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Beschreibung

Die FIFA-WM 2014, Olympia 2016 - Brasilien als Ausrichter dieser Mega-Events gerät in den Fokus der internationalen Öffentlichkeit und versucht sich entsprechend darzustellen. Dieses Buch hinterfragt das Bild von Brasilien als »Land der Zukunft«. Es lenkt den Blick dorthin, wo zwischen Wachstumszahlen und Außenhandelsbeziehungen Menschen leben und kämpfen, nach Rio de Janeiro, nach São Paulo, in urbane und ländliche Räume, auf kleine Details und aufs große Ganze. Zu Wort kommen Forscher_innen und Aktivist_innen aus Brasilien und Deutschland. Historische Analysen kontrastieren aktuelle Bestandsaufnahmen und Ausblicke in die Zukunft. Die betrachteten Widerstandsformen erstrecken sich von Straßenprotesten über Musik, Literatur, Fußball und Capoeira hin zu Streetart und Urban Gardening. In den Fokus genommen werden die Bewegung der Landlosen, das Movimiento Negro, queere Konstellationen sowie indigener und befreiungstheologischer Widerstand.

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Seitenzahl: 467

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Shadia Husseini de Araújo, Tobias Schmitt, Lisa Tschorn (Hg.)

Widerständigkeiten im ›Land der Zukunft‹

Shadia Husseini de Araújo hat in Münster Geographie und Islamwissenschaften studiert, in Geographie promoviert und an den Instituten für Geographie in Münster und Erlangen gearbeitet. Seit zwei Jahren lebt sie in Brasilien. Derzeit ist sie als Gastprofessorin an der Universidade de Brasília tätig. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Migrations- und Diasporaforschung, Postkoloniale Theorie sowie übersetzungstheoretische Ansätze in der Geographie. In einem aktuellen Projekt arbeitet sie zu muslimischen Gemeinden in Brasilien.

Tobias Schmitt hat in Tübingen und Rio de Janeiro Geographie studiert und gerade seine Dissertation über den Zusammenhang zwischen Dürreereignissen und Machtverhältnissen im Nordosten Brasiliens an der Universität Innsbruck abgeschlossen. Er lebt und arbeitet in Hamburg und ist u. a. im Vorstand von KoBra (Kooperation Brasilien e.V.) aktiv.

Lisa Tschorn hat in Bochum, Clermont-Ferrand und Münster Geographie studiert. Ihre Masterarbeit schrieb sie zum Voluntourismus in den favelas von Rio de Janeiro. Sie lebt in einem selbstverwalteten Wohnprojekt und ist Teil des Arbeitskreises Kritische Geographie.

Shadia Husseini de Araújo, Tobias Schmitt,Lisa Tschorn (Hg.)

Widerständigkeitenim ›Land der Zukunft‹

Andere Blicke auf und aus Brasilien

Shadia Husseini de Araújo, Tobias Schmitt, Lisa Tschorn (Hg.)

Widerständigkeiten im ›Land der Zukunft‹

ebook UNRAST Verlag, Juni 2014

ISBN 978-3-95405-016-1

© UNRAST-Verlag, Münster, 2013

Postfach 8020, 48043 Münster – Tel. (0251) 66 62 93

www.unrast-verlag.de

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Umschlag: kv, Berlin

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

Shadia Husseini de Araújo, Tobias Schmitt, Lisa Tschorn

Widerständigkeiten im ›Land der Zukunft‹ – eine Einleitung

Teil IDie Säule der brasilianischen Gesellschaft: (k)eine democracia racial

Camila Loureiro Dias

Indigene Amazoniens: Alternative Vergangenheiten, zukünftige Perspektiven

Gersem Luciano Baniwa

Indigene Völker und indigene Bewegungen im heutigen Brasilien

Claudia König, Dörte Segebart

Zukunftsfähigkeit oder Ausverkauf traditioneller Lebensweisen? Der Handel mit Emissionsrechtenin indigenen Gebieten Brasiliens

Flávio Thales Ribeiro Francisco

Die Dekonstruktion der democracia racial und der Aufstieg des movimento negro in Brasilien

Cicilian Luiza Löwen Sahr, Francine Iegelski

Quilombos und quilombolas in Brasilien: Widerstand und zukünftige Entwicklungen

Maria Backhouse

»Wir haben doch nicht Widerstand gegen die Sklaverei geleistet, damit wir wieder wie Sklaven auf Plantagen arbeiten.«

Wolf-Dietrich Sahr, Gislene Aparecida dos Santos

Brasilien in Bewegung – Ein Migrationsland zwischen Ungleichheit und Mestizierung

Teil IIAndere Identitäten

Fernanda Oliveira

O malandro carioca

Ferréz

Literarischer Terrorismus

Jan Simon Hutta

Queere Konstellationen: Zum aktivistischen Potential brasilianischer Mikropolitiken des Körpers

Ruben Siqueira

Glaube und Widerstand: Glauben wir noch an die Zukunft des ›Landes der Zukunft‹?

Thomas Fatheuer

Fußball und nationale Identität (Auf der Suche nach der Mehr-Lust)

Dana de la Fontaine, Thomas Stehnken

Ein Fado Tropical mit einer Prise berimbau: Ein Streifzug durch Brasiliens Außenpolitik

Sarah Lempp

Unterwegs im Black Atlantic – capoeira zwischen Anpassung, Aneignung und Widerstand

Teil IIIVon der Militärdiktatur zur Demokratie

Marcos Napolitano

Zwischen Erinnerung und Geschichtsschreibung: Der Widerstand gegen das brasilianische Militärregime (1964-1985)

Virgínia de Almeida Bessa

Die Macht des Klangs: Avantgarde-Musik und politischer Widerstand in Brasilien

Teil IVRecht auf Stadt

Malte Steinbrink, Daniel Ehebrecht

Metropolitane Weltbühne und Inszenierung der Backstage

Katharina Schmidt, Eduardo Tomazine

Rio 2016: Monopoly versus Mensch ärgere dich

Severin Halder

Entre flores e fedores

Veronika Deffner

»Favelas are not bad places to live«

Timo Bartholl

Favela: Territorium –Widerstand

Tobias Töpfer

Verdrängung und Widerstand – Der öffentliche Raum als Austragungsort von Widersprüchen

Carsten Janke, Matthias Jung

A rua é nossa! Über die kollektive Aneignung von Mauern in Rio de Janeiro

Teil VDer ländlichen Raum als Kristallisationspunkt von Widersprüchen und Widerständen

Marcelo Netto Rodrigues

Land in Sicht! Die MST und die Taktik des Widerstands

Leonardo Sakamoto

Die Ökonomie der Sklav_innen-Arbeit im heutigen Brasilien

Martina Neuburger

»Dizem que agora é melhor ser índio«

Martin Coy, Michael Klingler

Novo Progresso: ein emblematischer Ort der Widersprüchlichkeiten Amazoniens

Teil VIEin alternatives Bild vom ›Land der Zukunft

Thomas Richter

Brasilien im 22. Jahrhundert

Danksagung / Agradecimentos

Autor_innen und Übersetzer_innen

Shadia Husseini de Araújo, Tobias Schmitt, Lisa Tschorn

Widerständigkeiten im ›Land der Zukunft‹ – eine Einleitung

»Und jetzt kommen… die drei wichtigsten Ethnien von Brasilien. Die Indios, die Europäer und die Afrikaner. Die Ethnien kommen aufs Spielfeld… Es sind die Ursprünge Brasiliens… Sehen Sie mal… Sie sehen die drei wichtigsten Ethnien… Sie sehen die Indigenen, die Europäer und die Afrikaner miteinander vereint…«1

Was hier vom brasilianischen Sportmoderator Luiz Carlos Jr. voller Pathos kommentiert wurde, war die Performance zum Auftakt der Eröffnungszeremonie des Confederations Cup 2013 im Nationalstadion von Brasília. Als Indigene, Europäer und Afrikaner verkleidete Darsteller_innen strömten auf das Spielfeld und begannen ihre Choreographie, mit der sie die Geschichte Brasiliens erzählten.

Eröffnungsfeier des Confederations Cup 2013

(Quelle: http://www.copa2014.gov.br)

Mit diesem Auftritt wurden sowohl Elemente des nationalen Selbstverständnisses als auch internationale Erzählungen und stereotype Bilder von Brasilien bedient. Allen voran gehört dazu ein Brasilienbild, das Stefan Zweigs Vorstellungen vom ›Land der Zukunft‹ (1941) verblüffend ähnlich ist. Es handelt sich um ein Brasilien, dessen Nation auf dem friedlichen und demokratischen Miteinander der verschiedenen Ethnien beruht; ein Brasilien, das anziehend und faszinierend wirkt; ein Brasilien, das sich zugleich auf dem Weg in die erste Liga befindet.

Was die Eröffnungszeremonie bestätigte, ist, dass das Bild vom ›Land der Zukunft‹ wieder en vogue ist und als hegemoniale Erzählung einen Großteil der Nachrichten und Berichte rahmt, die wir heute über Brasilien hören, sehen und lesen. Sowohl in Fremd- als auch in Selbstbeschreibungen ist davon die Rede, sowohl in politischen Ansprachen als auch in Reiseführern, wissenschaftlichen Publikationen und populären Essays, teilweise in etwas abgewandelter Form als noch bei Stefan Zweig, teilweise ganz neu aufgelegt als zukünftige Supermacht, die kurz vor ihrem take-off steht. Je länger es jedoch bis zum allseits erwarteten Durchstarten dauert, desto lauter werden die Kommentare, die zynisch bemerken, dass Brasilien schon immer das ›Land der Zukunft‹ war, ist und wohl auch bleiben wird.

Mit diesem Buch möchten wir das Bild vom ›Land der Zukunft‹ aufgreifen und aus einer kritischen Perspektive heraus hinterfragen. In welchen Bereichen, von der brasilianischen Außenpolitik über die Organisation von Mega-Events, von der Besiedlung des Amazonasgebietes bis zu der Debatte um Emissionsrechte, kommt dieses Bild zum Tragen und wie wirkt es sich auf die Gesellschaft aus? Welche Widersprüche zeigen sich und welche Widerstände und Alternativerzählungen werden im Hintergrund dieses Bildes offenbar?

O futuro já chegou – Hat die Zukunft bereits begonnen?

In den letzten Jahren scheinen sich die Zeichen zu verdichten, dass zumindest in wirtschaftspolitischer Hinsicht die erhoffte Zukunft nicht mehr allzu lange auf sich warten lässt. Auch wenn die Bilanzierung der Regierungszeit des ehemaligen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva durch die Financial Times Deutschland unter der Überschrift »endlich Weltmacht« noch etwas verfrüht erschien (Borowski 2010), spielt Brasilien eine immer gewichtigere Rolle in den internationalen Beziehungen. Das Land, das bereits Großbritannien als sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt abgelöst hat, wird als einer der BRICS-Staaten zu jenen aufstrebenden Nationen gezählt, die Europa und den USA in den nächsten Jahren ihre internationalen Führungsrollen streitig machen könnten. Mittlerweile hat sich Brasilien von einem der größten Schuldner des IWF zu dessen Gläubiger entwickelt und finanziert über die nationale Entwicklungsbank BNDES Projekte in Lateinamerika und Afrika, deren Kreditvolumen das der Weltbank um ein Viertel übersteigt (Gertschen 2012: 24). Und wenn im September ein Wechsel an der Spitze der Welthandelsorganisation WTO stattfindet, dann wird mit Roberto Azevedo zum ersten Mal ein Mensch aus Lateinamerika den Chefposten der neoliberalen Marktaufsichtsbehörde übernehmen – ein Brasilianer.

Dennoch bleibt dem Land eine endgültige Anerkennung als Weltmacht verwehrt. Weder haben die Vermittlungsversuche im Streit um das iranische Atomprogramm, durch die sich Lula als internationaler Vermittler profilieren wollte, die erwünschten Erfolge erzielen können, noch scheint der lang ersehnte ständige Sitz im UN-Sicherheitsrat in greifbare Nähe gerückt zu sein. Gleichzeitig ist unklar, wie stabil das auf den Export von Ressourcen und Agrarprodukten ausgerichtete Wirtschaftsmodell langfristig ist und ob das Land seine Rolle als Rohstofflieferant überwinden kann. Um trotzdem die Weltmachtambitionen zu unterstreichen, rüstete Brasilien in den letzten Jahren beständig auf. In Lulas Rechtfertigung der Aufrüstungsmaßnahmen, bei der er einmal mehr die Vorstellung der göttlichen Auserwählung des Landes bemühte, wird das teleologische Geschichtsverständnis deutlich, das auch dem Bild vom ›Land der Zukunft‹ innewohnt: »Brasilien muss die Größe verkörpern, die Gott ihm gab, als er die Welt schuf« (Lula in Flemes 2008: 1). Als 2009 die olympischen Sommerspiele (2016) an Rio de Janeiro vergeben wurden, sah Lula darin einen weiteren Beweis dafür, dass »Brasilien von der zweiten in die erste Klasse der Staaten gewechselt hat« (Lula in Gertschen 2012: 16).

Cidades rebeldes – rebellierende Städte

Das einmütig gepflegte Bild vom ›Land der Zukunft‹, das zwar mehr oder weniger unbeschadet die Wirtschafts- und Finanzkrise überstanden hat und durch Wirtschaftswachstum und Sozialprogramme zur Armutsbekämpfung (Fome Zero, Bolsa Família) in neuem Glanz erscheint, bekommt nun unübersehbare Risse. Während es noch im Rahmen der Eröffnungszeremonie des Confed Cups im Stadion inszeniert wurde, versammelte sich vor dem Stadion eine große Menschenmenge, um zu protestieren. Und diese Menschen waren nicht die einzigen; überall in den großen Städten Brasiliens tobten die Proteste und es formierte sich ein Widerstand, der in dieser Dimension nicht absehbar war. Hunderttausende von Menschen gingen auf die Straßen und machten ihrem wachsenden Unmut über die ungleiche Verteilung von gegenwärtigen Bedingungen und zukünftigen Chancen Luft.

Proteste in Brasilien 2013

(Quelle: commons.wikimedia.org, Fotografin: Tânia Rêgo/ABr)

Ausgelöst durch Fahrpreiserhöhungen im öffentlichen Nahverkehr und beflügelt durch die Aufmerksamkeit einer weltweiten Öffentlichkeit, die aufgrund des Confed Cups auf Brasilien blickte, wurden Forderungen nach einem sozial gerechten Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, des Bildungsund Gesundheitswesens und der Bekämpfung der Korruption laut. In der Kritik an den Milliardeninvestitionen und den autoritären Umstrukturierungsmaßnahmen für die Großereignisse verdichtete sich die Kritik an einem korrupten System, bei dem einige wenige profitieren, während einem Großteil der Bevölkerung der Zugang zu sozialen Infrastruktureinrichtungen und gesellschaftlicher Teilhabe verwehrt bleibt. Die Kritik richtet sich an eine Politik des Schulterschlusses zwischen wirtschaftlichen Eliten und Regierung, durch die wichtige Reformen, wie die Steuer- und Agrarreform, verhindert werden, während gleichzeitig die Bereicherungsmöglichkeiten für Unternehmen, wie etwa durch die Änderungen des código florestal (Waldgesetz), erweitert werden.

Diese Massenproteste waren nicht nur unvorhergesehen, sondern deuten auch auf ein breites gesellschaftliches Widerstandspotenzial hin, das in den letzten Jahren eher verborgen blieb. Seitdem 2003 der Gewerkschaftsführer und Hoffnungsträger der Linken, Lula, zum Präsidenten Brasiliens gewählt worden war, schienen die sozialen Bewegungen wie gelähmt. Zahlreiche Führungspersönlichkeiten der Zivilgesellschaft waren nach Brasília berufen worden, wo sie ihren Marsch durch die Institutionen antraten. Die sozialen Bewegungen wurden verstärkt in die Politik eingebunden und somit gleichzeitig geschwächt. Selbst das Movimento dos Trabalhadores Rurais Sem Terra (Landlosenbewegung, MST) hatte Skrupel, später auch Schwierigkeiten, gegen die Regierung der Arbeiterpartei PT zu mobilisieren. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um ein anderes Brasilien, die in der Demokratisierungsbewegung Diretas Já zum Ende der Militärdiktatur, den Protesten gegen Präsident Fernando Collor de Mello Anfang der neunziger Jahre oder auch den Besetzungen des MST zum Ausdruck kamen, waren einzelnen, eher lokalen Konflikten gewichen. Größere Widerstandsbewegungen entzündeten sich vor allem an bestimmten Großprojekten, wie der Flussableitung des Flusses São Francisco im Nordosten des Landes, dem Staudammprojekt Belo Monte im Amazonasgebiet und den urbanen Bau-, Umsiedlungs- und Befriedungsprojekten für die Fußball-WM und die Olympiade.

Vor diesem Hintergrund ist die Bedeutung der gegenwärtigen Massenproteste nicht zu unterschätzen. Erstmals seit den Massenprotesten vor 20 Jahren formiert sich in Brasilien wieder ein urbaner Widerstand, der weder von den Linksparteien noch von den traditionellen sozialen Bewegungen organisiert wird und somit unterschiedlichste Möglichkeitsräume eröffnet. Teilweise werden Parallelen zwischen den Demonstrationen in der Türkei und den Anfangsphasen des Arabischen Frühlings gesehen, weil es sich um Hunderttausende handelt, die auf die Straße gehen, und weil sie Menschen mit verschiedenen politischen Hintergründen miteinander vereinen, die für vielfältige Ziele eintreten und dabei ohne charismatische Anführer auskommen. Doch es erscheint noch viel zu früh für einen Versuch, die Proteste in ihrer amorphen Vielschichtigkeit zu verstehen, zu der auch ihre Unkontrollierbarkeit, ihre Flüchtigkeit und die Möglichkeit gehören, dass rechtsgerichtete Strömungen die Proteste instrumentalisieren. Konsequenzen und zukünftige Entwicklungen stellen sich als vollkommen ungewiss dar. Festhalten lässt sich jedoch, dass die Massenproteste nicht aus dem Nichts heraus entstanden. Sie konnten auf weniger laute, weniger öffentlich sichtbare, dafür aber kontinuierliche und langfristige Widerstandsbewegungen sowie auf widerständige Alltagspraxen aufbauen. Diese Widerständigkeiten fordern die regierenden Kräfte und hegemonialen Diskurse in Brasilien ebenso heraus wie das international verbreitete Bild vom ›Land der Zukunft‹ und stehen somit im Fokus dieses Buches.

Vielfältige Widerständigkeiten

Mit diesem Sammelband möchten wir einen Blick auf die Pluralität und Besonderheit der zahlreichen Widerstandsformen eröffnen, die von allen Seiten kommen, bewahrend oder progressiv wirken, sich als passiv oder produktiv erweisen, sowohl in den Städten als auch in den ländlichen Regionen stattfinden, gemeinschaftlich oder individuell organisiert werden und sich als äußerst heterogen erweisen. Dabei sind die einzelnen Beiträge des Buches nicht auf der Suche nach dem »einen Ort der Großen Weigerung« (Foucault 1983: 117), nach den großen Erzählungen des Widerstandes oder nach dem Widerstandspotenzial einiger weniger, gut organisierter Gruppen. Sie suchen vielmehr nach den vielschichtigen Widerständen aus Vergangenheit und Gegenwart; sie versuchen den Widerstand sowohl während der Sklaverei nachzuzeichnen als auch in den Bedingungen moderner Produktionsformen; fragen nach dem widerständigen Potenzial von Musik, Literatur, Fußball und capoeira, ohne sie als »Ort[e] der Großen Weigerung« zu überhöhen; benennen die Widerständigkeiten der favelas, der urbanen Gärten, der öffentlichen Räume und ihrer Wände; sehen Widerstände sowohl in den alltäglichen Praktiken des Überlebens als auch in den Inszenierungen von Körperlichkeit und Geschlecht; belassen Raum für widersprüchliche Interpretationen vom ›Land der Zukunft‹ und suchen nach dem im Widerstand verankerten Potenzial für neue Utopien. Die Widerständigkeiten, die in diesem Buch zusammengetragen werden, sind somit in mehrfacher Hinsicht zu lesen: zum einen als Hindernisse auf dem Weg zu einem kapitalistisch und neoliberal organisierten ›Land der Zukunft‹, das bestimmte Ein- und Ausschlüsse produziert und das am scheinbar vorgegebenen Weg der Entwicklung festzuhalten gedenkt; zum anderen als Kämpfe für eine andere Welt, die in ihren Zieldefinitionen oftmals vage bleiben, die sich aber in der entschiedenen Zurückweisung der bestehenden Ordnung überschneiden. Zuletzt sind sie auch als produktive Praktiken zu verstehen, bei denen weniger die reaktive Gegnerschaft als vielmehr die kreative Hervorbringung bestimmter Lebensweisen und Identitäten im Vordergrund steht.

Um die widerständigen Erzählungen über, gegen und um das Bild vom ›Land der Zukunft‹ herum zu strukturieren, ist das Buch in fünf Teile gegliedert, die nicht als in sich abgeschlossene Einheiten zu verstehen, sondern als miteinander verknüpfte und kommunizierende Teile zu lesen sind. Der erste Teil »Die Säule der brasilianischen Gesellschaft: (k)eine democracia racial« widmet sich dem, was Stefan Zweig in seiner Vision vom ›Land der Zukunft‹ am meisten zu faszinieren schien; dem scheinbar friedlichen und gleichberechtigten Zusammenleben von Menschen der unterschiedlichsten Herkunft, Hautfarbe und Religion (Zweig 1997, z.B. S. 17ff.). Mit dieser Vision bediente Zweig den Mythos der democracia racial (›Rassendemokratie‹), durch den die brasilianische Gesellschaft als Idealtypus des harmonischen Zusammenlebens aller ›Rassen‹ stilisiert und die Existenz eines gesellschaftlichen Rassismus negiert wird. Dieser Mythos wurde nicht nur in Wissenschaft und Literatur (re)produziert, sondern gehört auch zum festen Bestandteil der brasilianischen Nationalerzählung. Vor diesem Hintergrund setzen sich die Beiträge dieses Teils kritisch mit dem Mythos, seinen Ursprüngen, Konsequenzen, Widerständen und Widersprüchen sowie mit den damit verknüpften Themen auseinander.

Während mit dem Mythos der democracia racial vor allem Identität konstituierende Kategorien wie ›Indigene‹, ›Europäer_innen‹, ›Kolonist_innen‹, ›Sklav_innen‹ und ›Migrat_innen‹ im Zentrum stehen, fasst der zweite Teil »Andere Identitäten« Beiträge zu widerständischen Identitätskonstruktionen der brasilianischen Gesellschaft zusammen, die quer zu diesen Kategorien liegen, darunter beispielsweise die Identität der malandros oder der marginais, queere Identitäten, religiöse Identität oder auch Fußball und nationale Identität.

Im Gegensatz zum Diktum des »Landes der Zukunft«, das in seiner einseitigen Blickrichtung nach vorne die Bedeutung der Vergangenheit ausblendet, suchen wir auch in der Geschichte nach Widerständen, deren Bedeutung bis heute die brasilianische Gesellschaft prägt. Was die jüngere Vergangenheit betrifft, so stellt die Aufarbeitung der Militärdiktatur (1964-1985) nach wie vor eine große Herausforderung für das brasilianische Selbstverständnis als Demokratie dar. Vor diesem Hintergrund behandelt der dritte Teil »Von der Militärdiktatur zur Demokratie« die Zeit der Militärdiktatur, die Widerstands- und Protestbewegungen gegen das Regime sowie die Konsequenzen und Bedeutungen für das Brasilien der Gegenwart und Zukunft.

Der Aufstieg zur sechstgrößten Wirtschaftsmacht wurde begleitet durch massive Investitionen in Büro-, Konsum-, Tourismus und Luxuswohnungsstandorte und führte damit zu einer deutlichen Transformation der Metropolräume, die durch die sportlichen Großereignisse weiter beflügelt wird. Spätestens die Großdemonstrationen haben offenkundig werden lassen, wie umkämpft diese Entwicklungen sind, denn sie gehen einher mit einem massiven Anstieg der Kosten für Lebenshaltung und Wohnen sowie der Vertreibung der unteren Einkommensschichten. Die Beiträge im vierten Teil »Recht auf Stadt« beleuchten die Vorbereitungen der Mega-Events und lenken den Blick auf die Folgen neoliberaler Stadtentwicklung für die favelas und den öffentlichen Raum.

Das Wirtschafts- und Zukunftsmodell Brasiliens beruht auf der ungebremsten Ausbeutung der natürlichen Ressourcen und dem Export von Rohstoffen und Agrarprodukten. Dies hat in den letzten Jahrzehnten zu umfassenden Umstrukturierungsmaßnahmen im ländlichen Raum geführt, die mit der Vertreibung vieler Kleinbäuer_innen und traditionellen Gemeinschaften, der Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und massiven ökologischen Problemen einhergehen. Der Blick, den wir in diesem fünften Teil auf die Widerständigkeiten im ländlichen Raum richten, schließt sowohl einen Blick auf die traditionell starke Landlosenbewegung MST und auf den Kampf gegen die Sklav_innen-Arbeit ein, richtet sich aber auch auf die Widersprüchlichkeiten von top-down-Entwicklungskonzepten und die Prozesse an den Erschließungsfronten im Amazonasgebiet.

Allen Teilen sind kurze Einleitungen vorangestellt, die die jeweiligen Themen kurz einführen, die einzelnen Beiträge präsentieren und eine inhaltliche Klammer bilden. Das Buch schließt mit dem utopischen Drama »Brasilien im 22. Jahrhundert« von Thomas Richter, das ein alternatives Bild vom ›Land der Zukunft‹ zeichnet.

Andere Blicke auf und aus Brasilien

Als Stefan Zweigs Buch im Jahr 1941 fast zeitgleich in mehreren Ländern veröffentlicht und begeistert aufgenommen wurde, stieß es in Brasilien zuweilen auf Unverständnis und Kritik. Dies kommentiert Stefan Zweig verwundert mit den Worten: »Hier liebt man nicht das, was wir lieben […] die weise Ruhe und Hingabe an das Leben, die Güte und Toleranz. Man ist stolz auf die Hochbauten, die Organisation. Sie wissen noch nicht, wohin das führt, und wir wissen es« (Zweig in Michels 1997: 298). An anderer Stelle bemerkt er erstaunt, dass die Brasilianer_innen versessener auf ihre Fabriken und Kinos seien »als auf die wunderbare Farbigkeit und Natürlichkeit des Lebens« (ebd.). So ist Zweigs Buch in erster Linie ein Zeugnis eines eurozentrischen Blicks voller Projektionen und Sehnsüchte, der bis heute viele Brasilienerzählungen prägt. Da wird die ›üppige Natur‹ schnell zum exotischen Paradies und tropischen Eldorado, der Amazonas zur grünen Lunge, der für das Überleben der gesamten Menschheit nicht abgeholzt werden darf, die brasilianische Gesellschaft zur harmonischen Gemeinschaft und die eigene Sehnsucht nach Ruhe, Farbigkeit und Natürlichkeit zu den eigentlichen Reichtümern des Landes erklärt. Insbesondere in dem vermeintlichen Wissen und der Bewertung der Entwicklungen des Landes wird die Annahme der westlichen Überlegenheit deutlich.

Wenn in diesem Buch von anderen Blicken die Rede ist, mit denen auf und aus Brasilien auf die Widerständigkeiten im ›Land der Zukunft‹ geschaut wird, bedeutet dies, dass wir versuchen, mit eurozentristischen Narrationen zu brechen und Raum für andere Erzählungen zu schaffen – wohlwissend, dass ein provincializing Europe letztlich ein unmögliches Projekt ist (Chakrabarty 2000). Denn Europa hat als silent referent die Blicke von Kolonialmächten, Kolonialisierten und postkolonialen Gesellschaften auf Eigenes und Anderes über Jahrhunderte konditioniert. Historische Brüche und Veränderungen durch bestimmte Ereignisse haben zwar zu Pluralisierungen und Umkehrungen von Sichtweisen geführt, doch die Spur des silent referents lässt sich nicht ohne Weiteres auslöschen.

Mit dem vorliegenden Buch wollen wir jedoch zumindest für Umkehrungen, plurale Sichtweisen und vielfältige Positionen eintreten, von denen aus beobachtet, gesprochen, geschrieben und das Bild vom ›Land der Zukunft‹ untergraben wird. Aus diesem Grund bringt das Buch Beiträge von Autor_innen aus Deutschland und Österreich sowie aus Brasilien zusammen und versucht, die Vielfalt der Blicke »auf und aus Brasilien« einzufangen, eigene und andere, innere und äußere Sichtweisen zu verschmelzen und so zu einem fruchtbaren Dialog beizutragen. Neben Wissenschaftler_innen kommen dabei auch Aktivist_innen zu Wort, die das Buch um Innenperspektiven bedeutender Widerstandsbewegungen bereichern. Damit stehen die einzelnen Beiträge nicht nur für sich, sondern entfalten ihre Wirkung insbesondere in den Überschneidungen, Widersprüchen und Abgrenzungen mit und zu den anderen Artikeln.

Ob wir nun all das, was wir uns mit diesem Buch vorgenommen haben, umsetzen konnten, bleibt dem Urteil der Leser_innen überlassen. Schon jetzt freuen wir uns auf viele Kommentare, Anregungen und Rückmeldungen, damit der hiermit begonnene Dialog fortgesetzt werden kann.

Shadia Husseini de Araújo, Tobias Schmitt, Lisa Tschorn, Brasília, Hamburg, Münster im August 2013

Literatur

Chakrabarty, Dipesh (2000): Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference. Princeton, N. J.: Princeton U.P.

Borowski, Max (2010): Brasilien – Endlich Weltmacht. In: Financial Times Deutschland vom 1.10.2010.

Flemes, Daniel (2008): Brasiliens neue Verteidigungspolitik: Vormachtsicherung durch Aufrüstung. In: GIGA-Focus (12), 1-8.

Foucault, Michel (1983): Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Sexualität und Wahrheit).

Gertschen, Alex (2012): Brasilien findet zu seiner Grösse. In: du (830), 16-25.

Michels, Volker (1997): Ethnische Vielfalt gegen rassistische Einfalt. Zur Entstehungsgeschichte von Stefan Zweigs Brasilienbuch. In: Stefan Zweig: Brasilien. Ein Land der Zukunft. Frankfurt am Main.

Zweig, Stefan (1997): Brasilien. Ein Land der Zukunft. Frankfurt am Main: Insel Verlag.

1 »E vamos ter agora… as apresentações das principais etnias do Brasil. Os índios, os europeus e os africanos. As etnias vão entrar em campo… São as origens do Brasil. Veja aí… Você está vendo as principais etnias… Você vai vendo índios, os europeus e africanos reunidos…«

»Aus einsichtigen Gründen habe ich das Wort negros nicht mit N*** übersetzt.«2– Eine Anmerkung zu den Übersetzungsarbeiten in diesem Buch

Die Teilnahme brasilianischer Autor_innen an diesem Buchprojekt erforderte eine ganze Reihe an Übersetzungsarbeiten aus dem brasilianischen Portugiesisch ins Deutsche; und wer schon einmal einen Text übersetzt hat, weiß, dass Übersetzen kein einfaches, neutrales oder gar objektives Unterfangen ist. Das italienische Sprichwort »Traduttore, traditore!« (Übersetzer_in, Verräter_in!) macht dies genauso deutlich wie Thomas Bernhards Metapher von einem übersetzten Text als eine bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leiche (Bernhard 1986). Doch Übersetzen hat nicht nur etwas Verräterisches und Zerstörerisches an sich, sondern bedeutet im Goethe’schen Sinne auch, eine Brücke zwischen Eigenem und Anderem zu bauen, für Verständigung zu sorgen, selbst wenn Bedeutung niemals genau von einer Sprache in die andere übertragen werden kann. Aus dem Bemühen heraus, eine solche Brücke zu bauen, sind die Übersetzungen in diesem Buch entstanden. Verschiedene Ansprüche auf beispielsweise eine möglichst wortgetreue und genaue, gleichzeitig aber auf eine flüssig lesbare und – bei vielen Übersetzer_innen das höchste Gebot – auf eine politisch korrekte Übersetzung trafen dabei immer wieder aufeinander und sorgten für Kopfzerbrechen.

Besondere Schwierigkeiten bereiteten Begrifflichkeiten, deren wörtliche Übersetzung im Deutschen politisch problematisch, wenn nicht gar tabu ist, während sie im brasilianischen Portugiesisch als ›normal‹ gelten oder auch im Stuart Hall’schen Sinne als dekodiert und durch Widerstandsbewegungen neu kodiert verstanden werden können (Hall 1999). Dazu gehören insbesondere Begriffe, die auf ›Rasse‹ oder ›Hautfarbe‹ rekurrieren, wie z. B. raça, negro, preto, branco, pardo oder mulato. So kommentierte einer der Übersetzer_innen in einer Email an uns: »Ebenso wenig [wie N***] verwende ich den Begriff ›Rasse‹ […]. Das Wort Rasse hat […] in sogenannten Rassenlehren schon längst vor den Nationalsozialisten und erst recht durch die Nazis eine katastrophale Bedeutung erhalten. Allerdings ist mir bekannt, dass in Brasilien häufig von ›Rasse‹ die Rede ist« (Jürgen Stahn, E-Mail vom 1.2.2013). Nun hatte dieser Übersetzer Glück, denn das Wort raça wurde in seinem Text nicht verwendet. Was aber tun, wenn raça 48-mal und racial 13-mal auftaucht, wie es in einem anderen Artikel der Fall ist? Neben politisch problematischen Begrifflichkeiten stellte sich auch die Frage nach dem Umgang mit unübersetzbaren Worten: »Die beiden Begriffe quilombo und quilombola habe ich nicht übersetzt – wie auch?« (ebd.). Während in solchen Fällen die brasilianischen Autor_innen oft rückwirkend noch einmal um eine Definition gebeten wurden, die sich ins Deutsche übersetzen ließ, musste bei Begriffen, die als »inexplicáveis para não-brasileiros (unerklärbar für Nicht-Brasilianer_innen)« (Wolf-Dietrich Sahr, E-Mail vom 15.4.2013) erachtet wurden, häufig improvisiert und eine größere Bedeutungsverschiebung in Kauf genommen werden.

Obwohl Probleme, die sich bei der Übersetzung zwischen verschiedenen Sprachen (im linguistischen Verständnis) stellen, vielleicht die offensichtlichsten sind, tauchen sie jedoch auch auf anderen Ebenen des Übersetzungsprozesses auf. Im Falle der Artikel dieses Buches sind es vor allem auch Schwierigkeiten, die durch verschiedene Stile entstehen. Während beispielsweise in deutschsprachigen Texten häufig Wert auf Struktur und Genauigkeit gelegt wird, stehen im brasilianischen Stil der Geisteswissenschaften oft eher sprachliche Kreativität und literarische Ausdrucksweise im Vordergrund – ein Stil, der in Brasilien als estilo francês (französischer Stil) bezeichnet wird, mitunter auf Kosten von Präzision gehen kann und häufig schwierig zu übersetzen ist. Andere Artikel, die von Aktivist_innen verfasst wurden, bereiteten den Übersetzer_innen zuweilen aufgrund eines zu polemischen oder auch zu didaktischen Tons Bauchschmerzen.

Wie die Übersetzer_innen nun mit solchen unterschiedlichen Stilen, politisch unterschiedlich konnotierten sowie unerklärbaren Begrifflichkeiten umgegangen sind, blieb in ihrer Hand – nicht zuletzt wird in diesem Zusammenhang immer wieder von der Macht der Übersetzenden gesprochen. Denn sie sind es, die den Text ›domestizieren‹ (d.h. das Original der Text- und Denkkultur in der Zielsprache anpassen) oder ›exotisieren‹ (d.h. das Original in seiner Andersartigkeit gegenüber der Text- und Denkkultur in der Zielsprache betonen), den Text verstümmeln oder verschönern können (Venuti 2008). Grundsätzlich lässt sich vielleicht zusammenfassen, dass die Übersetzenden nach dem Motto »so nahe am Original wie möglich, so frei wie nötig« arbeiteten. Eine einheitliche Übersetzungsstrategie gab es dabei nicht und wäre auch gar nicht möglich gewesen, da die Originaltexte selbst in zu unterschiedlichen Kontexten entstanden sind. Jede_r Übersetzer_in hat eigene Lösungen im Umgang mit Brüchen und Bedeutungsverschiebungen gefunden, und dies oftmals in engem Austausch und in Rücksprache mit den Autor_innen und uns Herausgeber_innen.

Aufgrund dieser gewichtigen Rolle, die den Übersetzenden zukommt, platzieren wir ihre Namen in diesem Buch nicht unauffällig in einer Fuß- oder Endnote, wie in Übersetzungen von wissenschaftlichen oder Sachtexten oftmals üblich. Wir setzen ihre Namen gemeinsam mit den Namen der Autor_innen an den Textanfang, um sie sichtbar zu machen, denn schließlich ist es ihr Text, der am Ende sichtbar ist, und eben nicht der Originaltext der Autor_innen.

Literatur

Bernhard, T. (1986): Zit. In: Zeitschrift für Kulturaustausch, Jg. 4, 563.

Hall, S. (1999): Kodieren/Dekodieren. In: Bromley, R.; Göttlich, U.; Winter, C. (Hgs.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung. Lüneburg, 92-110.

Venuti, L. (2008): The Translator’s Invisibility. A History of Translation. New York, London: Routledge.

2 Jürgen Stahn, E-Mail an die Herausgeber_innen vom 1.2.2013.

»Sklav_innen-Handel? Oder wie gendern wir jetzt zusammengesetzte Wörter…«3– Eine Anmerkung zur gendersensiblen Sprache

Neben den Anmerkungen zur Übersetzung möchten wir an dieser Stelle auch noch einmal das Thema der Gendersensibilität aufgreifen, denn die Verwendung des generischen Maskulinums ist sowohl im Deutschen als auch im Portugiesischen weit verbreitet. Wenn wir jedoch davon ausgehen, dass Sprache gesellschaftliche Strukturen abbildet und (re)produziert, dann ist ein gendersensibler Sprachgebrauch unerlässlich, um langfristig auf eine Gleichberechtigung der Geschlechter hinzuwirken. Aus diesem Grund haben wir als Herausgeber_innen den Autor_innen und Übersetzer_innen dieses Buches die Verwendung des Gender Gaps (d.h. die durch einen Unterstrich gefüllte Lücke zwischen maskuliner und femininer Endung eines Wortes) nahegelegt. Dadurch soll neben Mann und Frau auch die Vielfalt der Geschlechter dazwischen repräsentiert werden, darunter beispielsweise Intersexualität, Transgender, Transsexualität und Bi-Gender. Der Unterstrich nimmt hier die Funktion eines emanzipatorischen Symbols ein und steht für Raum zur Entfaltung neuer Identitäten.

Was sich allerdings in der Theorie schlüssig anhört, führte ›hinter den Kulissen‹ der Bucherstellung zu so manch unvorhergesehenen Problemen und Herausforderungen. Durch das Gender Gap wurden Titel plötzlich unattraktiv, ganze Textteile nicht mehr flüssig lesbar und wirkten insbesondere durch zusammengesetzte Wörter, wie z.B. ›Sklav_innen-Eigentümer_innen‹, seltsam. Durch Alternativkonstruktionen und Umwege über geschlechterneutrale Sprache haben wir dann versucht, die Texte wieder flüssig lesbar zu machen – was zuweilen dazu führte, »leise […] schimpfend, den Sinn von Gendern aus Prinzip infrage zu stellen…« (Lisa Tschorn, E-Mail vom 1.5.2013).

Über die rein sprachliche Ebene hinaus stellte sich die grundsätzliche Frage, ob das Gender Gap nicht konsequenterweise auch für Personenbezeichnungen im Singular angewendet werden muss, zumal eine einfache Maskulin- oder Femininendung im Singular ebenfalls keine Inter- oder Transsexualität repräsentieren kann. Vor dem Hintergrund, dass alle portugiesischen Texte im generischen Maskulinum verfasst wurden, fragten wir uns wiederum, ob ein Gendern im Zuge der Übersetzung ins Deutsche überhaupt vertretbar ist oder ob das ›Domestizieren‹ hier zu weit geht und die übersetzten Texte auch im generischen Maskulinum verfasst werden müssten. Schließlich entstand immer dann ein Problem, wenn das Gender Gap inhaltlich fragwürdig wurde. Wenn beispielsweise von ›den Europäern‹ stellvertretend für die europäischen Kolonialmächte in Brasilien die Rede ist, würde eine Anwendung des Gender Gaps (also: »Europäer_innen«) dann nicht verschleiern, dass es sich bei der europäischen Kolonisierung um ein männlich dominiertes Projekt handelte, das für die Repräsentation von Weiblichkeit, Inter- und Transsexualität keinen Platz bot?

Trotz dieser Probleme, haben wir uns für eine Verwendung des Gender Gaps entschieden, wobei wir ihn aus Gründen der flüssigen Lesbarkeit nur für Pluralformen angewendet haben. In inhaltlich fragwürdigen Fällen haben wir in Rücksprache mit den Autor_innen je nach Kontext entschieden und, wenn es sinnvoll erschien, auf das generische Maskulinum zurückgegriffen (wie beispielsweise bei Ausdrücken wie »das koloniale Vorrücken der Europäer«). Dieses Vorgehen haben wir auch bei den übersetzten Texten verfolgt und damit den ›domestizierenden Eingriff‹ in Kauf genommen. All dies sind sicherlich keine optimalen und wirklich ›gendergerechten‹ Lösungen. Doch sie sind zumindest ein Versuch, für Geschlechterungleichheiten, die durch Sprache (re)produziert werden, zu sensibilisieren und für eine Suche nach besseren Lösungen einzutreten.

3 Eine Frage, die bei der Überarbeitung der Artikel so oder so ähnlich immer wieder auftauchte.

Teil I

Die Säule der brasilianischen Gesellschaft: (k)eine democracia racial

Das Monument der drei Rassen (Monumento às Três Raças) auf dem Praça Cívica in Goiânia, Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Goiás, steht paradigmatisch für eine der zentralen Narrativen der brasilianischen Nationalkultur: Der Europäer konstruiert gemeinsam mit dem Indigenen und dem Afrikaner die brasilianische Gesellschaft. Das Bild der drei friedlich zusammenlebenden und sich vermischenden Ethnien zu einer vereinten Nation war es auch, das den Schriftsteller Stefan Zweig in seiner Vision vom Land der Zukunft dazu verleitete, in Brasilien ein humanitäres Vorbild zu sehen. So heißt es in seinem Werk:

»D[as] Zentralproblem, das sich jeder Generation und somit auch der unseren aufzwingt, ist die Beantwortung der allereinfachsten und doch notwendigsten Frage: wie ist auf unserer Erde ein friedliches Zusammenleben der Menschen trotz aller disparaten Rassen, Klassen, Farben, Religionen und Überzeugungen zu erreichen? […] Keinem Lande hat es sich durch eine besonders komplizierte Konstellation gefährlicher gestellt als Brasilien, und keines hat es – und dies dankbar zu bezeugen, schreibe ich dieses Buch – in so glücklicher und vorbildlicher Weise gelöst wie Brasilien« (Zweig 1997: 12, siehe auch 17).

Der brasilianischen Nation unterliege das »Prinzip der freien und ungehemmten Durchmischung, der völligen Gleichstellung von Schwarz und Weiß und Braun und Gelb. Was in anderen Ländern nur auf Papier und Pergament theoretisch festgelegt ist, die absolute staatsbürgerliche Gleichheit im öffentlichen wie im privaten Leben, wirkt sich hier sichtbar im realen Raume aus« (ebd.: 13-14). Gegenüber diesem Bild stellte sich Europa, das sich, als diese Zeilen entstanden, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg befand, als das klare Gegenstück dar: ein Europa, dessen Rassenlehren die eigenen als höher- und die anderen als minderwertig definierten, ein Europa, in dem Menschen jüdischen Glaubens verfolgt wurden, und ein Europa, das, von Kriegen gezeichnet, sich selbst aufs Neue zu zerstören schien. Vielleicht war es genau diese extreme Referenzfolie, die Brasilien als ›Land der Zukunft‹ aufleben und Zweig die faschistisch-diktatorischen Tendenzen der Vargas Regierung übersehen ließ.

Das Monument der drei Rassen in Goiânia

(Quelle: commons.wikimedia.org, Fotograf: Adelano Lázaro, Ausschnitt)

Hinter dem gesellschaftlichen Prinzip, das Zweig aufgreift und das im Monument der drei Rassen verewigt wurde, verbirgt sich der Mythos der mocracia racial (Rassendemokratie), der im Brasilien der dreißiger Jahre entstand und in Politik und Kultur bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts tradiert wurde. Doch sowohl die Schwarzen- als auch die Indigenenbewegung zeigten, dass das Konzept der democracia racial im allzu deutlichen Widerspruch zur Realität stand und die brasilianische Gesellschaft weniger durch demokratisch zusammenlebende ›Rassen‹ als vielmehr durch Rassismus und rassistische Unterordnung der nicht-europäisch-stämmigen Bevölkerungsteile gekennzeichnet war (und in vieler Hinsicht bis heute ist). Seit den siebziger Jahren formierten sich Widerstände gegen den Mythos, da er als Teil der brasilianischen Nationalerzählung eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, der Sklaverei und dem damit zusammenhängenden Rassismus für lange Zeit behindert hat.

Die explizite und implizite Auseinandersetzung mit dem Mythos der democracia racial sowie mit seinen Widersprüchen und Widerständen ist das, was die Artikel dieses Teils miteinander verbindet. Dabei widmen sich die ersten drei Beiträge den indigenen Widerständigkeiten. Der Artikel von Camila Loureiro Dias liefert einen historischen Überblick über die Geschichtsschreibung und die Geschichte der indigenen Völker Amazoniens. Die Autorin zeigt, dass Begegnung und Zusammenleben mit den Europäern kaum im Sinne einer democracia racial verstanden werden kann, sondern durch die Auslöschung von Bevölkerungsteilen und die Überformung der gesellschaftlichen Strukturen durch das frühkapitalistische System der Europäer sowie die indigenen Antworten darauf – sich zur Wehr setzen, flüchten, sich unterwerfen und/oder verhandeln – geprägt wurde.

An diesen Text knüpft Gersem Luciano Baniwa mit seinem Artikel »Indigene Völker und indigene Bewegungen im heutigen Brasilien« an. Der Autor ist selbst Indio (Volk Baniwa), Aktivist und Vorsitzender des Indigenen Forschungszentrums (Centro Indígena de Estudos e Pesquisas). Politisch in der Indigenenbewegung verortet, bietet der Autor einen ›internen‹ Blick auf die Frage von Bürgerrechten und Autonomie, Indios in Isolation sowie indigene Bewegungen und ihre Herausforderungen im heutigen Staat Brasilien.

Dass indigene Widerstände nicht nur auf lokaler und nationaler, sondern auch auf globaler Ebene eine Rolle spielen, veranschaulicht der Beitrag von Claudia König und Dörte Segebart. Sie zeigen beispielhaft, dass Geschäftsabschlüsse im Rahmen internationaler REDD (Reducing Emissions from Deforestation and Degradation) Projekte zum Ausverkauf der Lebensgrundlagen indigener Gemeinschaften führen können. Um REDD-Projekte zukunftsfähig zu gestalten, sodass Klimapolitik und Sozialverträglichkeit in Einklang gebracht werden und Indigene ihre Lebensweise nachhaltig fortführen können – so das Plädoyer der Autorinnen –, müssen Widerstandsbewegungen mehr Gehör verschafft und Indigenenrechte gestärkt werden.

Die nachfolgenden drei Artikel befassen sich mit den Widerständigkeiten des movimento negro (Schwarzenbewegung) und der quilombolas (Einwohner_innen von quilombos, d. h. Siedlungen von Menschen, deren Vorfahren aus der Sklaverei geflüchtet waren). Dabei greift vor allem Flávio Thales Ribeiro Francisco aus seiner Perspektive als Historiker und Aktivist im movimento negro den Mythos der democracia racial auf und zeigt mit seinem Beitrag, in welchem Verhältnis dieser zum Rassismus in Brasilien steht und wie er durch den Widerstand des movimento negro dekonstruiert wurde.

Cicilian Luiza Löwen Sahr und Francine Iegelski liefern mit ihrem Artikel »Quilombos und quilombolas in Brasilien: Widerstand und zukünftige Entwicklungen« einen einführenden Abriss über die Widerstandsentwicklung der quilombolas aus historischer Perspektive und skizzieren darauf aufbauend die aktuelle Situation und entsprechende Herausforderungen.

Als konkretes Beispiel heutiger quilombola-Gemeinden knüpft der Artikel »Wir haben doch nicht Widerstand gegen die Sklaverei geleistet, damit wir wieder wie Sklaven auf Plantagen arbeiten« von Maria Backhouse an das Thema an. Die Autorin stellt dem Bild Brasiliens als global agierende Agrar- und Energiemacht sowie als Vorreiterin in Fragen grüner Energie die Situation von quilombola-Gemeinden in der Amazonasregion gegenüber, die in den angeblich klimafreundlichen Entwicklungsprojekten der Regierung eine Bedrohung ihrer Existenz sehen.

Der letzte Beitrag dieses Teils »Brasilien in Bewegung – Ein Migrationsland zwischen Ungleichheit und ›Mestizierung‹« von Wolf-Dietrich Sahr und Gislene Aparecida dos Santos greift verschiedene soziologische Konzepte auf, um die brasilianische Gesellschaft zu beschreiben. Dabei kommt den Migrationsströmungen nach Brasilien, den Binnenwanderungen und den Prozessen von Vermischung und Integration eine zentrale Rolle zu. Diese Prozesse, so die These der Autor_innen, lösen Ungleichheit und Segregation zumeist nicht auf, sondern erhalten und reproduzieren sie auf spezifische Weisen. In diesem Zusammenhang führt der Artikel vor Augen, dass die brasilianische Gesellschaft eben nicht nur von den Europäer_innen, Indigenen und Afrikaner_innen als die drei Säulen der Gesellschaft getragen wurde und wird, wie es das Konzept der democracia racial suggeriert, sondern von einer Vielzahl von Menschen mit unterschiedlichen Identitäten und Migrationshintergründen. Während die vorangegangenen Artikel dieses Teils teilweise aus strategisch essenzialistischenen Gründen von den Kategorien ›Europäer_innen‹, ›Indigene‹ und ›Afrikaner_innen‹ ausgehen, veranschaulichen Wolf-Dietrich Sahr und Gislene Aparecida dos Santos den Konstruktionscharakter dieser Kategorien, die interne Differenzen und Hierarchien vollkommen überlagern, Heterogenitäten und Widersprüche ausblenden und dynamische Entwicklungen nicht greifen können.

Literatur

Zweig, Stefan (1997): Brasilien. Ein Land der Zukunft. Frankfurt am Main: Insel Verlag.

Camila Loureiro Dias

Indigene Amazoniens: Alternative Vergangenheiten, zukünftige Perspektiven

Übersetzt von Sabine Reiter

An der Grenze zwischen Brasilien und Peru gibt es, wie 2008 durch die Fotos der FUNAI4 belegt, immer noch isoliert lebende indigene Gemeinschaften. Die Bilder fanden in der internationalen Presse weite Verbreitung und lieferten neuen Stoff für die Diskussion über ›das Indigene‹. In Deutschland griff zum Beispiel die Wochenzeitung Die Zeit diese Fotos auf und beschrieb die abgebildeten Indigenen als Repräsentant_innen einer »alten Welt«, als vermeintliche »Wilde« und »Urvölker«, »verborgen im brasilianischen Urwald«, die noch nie mit irgendeiner »wahren Zivilisation« in Kontakt getreten seien (Die Zeit, 05.06.2008). Der Duktus dieses Artikels ist eher ironisch als ernst. Was er dadurch infrage stellt, ist ein altbekanntes Bild, welches in den Köpfen vieler Menschen bis heute besteht: die Indigenen Brasiliens als Gegenpart zu ›unserer‹ Welt, als lebendige Spur einer verlorengegangenen Zeit und als Teil einer von den »zivilisierten Kulturen« abgetrennten Natur.

Die Tatsache, dass viele indigene Gemeinschaften isoliert leben, bedeutet nicht, dass sie niemals mit Nicht-Indigenen in Kontakt gestanden hätten. Vielmehr haben sie sich im Laufe der Zeit dazu entschlossen, den Kontakt mit anderen zu vermeiden, und sich deshalb in die unzugänglicheren Gebiete des Waldes zurückzogen. Aktuell handelt es sich um einige Hundert Menschen, die von beiden Seiten der brasilianisch-peruanischen Grenze unter Druck gesetzt werden und in ihrer Existenz massiv bedroht sind. Dabei zeigen sie, wie auf den Fotos zu sehen ist, die Entschlossenheit und das würdevolle, stolze Auftreten von Menschen, die wissen, was sie wollen – und was sie nicht wollen.

Die Situation der indigenen Bevölkerung Brasiliens ist insgesamt sehr vielschichtig. Nach Angaben des Zensus von 2010 leben heute in Brasilien kaum mehr als 800.000 Menschen, die sich als Indigene (índios) bezeichnen – dies entspricht weniger als einem Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie verteilen sich auf staatlich geschützte oder ungeschützte Gebiete, auf Städte und ländliche Regionen, wobei ein Großteil von ihnen (40 Prozent) in Amazonien lebt (siehe Fotos). Zwischen 1991 und 2000 verzeichneten die Statistiken einen Bevölkerungszuwachs von 150 Prozent und allein im vergangenen Jahrzehnt einen von 10 Prozent.5 Dieser sprunghafte Anstieg mag mit einer erhöhten Geburtenrate verbunden sein. Er ist aber im Wesentlichen auf einen politischen Kontext zurückzuführen, der das Bekenntnis zur indigenen Identität begünstigt hat und im Zuge der Verfassung von 19886 entstanden war.

Isoliert lebende Indigene im brasilianisch-peruanischen Grenzgebiet

Foto: FUNAI 2008, Fotograf: Gleilson Miranda

Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass die Ureinwohner_innen Amerikas, anders als üblicherweise angenommen, keine lebenden Fossilien ihrer eigenen oder einer wilden westlichen Vergangenheit sind. Vielmehr sind ihre aktuelle Bevölkerungsentwicklung, ihre Organisationsstruktur und territoriale Verteilung Ergebnis historischer Prozesse, die im Verlaufe der Jahre immer wieder neu und anders in die Geschichtsschreibung eingegangen sind.

Ziel dieses Textes ist aufzuzeigen, welche Veränderungsprozesse die indigenen Gemeinschaften Amazoniens durchliefen, die sie zu dem machten, was sie heute sind. Im ersten Teil zeige ich, wie in den ersten historiographischen Werken über die Indigenen ihre Geschichtlichkeit konstruiert wurde und welche Art der Herangehensweise heute gewählt wird. Auf dieser Basis beschreibe ich im zweiten Teil den Kontext der frühkapitalistischen Expansion ins Amazonasgebiet seit dem 16. Jahrhundert sowie die Reaktionen der indigenen Bevölkerung auf die damit einhergegangenen Veränderungen. Im dritten Teil wende ich mich schließlich dem aktuellen politischen Kontext zu, in den sich sowohl der bereits erwähnte demographische Zuwachs als auch die neuen Parameter zur Beschreibung der brasilianischen indigenen Gesellschaften einfügen.

Das Amazonasbecken und die im Text erwähnten Orte und Flüsse

Die indigenen Völker Amazoniens

Die Dichte der indigenen Bevölkerung an den Ufern der Flüsse des Amazonasgebiets (Abb. 3) beeindruckte alle Europäer, die dieses Gebiet im 16. Jahrhundert bereisten. Heutige Schätzungen gehen davon aus, dass zu jener Zeit zwischen fünf und sechs Millionen Menschen dort lebten, was einer durchschnittlichen Bevölkerungsdichte von ca. 14,6 Einwohnern pro Quadratkilometer entspricht (Denevan 1992: 226). Diese Zahl ist vergleichbar mit der Bevölkerungsdichte auf der Iberischen Halbinsel, die zur damaligen Zeit mit 17 Einwohner_innen pro Quadratkilometer bemessen wurde (Braudel I, 1979: 42).

Wer die Reiseberichte aus jener Zeit liest, mag vielleicht meinen, dass es sich hierbei um eine zurückhaltende Schätzung handelt. Die Tatsache, dass sich alle Europäer gleichermaßen über die Anzahl der dort angetroffenen Menschen wunderten, lässt vermuten, dass die Bevölkerungsdichte sogar noch höher war als die auf der Iberischen Halbinsel. Wir wissen es nicht. Sicher ist jedoch, dass die Berichte mit der Zeit einen drastischen Bevölkerungsrückgang verzeichneten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts waren die beschriebenen Gruppen an den Ufern des Amazonas bereits größtenteils verschwunden, ausgelöscht oder in entlegenere Gebiete des Landesinneren verdrängt. An ihre Stelle traten neue, durch Missionare kontrollierte Siedlungen von Indigenen, die aus den Quellgebieten oder von den Mittelläufen der Nebenflüsse gekommen waren. Diese Bevölkerungsteile können als Ursprung der heutigen mestizischen Bevölkerung an den Flussufern verstanden werden.

Der rapide Rückgang der indigenen Bevölkerung betraf den gesamten amerikanischen Doppelkontinent. Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass der Hauptgrund hierfür die Infektionskrankheiten waren, die die Europäer mitbrachten: Pocken, Masern, Grippe und die Pest. Diese Krankheiten waren den Amerikaner_innen, die für mindestens 15.000 Jahre isoliert vom Rest der Welt gelebt hatten, bis dahin unbekannt. Ein weiterer Grund für den Bevölkerungsrückgang ist die Destabilisierung der indigenen Gesellschaften durch die merkantilen Strukturen, die die Europäer – neben ihren Krankheiten – eingeführt hatten (vgl. dazu das nachfolgende Unterkapitel).

Im Amazonasgebiet begann dieser Prozess mit dem Gewürzhandel im 16. Jahrhundert, setzte sich in den folgenden Jahrhunderten fort und dauerte mindestens bis zum Kautschukboom an, der Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts mit der industriellen Revolution einherging. Diese letzte Phase fiel mit der Entstehung der Anthropologie als wissenschaftliche Disziplin zusammen. Zu dieser Zeit bereisten verschiedene deutsche Wissenschaftler die Amazonasregion, um ethnographische Informationen über die einheimische Bevölkerung zu sammeln (Spix und Martius, Karl von den Steinen, Theodor Koch-Grünberg, Curt Nimuendaju). Dabei fanden sie die indigenen Gesellschaften in einem vollkommen anderen Zustand vor, als sie von den Europäern des 16. Jahrhunderts beschrieben wurden.

Auf der Basis dieses ethnographischen Materials entstanden die ersten Modelle zur Interpretation der Gesellschaftsformen der amerikanischen Bewohner_innen des Tieflands. Diese Modelle gingen zum einen davon aus, dass die Gesellschaftsstruktur immer so gewesen sei wie im beobachteten Moment (Ribeiro 1988). Zum anderen wurden die indigenen Völker als »Wilde« angesehen, da sie – entsprechend der europäischen Vorstellung von gesellschaftlicher Entwicklung – noch nicht bei der Formation von Staaten angelangt waren. Sie galten vielmehr als lebende Vertreter_innen der Vorfahren des zivilisierten Menschen. Auf diese Weise entstand ein Bild der Indigenen als lebendige Fossilien aus einer wilden Vergangenheit, das bis heute in den Vorstellungen der meisten Menschen – einschließlich der Brasilianer_innen – fortlebt.

Neueren Forschungsergebnissen zufolge besaßen die indigenen Völker Amazoniens zur Zeit der Ankunft der ersten Europäer eine ältere und reichere Geschichte als zunächst angenommen. Heute weiß man sicher, dass der Beginn der menschlichen Besiedlung der Amazonasregion mindestens 11.000 Jahre zurückliegt. Die von den Europäern angetroffene Bevölkerung stammte von Gesellschaften ab, die immensen Transformationsprozessen unterlagen, insbesondere in den 500 Jahren zuvor. Dazu gehörten ein starkes Bevölkerungswachstum, Umsiedelungen, Veränderungen in den Siedlungsformen und kulturelle Wandlungsprozesse (Neves 2009: 49-50).

Auf der Basis von materiellen Zeugnissen und einer erneuten Lektüre der ersten Reiseberichte wird heute angenommen, dass die ersten Europäer sehr unterschiedliche Sozialgefüge auf lokaler sowie auf regionaler Ebene antrafen, eine signifikante Bevölkerungsdichte und systematische interethnische Tauschbeziehungen, einschließlich Warentausch, exogame Heiratsbeziehungen und vor allem auch kriegerische Auseinandersetzungen. Aktuell versuchen Historiker_innen herauszufinden, auf welche Weise sich die Dynamik der interethnischen Beziehungen mit der Ankunft der Europäer veränderte.

Die Rolle der Indigenen Amazoniens in der Weltwirtschaft

Die Suche nach Gold und Gewürzen war das Hauptmotiv der ersten europäischen Expeditionen in das Amazonasgebiet. Der Engländer Walter Raleigh unternahm Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts zwei Reisen auf der Suche nach »El Dorado« und erforschte dabei einen Abschnitt des Orinoco. Nach einer ersten Bestandsaufnahme der Flüsse und der Küstenbewohner_innen nahmen die Engländer 1609 das Gebiet (heutiges Suriname) in Besitz und begannen mit einer sofort sehr ertragreichen Zuckerproduktion.

Die Holländer erbauten 1613 eine erste Festung (Fort Kijkoveral) an der Küste des heutigen Guyana, an der Stelle, wo der Essequibo in den Atlantik mündet. Dabei war der Handel mit der einheimischen Bevölkerung die Hauptaktivität, die sich in diesem Gebiet entwickelte. Kurz darauf errichteten die Holländer weitere Festungen an den Ufern des Tapajós und des Xingu. Sie tauschten Tabak, Baumwolle und Urucum-Pulver gegen Äxte, Werkzeuge aus Metall, Perlen und andere Waren, die sie aus Indien mitbrachten.

Die Franzosen errichteten ihre erste Kolonie 1607 am Oiapoque-Fluss7 und sammelten ebenfalls Erfahrungen im Handel mit den Indigenen. Sie erbauten Festungen in Cayenne, Macapá und Gurupá. 1614 wurden sie von den Portugiesen aus der heute brasilianischen Stadt São Luís im Bundesstaat Maranhão vertrieben. Von diesem Zeitpunkt an starteten die Portugiesen ihre territoriale Expansion: Sie erbauten eine Festung an der Amazonasmündung (heute Belém) und eroberten von den Franzosen die Festung in Gurupá, gelegen an der Stelle, wo der Amazonas in sein Delta übergeht. Von dort aus begannen sie flussaufwärts zu fahren.

Auf der anderen Seite des Kontinents begannen die Spanier den Amazonas hinunterzufahren, um nach den alten Königreichen und ihren Schätzen zu suchen. Die ersten Expeditionen fanden zwischen 1542 und 1561 statt. Nachdem diese gescheitert waren, wurden sie erst ein knappes Jahrhundert später wieder aufgenommen, als die Portugiesen bereits in Quito ankamen. Die Kolonialverwaltung in Quito ließ 1639 eine neue Expedition durchführen und schickte sie, gemeinsam mit den Portugiesen, zurück nach Belém, um dort das Gebiet des heutigen Peru für Spanien anerkennen zu lassen. Begleitet wurde diese Expedition von dem Jesuiten Cristobál de Acuña, dessen Aufzeichnungen heute zu den wichtigsten Informationsquellen über die Völker am Amazonas im 17. Jahrhundert zählen.

Mit dem Vordringen der Portugiesen von Osten, der Spanier von Westen und der Holländer aus nördlicher Richtung trafen Mitte des 17. Jahrhunderts die unterschiedlichen Interessen dieser drei Nationen am Oberlauf des Amazonas aufeinander, und zwar dort, wo der Rio Negro, der nördlich größte Nebenfluss, in den Amazonas mündet. Heute liegt dort die Stadt Manaus, Hauptstadt des Bundesstaates Amazoniens. Die indigene Bevölkerungsdichte war hier, wo die beiden großen Wasserwege zusammenlaufen, besonders hoch. Es war eine Art Knotenpunkt von Handelswegen, die wahrscheinlich bereits vor der Ankunft der Europäer existiert hatten.

In dieser Region, an den Ufern des Solimões, traf der Jesuit Cristobál de Acuña auf den Stamm der Omáguas. Dieser wurde von ihm als der wichtigste und größte der verschiedenen Stämme am Amazonas beschrieben. Die Omáguas beeindruckten ihn durch ihre hohe Bevölkerungsdichte und durch ihre komplexe soziopolitische Organisationsform. Sie waren sesshaft und bewehrt, trugen Kleidung, besaßen klar erkennbare politische Macht und standen in kriegerischen Auseinandersetzungen mit den indigenen Gruppen des Hinterlands. Kriegsgefangene aus diesen Gruppen wurden von den Omáguas als Haussklaven gehalten.

Acuña begegnete auch handel- und kriegstreibenden Völkern, die am mittleren Rio Negro und an seinen Nebenflüssen lebten. Diese waren in einem traditionellen Tauschnetz über große Distanzen eingebunden, durch das die Spezialitäten der verschiedenen Regionen – Keramik, Ruder, Tabak, Baumwolle, Mais, grüne Edelsteine, Kleidung, Gold, Kanus, Hängematten, Urucum etc. – in Umlauf gebracht wurden. Sie versorgten auch die Omáguas mit Metallwaffen und -instrumenten. Sie berichteten – so die Überlieferung von Acuña –, dass die Metallwaren von »Männern mit gelben Haaren« stammen würden. Hierbei handelte es sich um die Holländer, die an der Küste ihre Erzeugnisse den Karib-Indianern anboten. Diese wiederum tauschten die Metallwaren mit den Völkern im Hinterland gegen Gefangene. An der Spitze dieses Tauschnetzes kauften die Holländer die Gefangenen und setzen sie als Sklav_innen in ihren Enklaven ein.

Die Indigenen dieser und anderer Regionen verkauften ihre Gefangenen jedoch auch an andere Interessenten, beispielsweise an die Portugiesen. Diese gingen Allianzen mit den indigenen Führern ein und betrieben, nachdem sie ihre Missionsstationen entlang der zentralen Flüsse errichtet hatten, ihren eigenen Handel mit Gefangenen. Wenn es ihnen nicht gelang, Indigene käuflich zu erwerben, griffen sie Dörfer an, nahmen deren Bewohner_innen gefangen und verkauften sie als Sklav_innen in Belém.

Aufgrund all dieser Dynamiken intensivierte sich die Kriegsführung zwischen den Indigenen. Die Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als aufgrund des steigenden Schokoladenkonsums in Europa die Nachfrage des aus Amazonien stammenden Kakaos stark zunahm. Dadurch erlebte die Stadt Belém einen extremen wirtschaftlichen Aufschwung. Reisende berichteten von Häusern mit zweihundert Sklav_innen, von Bewohner_innen, die sich in Stoffe aus Italien und Frankreich kleideten, und von imposanten öffentlichen Gebäuden.

Diese Hochphase hielt allerdings nicht lange an. In den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts wurde die Region erneut von Epidemien heimgesucht, erst von den Pocken und gleich darauf von Masern. 1750 verzeichneten die Behörden vor Ort mehr als 18.000 Todesfälle und prognostizierten, dass die Opferzahl auf über 40.000 ansteigen würde. Im Rahmen dieser Entwicklungen beschloss Portugal eine Veränderung seiner Politik und ging dazu über, die Netze des Sklav_innen-Handels zu zerstören. Ziel dabei war, die Kontrolle über die Beziehungen zur einheimischen Bevölkerung zu übernehmen.

Sowohl die Kriege zwischen indigenen Völkern und zwischen Europäern und indigenen Gemeinschaften, die durch die Nachfragen nach Arbeitskräften für die kolonialen Enklaven der Europäer deutlich zunahmen, als auch die immer wieder aufkommenden Epidemien waren für die Destabilisierung und Auflösung vieler indigener Gesellschaften verantwortlich. Diese Entwicklung hat zur Entstehung der heutigen physischen und kulturellen Landschaft des Raumes, den wir gemeinhin als Amazonien bezeichnen, entscheidend beigetragen.

Alternative Vergangenheiten, zukünftige Perspektiven

Bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hielt sich die von Florestan Fernandes vertretene Ansicht, dass die Indigenen nur drei Möglichkeiten hatten, auf die neue, durch die Präsenz der Europäer geschaffene Realität zu reagieren: entweder zu kämpfen, zu fliehen oder sich zu unterwerfen (Fernandes 1975: 27). Für diesen bedeutenden brasilianischen Anthropologen der fünfziger Jahre kam die freiwillige Unterwerfung der Indigenen einer langsamen, aber »schlichten und faktischen« Auslöschung dieser Völker gleich, und zwar durch die soziale Destrukturierung und den Verlust von Autonomie, die die Unterwerfung mit sich brachte.

Seit einigen Jahrzehnten, besonders aber heute, betonen Wissenschaftler_innen die Existenz einer vierten Möglichkeit: die Verhandlung. Diese bezieht auch Entscheidungen der Indigenen mit ein, die zuvor als Unterwerfung gedeutet wurden. Hiermit lässt sich auch der gegenwärtige sprunghafte Anstieg der Bevölkerungsteile erklären, die sich selbst als indigen bezeichnen. Eingebettet in eine neue Form des Umgangs mit den Europäern – so die Annahme – ist es den Indigenen gelungen, ihre ethnische Identität im Verborgenen aufrecht zu erhalten und sich in einem günstigen politischen Klima wieder offen zur ihr zu bekennen (Almeida 2010).

Es muss jedoch daran erinnert werden, dass ein Teil der heute das Amazonasgebiet bewohnenden indigenen Gemeinschaften von Völkern abstammen, die den Weg des Rückzugs gewählt und sich in schwer zugänglichen Gegenden angesiedelt hatten. Genau in solchen Gebieten findet man indigene Gesellschaften, die ihre kulturelle Autonomie am besten bewahrt haben und die sich mit dem Staat die Regierungshoheit über ihre Gebiete teilen (s. Karte der indigenen Reservate).8

Indigene Reservate Brasilien

Die Kontexte, in denen die indigenen Populationen Brasiliens heute leben, sind sehr unterschiedlich. Der Forderungskatalog gegenüber dem brasilianischen Staat ist lang und einige indigene Gruppen kämpfen noch immer um die Landrechte für die von ihnen bewohnten Gebiete. Andere, bereits etablierte Gemeinschaften fordern neben einer angemessenen Gesundheitsversorgung auch eine für sie angemessene Schulbildung. Sie sind davon überzeugt, dass die Beherrschung der ›westlichen Codes‹ genauso wie der Erhalt der eigenen Kultur unabdingbare Elemente im Kampf um den Nachweis ihrer Ethnizität und damit im Kampf um ihre eigene Existenz sind (s. der Beitrag von Gersem Luciano Baniwa). Ihre politischen Interessen spielen jedoch nicht nur auf Staatsebene eine Rolle, sondern in entscheidendem Maße auch in globalen Debatten und weltpolitischen Entscheidungen über Umweltprobleme und Wirtschaftsentwicklungen, v.a. wenn es um den Erhalt der energetischen Reserven und des unschätzbaren biologischen Bestands des Amazonasgebiets geht (s. den Beitrag von Claudia König und Dörte Segebart).

Auch wenn es lange Zeit nicht anerkannt wurde, so waren die indigenen Gemeinschaften schon immer aktive Agenten der Geschichtsschreibung, wobei sie durch die Konstruktion ihrer eigenen Geschichte stets die Weltgeschichte mitgestalten.

Literatur

Almeida, Maria Regina Celestino de (2010): Os índios na História do Brasil. Rio de Janeiro: Editora FGV.

Braudel, Fernand (1979): Civilisation matérielle, économie et capitalisme: XVe-XVIIIe siècle. 3 vols. Paris: Armand Colin.

Denevan, William (1992): The native population of the Americas in 1492. Madison: The University of Wisconsin Press.

Fernandes, Florestan (1975): A investigação etnológica no Brasil e outros ensaios. Petrópolis: Vozes.

Neves, Eduardo Góes (2006): Arqueologia da Amazônia. Rio de Janeiro: Jorge Zahar.

Ribeiro, Darcy (1988). »Entretien à Henri Raillard«. In: Brésil, Autrement, novembre 1982. Apud Alain Gheerbrant, L’Amazone, un géant blessé. Paris: Gallimard.

4 Die 1967 geschaffene Fundação Nacional do Índio (FUNAI) ist eine Bundesbehörde, die für die Etablierung und den Vollzug der brasilianischen indigenen Politik zuständig ist.

5 Nach Angaben des IBGE (Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística).

6 Die Verfassung von 1988, die während der Re-Demokratisierung Brasiliens nach 21 Jahren Militärdiktatur (1964-1985) entstand, erkannte den brasilianischen Staat als pluriethnisch an. Dies stellte einen Sieg im politischen Kampf der Zivilgesellschaft – die indigenen Gemeinschaften einschlossen – dar (s. den Artikel von Gersem Luciano Baniwa).

7 Heutiger Grenzfluss zwischen Französisch-Guayana und dem brasilianischen Bundesstaat Amapá (Anm.d.Ü.).

8 Die Mehrheit der indigenen Reservate befindet sich in den Quellgebieten der Amazonas-Nebenflüsse. Hierbei handelt es sich um schwer zugängliche Gebiete, in die verschiedene indigene Gemeinschaften in der Vergangenheit umgesiedelt waren. Die größten archäologischen Ausgrabungsstätten sind jedoch an den Ufern des Amazonas zu finden.

Gersem Luciano Baniwa

Indigene Völker und indigene Bewegungen im heutigen Brasilien

Übersetzt von Cornelius Kibelka

Die indigene Bevölkerung bildet eine beeindruckende soziokulturelle und ethnische Vielfalt in Brasilien. Derzeit leben in Brasilien 810.000 Indigene, die sich 265 verschiedenen Völkern zugehörig fühlen, 180 verschiedene Muttersprachen ihr Eigen nennen können und in über 3.000 Dörfern in Brasilien verstreut leben. Zudem sind sie in mehr als 1.000 unterschiedlichen Gemeinschaften und Gruppen organisiert. Fakt ist jedoch, dass ihre Vielfalt im Laufe der brasilianischen Kolonisierungsgeschichte wesentlich abgenommen hat, waren es doch im Jahr 1500 noch mehr als 1.500 Völker mit mehr als 1.000 verschiedenen indigenen Sprachen.

Die noch überlebenden Völker können sich rühmen, eine Kehrtwende in der Bevölkerungsentwicklung bewirkt zu haben. Mitte der 1970er Jahre betrug die Zahl der Indigenen nur noch rund 200.000 von geschätzten ursprünglichen fünf Millionen im Jahre 1500. Zu dieser Zeit bestand die feste Überzeugung, dass die indigene Bevölkerung am Aussterben sei. Diesem Prozess versuchte der Staat durch ein Gesetz zur Emanzipation der Indios entgegenzuwirken, das ihnen alle Bürger_innen-Rechte zugestand.

Über Jahrhunderte hinweg haben die Indios Gewalt, Sklaverei und Vernichtung erfahren. Ihre Territorien wurden durch die europäischen Kolonisten besetzt und beraubt, ihre Kultur verfolgt, geleugnet und verboten. Und dennoch: Trotz aller Prophezeiungen und erlittener Massaker besteht die indigene Bevölkerung auch heute noch. Sie ist nicht der Vergangenheit zuzuschreiben, sondern ist gegenwärtiger denn je, macht einen durchaus bemerkenswerten Teil der brasilianischen Gesellschaft aus (0,4 Prozent) und trägt durch ihre kulturelle Vielfalt, ihre Territorien, ihr Wissen und ihre Werte dazu bei, Brasilien zu gestalten.

Die indigene Bevölkerung in den kolonialen Vorstellungen

Historisch gesehen waren die Indios stets Objekte verschiedener Vorurteile und Stereotype seitens der nicht-indigenen Bevölkerung Brasiliens. So wurde beispielsweise aus der Perspektive europäischer Kolonisten und Geistlicher zunächst angezweifelt, dass Indios eine Seele besäßen. Es wurde infrage gestellt, ob sie überhaupt zur menschlichen Rasse gehörten. Die Art und Weise, wie die ›Weißen‹ die Gesamtheit der Urbevölkerung sahen und teilweise weiterhin sehen, basiert auf einer dominierenden ethno- und eurozentrischen Weltsicht. Durch das damit zusammenhängende westliche Verständnis von Geschichts- und Kulturentwicklung hält ein Teil der brasilianischen Gesellschaft die indigene Bevölkerung auch weiterhin für eine niedere Lebensform, deren einzige Perspektive es sei, sich in die globale Zivilisation zu integrieren und sich zu assimilieren. Solche Vorurteile erwachsen im Wesentlichen aus Unkenntnis, die überwunden werden muss. Eine Welt, die sich selbst als modern und zivilisiert erachtet, kann nicht ohne eine kulturelle und ethnische Demokratie leben.

Die verschiedenen kolonialen Vorstellungen über die indigenen Völker können vereinfachend in zwei Stränge zusammengefasst werden: Der erste bezieht sich auf eine romantische Sicht und entwirft die Indios als naturverbundene Beschützer von Flora und Fauna, die in ihrer naturwüchsigen Naivität unfähig sind, die Welt der ›Weißen‹ mit ihren Regeln und Werten zu verstehen. Der zweite bezieht sich auf ein Bild des barbarischen Indios, des Menschenfressers, Wilden, Faulen und Hinterlistigen. Vor allem letztere Vorstellung wird immer noch von Akteuren mit wirtschaftlichem Interesse an den indigenen Gebieten und ihren zahlreichen natürlichen Rohstoffen aufrechterhalten. Die Indios werden als Hindernis für eine wirtschaftliche Entwicklung des Landes dargestellt, wenn sie die ungerechte kapitalistische Ausbeutung nicht akzeptieren und keinen materialistischen Lebensstil führen.