspannen sich dort nach der Arbeit und nehmen mich dann einfach mit hinunter. Ist jedoch niemand zeitgleich mit mir fertig, kann ich gern fragen, ob jemand kurz abkömmlich ist, um mir beim Treppensteigen zu helfen.