Wie ein Wunder - Dierk Heimann - E-Book

Wie ein Wunder E-Book

Dierk Heimann

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Beschreibung

Der Mutmacher eines Arztes, der – entgegen aller Prognosen – seine schwere Krankheit bezwungen hat. Mit 46 Jahren erlitt der Mediziner Dr. Dierk Heimann einen schweren Schlaganfall. Akute Lebensgefahr. Prognose: düster! Von jetzt auf gleich war alles anders. Und der Ausgang völlig ungewiss. Dennoch hat sich der heute 49-Jährige zurück in sein Leben gekämpft – privat und beruflich. Und dabei wichtige Erkenntnisse gewonnen, über die er in diesem Buch schreibt. "Mein Schlaganfall war äußerst unwahrscheinlich. Der Heilungsverlauf war es jedoch genauso! Laut Statistiken müsste ich tot, mindestens aber schwerst eingeschränkt sein. Nichts davon trat ein. Seitdem werde ich immer wieder als ein 'medizinisches Wunder' bezeichnet. Ich schäme mich dann meistens ein wenig. Warum? Weil ich nur zum Teil etwas 'dafür kann' … War es 'Glück im Unglück', hat mir mein medizinisches Wissen geholfen oder der Mut der Verzweiflung? Immer wieder habe ich als Patient gegen das Medizin-System rebelliert und 'meinen Weg' eingefordert. Geholfen haben mir sicherlich bei all dem mein Humor, ein unbeugsamer Optimismus, das 'Aufgefangensein' in meiner Familie – und dass ich mich in etwas Größeres eingebettet gefühlt habe. 'Glaube versetzt Berge! ' – ja, das stimmt. Diese Erfahrung hat mein Leben – auch als Arzt im Umgang mit Patienten – verändert. Mehr zuhören. Mehr verstehen. Mehr anerkennen, was Menschen mit schweren Erkrankungen durchmachen. Mehr Unterstützung beim Erreichen ihrer Ziele. Denn es geht immer um sie und nicht um meine Ziele als Arzt. Und ja: Mehr Ermutigung, auch wenn die Lage erstmal ausweglos erscheint. 'Unmögliche Dinge passieren jeden Tag', heißt es im Musical Cinderella. Das stimmt. Ich habe es erlebt. Es ist einer meiner Lieblingssätze geworden." Dr. med. Dierk Heimann

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Seitenzahl: 257

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Dr. Dierk Heimann

Wie ein Wunder

»Mein Schlaganfall war unwahrscheinlich und kam überraschend – meine vollständige Heilung noch mehr.«

Knaur e-books

Über dieses Buch

»Mein Schlaganfall war äußerst unwahrscheinlich. Der Heilungsverlauf war es jedoch genauso! Laut Statistiken müsste ich tot, mindestens aber schwerst eingeschränkt sein. Nichts davon trat ein. Seitdem werde ich immer wieder als ein ‚medizinisches Wunder‘ bezeichnet. Ich schäme mich dann meistens ein wenig. Warum? Weil ich nur zum Teil etwas dafür kann …

 

Immer wieder habe ich als Patient gegen das Medizin-System rebelliert und ›meinen Weg‹ eingefordert. Geholfen haben mir sicherlich bei all dem mein Humor, ein unbeugsamer Optimismus, das Aufgefangensein in meiner Familie – und dass ich mich in etwas Größeres eingebettet gefühlt habe. ›Glaube versetzt Berge!‹ – ja, das stimmt. Diese Erfahrung hat mein Leben verändert.«

Inhaltsübersicht

WidmungProlog»Mein Leben ohne Kleinhirn«Alles neu macht der MaiAlles bleibt anders!Alles auf Anfang»All in«Alles leuchtetAlles hat seine ZeitWissenschaftliche Einordnung von Prof. Dr. med. Michael HennericiQuellenverzeichnis
[home]

Gewidmet meiner Frau Antje und unseren Kindern Lukas, Lea und Mirja.Danke!

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Prolog

Normalerweise sind Krankenhäuser für mich Gebäude wie andere auch. Diesmal ist es jedoch anders. Das spüre ich schon Tage vorher.

Als ich mit dem Auto in die Parkgarage fahre, die ich vor einem Jahr – gerade mal 14 Tage nach meinem lebensgefährlichen Schlaganfall – im Rollstuhl, in völliger Erschöpfung, mit wirrem Kopf und mit massiven Doppelbildern durchquert habe, schnürt sich mir die Kehle zu. Ich nehme den Blumenstrauß vom Beifahrersitz und steige langsam aus. Das Zuschlagen der Tür hallt nach. Mir wird mit einem Mal unfassbar schwindelig. Bilder steigen in mir auf, die ich lange verdrängt hatte. Ich schwitze, nehme eine Treppe in der Nähe, die ins Freie führt. Beim Gehen wird es besser. Durch eine Seitentür betrete ich den Gebäudekomplex und glaube, den Korridor wiederzuerkennen. Bin ich über diesen nicht zur Kernspinuntersuchung geschoben worden?

Wieder drängen sich mir Bilder auf. Beklemmend.

Ich habe das Gefühl, meinen unsagbaren Schwindel, die fürchterliche Übelkeit und völlige Hilflosigkeit von damals erneut zu spüren. Jetzt. Hier. Heute. Mir wird bewusst: Das sind Flashbacks. Ich kann mich nicht wirklich gegen sie wehren. Zeichen einer posttraumatischen Belastungsstörung?! Doch mein ärztliches Wissen hilft mir jetzt nicht. Hier, in diesem, in meinem Korridor der Angst.

Ich kann mich nicht daran erinnern, damals solch eine Angst gehabt zu haben. Jetzt ahne ich, dass mein Gedächtnis sie möglicherweise nur weggesperrt hat. Für einen Moment setze ich mich. Mein Puls rast. Ich ringe den Impuls nieder, den Gang sofort zu verlassen. Sinnentleert drehe ich den Blumenstrauß in meinen Händen. Eigentlich wollte ich den Strauß nur kurz in der Stroke-Unit übergeben, auf der ich vor einem Jahr eingeliefert wurde, ein paar Worte wechseln. Jetzt möchte ich einfach nur wieder weg. Vielleicht bin ich an diesem Tag im Mai 2016 viel mehr ein Patient als damals vor einem Jahr. Aber heute laufe ich, selbstständig.

Schon oft habe ich gehört, dass Jahrestage es in sich haben können, aber nie geglaubt, dass ich dafür anfällig sein könnte.

Ich habe mich getäuscht.

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1

»Mein Leben ohne Kleinhirn«

Wie fange ich an?

Vielleicht so: Mir geht es heute wieder gut. Sollten Sie oder ein Ihnen nahestehender Mensch sich gerade in einer ähnlichen Situation befinden wie die, in der ich vor drei Jahren war, hilft Ihnen diese Bemerkung gleich zu Beginn womöglich, besser mit dem umzugehen, was Sie lesen werden. Die Idee zu diesem Buchprojekt kam mir ein paar Wochen nach dem Schlaganfall. Bestärkt wurde ich durch unsere mittlere Tochter Lea Katharina (damals 14), durch Fragen während meiner Rehazeit – an mich als einen Betroffenen und eben Arzt – sowie Dutzende Mails, die mich nach einem am 1. Januar 2016 erschienenen Interview erreicht haben.

»Papa, schreib doch wieder mal ein Buch, das kann bestimmt vielen Menschen helfen«, sagte unsere Tochter Lea damals, »irgendwas wie ›Mein Leben ohne Kleinhirn‹ oder so …« Ich musste schmunzeln. Sie hatte so recht. Einfach wieder anfangen! Ich habe lange für dieses Manuskript gebraucht. Das meiste erst Ende 2017 und 2018 zu Papier gebracht. Viele Menschen motivierten mich immer wieder – meine Frau, meine Kinder, journalistische Vorbilder wie Uwe Bokelmann vom Bauer-Verlag (Ende 2015, er hatte auch die Idee zu einem Interview mit mir in einer der von ihm verantworteten Zeitschriften), seine Redakteurin Kerstin Kropac im Herbst 2017 und nicht zuletzt ein Brief meines späteren Lektors Uwe Birnstein, der im März 2018 fragte, ob ich nicht ein Buch über meine Schlaganfall-Geschichte schreiben wolle. Da war die Hälfte schon fertig – und diese Anfrage des bene!-Verlages brachte mir den notwendigen Schlussschwung.

Mein Schlaganfall ist nun knapp drei Jahre, also rund 1000 Tage her. Seitdem werde ich immer wieder als ein »medizinisches Wunder« bezeichnet. Nett. Dennoch: Ich schäme mich dann meistens ein wenig, weil ich nur zum Teil etwas dafür kann. Ich hatte Glück im Unglück. Die optimale, schnelle Therapie der ersten Stunden auf einer modernen Stroke-Unit war zweifelsohne die voraussetzende Bedingung für alles Folgende. Hinzu kam mein medizinisches Wissen als Arzt, der Mut der Verzweiflung (»Genesungstrotz« habe ihn genannt), der mich immer mal wieder gegen das System rebellieren und meinen Weg einfordern ließ. Weitere Aspekte meiner »heilenden Melange« waren mein Humor, ein unbeugsamer Optimismus, das Aufgefangensein in meiner Familie, das »Sich-eingebettet-Fühlen in etwas Größeres« und nicht zuletzt meine eiserne Entschlossenheit, es entgegen aller (!) Prognosen zu schaffen. Längst nicht auf alles konnte ich kämpfend Einfluss nehmen, dies sei einschränkend gleich zu Beginn gesagt. Vieles ist einfach Schicksal … leider. Oder zum Glück?! Wie kann man sich ein solches Kämpfen vorstellen? Ein gelähmter Arm ist schließlich gelähmt – genauso wie ein Tumor eben ein Tumor ist. Vielleicht so: Das wenige, was ich noch an Ressourcen hatte, habe ich genutzt. Ich bin unzählige Male mit Übungen oder Therapien gescheitert, habe mir ständig zu viel vorgenommen, es dann nicht geschafft. Es anders gemacht. Vielleicht ist es das: Zu kämpfen heißt, nicht aufzugeben. Sich nicht hinzulegen. Erneut sei jedoch gesagt: Dafür brauchen Sie, dafür brauchte ich Ressourcen – Optionen, die man nutzen kann. Es war mein Privileg, in dieser Situation nicht zu verzweifeln.

»Unmögliche Dinge passieren jeden Tag«, heißt es im Musical »Cinderella«. Das stimmt. Ich habe es erlebt. Deshalb gehört dieser Satz zu meinen Lieblingssätzen.

Mein Schlaganfall war äußerst unwahrscheinlich. Der Heilungsverlauf ebenfalls. Laut Statistik müsste ich tot, mindestens aber schwer eingeschränkt sein. Nichts davon bin ich. Gleich zweimal zeigte der Blick in die statistische Glaskugel etwas völlig anderes als das, was eintraf – zuerst, vor dem Schlaganfall, »trügerische Sicherheit« (»So was passiert mir nie!«), dann »schwärzeste Nacht« (»Das wird nix mehr!«). Fazit: Die Statistik ist – für den Einzelfall – nur eine Zahl ohne persönliche Aussagekraft.

Meine linke Hand ist nach wie vor etwas langsamer, mir ist im Stehen oder Gehen ständig schummrig, und ich sehe manchmal Doppelbilder, wenn ich müde bin. Auch ist eine Migräne mein fast täglicher Begleiter. Und müder als früher bin ich leider auch, besonders am frühen Abend. Mein Schlaganfall war eine Art Alterungszeitmaschine.

Bitte haben Sie beim Lesen Verständnis dafür, dass ich nicht beschreiben kann, wie diese Horror-Zeit für meine Kinder war. Ich kann mir nicht sicher sein, wie sie dies in einigen Jahren empfinden würden, wenn sie erwachsen sind.

Doch all das ist nichts im Vergleich zum 6. Mai 2015, dem Tag des Schlaganfalls, und dem 7. Mai 2015, dem ersten Tag auf der Stroke-Unit. Da ging wirklich nichts mehr – außer ruhig liegen. Jede noch so kleine Lageänderung verursachte unfassbaren Schwindel, Übelkeit und Erbrechen. Ständig hatte ich das Gefühl, aus dem Bett zu fallen. Ich konnte zunächst überhaupt nicht mehr sprechen, später nur lallen. Mein Müsli sabberte mir tagelang aus dem Mund, und an Stehen oder gar Laufen war nicht im Entferntesten zu denken. Seit frühen Kindertagen unbedachte, selbstverständliche Dinge waren einfach ausradiert. Meine linke Körperhälfte machte nichts – oder nur das, was sie wollte. Auf der rechten Seite war mein Berührungs-, Temperatur- und Schmerzempfinden fast erloschen. Nichts war mehr sicher. Auch ich meiner selbst nicht. Mein Gedächtnis war ein Sieb. Mein früheres Können weg. Nicht mal bis 30 konnte ich zählen, ohne den Faden zu verlieren. Ich wusste nicht mehr, welche Zahl ich zuletzt genannt hatte. Ich fiel auf mich selbst zurück. Meine Umwelt rückte weit weg. Ich brauchte alle Energie für mich. Meine Welt engte sich ein. Wurde immer kleiner. Einsamkeit. Ein existenzielles Minimum. Eine schlimme Erfahrung für mich, für meine Kinder, für meine Frau, für meine Eltern. Ich schwebte in akuter Lebensgefahr. Unbehandelt standen die Chancen 9 zu 1 gegen mich, behandelt etwa fifty-fifty. Bleibende massive Schäden waren nahezu sicher.

Mich hatte ein Blutgerinnsel in einem besonders empfindlichen Teil des Gehirns ereilt (in der Fachsprache: eine distale Arteria-basilaris-Thrombose). Mein Atem- und Kreislaufzentrum war ohne ausreichende Blutversorgung. Jede Sekunde zählte, um zu überleben. Jede Minute ohne Blutversorgung zerstört etwa zwei Millionen Hirnzellen in der betroffenen Region.

Dank schneller Auflösung (»Lyse«) des Blutgerinnsels hat es auf Dauer nur meine linke Kleinhirnhälfte (zuständig für die Bewegungskoordination der linken Körperhälfte) erwischt, Atem-, Kreislauf- und Bewusstseinszentrum (Hirnstamm) konnten sich größtenteils zum Glück wieder erholen. Zu Beginn sah das anders aus. Ein Risikofaktor mehr, eine schlechtere Fitness – und ich hätte den Schlaganfall wohl nicht überlebt.

Bis zum 6. Mai 2015 war ich aktiver Hobby-Sportler, bin mindestens dreimal pro Woche gejoggt (noch am Tag davor etwa acht Kilometer mit einem Kollegen), war ausgebildeter Presslufttaucher, zertifizierter Taucherarzt, seit 25 Jahren Snowboarder, zudem Surfer und Schwimmer – vor Jahren sogar mit Trainerlizenz in der DLRG. Blutdruck und LDL-Cholesterin waren früher zu hoch, aber gut eingestellt. Ich war Nichtraucher, normalgewichtig, ärztlich ausgebildet in Ernährungsmedizin. Beste Voraussetzungen also, dass nichts passiert. Es ist aber passiert. Da liegt die Frage schon nahe, die sich fast jeder stellt, ich mir auch, unzählige Male: Warum ich?

Ich habe schnell lernen müssen, dass sowohl die Frage als auch das Nachdenken darüber für mich sinnlos sind. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Risikofaktoren für Herzinfarkte, Gefäßerkrankungen und Schlaganfälle gilt es akribisch zu suchen, zu finden und möglichst zu beseitigen! Wir können so neun von zehn Herzinfarkten und Schlaganfällen verhindern. Ich tue dies als Arzt heute mehr denn je, mit großem Engagement, lasse meine Patienten auf extragroßen Monitoren ihre eigenen, im Ultraschall sichtbaren Gefäßablagerungen verfolgen. Jedoch kennt jeder von uns Menschen, die rauchen, hohen Blutdruck und Diabetes haben, sich nicht sportlich betätigen und trotz dieser Risikofaktoren bis ins hohe Alter keinen Schlaganfall bekommen.

Das Leben ist nicht fair. Im Guten wie im Schlechten. Es gibt nicht immer einen erkennbaren Sinn. Medizin ist Statistik, und Statistiken haben keinerlei Aussagekraft für den Einzelnen. Ich erwähnte es schon kurz. Es ist wie beim Lotto: Am Ende gibt es einen Gewinner – wie schlecht die Chancen für ihn auch standen. Auch mich hat es getroffen, nur kann man da nicht von einem Glücksfall sprechen.

Vielleicht sind Sie oder ein von Ihnen geliebter Mensch in einer ähnlichen Situation, wenn Sie diese Zeilen lesen. So wie ich damals. Prognosen sind das eine, Tatsachen das andere. Jeder Mensch ist einzigartig.

Um es klar zu sagen: Ein Schlaganfall ist echter Mist – die ersten Tage, Wochen, Monate waren bei mir unbeschreiblich angstbesetzt, deprimierend, niederschmetternd, kräftezehrend und frustrierend. Ich habe nie etwas Schwierigeres im Leben zu meistern gehabt.

Auf den nächsten Seiten werde ich sehr offen berichten. Ich werde Ihnen einen möglichst direkten Einblick in meine damalige Erlebniswelt gewähren – auch die dunklen Tage und die vielen Tiefen, selbst die intimen und peinlichen Momente nicht verschweigen. Warum? Ich habe es oft vermisst, dass meine Therapeuten mit mir offen reden, wahrscheinlich haben sie vieles selbst nicht gewusst. Ich möchte es in diesem Buch daher anders halten. Vielleicht hilft es Ihnen, besser zu verstehen oder besser verstanden zu werden. Das ist mir ein echtes Anliegen.

Nichts Menschliches sollte uns peinlich sein, so wir uns für aufgeklärt und modern halten. Egal, ob jemand schmunzelt, wenn ich über meine Schwächen, Emotionen und Erlebnisse schreibe: Ich tue es dennoch. Es gehört nun zu meiner Biografie. Es gibt viele Fragen nach einem Schlaganfall, die einem niemand stellt. Warum eigentlich nicht: aus Scham? Aus Unwissen? Offene Kommunikation kann lindern. Sie ist wohl der einzige Weg aus der Isolation. Viele Mails, die ich nach meiner Genesung erhielt, zeugten von Dankbarkeit dafür, dass endlich einmal jemand beschreibt, was während eines Schlaganfalls mit einem Menschen passiert. Was mit mir passiert ist.

Gab es für mich eine Kernbotschaft in dieser schwierigen Zeit, die mich getragen hat? Ja! Sie lautet: »Aufgeben ist keine Option!« Das klingt wie ein Appell. Es ist wohl auch einer.

»Nehmen Sie den Schlaganfall sportlich!« Das riet mir damals jemand. Schreibt sich leicht. Ist es aber überhaupt nicht. Leider kann ich da inzwischen ein wenig mitreden. Ich hatte das Glück, ihn dennoch so sehen zu können, vom zweiten Tag an. Diese pragmatische Sicht passte zu mir. Ich habe meinen Schlaganfall als weitere Herausforderung des Lebens begriffen, so wie die Besteigung des Mount Everest. Doch es war und wurde viel schwerer als gedacht. Mir hat später ein Kollege gesagt: »Sie haben sich immer etwas vorgenommen, das hat dann nicht geklappt – also haben Sie es anders gemacht. Das war Ihr Erfolgsrezept.« Das beschreibt meinen Weg sehr gut.

Für wen schreibe ich dieses Buch? Für Sie? Für mich? Für meine Familie? Für mein Umfeld? Wahrscheinlich für uns alle. Mir haben die reflektierenden Gedanken und das Schreiben in den zurückliegenden 1000 Tagen jedenfalls immer wieder sehr geholfen. Es war für mich oft leichter, als darüber zu reden. Gleichzeitig habe ich erkannt: Als mir das Schicksal von jetzt auf gleich viel von meiner Freiheit genommen hat, fehlte mir auch die Freiheit, mit meiner Familie – vor allem mit meiner Frau und meinen Kindern – darüber zu reden. Auf diese Sprachlosigkeit war ich nicht vorbereitet. Meine Frau auch nicht. Obwohl ich das von Berufs wegen doch eigentlich können müsste. Auch meiner Frau fiel es schwer. Sie ist Psychiaterin und in Fragen der Kommunikation noch besser ausgebildet als ich.

Ich kann das inzwischen (etwas) besser, auch weil ich akzeptiert habe, dass die Krankheit nun mal zu meiner Lebensgeschichte gehört und ich das Glück hatte, die Folgen weitestgehend zu überwinden.

Heute weiß ich auch: Hier muss jeder, jedes Paar, jede Familie einen Weg finden. Mein 21-jähriger Sohn Lukas hat mir nach dem Durchlesen der ersten Seiten des Manuskriptes gesagt: »Ich bin froh, dass du es aufgeschrieben hast. Du redest ja nicht darüber.«

Vielleicht können Sie es besser machen als ich. Offenheit in der Situation, auch wenn es schwerfällt, ist der einzige Weg aus der Isolation. Ich habe meine Grenzen in diesem Punkt wirklich kennenlernen müssen.

Es würde mich sehr freuen, wenn diese Zeilen auch für Sie hilfreich sein könnten und die folgenden Seiten dazu beitragen, Ängste ab- und Verständnis aufzubauen. Dennoch möchte ich hier nichts schönreden: Ein schwerer Schlaganfall bedeutet, wie jede lebensbedrohliche Erkrankung, die pure Panik – und oft dunkelste Nacht. Bei Betroffenen. Bei Angehörigen. Bei Freunden. Aber auch: bei ärztlichen Kollegen. Bei den vielen wichtigen Therapeuten. Der Schlaganfall zählt immer noch zu den häufigsten Todesursachen. Machen wir uns nichts vor: Uns Weißkitteln fehlt meist die Erste-Person-Perspektive. Erfahrene Ärzte haben zwar schon alles miterlebt, aber dankenswerterweise nicht alles selbst erlebt. Ich hatte dieses Pech. Möge es ein Glück sein, wenn ich nun darüber schreibe.

Wichtig ist mir: Patentrezepte gibt es nicht. Der folgende, mein ganz persönlicher Blickwinkel kann für Sie daher völlig falsch sein. Auch hat meine Geschichte nichts Bewundernswertes an sich. Ich bin kein Held. Ich wollte einfach mein Leben zurück. Dass ich etwas hatte, wofür es sich lohnte zu kämpfen, hat mir sehr geholfen. Diese Erkenntnis war für mich die ganze Zeit über tröstlich: Ich fühlte mich in meinem Leben zu Hause. Dahin wollte ich zurück.

Trotz meiner damals erst 46 Jahre hatte ich das Privileg, auf ein sehr reiches und zufriedenes Leben zurückblicken zu dürfen. Ich habe schon immer vieles gewollt – und habe das meiste davon auch erreicht: Ich wollte immer Arzt werden. 1998 bin ich es geworden. Ich wollte immer Radio- und Fernsehmoderator werden – 1991 war es so weit. Ich wollte immer Wissenschaftsjournalist und -autor werden. Seit 1995 bin ich es. Ich wollte immer eine Familie gründen. 1995 habe ich geheiratet, 1997, 2001 und 2006 kamen unsere drei Kinder zur Welt. Aber: Ein Schlaganfall-Patient wollte ich nie sein, bin es aber 2015 geworden.

Ich verstehe mich gut mit meinen Eltern und Geschwistern. Meiner Frau und mir ist es zudem offensichtlich gelungen, eine einladende und offene Atmosphäre bei uns zu Hause zu schaffen. Selbst die Freundinnen und Freunde unserer ältesten Kinder begleiten uns gerne in den Urlaub. Auch wenn dieses Buch primär von meinem Schlaganfall erzählt, das Lebensmotto meines guten Freundes, Mitstudenten und Trauzeugen Holger Nölle stimmt nach wie vor auch für mich: »Life is good«, oder wie ich es für mich formuliert habe: »Das Leben ist eine wunderbare Sache.«

Wie die meisten Menschen trage ich viele Lieblings-Musikstücke mit mir durchs Leben. Vielleicht ein paar mehr als der Durchschnitt, weil ich nach dem Abitur bei einem privaten Radiosender als Musik- und Unterhaltungsmoderator arbeiten durfte. Eine coole Zeit. Die meisten Musikstücke begleiten mich seit vielen Jahren. Pop und Rock vor allem. Einige sind im Laufe der Zeit dazugekommen und legen sich wie eine Folie passend über das Erlebte. Eine Art Soundtrack meines Lebens.

Diese Stücke verbinden mich mit Erinnerungen. Wie eine Nabelschnur in die Vergangenheit. Während meiner Erkrankung haben viele dieser Liedzeilen für mich eine ganz neue, sehr persönliche Bedeutung bekommen. Bei manchen hatte ich das Gefühl, sie wären für mich geschrieben. Die Textpassagen beschreiben gut, wie ich mich gefühlt habe, was mich beschäftigt hat. Stundenlang habe ich vor verschiedenen Kliniken in der Sonne gesessen, einen Coffee to go getrunken, die Sonnenbrille aufgezogen, mich abgeschottet, weggeträumt und mit dem Knopf im Ohr Musik gehört. Plötzlich war es nicht nur Musik. Viele der Texte veränderten die Sicht auf meine Situation. Sie sprachen zu mir. Die Kenntnis der für mich zentralen Zeilen ist daher für das Verständnis und das Nachvollziehen meiner damaligen Situation unerlässlich. Das Hören bereitete mir Momente großen Glücks. Viele dieser Songs haben in mir, in meiner Situation, Wesentliches bewirkt – ich führe sie immer wieder einmal an, um meine sich verändernde Gefühlslage besser vermitteln zu können.

Plötzlich konnte ich z.B. den deutschen Interpreten Jan Delay (meine Frau mag seine etwas knatschige Stimme nicht) sehr gut verstehen. Mit dem Hören seines Songs »Hoffnung« wurde mir klar: Musik kann für mich tatsächlich zu einem Strohhalm werden. Er bringt es so auf den Punkt:

Wenn du denkst, es geht nicht mehr,

kommt von irgendwo diese »Mucke« her …

Und sagt dir, dass alles besser wird

und dass die Hoffnung als Allerletztes stirbt …

 

Auszug aus »Hoffnung« von Jan Delay, veröffentlicht 2009

 

Während meiner Zeit nach dem Schlaganfall kreisten meine Gedanken häufig um das Buch »In eisige Höhen« von Jon Krakauer aus dem Jahr 1997. Es geht um ein Bergsteigerdrama am Mount Everest – eine fatal gescheiterte Expedition. Mit vielen Opfern. Auch im Mai. Wenn auch 19 Jahre zuvor … Ich hatte es vor Jahren – noch auf Kassetten – fasziniert und zugleich voller Erschütterung im Auto gehört. In mir formten sich nun viele Parallelen: eine große Herausforderung, die Folgen des Sauerstoffmangels für das Gehirn in großen Höhen, das Schwinden von Kraft und Sinnen in der »Todeszone über 8000 Höhenmetern«, die Dauer von Vorbereitung und Expedition, die Ungewissheit des Ausgangs … Wenn »da oben« etwas passiert, bist du auf dich alleine gestellt. Mir ist auch »da oben« was passiert, ich war oft auf mich alleine gestellt. Mein Umfeld hatte häufig Schwierigkeiten, mich und meine Handlungsweisen zu verstehen. Ich hatte häufig Schwierigkeiten, mich und meine Handlungsweisen, auch nur meinen Körper zu verstehen. Auch das war wie beim Bergsteigen: Ich musste das Neue meiner Situation von einem vermeintlich sicheren Basislager aus erkunden und mich – im Zweifel – immer wieder dahin zurückziehen. Das klingt schöner, als es war. Mein »sicheres Basislager« war leider sehr lange sehr klein.

 

Ich habe große Teile dieses Buches im Osterurlaub am Lago Maggiore und im Skiurlaub in Hopfgarten in den Kitzbüheler Alpen geschrieben. Das ist vertrautes Terrain. Ich selbst kann leider nicht mehr surfen, Motorrad fahren, klettern oder snowboarden. Mein verbliebener Gleichgewichtssinn lässt es nicht mehr zu. Für das normale Leben reicht es aber. Was »gleichgewichtskompetenten Personen« (klingt viel schlauer als »Gesunde«) schwerfällt, ist für mich heute leider unmöglich. Ein Klettergarten zum Beispiel. Hinzu kommt, dass jeder größere Sturz für mich bedrohlich wäre. Da ich ein blutverdünnendes Mittel (Apixaban) einnehmen muss, wären auch kleinere innere Blutungen höchst gefährlich. Dennoch bin ich dankbar: Denn dieses moderne Medikament hat mich wahrscheinlich vor einem weiteren Schlaganfall bewahrt.

 

So genießt meine Familie gerade den Schnee, während ich gemütlich im Café »Rundel« sitze, ein paar Haferl Kaffee trinke und diese Zeilen schreibe. Natürlich: Ich vermisse das Snowboarden. Ich vermisse das Surfen. Ich vermisse das Motorradfahren – und einiges mehr. Doch das ist Klagen auf hohem Niveau.

 

Dieses Buch habe ich in den ersten Wochen nach dem Schlaganfall begonnen, die Arbeit daran anschließend immer wieder vor mir hergeschoben, später alles noch mal umgeschrieben. Dennoch wollte ich es immer zu Ende bringen – und hatte gleichzeitig Angst, was mich beim schreibenden Durchleben erwarten würde. Nun ist es geschafft.

 

Ich lebe. Und es ist ein gutes Leben. Unterwegs sah es oft nicht danach aus.

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2

Alles neu macht der Mai

Der Tag, an dem der Schlag mich traf

Es ist Mittwochmittag. Schönes Wetter. Ich fahre gut gelaunt mit einem Arbeitskollegen von Mainz nach Mannheim. Ziel ist einer der größten Anbieter von Produkten und Lösungsangeboten für medizinische Labore. Vor einiger Zeit habe ich eine Medizinfirma gegründet, die sich darauf spezialisiert hat, ärztliches Spezialwissen in der Breite verfügbar zu machen. Zurzeit widme ich mich der Entwicklung von intelligenter Software, die dazu beitragen soll, im Alltag zuverlässigere Diagnosen zu stellen und vielversprechende Therapien auszuwählen. Heute wollen wir eine mögliche Kooperation besprechen. Ich soll im kleinen Kreis einen Standardvortrag halten. Nichts Ungewöhnliches. Alles ist wie immer.

Schließlich sitzen wir zu viert in einem fensterlosen Besprechungsraum. Es gibt Wasser aus Plastikflaschen. Nach kurzem Austausch über die Bedürfnisse heutiger Labore beginne ich mit meinem Vortrag. Bei Folie III merke ich, dass etwas mit mir nicht stimmt. Zunächst halte ich es für einen harmlosen Migräneanfall, doch es ist diesmal anders. Ich sehe alles verschwommen und doppelt, kann nichts mehr lesen. Nach wenigen Augenblicken beginnt sich alles zu drehen, wie im Schleudergang einer Waschmaschine. Mir wird übel, unfassbar übel. Auch merke ich, dass mir das Sprechen plötzlich schwerfällt. Mir, dem Freiredner und ehemaligen TV-Moderator.

Nun spinnen auch mein linker Arm und das linke Bein. Möchte ich auch nur kleinste Bewegungen machen, reagiert die linke Seite völlig chaotisch. Mir ist das alles sehr peinlich. Ich bitte um zwei Minuten Auszeit – erfinde schnell noch einen fiebrigen Infekt, den ich vorschiebe, doch ich kann schon nicht mehr alleine gehen, muss mich an der Wand abstützen, werde geführt und falle vor dem Raum in ein Sofa. Mit Mühe trinke ich einen Schluck Cola, kann plötzlich nicht mehr sprechen. Vor drei Minuten habe ich noch frei redend präsentiert. Dieser Moment bedeutet das Ende meines bisherigen Lebens. Das weiß ich heute. Von hundert auf null in wenigen Augenblicken.

Zwar habe ich die Worte, die ich sagen will, klar im Kopf, verstehe jeden um mich herum, doch verlassen nur noch unverständliche Laute meinen Mund. In mir steigt Beklemmung auf. Ich befürchte zu wissen, was ich habe. Als Mediziner weiß ich, dass es eigentlich nur zwei Erklärungen gibt: entweder eine »TIA«, eine transiente ischämische Attacke (also eine Durchblutungsstörung des Gehirns mit rascher Rückbildung der Symptome, aber immer verbleibenden Zellzerstörungen und einer Gefahr der Wiederholung) oder, noch schlimmer: ein echter Schlaganfall, also eine schwerwiegendere Durchblutungsstörung des Gehirns mit verzögerter, nur geringer Rückbildung oder gar zunehmender Verschlechterung. Doppelbilder und Drehschwindel lassen mich an das sogenannte hintere Stromgebiet der Blutgefäße mit dem Hirnstamm denken, also die Steuerzentrale für Atmung und Kreislauf.

Doch selbstbetrügerisch hoffe ich in diesen dramatischen Momenten immer noch auf einen schweren Anfall von Migräne, unter der ich ab und zu leide.

Ich muss mich übergeben. Mehrfach. Gut, dass ein Papierkorb da ist.

Je schlechter es mir geht, desto mehr verblasst die Außenwelt. Ein Kollege des Gastgeberteams kümmert sich rührend um mich. Jetzt sehe ich die Panik im Gesicht meines Mitarbeiters, der links auf einem Sessel neben mir in der kleinen Couchgruppe sitzt. Ich kann nichts mehr sagen. Der Betriebsarzt wird gerufen, ich werde unsagbar müde. Mir ist nun alles egal. Schwindel, Übelkeit, Doppelbilder, der Verlust der linksseitigen Kontrolle – alles wird schlimmer. Nichts besser. Binnen Augenblicken. Spürbar. Jetzt wird mir – wie durch dichten Nebel – klar, was alle anderen um mich herum schon längst wissen: Heute Nacht werde ich nicht in meinem eigenen Bett schlafen. Die Situation ist lebensgefährlich. Ich ahne es in diesem Augenblick mehr, als dass ich es weiß.

Der Werksarzt kommt. Puls und Sauerstoffsättigung werden gemessen. Ich habe deutlich zu wenig Sauerstoff im Blut. Mein (Not-)Arztverstand – immer noch glasklar, wenn auch langsamer und müde – warnt jetzt: Dein Sauerstoff-Regelkreis ist betroffen. Deine Atemsteuerung versagt. Du schwebst in Lebensgefahr. Und gleichzeitig denke ich: Na und? Meine Gedanken verlassen Mannheim. Sie gehen auf die Reise. Durch Zeit und Raum. Zurück ins Jahr 2009 – damals habe ich in Mailand ein kuscheliges Open-Air-Konzert der Simple Minds besucht. Die mag ich seit den 80ern. Damals stellte Sänger Jim Kerr das neue Album vor. In diesen lange zurückliegenden Sommertagen habe ich den Titelsong »Stars will lead the way« nicht recht verstanden – jetzt kommen mir einige Liedzeilen in den Sinn, die exakt das ausdrücken, was mir gerade widerfährt:

And I’m wandering in a trance, taken over me

Wandering in a world but I can’t see

Wandering in a trance, taken over me

Taken over me, taken over me

I’m the one who broke apart, yeah I’m the one that’s free

I’m the one who broke apart, the one that couldn’t see

 

***

 

Ich wandle wie in Trance, die sich meiner bemächtigt.

Ich wandle in einer Welt, die ich nicht sehen kann.

Ich wandle wie in Trance, die sich meiner bemächtigt.

Ich bin derjenige, der ausgebrochen ist, ich bin es, der nun frei ist.

Ich bin derjenige, der ausgebrochen ist, der, der nicht sehen konnte.

 

Auszug aus »Stars Will Lead The Way« von den Simple Minds, veröffentlicht 2009

 

Den Mitarbeiter des Gastunternehmens, der sich so rührend um mich gekümmert hat, habe ich übrigens einige Monate später wiedergetroffen. »Man hat damals gemerkt: Sie wollten das Ereignis nicht akzeptieren«, sagte er mir. »Sie wollten weitermachen. Sie haben gekämpft. Bis zum Zusammenbruch. Das fand ich sehr beeindruckend.« Dies ist eines der schönsten Komplimente, die ich je bekommen habe. Ich habe versucht, es den ganzen Genesungsweg so zu halten: zu kämpfen. Das mag martialisch klingen. Doch das war es nicht. Es war für mich ein Versuch, die Kontrolle zurückzugewinnen.

 

 

Mein Hirn, die Zeitbombe

Eine Nadel landet in einer Vene in meinem Arm. Wie oft habe ich als Arzt selbst Nadeln gesetzt?! Die wenigen Schritte zur Liege des Rettungswagens auf dem Gang kann ich nicht mehr alleine gehen. Mein linkes Bein versagt den Dienst. Mein linker Arm zuckt. Ein echter Zusammenbruch. Als ich endlich auf der Liege bin, ist mir so schwindelig, dass ich den Eindruck habe runterzufallen. Ich muss mich nun ständig übergeben – in die Kotztüte der Sanitäter. Im Anzug werde ich auf der Liege durch das Bürogebäude geschoben, bemerke die neugierigen Blicke. Egal! In der Uniklinik wird mir schnell geholfen, hoffe ich.

Die Fahrt im Rettungswagen beginnt. Wie skurril. Erst vor wenigen Monaten habe ich selbst eine Notarztfortbildung gemacht. Ich werde immer müder. Jetzt liege ich auf der anderen Seite. Mir fallen die Augen zu. Ich erbreche mich dennoch. Wenn ich jetzt noch Schluckprobleme bekomme, wird es heikel mit dem Erbrechen, geht es mir durch den Kopf. Mühsam stammle ich schwer verständlich diejenigen Medikamente zusammen, die ich regelmäßig nehme, gegen Bluthochdruck und – vorsorglich – zu hohe Cholesterinwerte (wahrscheinlich bewahrt mich das davor, an diesem Tag das Leben zu verlieren), lalle meine Krankengeschichte. Als ich mich selbst reden höre, denke ich nur: Entsetzlich, das soll ich sein? Das ist kein Sprechen. Das ist Kauderwelsch. Mir fehlen Worte. Ich kann sie zwar denken, aber ich kann sie nicht aussprechen. Ich verstehe alles. Doch niemand sonst versteht mich. Das macht mir Angst.

Mein Sauerstoffspiegel im Blut fällt – trotz Sauerstoffgabe über die Atemluft – immer weiter ab. »Mach schneller«, bittet der ärztliche Kollege den Fahrer. Mein Allgemeinzustand verschlechtert sich zusehends, der Notarzt redet beruhigend auf mich ein. Danke! Die Notaufnahme am Uniklinikum Mannheim. Ich drifte immer wieder weg. Der aufnehmende Kollege hält es zu Beginn auch für eine schwere Migräneattacke. Für alles andere sei ich zu jung, zudem kein Raucher, noch dazu sportlich. Ich bekomme ein Medikament gegen die Übelkeit gespritzt (Vomex). Es kommt mir vor, als explodiere eine Nebelbombe in meinem Hirn. Alles rückt in immer weitere Ferne.

Ich werde zur Kernspintomografie gerollt. Es geht einen langen Gang entlang, ich schlafe immer wieder ein. Meine Erinnerungen sind bruchstückhaft. Die Untersuchung ist rasch überstanden, doch die Ergebnisse bestätigen die schlimmsten Befürchtungen: Es ist doch ein Schlaganfall. Ein lebensgefährlicher noch dazu. Atemzentrum, Mittel- und Kleinhirn und eventuell auch das Sehzentrum seien in akuter Gefahr. Ein Blutgerinnsel unbekannter Herkunft verstopfe den oberen Teil der Arteria basilaris. Dieses müsse so schnell wie möglich aufgelöst werden! Chaos in meinem Kopf. Ich kann mir in diesem Augenblick nicht vorstellen, wie ich »das hier« überstehen soll. Gibt es ausweglosere Situationen? Mich beruhigt eine Passage aus dem Everest-Buch »In eisige Höhen«. Mir wird klar: Auch Menschen vor mir haben einen solch totalen Kontrollverlust erlebt. Der Autor zitiert dort den irischen Dichter William Butler Yeats. Diese Passage gibt mir das Gefühl, dass schon andere erlebt haben, was ich nun fühle:

Weiter und weiter in konzentrischen Kreisen

Der Falke kann den Falkner nicht hören;

Die Dinge zerfallen, das Zentrum hält nicht mehr;

Absolute Anarchie ergießt sich über die Welt.

 

William Butler Yeats, »Der Jüngste Tag«, Zitat aus »In eisige Höhen«

 

Seit dem Beginn der Beschwerden sind gerade mal zwei Stunden vergangen – oder weniger. Ich sage mir: Nach der Lyse, bei der das Blutgerinnsel im Kopf aufgelöst wird, wird alles wieder in Ordnung sein. Spritze in den Arm, Zeugs rein, Gerinnsel auflösen, alles wieder wie vorher. Das ist wohl der Moment, an dem mich mein bis dahin noch halbwegs klarer, wenn auch vernebelter Verstand endgültig verlässt.

Traum, Wünsche und Realität lassen sich in den nächsten Stunden (und Tagen) nicht mehr klar trennen. Auf der Stroke-Unit komme ich immer wieder zu mir, und eine freundliche Oberärztin klärt mich über meine Situation sowie die Chancen und Risiken der anstehenden Lyse auf. Sie lächelt nett. Ich hätte zu allem Ja gesagt.