Wie ein flammender Schrei - Mats Wahl - E-Book

Wie ein flammender Schrei E-Book

Mats Wahl

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Beschreibung

Ellen ist neu in der Schule. Von Anfang an ist klar, dass es nicht einfach wird. Vier Schüler terrorisieren die anderen. Dabei schrecken sie auch vor sexuellen Übergriffen und massiven Drohungen nicht zurück. Einziger Lichtblick ist die Theater-AG. Als Ellen Mut beweist, indem sie einem Mädchen zu Hilfe kommt, wird sie selbst zum Opfer. Sie wird bedroht und begrapscht. Nach einer Beschwerde bei der Rektorin werden die Jungs bestraft. Doch sie schwören Rache. Wenig später geht die Schule in Flammen auf, während im Keller die Theater-AG probt. Ein schonungsloses Jugendbuch über Gewalt an Schulen.

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Mats Wahl

WIE EIN

FLAMMENDER

SCHREI

Aus dem Schwedischen

von Angelika Kutsch

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Ormfågel bei Opal, Stockholm.

ISBN 978-3-446-24790-1

© Mats Wahl, 2010

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2014

Umschlag: Stefanie Schelleis, München

Umschlagfoto: Peter-Andreas Hassiepen, München

Satz: Greiner & Reichel, Köln

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und viele andere Informationen finden Sie unter:

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

1  Zehn Tage später wird sie in einem Bett auf der Intensivstation in künstlichem Koma liegen und eine Frau in grüner Schutzkleidung wird sagen, der Zustand des Mädchens sei kritisch. Aber in diesem Moment sitzt sie noch an dem Fenster mit der meilenweiten Aussicht.

Da das Haus auf einem Hügel steht, hat sie vom achtzehnten Stockwerk einen Blick über die ganze Stadt. Das Fenster, das in Kniehöhe über der Heizung beginnt, zieht sich fast über die gesamte Wand des Wohnzimmers.

Im hinteren Teil des Raumes stehen Umzugskartons, nur die wenigsten davon sind ausgepackt. Das Mädchen hat den Sessel an die Heizung geschoben, damit sie die Fußsohlen gegen die Fensterscheibe stemmen kann, wenn sie die Beine ausstreckt.

Abenddämmerung senkt sich und unter den Tannen und Birken am anderen Seeufer kauert die Dunkelheit. Das Himmelsblau ist ins Graue übergegangen, grau wie Filz, und wenn sie nicht die Musik hätte, würde sie frösteln. Allmählich leuchten die Lichter der Stadt auf, blitzen wie Sterne, die man sieht, wenn man mit dem Kopf hart auf einen Steinfußboden oder eine Eisbahn knallt.

Sie wechselt das Musikstück und schließt die Augen.

Kurz bevor sie die Augen zumacht, fließen ihre Füße mit der Fensterscheibe, der aufkommenden abendlichen Dunkelheit und den entfernten Lichtern der Stadt zusammen. Für einen Moment scheinen drinnen und draußen zu verschwimmen. Sie lauscht der Musik und empfindet ihr eigenes Atmen fast so, als ob das Atmen und die Musik, die Musik und das Atmen zusammengehörten.

Als wäre sie selbst Musik.

Als wäre sie auf dem Weg zum Fenster hinaus.

Als flöge sie auf den See zu, über den Tannenwald und weiter zu den fernen Lichtern.

Große schwarze Schwingen, mit Federn bedeckte Wangen, scharfe Krallen.

Ihre nackten Füße sind kalt, und als sie sie gegen das Fensterglas presst, spürt sie, wie ihr die Kälte über die Waden in die Oberschenkel hinaufkriecht. Sie presst die Füße noch fester gegen die Scheibe und denkt, jetzt, jetzt zersplittert sie.

Da läutet es an der Tür.

Das Klingeln durchbricht die Hülle aus Musik und trifft sie wie ein scharfkantiger Stein im Nacken.

Wieder klingelt es.

Sie stellt die Musik lauter, und als es erneut klingelt, hört sie es fast nicht. Sie konzentriert sich auf die Musik. Aber dann nimmt sie doch die Stöpsel aus den Ohren, legt die Kabel über die Schultern, steht auf und geht in den Flur. Sie späht durch den daumennagelgroßen Spion in der Wohnungstür. Davor steht eine Frau in einer grünen Jacke.

Ellen öffnet, und die Grüngekleidete lächelt vorsichtig.

»Ich heiße Majken Fransson.«

Ellen schweigt. Die Grüngekleidete lächelt nun nicht mehr.

»Ist deine Mutter zu Hause?«

»Nein.«

»Weißt du, wann sie wiederkommt?«

Ellen streicht sich das Haar aus der Stirn, als wollte sie die Frau genauer betrachten.

»Nein.«

Die Frau im Treppenhaus trägt ihr ungeschminktes Gesicht demonstrativ nach außen. Sie hat eine Jeans an und klobige Schuhe, über der einen Brusttasche ihrer grünen Jacke ist ein Lederabzeichen. Die Frau ist etwa genauso groß wie Ellen.

»Du bist vermutlich Ellen, die Tochter?«

»Ja.«

»Ich bin vom Sozialamt. Darf ich hereinkommen?«

»Mama ist nicht zu Hause.«

Die Besucherin zögert, ihre klobigen Schuhe rühren sich nicht von der Stelle.

»Vielleicht kommt sie bald zurück?«

Majken Fransson nimmt eine rostfarbene Visitenkarte aus der Jackentasche und hält sie Ellen hin.

»Wir haben eine Verabredung in eurer Wohnung, deine Mutter und ich. Könnte sie etwas missverstanden haben und zu meinem Büro gegangen sein?«

»Sie ist nicht zu Hause.«

»Und du weißt nicht, wann sie wiederkommt?«

Ellen schüttelt den Kopf. Majken Fransson hält ihr immer noch die Karte hin. Ellen nimmt sie zwischen Daumen und Zeigefinger, als fürchtete sie, sich schmutzig zu machen.

Die Grüngekleidete versucht wieder ein Lächeln aufzusetzen, was ihr jedoch nicht gelingt.

»Bist du schon in deiner neuen Schule gewesen?«

»Wir sind erst vorgestern eingezogen.«

»Du kommst in die Brantingschule, oder?«

»Ja.«

»In die Achte?«

Ellen antwortet nicht. Majken Fransson versucht zu lächeln.

»Richte deiner Mutter bitte aus, dass ich hier war.« Ellen bewegt die Lippen, es kommt jedoch kein Ton heraus. Dann räuspert sie sich.

»Ja.«

Majken Fransson nickt, als bestätigte sie sich selber, dass es richtig ist, was sie tut. Ihre Lippen sind schmal und farblos. Als sie den Mund öffnet, entblößt sie eine Reihe gleichmäßiger weißer Zähne.

»Dann also tschüs.«

Ellen schließt die Tür und bleibt eine Weile lauschend dahinter stehen. Durch den Spion kann sie die Frau sehen.

Wenn ich Federn hätte, denkt sie. Und scharfe Krallen.

Dann …

2»Wer war das?«, ruft Nina aus dem Schlafzimmer. Ihre Stimme klingt dumpf.

Ellen antwortet nicht.

»Wer war das?«

Ohne zu reagieren, kehrt Ellen zu ihrem Sessel am Fenster zurück. Im Vorbeigehen steckt sie eine Hand in einen geöffneten, aber unausgepackten Karton und fischt einen Skizzenblock und Farbstifte heraus. Die rostfarbene Visitenkarte lässt sie auf den Boden fallen. Nina ruft wieder.

»Wer war das?«

Ellen sinkt in den Sessel, schlägt den Block auf und blättert ihn Blatt für Blatt durch.

Vögel.

Sie steckt sich wieder die Stöpsel in die Ohren.

»Ellen, warum antwortest du nicht?«

»Es war niemand.«

»Da war doch jemand an der Tür?«

»Leute, die Zeitungen verkaufen wollten.«

»Wer?«

»Irgendwelche Christen.«

Ihre Mutter ruft wieder.

»Komm her!«

»Komm selber her!«

»Wer war das?«

»Zeitungsverkäufer.«

Ellen stellt die Musik lauter. Sie hat einen Stift in der Hand und zeichnet einen großen gebogenen Schnabel. Der Schnabel steht offen und man kann die gespaltene Zunge des Vogels sehen. Ellen zeichnet ein wild starrendes Auge und dann den mit Federn bedeckten Kopf. Die Krallen um einen trockenen Zweig. Den gefiederten Körper.

»Was ist das für ein Vogel?«, fragt Nina, als sie hinter Ellen steht. Sie hat sich eine Decke um die Schultern gelegt und hält die Deckenzipfel umklammert.

»Ist das ein Specht?«

Es dauert eine Weile, ehe Ellen antwortet.

»Spechte haben keinen gebogenen Schnabel.«

Nina betrachtet die Zeichnung.

»Es gibt doch einen kleinen Vogel mit gebogenem Schnabel?«

»Dies ist ein anderer.«

»Hast du den schon mal gesehen?«

»Oft.«

»Wie heißt er?«

»Schlangenvogel.«

3Zwischen ihnen steht der Kochtopf.

»Macht es dir was aus, dass es das Gleiche gibt wie gestern?«, fragt die Mutter, deren Tochter ihr lächelnde Besucher mit klobigen Schuhen vom Leib hält.

»Wir essen doch immer das Gleiche.«

»Nicht immer.«

Ellen zuckt mit den schmalen Schultern.

»Es macht mir nichts aus, ich mag Muscheln.«

Nina steht auf, nimmt die Weinflasche aus dem Kühlschrank und ein Glas aus dem Schrank.

»Was wollte sie?«

»Wer?«

Nina seufzt und Ellen lacht ein kurzes, raues Lachen, das klingt, als würde eine metallene Tür allzu heftig zuschlagen. Wie Schranktüren in der Schrankhalle der Schule. Die Blechschränke. So eine Art Lachen. Ein Lachen aus dem Abgrund von Einsamkeit und Leere.

»Ich habe die Visitenkarte gefunden«, sagt Nina und lässt sich gegenüber ihrer Tochter nieder. Sie schenkt sich ein. Der Wein ist weiß und kalt. Nina mag die Kühle in ihren Handflächen, die Kühle des Glases.

»Du brauchst mich nicht zu beschützen.«

»Du hast sie zu lange gekocht.«

»Du brauchst mich nicht zu beschützen«, wiederholt Nina.

»Sie müssen dente sein«, sagt Ellen.

»Es heißt ›al dente‹.«

Ellen starrt auf den Tisch und schluckt, ehe sie Nina in die Augen blickt.

»Großvater hat angerufen.«

Nina betrachtet das Glas, als wollte sie sich darin spiegeln. Sie setzt es ab, vorsichtig, um nichts zu verschütten.

»Was wollte er?«

»Ich hab gesagt, dass du unterwegs bist und einen Job suchst.«

»Du sollst Großvater nicht anlügen.«

Nina nimmt einen Schluck, nur einen kleinen.

»Wir können nicht nur von Muscheln und Pasta leben. Muss mir was anderes einfallen lassen.«

»Nicht meinetwegen«, sagt Ellen. »Ich mag Muscheln. Gibst du mir bitte die Knoblauchpresse?«

4Auf einem Küchenstuhl neben dem Bett steht die Lampe. Die beiden noch nicht ausgepackten Umzugskartons, die offene Schranktür, die kahlen Wände, denen immer noch der Duft nach Tapetenkleister entströmt und sich über die wenigen Möbel legt, über den Schreibtisch in der Ecke, über Ellens Gesicht. Alles wird von dem schwachen Geruch eingehüllt.

»Kleister«, murmelt Ellen vor sich hin und hebt den Zeichenblock vom Fußboden auf. Sie öffnet den Kasten mit den Farbstiften und beginnt, den Vogelkopf zu kolorieren.

Aus dem Wohnzimmer ertönt Musik. Ellen setzt sich mit gekreuzten Beinen auf das Bett und hüllt sich in die Decke ein. Sie malt den ganzen Vogel bunt an. Dann steht sie auf, legt Block und Stifte weg, öffnet die Tür und geht ins Wohnzimmer.

Nina sitzt in dem Sessel vorm Fenster, eingehüllt in eine Decke. Ihre Füße ruhen auf der Heizung, fast genauso wie Ellens vorhin. Ellen geht barfuß auf den Sessel zu und legt ihre Hände auf Ninas Kopf.

Nina zuckt zusammen.

»Hast du mich erschreckt!«

»Ich kann nicht schlafen.«

»Was für eine schöne Aussicht wir haben.«

»Welche Vögel sind nachts wach?«

»Im Frühling werden alle Vögel früh wach.«

»Aber welche sind im Herbst wach?«

»Du solltest schlafen.«

Ellen streicht Nina über die Haare.

»Kannst du mich massieren?«, bittet ihre Mutter.

»Wo?«

»Die Schultern.«

Ellen massiert Ninas Schultern. Sie packt so fest zu, dass Nina stöhnt.

»Ich will nicht, dass du mitkommst«, sagt Ellen und massiert noch kräftiger. Der Druck kriecht durch Ninas Arme hinauf zum Hals, Mund, zur Zunge und zu den Lippen.

»Warum nicht?«

»Ich schaff das allein.«

»Du weißt nicht, wo sie ist.«

»Du bist es, die nicht weiß, wo sie ist.«

»Bist du sicher?«

»Bin heute Morgen dort gewesen. Hab ein paar Kids gefragt. Sie haben gesagt, das ist sie.«

»Wäre gut, wenn du nicht wieder schwänzt.«

»Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Soll ich noch härter?«

»Bitte den Nacken.«

Ellen hört mit dem Massieren auf, geht zum CD-Player und stellt den Ton lauter. Die Anlage steht auf dem Fußboden, die Lautsprecher in zwei Meter Abstand. Das Zimmer wird von Musik erfüllt.

Nina beginnt zu singen und Ellen singt mit. Nina steht auf und legt Ellen die Hände um die Taille. Sie tanzen und singen beide. Ellen legt die Hände auf Ninas Hüften und drückt sie an sich, fühlt Ninas lange Haare an der Wange. Ellen singt die erste Stimme, Nina die zweite. Als der Song zu Ende ist, lassen sie ihn von vorn laufen.

Love me or leave me and let me be lonely You won’t believe me but I love you only I’d rather be lonely than happy with somebody else

5Der Traum löst sich auf.

Rasch kommt der Tag, umarmt und küsst sie mit erdigen Lippen und Ellen öffnet die Augen. Sie steht auf und geht ins Bad.

Die Tür zu Ninas Zimmer steht offen. Nina liegt nackt auf dem Bauch, die Decke ist auf den Fußboden gerutscht, ihre Arme sind ausgebreitet, als suchten sie etwas.

Ellen geht in die Küche und nimmt Milch aus dem Kühlschrank, erwärmt sie, rührt Kakaopulver hinein und macht sich ein Knäckebrot mit drei Scheiben Käse. Sie stellt sich ans Fenster, und während sie trinkt, fingert sie an einem welken verschrumpelten Pelargonienblatt. Nachdem sie das Käsebrot aufgegessen hat, geht sie duschen. Als sie sich vor dem Badezimmerspiegel ein Handtuch um den Kopf schlingt, steht Nina da, verschlafen und mit zerzausten Haaren.

»Es ist schon nach acht.«

Ellen antwortet nicht und Nina gähnt, kratzt sich im Nacken und mustert ihr Spiegelbild.

»Hast du schon gefrühstückt?«

Ellen betrachtet ihre Mutter.

»Du musst dir die Haare waschen.«

Nina macht zwei Schritte auf den Spiegel zu, zieht prüfend an einer Haarsträhne und streicht sich über das Gesicht, lässt Wasser laufen und hält die Hände unter den Hahn.

»Soll ich dir ein Butterbrot machen?«

»Wo sind meine Jeans?«

»Liegen in irgendeinem Karton.«

Ellen beobachtet ihre Mutter, wie sie sich über das Waschbecken beugt.

»Was hast du heute vor?«

Nina richtet sich auf, schaut in ihr Spiegelbild und nimmt ein Handtuch vom Halter.

»Muss wohl anfangen auszupacken.«

»Willst du dir keinen Job suchen?«

»Vielleicht.«

»Die Frau, die gestern hier war, will mit dir sprechen.«

Nina schaut ihre Tochter an.

»Bist du sicher, dass du nicht doch ein Butterbrot möchtest?«

Ellen geht in ihr Zimmer, sucht die Jeans, bürstet sich die Haare und bleibt vorm Fenster stehen. Dann setzt sie sich halb angezogen hin. Die feuchten Haare hängen ihr vorm Gesicht wie eine Art Trauerflor, so einer, wie Tante Stine ihn zu Großmutters Beerdigung getragen hat.

Sie schlägt einen Block auf und nimmt sich einen Stift. Nina duscht. Das Wasser rauscht im Hintergrund.

Ellen zeichnet einen Vogel auf langen, dünnen Storchbeinen und einem Frauengesicht mit großen Augen.

Aus dem Bad ruft Nina.

»Du musst jetzt los! Es ist neun!«

6Ellen folgt ohne Eile dem Fahrradweg. Sie schaut über den blauen See, der in der Septembersonne glitzert. Als sie an einer Kastanie vorbeikommt, hebt sie eine der hellgrünen, stachligen Früchte auf, öffnet die Schale mit den Fingernägeln und nimmt den glatten Kern heraus. Sie steckt die Kastanie in den Mund, nimmt sie wieder heraus und schiebt sie in ihre Tasche.

Als sie sich dem Schulhof nähert, bekommt sie Herzklopfen. Sie will nach Hause. Dort sitzt Nina mit der ersten Tasse Kaffee am Küchentisch.

Aber sie zwingt sich zum Weitergehen, erreicht den asphaltierten Hof. Die Eingangstür, die ihr am nächsten ist, zieht sie auf. Ein beißender Geruch schlägt ihr entgegen.

Scheuermittel.

Eine Frau mit Schrubber und einem Eimer auf Rädern nickt ihr zu. Sie trägt einen Arbeitskittel und ist dunkelhäutig, ihre Haare sind schwarz.

»Wo ist das Sekretariat?«

Die Putzfrau zeigt in eine Richtung.

Ellen durchquert die Schrankhalle. Eine halb offene Toilettentür. Mädchenstimmen. Ellen geht schnell daran vorbei. Ein Flüstern, nein, sie hört kein Flüstern, sie stellt es sich nur vor.

Im Büroflur gibt es vier Türen. Vor der ersten steht ein etwas klein geratener Mann mit behaarten Unterarmen. Er hat eine Arbeiterhose an und ist dabei, ein Namensschild abzuschrauben. Während er mit dem Schraubendreher hantiert, telefoniert er. Ellen wirft einen Blick in das Zimmer. Darin gibt es einen großen Schreibtisch, auf dem ein Computer und zwei Telefone stehen. Sonst ist die Schreibtischplatte leer.

»Sekretariat?«, formt Ellen mit den Lippen.

Der Mann, der über irgendwelche Probleme mit einem Abfluss redet, streckt einen Finger aus und Ellen geht weiter zum nächsten Zimmer, in dem eine Frau mit einer kleinen rechteckigen Brille und kurzen Haaren sitzt. Sie schaut von ihrem Bildschirm auf und begegnet Ellens Blick.

»Kann ich dir helfen?«

Die Frau spreizt ihre Finger und zieht an ihnen, als müssten sie nach der Arbeit auf der Tastatur gelockert werden. Ihre Fingernägel sind rosa lackiert.

»Ich heiße Ellen Helmersson.«

Ellen merkt, wie leise ihre Stimme geklungen hat, und wiederholt es.

»Ellen Helmersson. Ich soll in die Achte kommen.«

Die Frau mit den kurzen Haaren geht ihr mit schnellen Schritten durch den Flur voran. Hier riecht es nach dem gleichen Scheuermittel wie in der Schrankhalle, nur nicht so intensiv. Die Frau bleibt stehen, klopft an eine Tür und öffnet sie.

»Ellen Helmersson«, sagt sie mit einer etwas zu lauten und schrillen Stimme in das Klassenzimmer hinein.

Dann tritt sie beiseite und Ellen geht hinein. Die Frau vorne am Lehrerpult wirkt sehr jung mit ihrem Pferdeschwanz, der Jeans und dem weißen Pullover. Die Klasse starrt Ellen an, die regungslos dasteht, wie ein Tier, das Gefahr wittert, aber nicht weiß, woher sie droht.

Die Lehrerin kommt auf sie zu und streckt ihr eine ringlose Hand entgegen.

»Mein Name ist Lindqvist«, sagt sie. »Willkommen in der 8b.«

Dann schaut Frau Lindqvist über die Klasse. Alle mustern die Neue. Frau Lindqvist zeigt auf zwei freie Plätze direkt vor ihrem Pult.

»Du kannst dich dorthin setzen.«

Ellen zieht einen Stuhl vor, lässt sich nieder, dreht den Kopf und mustert kurz die neuen Klassenkameraden. An der hinteren Wand vor dem letzten Fenster stehen drei Stühle auf dem Tisch. Dann dreht sie sich wieder nach vorn und sieht ihre Lehrerin an. Frau Lindqvists Bauch wölbt sich unter dem Pullover, sie ist schwanger.

»Möchtest du vielleicht etwas sagen? Willst du dich vorstellen?«

Ellen schüttelt den Kopf.

Frau Lindqvist schaut sie an.

»Bist du sicher?«

»Ja.«

»Ich unterrichte Englisch, Schwedisch und Gemeinschaftskunde. Wir werden uns also oft sehen.«

Frau Lindqvist zeigt auf eine Bücherkiste.

»Nimm dir bitte ein Buch.«

Ellen steht auf und holt ein Buch. Es ist eigentlich nur ein Heft, das kurze Erzählungen enthält. Die erste heißt »The Bird«.

»Ich mag Vögel«, sagt Ellen so leise, dass nur Frau Lindqvist es hört.

»I like birds«, sagt Frau Lindqvist laut. »What else do you like?«

»Nothing.«

»We all like birds!«, behauptet Frau Lindqvist mit einer Stimme, die bis in die hinterste Reihe zu hören ist.

Als sie das Klassenzimmer verlassen, wird Ellen von einem langbeinigen mageren Mädchen angesprochen. Ihre Haare stehen in alle Richtungen, sie kaut auf der Unterlippe. Im rechten Auge hat sie einen dunklen Fleck, so groß wie ein halber Streichholzkopf. Sie trägt Jeans und dazu eine verwaschene Jeansjacke. Im rechten Ohr hat sie einen Silberring.

»Ich heiße Mona.«

»Was macht man hier so in der Pause?«, fragt Ellen.

Mona zuckt mit den Schultern.

»Wir können rausgehen.«

Mona schiebt eine der Glastüren zum Treppenhaus auf und sie gehen hinunter und durch die Schrankhalle, in der ein Junge der Putzfrau gerade ein zusammengeknülltes Stück Papier vor die Füße wirft. Die Frau hebt das Papier auf und sagt etwas in einer fremden Sprache. Der Junge wirft noch einen Papierball und grinst.

»Es ist seine Mutter«, flüstert Mona, als verriete sie ein Geheimnis. »Du sitzt neben Max.«

Ellen ist verwirrt.

»Neben mir sitzt doch niemand.«

Mona nickt.

»Der taucht selten im Unterricht auf.«

Als sie durch den Hauptausgang gehen, begegnen sie drei Jungen, alle drei in Kapuzenjacken. Der größte von ihnen drückt Mona gegen die Wand. Er hat riesige Hände und ist einen Kopf größer als Ellen.

»Hey, Bambi, gib mir einen Kuss!«

Mona dreht das Gesicht zur Seite und der große Junge greift ihr zwischen die Beine.

»Wer ist die neue Hure?«, fragt er mit einem raschen Blick auf Ellen. Die anderen beiden Jungen lachen.

»Immer mal wieder ’ne neue Hure, geil!«

Die drei Jungen verschwinden wie eine dreiköpfige Hydra durch die innere Tür.

»Wer war das denn?«, fragt Ellen.

»Nicko.«

»Was für ein Schwein.«

Monas Stimme ist ganz leise.

»Lass ihn das bloß nicht hören.«

Jetzt sind sie auf dem Schulhof.

»Ich mag auch gern Vögel«, behauptet Mona. »Ich habe ein Fernglas.«

»So eins könnte ich gut brauchen«, sagt Ellen. »Dann könnte ich beobachten, was in der Stadt passiert.«

Mona steckt beide Hände in die Gesäßtaschen.

»Woher kommst du?«

»Hab im Norden gewohnt, musste aber umziehen. Da gab es einen Mann, der meine Mutter verfolgt hat.«

Mona bleibt der Mund offen stehen.

»So was hab ich im Kino gesehen. Stalker.«

»Ich weiß. Man kann nicht viel machen. Sie tauchen ganz plötzlich auf.«

Mona stöhnt, als täte ihr alles weh.

»Oooh Gott!«

»Bist du religiös?«

Mona lacht, immer noch stecken ihre Hände in den Gesäßtaschen. Sie schiebt die Schultern vor.

»Nein.«

»Mein Großvater ist Pfarrer.«

»Oooh Gott!«, stöhnt Mona wieder. Sie sieht aus, als würde sie ständig von allem Möglichen aus der Bahn geworfen.

»Hast du eine Mutter und einen Vater, ich meine, wohnst du bei deinen Eltern?«, fragt sie.

»Bei meiner Mutter.«

»Ich auch. Aber manchmal treffe ich meinen Vater.«

»Dann könnt ihr in den Wald fahren und Vögel beobachten.«

»Woher weißt du das?«

»Ich wünschte, ich hätte so einen Vater. Bin gern im Wald mit Thermoskanne, Zeichenblock und Malstiften.«

Mona sieht verträumt aus.

»Kann nicht zeichnen, aber ich spiel Gitarre.«

»Meine Mutter ist Musiklehrerin gewesen.«

»Oooh Gott!«, stöhnt Mona noch einmal. »Wir brauchen einen Schlagzeuger in unserer Band. Kannst du, ich meine, willst du mal kommen und mitspielen?«

»Ich denk drüber nach.«

»Seit März haben wir keinen Schlagzeuger mehr. Wir heißen Livin’ Dolls. Ohne g.«

»Ich denk mal drüber nach.«

Da ertönt in der Ferne die Sirene eines Krankenwagens. Ellen spürt, wie sich ihr Hals zuschnürt und ihr Magen sich zusammenkrampft. Der Krankenwagen kommt näher.

»Ich muss schnell was holen«, lügt Ellen, stößt die Worte hervor, als müsste sie sie tief in ihrem Innern suchen.

»Ich komm gleich wieder!«

Dann dreht sie sich um und geht mit schnellen Schritten auf den Fahrradweg zu. Sobald sie unter den Bäumen und vom Schulgelände aus nicht mehr zu sehen ist, beginnt sie zu rennen. Als sie die Haustür erreicht, schaut sie sich um, als erwarte sie, dass der Krankenwagen dort steht. Sie drückt die Haustür auf und betritt den Lift, in dem jemand den Spiegel mit einem seltsamen Zeichen beschmiert hat.

7Als sie die Tür öffnet, schlägt ihr der Duft nach Badeschaum entgegen. Aus den Lautsprechern tönt Schubert, die Badezimmertür steht offen. Die Musik ist so laut, dass Nina nicht hört, wie Ellen durch den Flur tappt, der noch nicht mit Teppich ausgelegt ist. Ein Gefühl, zu Hause und doch nicht zu Hause zu sein, nicht gesehen zu werden, nicht zu existieren.

Nina liegt in der Wanne, ein Weinglas auf dem Wannenrand, weißer Schaum, beschlagene Fenster.

Ellen geht hinein und setzt sich auf den Toilettendeckel. Nina liegt mit geschlossenen Augen da. Ihre Haare sind noch nicht gewaschen, sie sind strähnig und ein wenig feucht.

Nina schlägt die Augen auf.

»Du bist zu Hause?«

»Wolltest du nicht zum Arbeitsamt gehen?«

»Du hast doch gesagt, ich soll mir erst die Haare waschen. Warum bist du nicht in der Schule?«

Ellen antwortet nicht.

»Warum bist du nach Hause gekommen?«

»Hab mir Sorgen gemacht.«

»Ist was passiert?«

»Was meinst du, soll ich Schlagzeuger in einer Girl-Band werden?«

»Warum nicht?«

»Die hat so einen albernen Namen.«

8Während Ellen sich zu Hause vergewissert, dass mit Nina alles in Ordnung ist, bekommt die Brantingschule eine neue Rektorin. Sie heißt Yvonne Kreon, ist zweiundvierzig Jahre alt und hat eine Tochter, die zufälligerweise am selben Tag geboren wurde wie Ellen. Aber Yvonne Kreons Tochter ist nicht Schülerin der Brantingschule, sie besucht eine Schule in der Innenstadt, in die alle Eltern, die selber eine gute Ausbildung und hohe Erwartungen an die Schule ihrer Kinder haben, ihre Kinder schicken.

9Ellen liegt auf dem ungemachten Bett. Sie ist umgeben von Musik und ein Vogel nach dem anderen fließt aus ihrem Stift.

Nina steht in der Tür.

»Deine Lehrerin hat angerufen. Sie will wissen, warum du nach Hause gegangen bist.«

»Sag ihr, ich sei krank.«

»Wie krank?«

»Bauchweh.«

Nina kommt mit dem Handtuch um den Kopf herein. Der Gürtel von ihrem Bademantel ist eng geschnürt. Sie setzt sich auf die Bettkante.

»Du musst sie schon selber anrufen.«

Ellen legt den Zeichenblock weg. Nina betrachtet die Vögel.

»Darf ich mal sehen?«

»Von mir aus.«

Nina blättert ein Blatt nach dem anderen um. Da ist ein rot-gelber Drache mit sechs Beinen und ausgebreiteten Flügeln. Er scheint mit großen Stöpseln im Ohr zu tanzen.

»Was für Musik hört er?«

»Love me or leave me.«

Nina legt den Block weg.

»Und – wird es dir in der neuen Schule gefallen?«

Ellen reißt ihr das Handtuch vom Kopf und wickelt es sich wie einen Turban um den eigenen.

»Was meinst du?«

»Willst du hier so weitermachen und dauernd schwänzen?«

»Ich weiß nicht, ob ich es aushalte.«

»Gib ihnen doch eine Chance.«

»Wem?«

»Deinen Klassenkameraden.«

Ellen schnaubt, greift nach dem Block und schlägt eine leere Seite auf. Sie nimmt einen blauen Stift und zieht einige dünne Linien, die sie zu einem Schnabel verbindet.

Das Telefon klingelt. Nina steht auf, geht ins Wohnzimmer und kommt mit dem Telefon zurück.

»Sie können selbst mit ihr sprechen«, sagt Nina und reicht Ellen das Telefon. Nina hat eine Haarbürste aus der Bademanteltasche genommen und bürstet sich die Haare, während sie am Fenster steht und über die Kiefernwipfel im Süden schaut. Die Sonne lässt die Rinde, die sonst braun ist, rot leuchten, als würden die Kiefern brennen.

Frau Lindqvists Stimme klingt hohl und fern. Während Ellen ihr zuhört, zeichnet sie. Einen Moment legt sie den Telefonhörer auf das Kissen und dreht den Block um, hebt den Hörer wieder auf und hört weiter zu.

»Ich komme nach dem Essen«, sagt sie, als Frau Lindqvist schweigt.

Dann legt sie das Telefon auf das Kissen.

»Ich will lieber ihr Manager werden.«

»Manager von wem?«

»Aber nur, wenn sie ihren Namen ändern.«

10Am Hügel auf dem Weg zur Schule hebt sie eine Kastanie auf, betastet sie und steckt sie in die Tasche.

Der Schulhof ist leer. Das viereckige Gebäude ist länglich und einstöckig, gelb geklinkert und schmucklos. Um das Haus zieht sich der Schulhof.

Es ist so windstill, dass der Rauch geradewegs aufsteigt.

Ellen setzt sich auf eine der drei Bänke. Hinter den Fenstern bewegen sich Menschen, die sie nicht kennt. Sie nimmt die Kastanie und einen Kuli hervor und zeichnet ein Gesicht auf die Kastanie. Das Gesicht hat große erstaunte Augen und einen kleinen Mund.

Sie denkt, dass sie aufstehen und ins Gebäude gehen sollte, aber sie hat keine Kraft. Sie legt die Kastanie auf die Bank neben sich und mustert ihre Hand. Sie liegt neben der Kastanie, als gehörte sie jemand anderem. Ellen hat das Gefühl, als könnte sie die Hand nie mehr bewegen. Dann hebt sie den kleinen Finger und sieht, wie er sich bewegt.

Der kleine Finger tippt die Kastanie an, die von der Bank rollt.

Frau Lindqvist kommt aus dem Gebäude. Sie bleibt vor Ellen stehen, dann setzt sie sich, schlägt die Beine übereinander und schlingt die Hände um das obere Knie.

»Willst du nicht reinkommen?«

»Ich wollte nur ein Weilchen hier sitzen.«

»Wir haben jetzt Schwedisch.«

»Ich wollte sehen, wie sie aussieht.«

»Wer?«

»Die Schule.«

Frau Lindqvist richtet ihren Blick auf das Gebäude.

»Vermisst du deine alte Schule?«

Ellen hebt die Kastanie auf.

»Vielleicht vermisst du deine alten Klassenkameraden?«

Ellen schüttelt den Kopf.

Sie betreten die Schrankhalle. Die Putzfrau ist nicht mehr da, aber der Junge, der ihr Sohn sein soll, sitzt auf einem Sofa. Er hackt mit einem Stift in das Sofapolster. Frau Lindqvist geht auf ihn zu.

»Musst du nicht im Unterricht sein?«

Der Junge antwortet nicht.

»Du machst das Polster kaputt, wenn du nicht aufhörst. Das letzte mussten wir austauschen, erinnerst du dich?«

Der Junge lässt den Stift auf den Boden fallen. Ellen nimmt die Kastanie aus der Tasche und gibt sie dem Jungen.

»Was soll denn das?«, ruft er ihr nach.

Aber Ellen antwortet nicht.

11Ellen und Frau Lindqvist betreten die Klasse. Einige Mädchen stecken die Köpfe zusammen und flüstern, zwei Jungen jagen einander, der eine versucht, den anderen mit einem Buch zu schlagen. Neben Ellens Platz sitzt ein Junge, der weder groß noch klein ist, weder dünn noch dick. Er hat überhaupt nichts Auffallendes. Über dem T-Shirt trägt er ein kariertes Flanellhemd, das offen über die Jeans hängt.

Ellen lässt sich neben ihn auf den Stuhl sinken.

»Ich heiße Ellen«, stellt sie sich vor. In dem Augenblick holt der eine Junge den anderen ein und schlägt ihn mit dem Buch. Frau Lindqvist stellt sich neben das Lehrerpult und ruft die Schüler zur Ordnung. Immer wieder ruft sie. Der geschlagene Junge hält seine Hände gegen den Kopf und schützt seine Ohren mit den Unterarmen.

»Du bist wahrscheinlich Max«, sagt Ellen.