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Anna Bechstein reist in ihrem Winterurlaub in die Nähe des Ostseebades Kühlungsborn und nimmt mit Begeisterung an einem Schriftstellerseminar teil. Während sie ihre freie Zeit an der stürmischen See verbringt und eine neue Liebe findet, ahnt sie nicht, bereits seit Monaten im Focus eines Mannes zu stehen, der von ihr fasziniert ist. Im Strudel seiner wechselnden Emotionen gerät Anna in ungeahnte Gefahr.
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Seitenzahl: 400
Veröffentlichungsjahr: 2022
Anna Bechstein reist in ihrem Winterurlaub in die Nähe des Ostseebades Kühlungsborn und nimmt mit Begeisterung an einem Schriftstellerseminar teil. Während sie ihre freie Zeit an der stürmischen See verbringt und eine neue Liebe findet, ahnt sie nicht, bereits seit Monaten im Focus eines Mannes zu stehen, der von ihr fasziniert ist.
Im Strudel seiner wechselnden Emotionen gerät Anna in ungeahnte Gefahr…
„So wie Du es machst, ist es richtig!“
In liebevoller Erinnerung an meinen Vater, der mir diese Lebensleitlinie mit auf meinen Weg gab
Die Handlung ist frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Begebenheiten oder mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.
Prolog
5. Februar
6. Februar
7. Februar
8. Februar
9. Februar
10. Februar
11. Februar
17. Februar
26. Februar
14. März
23. Mai
24. Mai
25. Mai
26. Mai
An diesem Abend musste er besonders umsichtig sein. Er konnte es sich nicht leisten, irgendetwas in der Vorbereitung für den morgigen Tag zu übersehen. Heinz Gerber sah auf die Armbanduhr an seinem Handgelenk, deren Ziffernblatt vor seinen immer schlechter werdenden Augen verschwamm. Das Metallarmband klapperte leise. Er kniff die Augen zusammen und stellte fest, dass es irgendetwas nach halb elf Uhr abends war. Ächzend zog er eine dick gesteppte Jacke an, griff nach dem bereitstehenden Plastikkanister und verließ die Wohnung.
Im Treppenhaus war es dunkel und still. Er lauschte einen Moment. Manchmal ging sein Nachbar mit dem Hund um diese Zeit noch einmal raus, aber in der Wohnung nebenan regte sich nichts. Dennoch setzte Gerber seine Schritte ohne ein Geräusch auf die Stufen. Umständlich öffnete er mit dem Ellenbogen die hölzerne Haustür und schob sie auf. Von draußen schlug ihm eisiger Wind entgegen. Er zog den Kragen seiner Jacke bis zum Kinn hinauf und lief mit kurzen Schritten in Richtung des Parkplatzes. Gerber sah sich um. Hoffentlich fuhren die Streufahrzeuge nachts oder wenigstens am frühen Morgen.
Der achtzehn Jahre alte BMW stand nur wenige Meter vom Hauseingang entfernt hinter einer maroden Litfaßsäule. Er hatte ihn von einem ehemaligen Kollegen abgekauft, der nur einen Freundschaftspreis dafür haben wollte, weil der Wagen alt und der Lack stumpf und unansehnlich geworden war.
Auf äußerliche Schönheiten legte Gerber generell keinen Wert. Hauptsache, der Wagen fuhr. Es würde richtig sein, das Frostschutzmittel noch vor der Nacht in den Wassertank zu füllen und zusätzlich die Windschutzscheibe gegen Frost zu präparieren. Der Wetterbericht hatte Minusgrade weit unter null vorausgesagt. So wie es aussah, würden die Meteorologen Recht behalten. Sollte er die Autoscheiben in der Frühe womöglich erst von einer dicken Eiskruste freikratzen müssen, brächte dies seinen Zeitplan mit Sicherheit durcheinander.
Gerber öffnete die Motorhaube und hob stöhnend den Kanister hoch. Vorsichtig goss er die bläulich schimmernde Flüssigkeit ein. Sein Blick glitt durch den Motorraum. Er suchte nach Auffälligkeiten, die seine Reise in Frage stellen könnten, aber alles schien in Ordnung zu sein.
Mit einem Ölverschmierten Lappen wischte er die Reste der Flüssigkeit fort und schraubte den Deckel sorgfältig auf. Die Motorhaube fiel mit blechernem Knall zu. Dumpf hallte das Geräusch von den Wänden der Altbauten zurück. Verstohlen sah Gerber an den Fensterfronten entlang. Im Kofferraum wusste er eine zerschlissene Wolldecke. Er nahm sie heraus, faltete sie umständlich auf, öffnete die Fahrertür und stopfte einen Teil des dicken Stoffes in den leicht geöffneten Türspalt. Den anderen Teil schob er umständlich mit beiden Händen hoch über die Windschutzscheibe. Als er die Tür zu drückte, fiel die Decke sofort schwer auf den Wischerblättern zusammen. Es war immer der gleiche nervige Akt.
Nach zwei weiteren Versuchen und einigen derben Flüchen, gelang es ihm, die Deckenkonstruktion endlich festzuklemmen. Seine Finger fühlten sich wie abgestorben an. Er ballte sie zur Faust, führte sie zum Mund und hauchte mehrmals. Frierend griff er nach dem Kanister und verließ den Platz in Richtung der offenstehenden Haustür.
Wieder einmal plagte Gerber eine unangenehme Kurzatmigkeit, die ihn neuerdings bereits bei der geringsten Anstrengung befiel. Er entschied sich, den Fahrstuhl zu benutzen, obwohl seine Wohnung in der ersten Etage lag. Gerber stieg ein und lauschte dem Rattern der sich in Bewegung setzenden Kabine.
Obwohl er mit 57 Jahren noch nicht alt war, verzichtete er gern auf die körperliche Anstrengung des Treppensteigens. Er sah auf seine Füße hinunter. Der braune Filz seiner Hausschuhe hatte den tauenden Schnee aufgesaugt und verwandelte den dicken Stoff in ein nasses Fußbett.
Stirnrunzelnd murmelte er vor sich her, dass es besser gewesen wäre, wenn er sie gegen Straßenschuhe getauscht hätte. In seiner Wohnung schleuderte er die durchweichten Latschen fort, streifte die mit Eiskristallen verklebten Socken ab und warf sie achtlos in den Flur. Die Hosensäume seiner Jogginghosen stießen unangenehm kalt auf die nackten Füße, während er zur Küche lief.
Angesichts des draußen herrschenden Frostes erschien ihm diese warm, obwohl er die Heizung sparte. Gerber zündete sich hastig eine Zigarette an und tat einen tiefen Zug. Mit geschlossenen Augen blies er den Rauch in den Raum. Graublaue Schwaden waberten in Richtung Zimmerdecke. Er dachte nach. Bei den herrschenden Wetterverhältnissen konnten die knapp 300 km bis zu seinem Ziel durchaus einige Stunden Fahrtzeit bedeuten. Er betrachtete mit einem Auge die geriffelte Thermoskanne auf dem Tisch. Gleich morgen früh würde er sie mit starkem Kaffee füllen. Das Fahren würde anstrengend sein und seine ganze Konzentration erfordern.
Er besaß kein Navigationsgerät und musste mit der Karte auf dem Beifahrersitz klarkommen. Das Koffein würde ihn beleben. Neben der Thermoskanne stand sein aufgeklappter Laptop.
Schon mehrfach hatte er sich die Fahrtroute bis Kühlungsborn angesehen und war mit den Fingern die verbleibenden Landstraßen entlanggefahren. Dennoch hatte er die wichtigsten Abzweigungen auf einen Zettel geschrieben, den er am Morgen auf die Armatur kleben würde.
Er fühlte sich durchgefroren. Schaudernd hockte er auf dem vergilbten Küchenstuhl, dem die Lehne fehlte, und rauchte drei Zigaretten nacheinander. Endlich ließ das
Zittern seiner Hände nach. Mit gelben Fingerspitzen drückte Gerber die Glut im Aschenbecher aus, setzte die nackten Füße auf die kalten Fliesen und stakte auf den Hacken in sein Schlafzimmer. Das Bettzeug lag noch genauso da, wie er es am Morgen zurückgelassen hatte. Er gähnte laut und stellte den Wecker auf sieben Uhr.
Auf dem Fußboden neben dem Kopfende des Bettes stand eine große Reisetasche. Sie war noch nicht ganz fertig gepackt. Das wichtigste Utensil, sein altes, schwarzes Fernglas, stand noch auf dem Fensterbrett. Wenn er auch alles Mögliche vergessen würde, das Fernglas jedenfalls nicht.
Gerber legte sich lang ausgestreckt auf das Bett. Er schloss die Augen und durchdachte noch einmal seinen Plan, ehe er darüber einschlief.
Anna frühstückte, spülte das restliche Geschirr und lief noch ein letztes Mal durch ihre Wohnung. Die Stecker der elektrischen Küchengeräte lagen auf der marmorierten Arbeitsplatte. Sie drehte den Wasserhahn der Waschmaschine im Bad zu, vergewisserte sich, dass alle Fenster geschlossen waren und betrat das Wohnzimmer. Ihr roter Rollkoffer stand fertig gepackt vor dem Sofa. Sie zog den Reißverschluss des Koffers zu und trug ihn mit schiefer Hüfte bis zur Wohnungstür.
Anna warf sich einen kleinen braunen Rucksack über die Schulter. Sie fand ihn praktischer als eine Handtasche, deren Henkel immer wieder herunterrutschten. Mit einem zufriedenen Nicken schloss sie die Wohnungstür. Der Koffer war schwer, aber mehrere Tage mitten im Winter an der See, verlangten einiges an Kleidung.
Ohne sich am lackierten Treppengeländer des alten Hauses festzuhalten, wuchtete sie ihn bis zur Haustür hinunter. Die Betonfläche der Überdachung des Carports war trocken und eisfrei. Anna öffnete den Kofferraum ihres Citroëns, warf verschiedene Stoffhandschuhe und einige leere Wasserflaschen in eine offenstehende Sporttasche und schob diese weit nach hinten. Dann hievte sie den Koffer hinein. Noch im Stehen zog sie ihren Mantel aus, legte ihn über die Lehne hinweg auf die Rücksitzbank und drückte die Kofferklappe mit beiden Händen zu. Anna ließ sich in den Sitz fallen, startete den Motor und stellte den Temperaturregler auf die höchste Stufe.
Eine dünne Strickmütze bändigte ihre braunen, halblangen Haare. Anna klickte den Stecker des Navigationsgerätes in den Zigarettenanzünder und wartete. Auf dem Display erschien ein Schriftzug mit dem Hinweis, dass kein GPS Signal zur Verfügung stand. Sie wusste, dass sie nur wenige Meter fahren brauchte, um das Signal zu empfangen. Die Freude auf die kommenden Tage wuchs mit jedem Kilometer, den sie sich von ihrem Heimatort Bad Freienwalde in Richtung Norden entfernte.
Vor etwas über einem Jahr hatte Anna den Schritt in die Selbständigkeit gewagt. Natürlich war es riskant gewesen, ihre sichere Arbeit als Bibliothekarin aufzugeben. Aber sie tat es nicht blind. Alles erwies sich weniger kompliziert, als es zunächst zu vermuten gewesen war. Neben den notwendigen behördlichen Genehmigungen war genug Zeit geblieben, um in Ruhe Einrichtungsgegenstände zusammenzusuchen und Kontakte zu kleinen Firmen aufzunehmen, die von Beginn an zu zuverlässigen Partnern wurden. Die anheimelnden Räumlichkeiten für ihr Vorhaben fand sie mit Maries Hilfe.
An einem stickigen Sommernachmittag hatte sie mit zwei tropfenden Eiswaffeln vor Annas Wohnung gestanden und in geheimnisvollem Ton berichtet, dass sie ihr dringend etwas zeigen müsse. Nach den Sanierungen der letzten Jahre fügten sich die vielfach vorhandenen Fachwerkbauten optisch wunderbar in das Gesamtbild der Kurstadt ein und verliehen dem Ort einen idyllischen Charme. Das Haus, vor dem Marie schließlich stehengeblieben war, hatte noch keine Sanierung erfahren, bot aber im Inneren mehrere Räume. Anna kannte es.
Schon oft war sie daran vorbeigelaufen. Ungläubig hatte sie den Worten ihrer Freundin gelauscht, dass sie wüsste, wem das Haus gehörte und sich bereits um einen Termin mit der Besitzerin gekümmert habe. Umso freudiger war die Überraschung, als sie erfuhr, dass das Haus Maries Oma gehörte, bei der sie schon seit ihrer Kindheit ein und ausging. Bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen waren sie sich noch am selben Nachmittag über einen Vertrag einig geworden. Von dieser Stunde an existierte Klarheit darüber, dass Anna ihrem Traum ein großes Stück nähergekommen war.
Nur wenige Wochen später begannen die Bauarbeiten. Zur Eröffnung schenkte Marie Anna eine Zeichnung, die durch eine einzigartige Schlichtheit bestach.
Die Dünenlandschaft wirkte so lebendig, als könnte man den Wind pfeifen hören. Es bekam einen Platz an der schilfgrünen Wand neben dem Büro. Weil es auffiel, wollten die Gäste oftmals wissen, ob die Zeichnung alt war, wo das Motiv lag, wer der Künstler sei. Um den Fragen begegnen zu können, hatte Anna sich im Spätherbst einen freien Nachmittag gegönnt.
Sie wanderte von dem idyllisch gelegenen Ort Falkenberg durch den herbstlichen Wald hinauf bis zur Carlsburg, auf dem Kegel des Paschenberges. Die erdig riechende Luft war herrlich gewesen. Ganz in Ruhe wollte sie sich Zeit nehmen, um auszuspannen und nebenbei Recherchen um die aufsehenerregende Zeichnung zu betreiben.
Anna hatte einen Ecktisch auf der Terrasse gewählt. Das Restaurant besaß seit jeher einen unverwechselbaren Charme. Der Ausblick auf die tieferliegende Landschaft war fantastisch. Ihr Blick war über die bunten Baumwipfel geglitten, um dem Verlauf der Landschaft zu folgen.
In der Ferne konnte sie das Schiffshebewerk Niederfinow ausmachen. Während sie auf ein Glas Johannisbeerschorle wartete, recherchierte sie mit ihrem Handy nach dem Maler. Seine Signatur hatte Anna in der rechten unteren Ecke der Zeichnung entdeckt. Ludwig Steinhöfer schien ein bekannter Maler zu sein. Schon bald richtete sich Annas Aufmerksamkeit auf einen längeren Artikel, den er verfasst hatte.
Unter dem Titel >Farbenschrift< bot er mehrtägige Seminare für Leute an, die ihre Freizeit dem Schreiben widmeten. Aufmerksam las sie den Artikel durch und schrieb eine Nachricht. Wie lange war es her gewesen, dass sie einmal nur etwas für sich getan hatte. Die unerwartete Möglichkeit, ihrem Urlaub eine besondere Note zu geben, hatte sie frohgestimmt. Noch am selben Abend erhielt Anna eine Antwort. Er teilte mit, dass im Februar des kommenden Jahres freie Kapazitäten für das Winterseminar vorhanden seien. Dass das Seminar in der Nähe des schönen Ostseebades Kühlungsborn stattfinden würde, war doppeltes Glück. Sie liebte den eisigen Wind, das Rauschen des Meeres und die Schreie der Möwen.
Und nun, fünf Monate nach diesem Septembertag, war es soweit. Der Citroën surrte ruhig über die Straße. Anna klappte den Sonnenschutz herunter und kniff die Augen zusammen. Die Fahrbahn glitzerte frostig im gleißend hellen Licht der Sonne. Im Radio erklangen Oldies.
Sehr früh am Morgen desselben Tages drehte Gerber die Heizung seines Autos voll auf und strich mit einer Hand über die Armatur. Es wäre eine Katastrophe gewesen, wenn es ausgerechnet jetzt seinen Geist aufgegeben hätte. Glücklicherweise war es mit dem ersten Startversuch angesprungen und die Frontscheibe wies nur wenige eisverkrustete Stellen auf. Die Mühe mit der Wolldecke hatte sich gelohnt. An der letzten Ampel des Ortes, die dafür bekannt war mit langen Rotphasen aufzuwarten, musste er halten. Gerber verstellte den Rückspiegel und sah hinein.
Der Fahrer eines hinter ihm stehenden dunklen Golfs telefonierte. Auf der Rücksitzbank drängten sich drei blonde Kinder, die sich wechselseitig etwas zuzuwerfen schienen. Er sah, wie der offensichtlich genervte Mann mit einer heftigen Geste reagierte, und sich die Kinder in den Sitz zurückfallen ließen. Selbst schuld, dachte er grinsend.
Im Wagen vor ihm betrachtete sich eine blonde Frau im Spiegel. Gerber konnte sie recht gut erkennen und hoffte, dass sie seinen direkten Blick nicht wahrnahm.
Er erinnerte sich an den Tag, an dem er seine Kündigung erhalten hatte. Er wäre für das Taxiunternehmen nicht mehr tragbar, teilte man ihm mit. Mehrere Beschwerden, vornehmlich weiblicher Fahrgäste, würden eine weitere Zusammenarbeit mit ihm ausschließen. Eine Kundin hatte dem Chef schriftlich zuteilwerden lassen, sie habe Hitzewallungen erlitten, weil Gerber ihr angeblich ständig auf die Brüste gestarrt hätte und sie dadurch sogar in Gefahr gekommen sei. Seine Anmerkung, die Dame habe auf dem Schoß einen Chihuahua gehalten, der in einer Tour gekotzt habe, blieb ungehört. Gerber erhielt danach die erste Abmahnung. Ein anderes Mal hatte er einen unangemessenen Kommentar gegenüber einem Pärchen abgegeben, das ihre Verliebtheit fast bis zum Höhepunkt auf der Rücksitzbank ausgelebt hätten. Da er vergessen hatte das Funkgerät auszustellen, konnten seine Worte über die Zentrale mitgehört werden. Er hatte das Gefühl, dass es dem Chef entgegengekommen war, ihm fristlos kündigen zu können. Das innerstädtische Geschäft war ohnehin schlecht gelaufen, nachdem für die Patienten der Kurklinik ein Shuttlebus eingerichtet worden war, der mehrmals am Tage fuhr. Mittlerweile war es Gerber egal. Es lebte sich auch ohne Arbeit ganz gut.
Er bestritt seinen Tagesablauf fast ausschließlich in der Wohnung und verließ diese nur, wenn er es als absolut notwendig ansah. Er hatte keine Lust auf irgendwelche Konversationen und mied es, die Läden in der kleinen Einkaufsstraße des Ortes zu nutzen. Was er benötigte, bekam er im Supermarkt, in dem es kurz vor Feierabend fast menschenleer war. Er brauchte sowieso nicht viel. Aber alles würde nun anders werden.
Angesichts seines Vorhabens, das so ganz anders war als alles, was er normalerweise tat, war er einige Wochen zuvor in die nächst größte Stadt gefahren. Dort hatte er verschiedene Geschäfte nach passabler Kleidung durchstöbert. Es war an der Zeit, dass er seine abgetragenen Hosen und Shirts tief im Schrank vergrub.
Ganz ohne Schwierigkeiten war sein Einkauf allerdings nicht abgelaufen. Es war nicht einfach, etwas Passendes für seine Körpergröße und Figur zu finden, dass ihn sportlicher und attraktiver erscheinen ließ, als er war. Genau das strebte er allerdings an. Einen Billigladen verließ er schlecht gelaunt, weil ihm die blutjungen Verkäuferinnen Sachen brachten, die für Männer über 1,80 Metern geeignet waren und sich halb kaputtlachten, als er es bemerkte. In der Kabine ließ er seinen Ärger an den Kleidungsstücken aus, indem er sie mit einem kleinen Taschenmesser anschlitzte. Die beiden würden das erklären müssen. Blöde Puten, hatte er dabei geflüstert. Als er ging, war er in der Tür stehengeblieben und hatte gerufen, dass wahre Größe nicht in gemessenen Zentimetern steckte und sie das auch noch lernen würden.
Irgendwann war es der engagierten Verkäuferin einer teuren Boutique gelungen, ein ganz passables Outfit zu finden, auch wenn es sein Konto mehr belastete, als er es vorgehabt hatte. Es war schon etwas Besonderes, dass er solche Mühe auf sich nahm. Aber er war fest entschlossen, seinem Leben eine Wendung zu geben, und dazu gehörte, dass er sich nach außen hin anders präsentieren musste.
Als die Ampel auf Grün sprang, drückte er seinen Rücken durch und gab Gas.
Gedankenverloren fuhr er bis zur Auffahrt der A 20, die ihn in Richtung Ostsee führen würde, fädelte sich ein und fuhr auf der rechten Spur weiter. Er musste die Abfahrt Kröpelin nehmen, um nach Kühlungsborn zu gelangen. Von dort aus war es nicht mehr weit bis zu seinem Ziel. Der angekündigte Rastplatz kam ihm gerade recht. Er musste akzeptieren, dass sich mit zunehmendem Alter auch manches Körperliche änderte. Flimmernde Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen.
Gerber war es nicht mehr gewohnt, lange Strecken zu fahren. Das Flimmern war ein deutliches Zeichen, dass er dringend eine Pause brauchte. Außerdem verlangte seine Lunge nach einer Zigarette und zu guter Letzt brachte sich seit einer halben Stunde seine Blase in Erinnerung. Er bog ab und kam in einer begehrten Parklücke nahe dem Eingang der Raststätte zum Stehen.
Gerber kroch stöhnend aus seinem Auto. Er trank einen Becher Kaffee. Da der BMW keine Zentralverriegelung besaß, drehte Gerber den Schlüssel im Schloss, bis es klickte. Die muskelverspannten Gliedmaßen zogen unangenehm. Er hörte das Knirschen zwischen den Halswirbeln. Man hatte ihm einmal gesagt, dies seien Lufteinschlüsse, die sich lösen würden, aber er wusste, dass seine Wirbelkörper aufeinander rieben.
Seine Blase drückte inzwischen wahnsinnig. Da er es grundsätzlich vermied, auf hoch frequentierte, öffentliche Toiletten zu gehen, irrte sein Blick suchend umher. Mit den Händen in den Hosentaschen schlenderte Gerber ein Stück am porösen Maschendrahtzaun entlang. Dann drehte er sich mit dem Rücken zu einigen, scheinbar verlassenen Autos. In dem Gefühl, unbeobachtet zu sein, erleichterte er sich unter dumpfen Stöhnen direkt neben einem Dixi Toilettenhäuschen. Als er fertig war, richtete er seine Sachen und registrierte im Augenwinkel eine kopfschüttelnde Frau, die ihm bei heruntergelassener Autoscheibe ihr Unverständnis zu dieser Aktion deutlich mit dem Mittelfinger zeigte. Er ignorierte sie.
Wenig später angelte er aus der Ablage der Wagentür eine Packung Feuchttücher. Er wischte sich die Hände ab und griff zu seinem Handy. Unentschlossen drehte er es herum und steckte es mit dem Gedanken, dass Vorfreude bekanntlich die schönste Freude sei, wieder ein.
Er stieg ein, ließ den Motor an und wartete den Strom der Fahrzeuge ab, die sich in Richtung Autobahnauffahrt bewegten.
Gerber benötigte seine ganze Aufmerksamkeit, um sich in den schnell fließenden Verkehr einzuordnen. Dicke, schwere Schneeflocken setzten die Windschutzscheibe in kürzester Zeit zu. Schwerfällig schoben sich die Wischerblätter über das Glas. Gerber fuhr deutlich zu schnell.
Erst, als der BMW nach einem Überholmanöver leicht schleuderte, musste er sich eingestehen, dass die Distanz zu seinem Ziel dieselbe bleiben würde, ob er nun raste oder nicht. Er nahm den Fuß vom Gas. Was hatte er davon, wenn er nicht ankam.
Etwa eine dreiviertel Stunde später passierte der BMW das Ortseingangsschild der kleinen Gemeinde am Meer.
Seine ausgewählte Pension hieß „Schwalbeneck“. Die reetgedeckte Villa stand nur einen Steinwurf von den Dünen entfernt und er fand sie leicht. Gerber lenkte den Wagen durch ein großes, weit geöffnetes Tor in den Innenhof des Gasthauses. Ein rotweiß gestreiftes Flatterband spannte sich zwischen Tor und Hauswand entlang. Es verhinderte das Parken auf den für Gäste ausgewiesenen Stellflächen. Gerber beugte sich vor, spähte durch die Windschutzscheibe nach dem Grund der Sperrung und erblickte bedrohlich großgewachsene Eiszapfen. Schwer lasteten sie an der prachtvoll verzierten Holzumrandung des Hauses.
Kritisch sah er sich um und setzte den BMW rückwärts in eine Parklücke zur hausabgewandten Seite. Ein Schild wies ausschließlich die Nutzungsberechtigung für den Lieferbetrieb aus. Zumindest zum Einchecken bleibe ich stehen, dachte er. Dort musste er wenigstens nicht befürchten, dass das Auto Schaden nehmen würde.
Gerber zog seine Jacke an und ging mit schnellen Schritten auf die Eingangstür zu. Auf einen Schiefer prangte die Kreidezeichnung einer blauschwarze Schwalbe. Sie trug auf ihrem Rücken den Namen der Pension. Gerber drückte die Klinke herunter, trat in den dunklen Flur und ließ die Tür hinter sich zufallen.
Anna sog lächelnd den unverwechselbar typischen Geruch von Meer und Salz ein. Dicke Schneeflocken blieben auf der warmen Motorhaube liegen und verwandelten sich zu feinen Rinnsalen. Sie angelte sich ihren Mantel vom Rücksitz, zog ihn fröstelnd über und griff in die Seitentür, um ihre Papiere herauszunehmen. Was sie fand, war eine zusammengefaltete Pappschachtel, mehrere leere Blätter Papier und eine Parkscheibe.
Die Fahrt hatte länger gedauert, als es das Navigationsgerät ursprünglich berechnet hatte. Die letzten fünfzig Kilometer musste sie mit stark gedrosseltem Tempo fahren. Außerdem war die Bundesstraße lange nicht so gut geräumt gewesen, wie die Autobahn.
Sie betrachtete das Gebäude und ging in Richtung des Einganges. Lautlos glitten die Glastüren auseinander. Anna unternahm auf borstigen Matten rasch den Versuch, klebrigen Schneematsch unter ihren Stiefeln loszuwerden. Drinnen roch es nach frischer Wandfarbe und einem feinen Hauch von Chlor.
Sie sah sich suchend um, ging dann ein paar Schritte und legte wartend die Unterarme auf den Rezeptionstresen.
Einige bunte Ansichtskarten steckten unter eine Glasplatte. An der Wand hingen mehrere Plakate. Eines zeigte einen übergroß fotografierten Busfahrplan, auf dem zweiten wandte sich eine Schlange um eine fast nackte Tänzerin in einem bunt glitzernden Kostüm. Das dritte Plakat zeigte eine Luftaufnahme von der Stadt Kühlungsborn und Umgebung. Jemand näherte sich mit raschen Schritten. Noch bevor sich Anna umdrehen konnte, wurde sie herzlich begrüßt.
„Frau Bechstein?“
Eine große, freundliche Frau mit Lachfalten an den Augen kam auf Anna zu.
„Das bin ich, ja!“ Entschuldigend, aber mit einem Lächeln, hob Anna die Schultern. „Eher Pechstein, wenn ich sehe, dass ich fast eine Stunde zu spät komme. Woher wussten Sie das?“
„Ach, man erwirbt sich mit der Zeit einen Blick für Leute! Natürlich hätte ich mich auch irren können.“
Sie lachte auf. „Schön, dass es wieder einmal geklappt hat!“ Zwinkernd fügte sie hinzu „Und zum Zuspätkommen kann ich nur sagen, bei diesem Wetter sollte man lieber sicher ankommen, als gar nicht. Man hat mir schon gesagt, dass noch jemand erwartet wird. Sie sahen einfach so aus, als würden Sie dieser jemand sein.“ Sie lächelte und machte eine schnelle Handbewegung in Richtung des Flures.
„Sie haben einen guten Instinkt!“ Anna nickte anerkennend.
Die Frau warf einen Blick auf ihre Armbanduhr.
„Die Begrüßungsrunde für das Seminar hat schon begonnen. Es ist übrigens das Einzige im Moment. Da lässt es sich unsere Hausdame nicht nehmen, diese selbst durchzuführen. Sie hat immer Angst, dass die Gäste sich nicht zurechtfinden. Dabei ist dieses Landhotel wirklich nicht groß. Ich begleite Sie rasch und danach erledigen wir den Papierkram.“
Anna räusperte sich.
„Mir ist das sehr peinlich, aber irgendwie kann ich meine Unterlagen nicht finden. Ich hoffe nur, dass ich sie beim Auto aufräumen nicht entsorgt habe!“ Eine leichte Röte zog über ihre Wangen, denn sie räumte das Auto nur sehr selten auf. Jutta Weber bedeutete Anna mit einer Handbewegung, dass dies kein Problem sei und sie ihr folgen möge. Es roch nach neuem Teppichboden.
Anna zog noch im Laufen ihren Mantel aus und legte ihn sich über den Arm. Zwei Gänge weiter drückte Jutta Weber leise die Türklinke einer großen Doppeltür herunter. Sie deutete auf einen Tisch in der Mitte des Raumes, an dem der einzig freie Stuhl stand. Anna hasste es, zu spät zu kommen. Sie war lieber eher da, um sich die eintreffenden Leute anzusehen, als selbst gemustert zu werden.
Ein beleibter Mann mit Glatze war gerade dabei, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Er reckte den Hals, sah Anna auf sich zukommen und steckte das Tuch rasch in die Tasche seiner Weste. Ein breites Grinsen überzog sein Gesicht. Ihr verspätetes Eintreffen bescherte Anna zusätzlich die neugierigen Blicke von ungefähr fünfzehn Personen unterschiedlichen Alters.
„Na, nun scheinen wir ja vollzählig zu sein. Ich begrüße Sie!“ Am Fenster stand eine Frau, die eine ausgeprägte Couperose im Gesicht aufwies. Sie unterbrach ihre Rede und wandte sich Anna überschwänglich lächelnd zu. Gleich darauf las sie mit hoher Stimme weiter von einem Zettel ab. Anna hängte ihren Rucksack über die Stuhllehne und setzte sich. Der Mann drückte seinen massiven Bauch an die Tischkante.
„Welch Licht in dieser Hütte!“ Er zwinkerte.
Der Raum war überheizt. Ein unangenehmer Schweißfilm breitete sich fächerartig unter ihrem Pullover aus, formte kleine Tropfen, die in Zeitlupentempo zu rollen begannen und einen juckenden Film auf der Haut hinterließen. Anna hatte das große Bedürfnis, das Kribbeln an ihrem Hosenbund wegzustreichen. Kaum sichtbar presste sie ihren Rücken fest an die Stuhllehne. Die Rednerin blickte über den Rand ihrer übergroßen Brille und hob die Stimme.
„So bitte ich Sie also, mir zu folgen, während ich Ihnen einen Rundgang durch unser schönes Hotel biete. Sie werden staunen, was es alles zu entdecken, und vor allem, zu nutzen gibt!“ Stolz wies sie mit der Hand zur Tür.
Anna wollte warten, bis die meisten sich aus der Tür geschoben hatten, aber der Dicke war bereits aufgestanden.
„Bitte, gehen Sie voran!“ Er streckte seinen Arm aus.
Natürlich, dachte sie. Damit du mir auf den Hintern starren kannst. Sie tat missmutig einen Schritt zur Seite, zog ruckartig den Mantel von der Lehne, drehte sich um und lief vor ihm her.
Auf dem Flur wich er nicht von Annas Seite. Er machte keine Anstalten, seine bewundernden Blicke zu verbergen und musterte sie von oben bis unten.
„Schön wie der Frühling!“ Erneut rieb er sich mit dem zerknüllten Stofftaschentuch seine schwitzende Stirn ab. „Ich war schon oft bei einem Seminar. Man lernt sehr schnell nette Leute kennen. Ich möchte mich ja auch nicht aufdrängen, aber halten Sie sich ruhig an mich, wenn Sie mögen. Ich kann Ihnen in vielerlei Hinsicht so manchen heißen Tipp geben, nicht nur über Buchstaben und Satzzeichen. Im Übrigen bin ich Rolf.“ Sein keckerndes Lachen endete mit einem schnarch ähnlichen Ton.
Sie blieb ihm die Antwort auf sein Angebot schuldig und stoppte abrupt. Auf der Stelle machte sie kehrt und drängte sich an einer grell geschminkten Frau vorbei, die fast mit ihr zusammenstieß.
Schon von weitem sah Anna den Mann seitlich neben dem Tisch stehen, an dem sie noch vor einer Minute gesessen hatte. Dichtes, schwarzes Haar umrahmte sein Gesicht.
Er legte den Kopf etwas schief und betrachtete den kleinen Anhänger an der Außentasche ihres Rucksackes.
„Hey, das ist meiner!“ Anna trat schimpfend an ihn heran. „Oh, entschuldigen Sie! Ich wollte den kleinen Kameraden gerade fragen, wer ihn vergessen hat.“ Mit einem Finger zeigte er auf das schaukelnde braunweiße Kuscheltier.
„Ich habe ihn wohl in der Eile hängenlassen.“ Ihre Stimme klang etwas sanfter. Er nickte kurz, ließ den Blick durch den Raum schweifen und bemerkte, dass Anna ihn beobachtete. In seiner Hand lag ein dickes Schlüsselbund. Er hob es empor und deutete zur Tür.
„Also, falls Sie gedacht haben, dass ich vielleicht professioneller Hinterherräumer bin, muss ich Sie enttäuschen. Und jetzt muss ich zuschließen!“ Er wartete, bis sie den Raum verlassen hatte, schloss ab und wandte sich ihr zu.
„Ich habe mitbekommen, dass Sie zur neuen Gruppe gehören und hätte den kleinen Hund samt Rucksack gleich zur Aufbewahrung an die Rezeption gebracht. Hier kommt nichts weg!“
Anna fühlte aufsteigendes Unbehagen. Sie wusste nicht, warum sie ihn so schroff angefahren hatte.
„Ich wollte Sie nicht für irgendetwas beschuldigen, falls Sie das denken! Dankeschön!“ Ihre Wangen nahmen Farbe an. Er nickte und wechselte das Thema.
„Wo wohnen Sie?“
Erstaunt hob Anna ihre Augenbrauen. „Na hier im Haus doch, hoffe ich! Ich bin etwas zu spät gekommen, weil das Wetter unterwegs immer schlechter geworden ist.“
„Dann werde ich Sie mal an die Hand nehmen, damit Sie ein weiches Bett bekommen.“ Er grinste angesichts ihres fragenden Blickes und verbeugte sich. Spinner, dachte Anna besänftigt. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Schmunzeln aus. Ihrer Schätzung nach mochte er ungefähr im selben Alter wie sie selbst sein, höchstens allerdings drei Jahre älter, dachte sie. Im Mai würde sie ihren dreißigsten Geburtstag feiern. Er begleitete sie bis zum Tresen und schielte auf den Monitor der Überwachungskamera.
Anna spürte einen kleinen Stupser an ihrem Arm.
„Wo sind Ihre Koffer?“ Er flüsterte, führte einen Finger zu seinen Lippen und legte ihn leicht darüber. Er deutete mit einem Nicken zu Jutta Weber, die gerade angestrengt auf den Bildschirm des in die Jahre gekommen Computers sah. Ein zweiter Bildschirm zeigte den Eingangsbereich und die halbrunde Zufahrt. Anna flüsterte ebenfalls.
„Mein Auto steht direkt vor der Tür. Darin sind echt etliche Koffer verstaut!“
Er grinste breit. „Soll ich sie holen?“
Anna sah ihn mit schief gelegtem Kopf an und drückte ihm die Schlüssel des Citroëns in die Hand. In normaler Lautstärke bemerkte er schließlich „Eingeschneit! Ich fahre das Auto gleich hinunter in die Tiefgarage. Vertrauen Sie mir?“
Sie musterte nochmals abschätzend sein Gesicht. „Als Hinterherräumer schon!“ Ihr Mund verzog sich zu einem Grinsen.
„Zieh dir was an, Micha!“, befahl Jutta Weber plötzlich unerwartet laut und streng. Sie hatte die kleine Konversation durchaus vernommen. Aufmerksam blickte sie über den oberen Rand ihrer weinroten Lesebrille und schmunzelte. Micha tippte mit zwei Fingern seitlich an seine Stirn.
„Mach ich!“ Dann lief er um die Rezeption herum, nahm eine dick gesteppte Jacke vom Haken, die einen weißen Aufdruck trug, und lief mit festen Schritten pfeifend in Richtung Ausgang. Jutta Weber schüttelte den Kopf. Um ihren Mund spielte ein weiches Lächeln. Sie zwinkerte Anna vielsagend zu und sah ihm nach.
„Der Junge würde auch in Flipflops in den Schnee gehen und wahrscheinlich nicht mal einen Schnupfen bekommen.“ Anna musste über „den Jungen“ schmunzeln. Die beiden wirkten auf sie sehr vertraut im Umgang miteinander. „Na dann wollen wir mal!“, sagte sie und schob einen Anmeldeschein über den Tisch.
Fünfzehn Minuten später schob Anna die Tür zu einem dunklen Flur in der zweiten Etage auf. Sie ließ Micha hindurch. Er war mit ihrem Koffer und einer weiteren Tasche bepackt. Anna verkniff sich das Lachen. Eine der Taschen gehörte nicht zu ihrem Reisegepäck. Sie stellte nur das Sammelbecken für all die Dinge dar, die üblicherweise in ihrem Auto herumlagen. Auf diese Art war es wenigstens nicht allzu chaotisch und Anna konnte einen Mitfahrer mitnehmen, ohne vorher die Sitze freiräumen zu müssen. Wenn es zu viel Kram wurde, nahm sie die Tasche bei Gelegenheit zum Entrümpeln mit in ihre Wohnung.
Zum Glück war der Reißverschluss ausnahmsweise vollständig zugezogen, sonst hätte Micha womöglich die einzelnen Handschuhe, Schals, Plastikdosen, Zeitungen, angegessenen Kekse und leeren Mocca Bohnen Schachteln gesehen. Anna tastete nach einem Lichtschalter.
„Hier sind überall Bewegungsmelder!“, rief Micha. Im selben Augenblick leuchteten leicht knisternd mehrere Lichtspots in dem fensterlosen Flur auf. Anna trat dichter an die Tür mit der Nummer zwei heran. Mit spitzen Fingern schob sie eine gelbe Plastikkarte in den dafür vorgesehenen Schlitz. Ein leises Piepen ertönte. Die Tür ließ sich nur mit großem Kraftaufwand aufschieben. Anna drückte sich mit dem Rücken dagegen, wartete, bis Micha an ihr vorbei war und ließ die schwere Tür in das Schloss fallen. In diesem Moment klingelte ihr Handy. Da sie sah, dass die Nummer unterdrückt war, legte sie es neben einem hellgrünen „Willkommen“ Schild auf dem Tisch ab. Anna ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, zog anerkennend die Augenbrauen hoch und legte die Schlüsselkarte ab. An der Wand hing ein großer Flachbildfernseher. Sie zog staunend die Augenbrauen hoch.
„Der ist ja größer als meiner zu Hause!“
Micha grinste breit. Er stützte sich auf einen geschwungenen Schreibtisch.
„Gefällt es Ihnen?“
„Oh ja, es ist sehr nett.“ Sie sah sich um. Ihr wacher Blick registrierte jedes Detail. Sie drehte sich einmal um sich selbst.
„Ist etwas nicht in Ordnung?“ Er bemerkte Annas suchenden Blick.
„Ist die Couch zum ausklappen?“ Sie zeigte mit dem Finger darauf. Micha lachte, deutete mit einem Kopfnicken auf zwei weitere Türen und zwinkerte.
„Eine ist die richtige!“ Seine Stimme klang amüsiert.
„Aber Vorsicht! Frisch gestrichen!“ Er lehnte sich lässig an die Wand und sah Anna zu, die in das Bad linste.
Luxuriös glänzte eine halbrunde Badewanne in hellem Aquamarin unter mehreren Strahlern, die gedämpftes, grünblaues Licht warfen. Makellos weiße Wandfliesen wurden in etwa einem Meter Höhe durch orangefarbene, glänzende Riemchen unterbrochen. Über dem farbigen Waschtisch glitzerte ein perfekt polierter Schminkspiegel. Anna hatte diese teure Art von Spiegeln in namenhaften großen Hotelketten erwartet, aber nicht hier, in einem Landhotel. Anna pfiff leise durch die Zähne. Neugierig auf das Weitere schob sie sich an Micha vorbei, der immer noch an der Wand lehnte. Sie griff zur Klinke der zweiten Tür und sah ihn erwartend an.
„Der Lichtschalter ist rechts um die Ecke!“
Durch den halb geöffneten Spalt erkannte sie einen zweitürigen Schiebeschrank. Dunkelgrüne Leisten setzten interessant aussehende Akzente. Anna schaltete das Licht ein. Überall spiegelte sich dieser Farbton wider und hüllte die Einrichtung in ein gemütliches Ambiente.
„Ein bisschen ist es wie im Grünen Gewölbe!“, frotzelte Anna. „Sind Sie sicher, dass ich das richtige Zimmer bekommen habe?“ Kalte Winterluft strömte durch das angekippte Fenster. Die halb hochgezogenen Alujalousien gaben ein klapperndes Geräusch von sich, dass sich im Wind verstärkte.
„Ja natürlich, warum nicht? Nicht jeden trifft die Bestrafung des Lebens, wenn er mal zu spät kommt.“
Anna drehte sich lächelnd um und nickte.
„Schön, wenn es ihnen gefällt. Da haben Sie auch wirklich Glück gehabt. Das Zimmer ist gerade fertig geworden und ist bestimmt das Schönste im Moment. Ich denke, ich habe mir Mühe gegeben!“ In seiner Stimme schwang ein wenig Stolz mit. Als Anna das Fenster schließen wollte, schüttelte er den Kopf. „Sie sollten das Fenster im Schlafraum tagsüber etwas geöffnet lassen. Die Farbe riecht noch ein wenig. Sie könnten sonst eventuell schlecht schlafen und haben morgen Kopfschmerzen.“ Inspiriert von seinen eigenen Feststellungen zog er die Mundwinkel schief. „Oder wollen Sie lieber ein anderes Zimmer?“
Anna verneinte rasch, schloss die Tür hinter sich und sah ihn verstohlen an. Schwarze, lange Wimpern, dachte sie.
„Es ist alles wunderbar!“
„Ich gehe dann mal. Alles, was Sie weiterhin wissen müssen, steht in diesem Heft.“ Er deutete auf den Tisch.
„Ich bin sicher, Sie werden sich zurechtfinden.“ Mit einem Blick auf die Uhr zog er die Augenbrauen hoch. „Oh, ich denke, das sollten Sie womöglich später lesen. Jetzt bringe ich Sie erst einmal zum Abendbrot. Ich habe vorhin gehört, dass die Seminargäste heute alle zur selben Zeit zum Essen kommen sollten, weil irgendwer auch noch etwas sagen will, oder so.“ Er öffnete die Tür und hielt sie für Anna auf. Sie schob sich dicht an ihm vorbei. Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Ein leichtes Lächeln überzog Michas Gesicht und umspielte seine Lippen. „Ganz schön schwer, die Tür!“, erklärte er.
Am Restaurant verabschiedete er sich unter den Blicken anderer Gäste von ihr. Er wirkte mit einem Mal förmlich. „Haben Sie einen schönen Abend!“
Anna wollte noch etwas erwidern, aber er hatte sich bereits umgedreht und lief eilig in Richtung Hotellobby. Auf der Rückseite seiner Jacke stand der Schriftzug „Pension Schwalbeneck“.
Eine junge Frau kam rasch auf Anna zu. Ihr üppiger Busen schimmerte hell durch eine rosafarbene Bluse hindurch. Ihre schmale, schwarze Hose wirkte elegant.
-Seminarmanager- stand auf einem aufgeklebten Schild, das direkt über ihrer Brust angeheftet war.
„Hallo!“ In ihrem Gesicht erschienen Grübchen. Auf dem Unterarm lag ein Klemmbrett mit einer Liste.
„Wie ist Ihr Name?“ Abwartend sah sie Anna aus dunkelbraunen Augen an.
„Anna Bechstein.“ Anna reckte ein wenig den Hals und tippte mit dem Finger auf ihren Namen. Er stand ganz oben in der Tabelle. Der schwungvoll gesetzte Haken des grünen Kugelschreibers, besiegelte Annas tatsächliche Anwesenheit.
„An Ihrem Tisch sitzen schon zwei Leute. Ich bringe Sie erst einmal hin.“ Trotz ihrer Schlankheit lief sie mit ausladendem Hüftschwung vor Anna her. „Bitteschön, da wären wir. Ich begleite die Seminare in allen organisatorischen Dingen.“, erklärte sie lächelnd. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem schulterlangen Haar gelöst. Sie pustete sie aus ihrem Gesicht. „Kommen Sie ruhig auf mich zu, wenn Sie Fragen haben, und Guten Appetit!“ Damit nickte sie allen freundlich zu.
Die Augen der jungen Frau, die Anna vom Platz an der Wand aus musterten, waren von hellem grün. Ein schwarzer Seitenzopf fiel in mehreren Wellen über ihre Schulter. Er unterstrich ihre weichen Gesichtszüge. Ihr gegenüber saß ein schlaksig wirkender junger Mann Anfang zwanzig. Er streckte Anna die Hand entgegen. Sein senffarbener Anzug wirkte etwas knittrig.
„Holger!“ meinte er kurz. „Ich bin fürs Du!“ Obwohl er jünger war als die beiden Frauen, nahm er es in die Hand, auf Förmlichkeiten zu verzichten.
„Ich bin Anna!“
„Und ich bin Kristin!“, bemerkte die Grünäugige und strahlte über das ganze Gesicht.
„Einen Platz hätten wir also noch.“, stellte Holger fest. Er schlug mit den flachen Händen auf seine Schenkel, blickte kurz in die Runde und holte entschlossen Luft.
„Ich schlage vor, erst mal Futter zu holen!“ Keine Antwort erwartend, schlenderte er leger zu einem halbrunden Buffet, das etagenförmig in der Mitte des Restaurants aufgebaut war. Holger hatte eine Hand in seine Hosentasche geschoben und schritt das Buffet ab. Die beiden Frauen folgten seinem Beispiel und begannen kurz darauf ihre Teller zu füllen.
Anna griff zu knusprigem Hühnchen, das auf diversem Gemüse aufgeschichtet war und nahm sich eine Scheibe dunkles Körnerbrot. Obwohl sie nicht nötig hatte, Diät halten zu müssen, war es ihr dennoch wichtig, auf gesunde Ernährung zu achten. Sie spürte einen unangenehm stechenden Blick. Stirnrunzelnd sah sie sich um. Rolf erhob vom benachbarten Tisch sein Bierglas und prostete ihr zu. Sie ignorierte die Geste.
Nur wenig später saß Anna mit ihren neuen Tischnachbarn zusammen und begann zu essen. Holger erzählte pausenlos. Er stammte aus Rostock, schwelgte voller Leidenschaft über die Quirligkeit auf der Warnemünder Promenade und berichtete begeistert von seinem Urgroßvater, der einen kleinen Uhrenladen in einer entlegenen Seitenstraße der Stadt besaß. Er war 92 Jahre alt und arbeitete immer noch jeden Tag darin. Holger bezeichnete sich selbst als zu hibbelig, um die Leidenschaft seines Urgroßvaters teilen zu können. Für ihn kam es nicht in Frage, geduldig stundenlang Rädchen, Schrauben und Ziffernblätter zusammenzusetzen. Er arbeitete in einer kleinen Druckerei als Schriftsetzer. Dabei halfen ihm seine guten typografischen Kenntnisse und ein Händchen für vielfältige Gestaltungsmöglichkeiten. Holger berichtete, dass er dadurch mit vielen Konzepten, Manuskripten und anderen literarischen Dingen in Kontakt kam, und dadurch selbst angefangen hatte, zu schreiben. Dies war dann irgendwann zu einem abendfüllenden Hobby geworden.
Auf seinem Teller drängten sich nach gut einer Viertelstunde noch mindestens die Hälfte der Leckereien, die er sich geholt hatte. Staunend machte er große Augen.
„Man, ihr habt ja schnell gegessen!“
Lachend stützte Kristin eine Hand unter ihr Kinn. „Das täuscht. Du hast nur die ganze Zeit geredet!“ Sie zwinkerte Anna zu.
In der nächsten halben Stunde unterhielten sie sich darüber, wie ihre Anreisen gewesen waren, und über Dinge, die man erzählte, wenn man sich nicht kannte.
Kristin hatte mehrere hundert Kilometer zurückgelegt, um an diesem Seminar teilnehmen zu können. Sie wohnte in einem kleinen, verträumten Ort nahe der Stadt Ansbach in Oberfranken. Von ihrer Terrasse aus schaute sie auf eine Eisenbahnstrecke und hatte oft sehnsuchtsvoll hinter den zahlreichen ICE Zügen hinterhergesehen, bis sie sich entschloss, selbst zu reisen. In den Schubladen ihrer alten Kommode lagen zahlreiche begonnene Manuskripte. Sie hatte sich nicht entscheiden können, welches sie davon aussuchen sollte, um ihren Traum vom eigenen Buch zu verwirklichen. Die Frage, die sie schon erwartete, kam prompt über Holgers Lippen.
„Wieso fährst du so weit, nur um solch ein Seminar zu besuchen? Gibt es so etwas bei euch dort nicht?“
„Manchmal ist es einfach gut, seine vier Wände zu verlassen. Ich musste echt mal raus!“ Gähnend verdrehte sie die Augen. „Ich denke, ich werde heute wirklich nicht alt.“ Anna nickte verstehend.
„Ich habe auch einen relativ weiten Weg hinter mir, da sollten wir nichts übers Knie brechen. Morgen geht’s richtig los. Den Strand und das Wasser habe ich schon noch gern sehen wollen, aber ich glaube, dass alles auch morgen noch da sein wird.“ Anna freute sich auf Wellen und Wind. Sie liebte dieses untrennbare Schauspiel.
Lächelnd legte sie ihre Gabel auf den Teller, steckte die Schneide des Messers in die Zinken und lehnte sich zurück. Als sich auch in den nächsten Minuten niemand blicken ließ, der eine Begrüßungsrede hielt, wurden die Leute ringsherum unruhig. Holger stand als erster auf und klopfte auf den Tisch.
„Ich denke, wir sehen uns dann morgen zum Frühstück. Soweit ich das mitbekomme, passiert hier nichts mehr und ich bin auch echt geschafft, weil ich Nachtschicht hatte.
Also, ich wünsche den Damen einen schönen Abend!“
Er griff nach seinem Zimmerschlüssel. In diesem Moment verschaffte sich die junge Frau, die ihnen den Platz zugewiesen hatte, mit einem Löffel Gehör. Der helle Klang eines Glases ließ die Wartenden verstummen. Stöhnend setze sich Holger wieder und gähnte lautstark.
„Liebe Teilnehmer, eigentlich wollte unser Seminarleiter ein paar Worte sagen, aber er rief mich gerade an, dass er mitten in einer zugewehten Straße steckt und noch mindestens zwei Stunden benötigen wird, um hier zu sein.
Deshalb wird er Sie erst morgen früh begrüßen und wünscht Ihnen allen dennoch einen wunderschönen ersten Abend!“
„Sag ich doch!“ Holger hob lächelnd die dünnen Hände und schlug den Weg zu seinem Zimmer ein.
Die schwarze Reisetasche stand ungeöffnet in Gerbers Zimmer. Als er in die Pension getreten war, fand er am Tresen statt einer Person nur verschiedene Zettel vor. Jemand hatte darauf Namen geschrieben und je einen Schlüssel dazugelegt.
Man wies ihm ein Zimmer zu, das zwischen der zweiten und dritten Etage auf einem Mittelflur lag. Nach einem kurzen Blick aus dem Fenster hatte er zufrieden genickt.
Seine Email mit der Bitte, man möge ihm das Panorama zur Meerseite gewähren, war offensichtlich angekommen.
Dabei war ihm der schmalen Streifen Wasser, den er sehen konnte, gar nicht wichtig. Doch wäre dies nicht der Fall gewesen, hätte er dennoch einfach ungefragt getauscht.
Er stellte fest, dass er jetzt sein Telefonat führen könnte, wählte, und wartete. Keine Reaktion. Eine Minute später probierte er es noch einmal, aber auch jetzt schlug der Versuch fehl. Er sagte sich, dass sie wahrscheinlich genug zu tun hatte und zuckte mit den Schultern. Es war ja Zeit. Dann war er müde auf das Bett gefallen und sofort eingeschlafen.
Als er erwachte, war es bereits dunkel. Gerber kniff die Augen zusammen. Noch immer müde, schleppte sich zum Fenster. Das gelbliche Licht der Straßenlaterne fiel durch die Gardine. Er schob den halblangen, durchsichtigen Store ein Stück zur Seite. Die Pension lag direkt gegenüber dem Hotel Möwenschrei. Nur eine Straße trennte die beiden Gebäude voneinander. Einfach perfekt, dachte er.
Während er seine Jeans auszog, scannte er mit den Augen die Fassade des Hotels ab und nickte zufrieden. Wenn die Leute ihre Privatsphäre hier so handhaben würden, wie bei sich zuhause, hätte er eine reale Chance zu sehen, was er zu sehen erhoffte. Dann schaute er sich in seinem Zimmer um und blieb mit dem Blick an einem Blatt Papier hängen, das an der Tür befestigt war.
<Werte Gäste, in dieser Pension ist es uns nicht möglich, Ihnen einen Wlan-Anschluss bieten zu können. Wir bitten Sie, von weiteren Fragen Abstand zu nehmen!>
Hätte er doch nur genauer recherchiert! Ein Internetanschluss war wirklich immer noch nicht überall selbstverständlich, das hätte er eigentlich wissen können. Er spürte, wie ihn Groll befiel. Seine Finger rissen ungeduldig am Reißverschluss der vollgepackten Tasche. Er zog einen Strickpullover hervor, zerrte ihn über den Kopf und hörte, wie Nähte rissen. Gerber wühlte nach grauen Unterhosen, streifte sie über seine nackten Beine und schlüpfte anschließend in eine Stoffhose. Zweifellos war sie zu dünn für einen Gang an den Strand, aber er musste seinen Ärger herauslassen. Die täglichen Informationen, die er sich normalerweise durch das Internet einzuholen pflegte, waren wichtig. Schließlich war er nicht ohne Grund hier und er befürchtete, auch nur das kleinste bisschen zu verpassen. Er zog seine Jacke an, nahm eine dunkelbraune Strickmütze, schlang sich einen der beiden neu gekauften Schals lose um den Hals und zog die Tür hinter sich zu. Draußen hatte das Unwetter an Stärke gewonnen. Er stemmte sich gegen kräftige Windböen und zog den Schal hoch über das Gesicht.
Bei seinen früheren Reisen zog es ihn meist zu den robusteren Orten. Oft war er in die Berge gefahren, um zwischen Geröll und Steinen umherzuwandern, und gern auch, um seinem früheren Sport zu frönen. Er hatte durch seine geringe Größe schon als Kind bessere Chancen im Gewichtheben gehabt, als andere Kinder seines Alters. Später besuchte er regelmäßig regionale Wettkämpfe. Irgendwann war Gerber ausgestiegen. Seine Arme waren immer noch kräftig, und wenn sich ihm die Gelegenheit bot und ihn die Langeweile in die erstaunlich hohen Berge seiner Umgebung trieb, hob und stemmte er alles Mögliche.
Gerber hatte seine Gefühle nicht immer unter Kontrolle.
Es war kein Wunder, dass er ohne Freunde lebte. Nur seine Frau war, trotz seiner Impulsivität, stetig an seiner Seite geblieben. Sie hatte mit seinen ständig wechselnden Launen umzugehen gewusst, jedes Mal Geduld gezeigt, wenn der Zorn in ihn gestiegen war oder hatte ihn einfach links liegen gelassen, bis er sich wieder beruhigte. Sie war in der Lage gewesen, nicht jedes seiner Worte auf die Goldwaage zu legen. Vor vier Jahren hatte sie eine Routineoperation das Leben gekostet. Seitdem lebte er allein. Zunächst war er einer langanhaltenden Apathie verfallen und verkroch sich nach dem Feierabend in seiner Wohnung. Dann traf ihn zusätzlich der Verlust seiner Arbeit. Mit diesem Tag hatte er begonnen, dem Leben vom Fenster aus zuzusehen. Dass der kleine Ort ein anerkannter Kurort war, schien ein Segen zu sein, weil es ihm immer wieder einmal neue Gesichter brachte. Der Eingang zum Schlosspark befand sich schräg gegenüber seiner Wohnung. Er wusste, dass diese Stelle ein Treffpunkt für viele Leute war.
Vor Jahren hatte er einmal gesehen, wie die Weltzeituhr in Berlin als Treffpunkt genutzt wurde und verglich inzwischen den Platz zwischen dem geschwungenen weißen Tor damit.
Er interessierte sich ausschließlich für die weiblichen Passantinnen, erfand für sie Namen und vermerkte akribisch, wie oft er sie wiedersah. Nach einem Zeitraum von vier Wochen wechselten die meisten Kurgäste und Gerber begann von Neuem mit seinen Beobachtungen. Er wusste, dass dies ziemlich sinnlos war, doch es vertrieb die endlos scheinende Zeit.
Als er endlich am Strand entlanglief, pfiff der Wind noch eisiger als im Schutz der Dünen. Augenblicklich wurden Gerbers Brillengläser von gefrierenden Wassertropfen überzogen. In Böen riss der Wind an der gesteppten Daunenjacke und drückte den dünnen Stoff der Hosenbeine nass flatternd an seine runden, dicken Waden, die er kräftig in den Sand stemmen musste. Er ahnte den Weg mehr, als er ihn sehen konnte. Während Gerber lief, nahm er sich vor, gleich am nächsten Tag nach Kühlungsborn zu fahren und Ausschau nach irgendeinem verdammten Laden zu halten, der Internet Sticks verkaufte. Er hob einen Stein auf und schleuderte ihn in die Gischt.
Ein Gemisch aus Schlick und Schnee vereinte sich unter seinen Füßen zu einer glitschigen Masse. Gerber blieb stehen, zog umständlich sein Smartphone aus der Hosentasche, schaltete die Taschenlampe ein und suchte im hellen Lichtstrahl nach einem Weg durch die Dünen.
Als er ihn fand, betrat er das rutschige Holz und ließ sich im Dunkel von den Laternen in Richtung der Promenade führen. Peitschend bog sich das schneeschwere Gras der Dünen im Wind. Die wackligen Holzstufen am Ende des Weges waren kaum unter der verharschten Kruste zu erkennen. Gerber musste fest auftreten, um nicht abzurutschen. Er stolperte auf den sicheren Asphalt, schaltete die Taschenlampe aus und schob das Handy mit klammen Fingern in die Hosentasche zurück. Er war gefüllt von dem Gedanken, dass sich alles irgendwie regeln ließ. Gerber setzte seine Schritte schneller.
Das Restaurant leerte sich rasch. Kurz nachdem Holger gegangen war, taten es ihm die meisten Anwesenden gleich. Kristin und Anna verabredeten sich zum Frühstück. Gegen acht Uhr morgens würde eine gute Zeit dafür sein, da das Seminar gegen neun Uhr begann.
Im Zimmer schlug Anna warme Luft entgegen. Sie klickte mit dem Fuß auf den Schalter der Stehlampe, drosselte die Heizung und öffnete das Balkonfenster. Der Wind pfiff sehr viel kräftiger, als bei ihrer Ankunft am frühen Nachmittag. Einen Moment sah sie dem stiebenden Schneetreiben zu. Sie bildete sich ein, das Meer rauschen zu hören. Die Luft roch nach frischem Salz. Mit einem kräftigen Ruck schloss sie die Balkontür wieder. Sie fand die Fernbedienung des Fernsehers im obersten Schub des Schreibtisches. Ihre schlanken Finger probierten verschiedene Knöpfe aus, aber der Bildschirm zeigte kein Aufflackern, kein Leuchten, nichts.
Zwischen ihren Augen bildete sich eine senkrechte Falte.
Mürrisch streckte sie ihren Arm aus, richtete die Fernbedienung zielsicher auf die Unterseite des Apparates und wartete darauf, dass das Lämpchen grün zu blinken begann. Entschlossen warf sie die Fernbedienung auf die Couch, nahm die Zimmerkarte und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen.