Wie einst im Mai - Else Ury - E-Book

Wie einst im Mai E-Book

Else Ury

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Beschreibung

Das Buch 'Wie einst im Mai' von Else Ury ist ein berührender Roman, der die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft zwischen einem jungen Mädchen und einem älteren Mann erzählt. Ury präsentiert die Handlung mit einer Mischung aus lebendigen Dialogen und einfühlsamen Beobachtungen der Charaktere. Der literarische Stil des Buches ist äußerst detailliert und einfühlsam, was es zu einem fesselnden Leseerlebnis macht. Das Werk ist ein Meisterwerk des deutschen Jugendromans und fasziniert Leser jeden Alters. Else Ury, die Autorin des Buches, war eine renommierte deutsche Schriftstellerin, die für ihre einfühlsame Darstellung von Kindern und Jugendlichen bekannt war. 'Wie einst im Mai' ist ein weiteres Beispiel für Urys Talent, komplexe Themen auf einfache und emotionale Weise darzustellen. Ich empfehle dieses Buch jedem, der nach einer berührenden und tiefgründigen Lektüre sucht, die lange nachklingt und den Leser in ihren Bann zieht.

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Else Ury

Wie einst im Mai

          Books
- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung [email protected]   2017 OK Publishing
Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel: Wie das Maienkränzchen entstand
Zweites Kapitel: Anno Tobak
Drittes Kapitel: Gußzwiebäcke und Frauenfrage
Viertes Kapitel: Von der alten Singe-Uhr und von jungen Menschen
Fünftes Kapitel: Mamsell Blaustrumpf
Sechstes Kapitel: Von Einkochgläsern und lateinischen Verben
Siebentes Kapitel: Blumenkorso
Achtes Kapitel: Hausmütterchen
Neuntes Kapitel: Im Affentheater
Zehntes Kapitel: Tanzstunde von dazumal
Elftes Kapitel: Mit dem Planwagen in den Frühling hinein
Zwölftes Kapitel: Maienkränzchen
Dreizehntes Kapitel: Auf Sommerwohnung
Vierzehntes Kapitel: Von wirtschaftlicher und geistiger Not
Fünfzehntes Kapitel: Altberliner Weihnachtsmarkt
Sechzehntes Kapitel: Was blasen die Trompeten?
Siebzehntes Kapitel: Das soziale Gewissen erwacht
Achtzehntes Kapitel: In alle Winde verstreut
Neunzehntes Kapitel: In gleichem Schritt und Tritt
Zwanzigstes Kapitel: Hochzeit im Tabakhaus
Einundzwanzigstes Kapitel: Zehn Jahre später
Zweiundzwanzigstes Kapitel: Fräulein Doktor
Dreiundzwanzigstes Kapitel: »Rosmarin und Suppenkraut blühn in meinem Garten«
Vierundzwanzigstes Kapitel: Jahrhundertwende
Fünfundzwanzigstes Kapitel: Jugend von heute

Erstes Kapitel: Wie das Maienkränzchen entstand

Inhaltsverzeichnis

An einem sonnigen Frühlingstage war es, in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, da ließ das alte Haustor der Möbusschen Schule knarrend eine Schar junger Mädchen aus dem dämmerigen Steinflur hinaus in die Mittagshelle. Sie hatten es heute nicht gar so eilig, die acht, trotzdem sie sonst nicht schnell genug dem engen Schulkäfig entrinnen konnten. Ja, die beiden letzten, Freundinnen von der untersten Abeceklasse an, hemmten unwillkürlich den Fuß, als zögerten sie, den allerletzten Schritt hinaus aus der wohlbehüteten Kindheit zu machen.

»Wo bleibt ihr denn, ihr beide? Beeilt euch! Ihr lernt wohl euer Abgangszeugnis auswendig? Bei euch lohnt sich das wenigstens«, rief ein dralles Ding mit blonden Haarschnecken und frischen Wangen in das Haus zurück.

»Fränze und Lisabeth können sich nicht von unserm gestrengen Doktor Möbus trennen«, scherzte die dunkeläugige Martha.

»Oder sie sind zu guter Letzt in ihren Abschiedstränen ersoffen«, spöttelte eine schwarzzöpfige andere.

»Ersoffen! Wie burschikos du immer sprichst, Hanna! Bei jedem Wort merkt man dir die Studentenbrüder an«, meinte Eva mit dem glattgescheitelten, zu Brezeln aufgesteckten Blondhaar verweisend.

»Und dir bei jedem Wort die zukünftige Erzieherin«, entgegnete die Getadelte, ihr unbekümmert ins Gesicht lachend. »Ich wollte, ich wäre so ein Bruder Studio und könnte hinaus in die Welt ziehen! Macht nicht so entsetzte Augen, Mädel! Sind denn der Strickstrumpf und der Kochtopf das Ideal eines jungen ins Leben tretenden Menschen? Das meinige gewiß nicht!« Johanna Kruse band die Bänder der Schute, die der Frühlingswind ihr entreißen wollte, energisch über den schwarzen Zöpfen fest.

»Es ist doch die Bestimmung und der Beruf eines weiblichen Wesens, seine häuslichen Pflichten zu erfüllen«, wandte Gustel Lehmann schüchtern ein. Gewöhnlich wagten die Schulkameradinnen es nicht, eine andere Meinung zu haben als die kluge Johanna; man ordnete sich ihrem klaren Urteil und dem etwas spöttisch überlegenen Ton allgemein unter. Nur Eva Nikolai machte davon eine Ausnahme. Darum hatte sie Johanna auch zu ihrer Vertrauten erkoren.

»Ja, Gustel, bei dir ist das etwas anderes. Du mußt deinem Vater die Hausfrau, den kleinen Geschwistern die Mutter ersetzen. Für dich bedeutet das Haus die Welt«, gab Johanna zu. »Aber wir andern ...«

»Für dich liegt es doch ganz ähnlich, Hanna. Auch deine Lebensaufgabe ist es, den Platz deiner verstorbenen Mutter auszufüllen, Vater und Brüder zu betreuen«, fiel Eva ihr ins Wort.

»Die Ärmsten, wenn sie auf meine häusliche Obhut angewiesen wären! Nein, das macht Tante Mathilde tausendmal besser als ich. Papa soll mich lieber in seiner Sprechstunde oder in seiner Klinik anlernen; das entspricht mehr meinen Neigungen.«

»Krankenschwester, puh!« Das lustige, kugelrunde Mariechen machte ein verständnisloses Gesicht. »Das ist so traurig, immer mit Krankheit und Schmerzen zu tun zu haben!«

»Wer sagt denn, daß ich Krankenpflegerin werden will? Das paßt allerdings zu mir wie Berliner Weißbier zu Kaviar«, entgegnete Hanna lachend.

»Na, was willst du denn sonst werden?« fragte Mariechen ein wenig empfindlich.

»Ärztliche Assistentin oder vielleicht gar ...« Hanna verstummte, als sie die belustigten Mienen ringsum bemerkte. »Ach, was versteht solch ein Landpomeränzchen davon! Mariechen, geh nach Neu-Trebbin und bau deinen Kohl!«

»Und du rede keinen Kohl, Hanna!« nahm sich Eva der puterrot gewordenen Kameradin an. »Aufs Seminar hättest du mit mir kommen sollen, das wäre das Richtige für dich gewesen.« Trotz allem Zureden hatte Eva es nicht vermocht, die Freundin dazu zu überreden, mit ihr nach dem Schulabgang gemeinsam das Senssche Seminar zu besuchen.

Auch jetzt schüttelte sich Hanna, als hätte man ihr Essig zu trinken gegeben. »Paß ich zur ehrpusseligen Erzieherin? Das überlaß ich unserm Tugendschäfchen, dem vorbildlichen Evchen. – Was meint ihr, Fränzchen und Lisabeth?« Sie wandte sich den beiden Nachzüglerinnen zu.

»Ich meine, daß ihr euch für eure Debatte den frühlingsduftendsten Platz von ganz Berlin auserkoren habt. Ob wir das nun dem Rinnstein hier oder dem Zwirngraben drüben zu verdanken haben, jedenfalls duftet es hier nicht gerade nach Frühlingsveilchen.« Schnüffelnd hob Franziska das kecke Näschen empor.

»Tabaksoße duftet frühlingsmäßiger, Fränzchen«, spottete Hanna. Sie hatte die Lacherinnen auf ihrer Seite; denn in dem alten Doussinschen Patrizierhaus, in dem Franziska daheim war, pflegte sich oft scharf und beißend die hinter dem Hause gelegene Tabakfabrik ihres Vaters unangenehm bemerkbar zu machen.

Fränzchen nahm einen Scherz nicht übel. Sie stimmte in das Lachen der andern ein.

Nun endlich wandte man sich zum Gehen. Noch einen Blick zurück auf das Schulhaus. Oh, es war ein recht unansehnliches altes Haus! Und doch erschien es den acht im Augenblick ihres Abschieds als Inbegriff ihres Jugendglückes.

Zu vieren untergehakt, zogen sie auf dem holperigen Steinpflaster mitten auf dem Damm – denn der Bürgersteig war zu schmal – die Rosenstraße entlang. Die weiten, faltigen Röcke wippten lustig über der Krinoline, die farbigen Hutbänder flatterten fröhlich im Frühlingswind. Wagenverkehr gab es dort damals so gut wie gar nicht. Zuckelte wirklich einmal ein Droschkengaul vorüber, so wich er den jungen Mädchen höflich aus.

An dem verwitterten Steinkreuz vor der Marienkirche machte man halt. Fliedergezweig, Rot- und Weißdorn tastete zaghaft mit zartgrünen Frühlingsfingern um altersgraues Gemäuer. Hier in diesem weltabgeschiedenen Winkel war man für sich.

»Der richtige Ort zum Abschiednehmen«, entschied Fränzchen. »Man könnte gleich eine Elegie darauf dichten.«

»Wie verwunschen sehen die Häuschen dort neben dem Marienkirchhof aus!« Marthas dunkle Augen nahmen das malerische Bild in sich auf.

»Hier an dem Kreuz ist mal einer abgemurkst worden.« Nüchtern zerriß Hanna mit einem Schlage die poetische Stimmung.

»Hu, wie gräßlich! Kommt lieber hinüber, dort zu der Steinbank unter der Kastanie!« Gustel machte ängstliche Augen.

Und nun hockten sie alle acht, wie die Spatzen am Dachfirst, auf der lehnenlosen Bank. Vier hüben, vier drüben, Rücken an Rücken gelehnt. Man machte sich so dünn, wie es die Krinoline nur zuließ, und blinzelte in das Sonnengeflirr, in den Kastanienbaum hinein, der schon die ersten mattrosa Blütenkerzen zu entzünden begann, in den Schwalbenflug um den alten Kirchturm. Die ersten Schwalben im Jahr! Keine sprach. Jede hing ihren Gedanken nach. Die waren durch die Abschiedstunde teils wehmütig, teils hoffnungsfroh, je nach Veranlagung, wie es bei Sechzehnjährigen, die das Leben mit all seinen Wundern vor sich ausgebreitet sehen, zu sein pflegt.

»Na ja!« sagte schließlich eine. Es war das lustige Mariechen, das nicht lange still sein konnte.

Da lachten sie alle, und der Bann, der ihre jungen Seelen einengte, wich.

»Wer hält die Abschiedsrede?«

»Eva, die künftige Lehrerin.«

»Nein, unsere Dichterin Fränze; die redet gleich in Versen.«

»Ich überlasse diese Ehre großmütig Hanna; die ist die logischste von uns allen, hat Doktor Möbus gesagt.«

»Ja, Hanna – Hanna Kruse soll reden!« rief es im Chor.

Ehe Johanna es sich versah, war die Steinbank zur Rednerkanzel umgewandelt. Sie selbst fühlte sich von kräftigen jungen Armen hinaufbefördert, während sich die Mädchen um sie scharten.

Hanna Kruse war nicht schüchtern. Mit lauter Stimme begann sie: »Liebe Freundinnen und Schulgefährtinnen! Wir haben so lange Jahre während der ganzen Schulzeit getreulich zusammengehalten, und wenn sich auch die einen und die andern manchmal gezankt haben, im ganzen haben wir uns doch gut miteinander vertragen. Wir hatten dieselbe Arbeit, dasselbe Streben und das gleiche Ziel. Von heute an wird das anders. Unsere Wege gehen auseinander. Die meisten von euch übernehmen Haustochterpflichten daheim. Martha wird daneben den Malpinsel schwingen, Fränze reitet gewiß, wenn auch nur heimlich, den Pegasus. Änne lernt den Schneiderspieß, die Nähnadel, zücken, und Eva wird im Seminar noch gründlicher und pedantischer werden, als sie jetzt schon ist.«

»Erlaube gefälligst! Ein bißchen von meiner Pedanterie wäre dir recht gut«, unterbrach die Freundin sie. Unbekümmert fuhr die Sprecherin fort: »Gustel wird die kleinen Geschwister verkloppen, auf hochdeutsch: erziehen, und Mariechen wird Rosmarin und Suppenkraut in ihrem Garten pflanzen. So hat jedes seinen Teil, jedes seinen planmäßigen Weg in die Zukunft hinein. Ob wir auf ihm bleiben werden? Ich bezweifle es; denn erstens kommt es manchmal anders, und zweitens, als man denkt. Aber ich würde später gern wissen, was aus euch allen geworden ist, und so wie ich, denkt sicherlich jede von euch.«

»Ja, natürlich – freilich!« rief es dazwischen.

»Darum möchte ich einen Vorschlag machen: Wir gründen einen Verein ehemaliger Selektaschülerinnen der Möbusschen Schule und kommen jedes Jahr zu einem urfidelen Kneipabend ...«

»Die Studentenbrüder spuken schon wieder bei Hanna. Wir Mädel trinken doch kein Bier! Aber zum Kaffeekränzchen am Nachmittag können wir uns verabreden«, erhob Eva Einspruch.

»Natürlich mit Kaffeekanne und Strickstrumpf; anders ist für euch kein Zusammenkommen möglich.« Hanna zuckte spöttisch die Achseln.

»Wir könnten uns jedes Jahr, wenn die Kastanie blüht, hier am Steinkreuz wieder treffen«, schlug Fränze, sinnend zu dem Frühlingsbaum aufblickend, vor.

»Um Mitternacht – als Gespensterspuk. Nein, da bin ich doch mehr für Kaffeekanne und Strickstrumpf«, warf Lisabeth lachend ein.

»Ich auch. Das Kaffeekränzchen wird angenommen«, echote es im Chor.

»Schön! Also jedes Jahr, wenn die Kastanien blühen, treffen wir uns. – Ja, wo treffen wir uns denn nun?« erkundigte sich Änne.

»Am liebsten irgendwo im Freien. Wir können ja mit dem Torwagen nach Pankow oder Charlottenburg oder auch nach Schöneberg gondeln«, meinte Lisabeth.

»Das wird mancher von uns zu teuer werden. Solche Torwagenfahrt kostet zwei gute Groschen, und dann kommt draußen das Kaffeekochen noch dazu«, überlegte Gustel, die zu rechnen gewöhnt war.

»Und ich soll aus Neu-Trebbin jedesmal dazu nach Berlin kommen? Das ist ja beinahe eine Tagereise; auch hat man nicht immer eine Fahrgelegenheit.« Mariechen schüttelte bekümmert den lustigen Blondkopf.

»Irgend ein Viehwagen wird dich schon aufladen und bis Wriezen mitnehmen. Von dort hast du Post nach Berlin. Vielleicht wird mal später sogar eine Eisenbahnverbindung dort gelegt«, meinte Hanna.

»Eisenbahn!« entfuhr es Mariechen entsetzt. »Ich fahre nicht mit solchem schwarzen fauchenden Ungeheuer. Das ist ja lebensgefährlich!«

»Du bist und bleibst ein Landpomeränzchen, Mariechen, mit deiner altmodischen Angst vor der Eisenbahn.«

Nun lachte sie auch ihre Base Lisabeth aus, in deren elterlichem Hause Mariechen das letzte Jahr ihrer Schulausbildung verlebte. »Dabei ist Vater doch schon öfters mit uns mit der Eisenbahn nach Potsdam gefahren.«

»Da habe ich auch meinem Schöpfer gedankt, wenn ich mit heilen Gliedern wieder draußen war«, räumte Mariechen lachend ein. »Hören und Sehen verging einem. Nein, da lobe ich mir meine gemütliche gelbe Postkutsche!«

»Wer weiß, ob nicht einmal noch schnellere Beförderungsmittel als die Eisenbahn erfunden werden!« sagte Hanna nachdenklich. »Wir werden es ja vielleicht nicht mehr erleben ...«

»Ich will es auch gar nicht erleben. Mir genügt die Schnelligkeit der Eisenbahn durchaus«, wehrte sich Mariechen gegen Hannas Zukunftsvorstellung.

»Ich möchte es vor allem erleben, daß unsere Kränzchenbesprechung endlich mal zustande kommt«, unterbrach Eva sachlich. »Die geht noch langsamer vorwärts als die Postkutsche.«

»Ja, für Mariechens Bildung ist es unbedingt notwendig, daß sie wenigstens alle Jahre einmal Berliner Luft schnappt«, fiel Fränze ein.

»Bei Kaffeekanne und Strickstrumpf«, kam es wieder trocken von Hannas Lippen.

Eva zog ein in lila Seide gebundenes Büchlein aus dem perlgestickten Pompadour. »Zuerst müssen wir natürlich die Kränzchenstatuten festlegen. Da ist vor allem der Name von Wichtigkeit. Wie wollen wir unsere Vereinigung nennen?« Sie war die Pedantischste, aber auch die Gewissenhafteste von allen.

»Vereinigung ehemaliger Möbus-Schwärmerinnen.«

»Quatsch!«

»So schlag doch etwas Besseres vor!«

»Schulentlassene halbe Mandel.«

»Ist entschieden nicht geistvoller.«

»Wie wäre es mit Gänschen-Kränzchen, Fränzchen?«

»Pfui, Hanna!«

»Vielleicht gefällt euch Puten-Kränzchen besser?«

Man strafte sie mit Verachtung.

»Es muß ein gefühlvoller Name sein.« Das war natürlich Fränzchen.

»Gesellschaft für Strickstrumpfkultur und Kochtopfchemie.« Nein, die Hanna konnte wirklich manchmal boshaft sein!

»Wir brauchen es doch nur schlecht und recht ›Kränzchen‹ zu nennen«, wagte sich Mariechen hervor.

»Ja, natürlich, das ist das einfachste.«

»Dann wenigstens ›Maikränzchen‹.« Der poetischen Fränze genügte der schlichte Name nicht.

»Weil es im April jeden Jahres zusammenkommen soll?« neckte Lisabeth die Freundin.

»Hahaha!« Alles lachte und schwatzte durcheinander.

»Ruhe – Silentium!« Hanna rief es wieder von der Rednerkanzel, der Steinbank, in den Volkstumult hinein. »›Maikränzchen‹ ist in Anbetracht, daß wir uns im sogenannten Mai unseres Lebens befinden, ganz passend. Auch wäre es verständig, unser alljährliches Zusammenkommen, das ja im Freien stattfinden soll, auf den Mai zu verschieben. Sonst kann es uns im April geschehen, daß uns die Kaffeetasse an der Nase festfriert und selbst Gustels fleißige Hände zu klamm sind, um den Strickstrumpf zu halten. Das wäre doch ein unwiederbringlicher Verlust an der Kultur der Menschheit. Ich mache den Vorschlag, unsere Zusammenkunft immer auf den Pfingstsonnabend zu legen und unser Kränzchen das ›Maienkränzchen‹ zu taufen. Wer damit einverstanden ist, Hände hoch!« Hanna Kruse hatte entschieden Organisationsgabe.

Etliche Mädchenhände, große und kleine, zarte und derbe, fuchtelten alsbald in der Frühlingsluft herum.

»Mit Stimmenmehrheit angenommen. Eva wird offiziell zur Schriftführerin ernannt. Notiere: Maienkränzchentagung am Pfingstsonnabend eines jeden Jahres nachmittags halb vier Uhr. – Jetzt kommt die zweite Frage: Wo?«

»In den Zelten – bei Kroll – auf 'm Spandauer Bock – nee, in der Hasenheide ist der meiste Rummel – bei uns in Neu-Trebbin – Sommers Salon, da ist die beste Musik«, schwirrten die Vorschläge durcheinander. Es kam wieder keine Einigung zustande.

»Eva, schreibe: Wo – wird jedesmal vorher bekanntgegeben, bei gutem Wetter im Freien, bei schlechtem ...«

»Zum Maienkränzchen hat selbstverständlich nur gutes Wetter zu sein«, schrieb Fränzchen als größte Optimistin dem Wettergott ein für allemal vor.

»Absagen sind ausgeschlossen«, fuhr Hanna fort. »Ehrensache, daß jede sich einfindet, die nicht gerade durch den Ozean von unserm Zusammenkunftsort getrennt oder nicht etwa gar im Begriff ist, in eine bessere Welt abzureisen.«

»Pfui, Hanna, du bist wirklich zynisch!« Eva mußte schon wieder den Blondkopf über die unverbesserliche Freundin schütteln. »Nicht einmal der Tod ist dir heilig.«

»Der am wenigsten. Ich will ihn ja bekämpfen lernen mit allen Mitteln der medizinischen Kunst.«

»Zur Sache! Wer am persönlichen Erscheinen verhindert ist, soll wenigstens einen ausführlichen Brief an das Maienkränzchen schreiben und berichten, wie es der Betreffenden seit der letzten Kränzchentagung ergangen ist«, schlug Martha vor.

»Angenommen. Zu Händen der Schriftleitung, Fräulein Eva Nikolai.«

»Nein, der Vorsitzenden Fräulein Johanna Kruse.« Eva lehnte diese Ehre ab.

»Ich bin ja gar nicht Vorsitzende.«

»Augenblicklich allerdings Vorsteherin, da du ja auf der Bank stehst.«

»Au, verbrich nicht so schlechte Witze, Fränze, sonst machen sie am Ende deinen Versen Konkurrenz!«

»Hanna Kruse wird feierlich zur Vorsitzenden gewählt«, rief Änne Wilke mit erhobener Stimme.

»Stellvertretende Vorsitzende?«

»Franziska – Fränze Doussin – ja, Fränzchen muß mit in den Vorstand«, hieß es allgemein. Die heitere, frische Fränze erfreute sich großer Beliebtheit; war sie doch dank ihrer literarischen Begabung fast an jedem deutschen Aufsatz der Schulgefährtinnen beteiligt gewesen.

»So, meine lieben Verbandsschwestern, damit schließe ich die Gründung und gleichzeitig erste Tagung unseres Maienkränzchens. Meldet sich noch jemand zum Wort?« verkündete Hanna.

»Ich – ich auch – erst ich, meins ist wichtiger!« schrie es durcheinander.

»Eine nach der andern – nie mehr als zehn zu gleicher Zeit«, beschwichtigte die zweite Vorsitzende Fränze.

»Also zuerst Martha Leuchter. Was hast du noch zur Debatte vorzubringen?«

»Wir wollen immer zum Maienkränzchen Eintritt bezahlen, vielleicht jede zweieinhalb Silbergroschen. Wenn es dann tüchtig in der Kränzchenkasse klappert, wird sie gesprengt.«

»Großartig! Dann machen wir eine Kremser-Landpartie für das Geld.«

»Oder wir gehen zusammen ins Theater zu Helmerding.« Fränze lebte und webte im Theater.

»Zweieinhalb Silbergroschen ist viel Geld«, überlegte Änne. Ihr Vater war höherer Offizier und hatte Repräsentationspflichten. Darum ging es im Wilkeschen Hause oft recht knapp zu. Gustel pflichtete ihr bei.

»Kinder, seid doch nicht solche Geizkragen! In einem ganzen Jahr könnt ihr doch wohl zweieinhalb Silbergroschen erübrigen«, redete Martha zu.

»Die Vorsitzende hat allein das Wort«, rief es von der Steinbank herunter. »Wir schreiten wieder zur Abstimmung über den fraglichen Punkt. Hände hoch, wer dafür stimmt!«

Wieder durchbohrten Mädchenhände die blaue Frühlingsluft. Die beiden Sparsamen mußten sich der Stimmenmehrheit unterordnen.

»Mariechen Dorfmüller, unsere Dorfschöne, hat sich zum Wort gemeldet. Was gibt's denn noch, Mariechen?«

Mariechen wurde rot, zupfte an ihrer mit schwarzen Samtblenden besetzten losen Jacke und brachte schließlich stotternd heraus: »Ich finde die Gründung des Maienkränzchens gar nicht feierlich. Dazu gehören doch mindestens Bonbons oder wenigstens Naute oder Lakritzenstangen.«

»Seht mal das Schleckmäulchen! Bist wohl noch nicht kugelrund genug, Mariechen? Lauf doch zum Bonbon-Schulzen hinüber!« neckten die Kameradinnen.

»Mariechen hat recht. Wir müssen die Gründung unseres Maienkränzchens würdig begehen.« Fränze war durchaus für den Vorschlag. »Wißt ihr was? Kommt heute nachmittag zum Kaffee zu mir! Dann feiern wir Schulabschied und Maienkränzcheneinweihung zusammen.« – »Großartig! Glänzender Gedanke! Einstimmig angenommen.«

»Wird es denn aber auch deiner Mutter recht sein, Fränze?« warf Lisabeth noch zweifelnd dazwischen.

»Aber natürlich! Mutter hat neulich erst gesagt, sie freue sich stets, wenn wir Besuch haben«, meinte Fränze sorglos. »Wird kein Kuchen spendiert, gibt's schlimmstenfalls nur Mussemmeln. Das macht einem hohen Geist nichts aus.«

Änne und Gustel blickten halb bewundernd, halb neidisch auf die so sicher sprechende Fränze. Für den bescheidenen Haushalt der beiden war es schon ein Ereignis, wenn auch nur eine Freundin zu Besuch kam.

Die Schwalben, die den alten Kirchturm umflatterten, hatten schon verschiedentlich ein mahnendes Quiwitt zu den sorglos Schwatzenden hinabgesandt, denn der große Zeiger an der Turmuhr hatte inzwischen fast den Kreis vollendet. Jetzt hob die Uhr zum Schlage aus, ehern dröhnte es vom Turm.

Die Mädchenschar flatterte erschreckt auseinander wie die Schwalben in der Luft. »Ein Uhr – um's Himmels willen – eine ganze Stunde haben wir uns verschwatzt – Punkt eins wird bei uns gegessen – bei uns auch – das setzt ein Donnerwetter! – Also auf Wiedersehen – auf Wiedersehen! – Es bleibt dabei, heute nachmittag um halb vier bei Fränze.«

Da war der lustige Frühlingspuk mit einem Mal zerstoben. Still lag der alte Winkel an der Marienkirche wieder da.

Zweites Kapitel: Anno Tobak

Inhaltsverzeichnis

Es war ein recht ansehnliches Patrizierhaus, das alte Doussinsche Tabakhaus, in dem die Fränze daheim war. Breit und behäbig stand es mit seiner Sechzehnfensterfront, acht im ersten, acht im zweiten Stockwerk, zwischen all den schmalbrüstigen, sich bescheiden versteckenden Häuschen der Heilige-Geist-Straße. Hundert Jahre hatte es schon an sich vorüberziehen sehen, das alte Haus, Jahre friedlicher Arbeit und kriegerischer Unruhen. Schon Friedrich der Große hatte seinen Schnupftabak von der altberühmten Tabakfirma bezogen, und es ging die Anekdote vom Vater auf den Sohn über, daß der alte Doussin, der Begründer der Firma, dem König, als er einmal ohne Geld nach Tabak schickte, durch den galonierten Diener in Kniehosen und Schnallenschuhen habe sagen lassen: »Erst den Taler, dann die Ware.« Diesen stolz-rechtlichen Bürgersinn hatte das Doussinsche Haus sich bewahrt.

Die Frühlingsonne hatte heute freien Zutritt zu der im zweiten Stockwerk gelegenen Doussinschen Wohnung. Dort war man beim großen Osterscheuerfest. Die Fensterscheiben waren ausgehängt, denn ein Fenster in seinen Angeln zu seifen, das brachte keine gute Hausfrau der damaligen Zeit fertig.

Vor dem gewölbten Riesenhausflur, dem ein merkwürdiges Dunstgemisch von Tabak- und Küchengerüchen eigen war, nahm Fränze trotz größter Eile langatmigen Abschied von Hanna Kruse, die in ihrer nächsten Nähe wohnte. »Ein sonderbares Gefühl, kein Schulmädel mehr zu sein, sich sagen zu können: von heute an bist du erwachsen«, frohlockte Fränze.

»Ich finde gar nicht, daß der Schulabgang eine so wichtige Rolle im Leben eines Menschen spielt«, dämpfte Hanna die erhobene Stimmung der Freundin. »Arbeiten und weiterstreben müssen wir unser ganzes Leben lang. Eigentlich beginnt die bewußte, die verantwortliche Arbeit überhaupt erst nach der Schule.« Hanna war reifer als ihre sechzehn Jahre vermuten ließen.

»Bei dir vielleicht, Hanna. Aber schau dich um! Wie ist es bei den meisten Mädeln nach der Schule? Ein bißchen in der Wirtschaft helfen, Handarbeiten machen, Klavier klimpern, auf Bälle gehen – das ist der Hauptinhalt unseres Lebens. Im übrigen warten wir auf den Herrlichsten von allen, der uns mal als seine Hausfrau heimführen wird.«

»Schlimm genug, daß ...« Quiekend fuhren beide Mädchen in ihren Betrachtungen auseinander. Ein Wasserfall hatte sich über die Nichtsahnenden ergossen. Er kam aus dem zweiten Stockwerk. Unnütze Jungenhände hatten Scheuerfluten hinabgesandt.

»Zu Tisch, Fränze! Wir sind schon bei der Suppe«, tutete es von oben.

Die Mädel schüttelten sich, halb lachend, halb ärgerlich, nach dem unfreiwilligen Bade. Fränze hob verheißungsvoll die Rechte. »Na, laß mich nur raufkommen, Junge!«

»Der Ludwig ist jetzt in den Flegeljahren«, stellte Hanna sachlich fest. »Aber wenn du noch Suppe haben willst, wirst du dich eilen müssen, Fränze. Bei uns nimmt man es nicht so genau, weil Papa unregelmäßig zu Tische kommt.«

»Auf Wiedersehen heute nachmittag!« Der sorglosen Fränze fiel plötzlich ihre Saumseligkeit schwer aufs Herz. Sie raste durch den langgestreckten Laden, an den Kunden bedienenden Kommis, an den Tüten klebenden Laufburschen vorüber. Ein Blick ins Kontor, wo die Buchhalter selbst am Mittag bei brennenden Messinglampen mit grünen Schirmen vor den hohen Pulten standen. O Schreck, das Privatkontor des Vaters war bereits leer! Die gewundene Treppe hinauf mit Sturmeseile. Temperamentvoll riß Fränze an der weißen Porzellanschelle.

Mine, die schon unter Großmutters Szepter im Doussinschen Hause den Kochlöffel geschwungen, die alle vier Kinder hatte mit aufziehen helfen, öffnete ziemlich ungnädig. »Jott, später haste woll auch nich kommen können? Klärchen is schon bald 'ne Stunde aus der Schule. Und was die Jungs sind, die sind mal heute wieder janz aus Rand und Band. Die Ferien hat der Deuwel erfunden!« räsonierte die Alte.

»Minchen, dir ist wohl die Petersilie verhagelt?« fragte Fränze lachend. Man duzte damals die langjährigen Dienstboten, die in der Familie ergrauten, wenn sie nicht vorher fortheirateten.

»Na, da soll einer nich tücksch werden, wenn einem die janzen Kohlrouladen einpruzzeln tun! Und dabei Osterreinemachen und ...«

»Scheuerfest ist heute? Ach du meine Güte! Gerade an meinem Schulabgangstage! Das paßt ja wie die Faust aufs Auge.« Es wurde Fränzchen nun doch etwas beklommen ums Herz, als sie an den eingeladenen Kaffeebesuch dachte.

»Na, du scheinst ja wieder Absichten für heute nachmittag zu haben. Is nich. Heute wird zu Hause jeblieben und Fenster jeputzt.« Die alte Mine betrachtete Fränze ungeachtet ihres heutigen Schulabgangs noch genau so wie vor Jahren, als sie ihr das Schmutznäschen gewischt hatte.

Fränze, die inzwischen Hut und Mantel in den großen Kleiderschrank auf dem Flur hatte wandern lassen, vergaß vor Schreck, sich die Schürze vorzubinden. »Minchen, du mußt mir helfen. Ich kann heute wirklich keine Fenster polieren; ich bekomme Besuch.« Zaghaft kam's heraus, während die Mädchenfinger bittend Mines pockennarbiges Gesicht streichelten.

»Besuch? Heut bei's Osterreinemachen? Biste denn janz und jar von allen juten Jeistern verlassen, Fränzchen?« Aber es klang schon ein versöhnlicher Ton mit in dem Poltern. Fränze wußte ganz genau, ihre alte Freundin würde sie nicht einfach in der Patsche sitzen lassen.

Die Familie war bereits um den runden Eßtisch versammelt. Vorwurfsvoll blickte die Mutter über die Schüssel mit Kohlrouladen zu der säumigen Tochter. Der Vater zog die Uhr aus der Westentasche und ließ sie mit dünnzitterigem Klange die Stunde schlagen. Der pünktliche Mann schüttelte unzufrieden den Kopf. Klärchen, die um zwei Jahre Jüngere, brachte sorglich Fränzes warmgestellte Suppe. Die Jungen aber, zwei hoffnungsvolle Rangen von zehn und dreizehn Jahren, empfingen die große Schwester mit Gejohle. »Haste nachsitzen müssen? Ätsch, schäme dich! Am letzten Schultag noch nachsitzen!« erklang es unharmonisch im Chor.

In Fränzes Hand zuckte es. Die Bengel wurden von Tag zu Tag frecher. Sie hatten einen kleinen Denkzettel unbedingt verdient. In Anbetracht des in Aussicht stehenden Nachmittagsbesuches war es aber entschieden geratener, Frieden zu halten.

Sie wandte sich entschuldigend den Eltern zu. »Seid nicht böse, daß es etwas später geworden ist!« begann sie, Suppe löffelnd, in ihrer offenen Art. »Wir konnten uns am letzten Schultag nicht so schnell voneinander trennen. Hier ist mein Abgangszeugnis. Der Direks hat gesagt, es könne sich sehen lassen.«

Der Vater setzte sich umständlich die Brille auf, während die Mutter, die dasselbe rasche Temperament hatte wie Fränze, ihrer Ältesten anerkennend zunickte. »Brav! Hab's von dir auch nicht anders erwartet, Fränzchen. Also nun haben wir eine erwachsene Tochter, Vater.« Die Eltern nannten sich niemals beim Vornamen, stets gegenseitig Vater und Mutter.

Während Fränze sich den Kohl mit jugendlichem Appetit schmecken ließ und dabei angestrengt überlegte, ob man die günstige Stimmung nicht gleich für den Nachmittagsbesuch ausnutzen sollte, studierte Herr Doussin eingehend das Abgangszeugnis der Tochter. »Hm! Rechnen nur gut, nicht recht gut. Du bist gar keine richtige Kaufmannstochter, Fränze. Aber da du kein Junge bist, hat es nichts auf sich. Ihr Mädels braucht ja höchstens das Wirtschaftsbuch zusammenzählen zu können. Mit Klärchens Zensur sind wir auch recht zufrieden.«

»Und die Jungs?« fragte Fränze.

Die Frage hätte nicht kommen dürfen. Die gemütliche Stimmung war mit einemmal zerstoben. Der Vater zog die Augenbrauen hoch, was seinem freundlichen Gesicht mit den graumelierten Bartkoteletten etwas Fremdes, Drohendes gab. Die Mutter seufzte hörbar. Klärchen, der gute Geist im Hause, der stets für Ausgleich und Frieden sorgte, machte der Schwester beschwichtigende Zeichen. Nur die beiden, die es am meisten anging, häuften unbekümmert die Gabel voll, als wäre von allem andern, nur nicht von ihnen die Rede.

Die große Schwester war so nett, die verfängliche Frage nicht zu wiederholen; hatte sie doch genug mit sich selbst zu tun. Wie brachte man der Mutter am besten den Kaffeebesuch bei? Ganz ohne Sturm würde es nicht abgehen; Fränze hatte eine sichere Witterung dafür.

Schon räumte Anna, das junge Stubenmädel, den Tisch ab, schon zog Vater die silberne Schnupftabaksdose hervor und setzte sich in der Ecke des grünen Ripssofas, die gehäkelte Schlummerrolle im Nacken, zum halbstündigen Nickerchen zurecht, wobei er die Brille auf die Stirn hinaufzuschieben pflegte.

»Schläfst du nicht auch ein bißchen, Muttchen?« erkundigte sich Fränze zaghaft.

»Heute beim großen Reinemachen? Ausgeschlossen! Da muß jedermann auf seinem Posten sein. Du und Klärchen, ihr könnt gleich mit dem Fensterputzen beginnen. Aber erst das Hauskleid übergezogen! Und eine Schürze sehe ich auch nicht, Fränzchen.«

»Bis halb vier kann ich allenfalls helfen, Muttchen, aber dann ...« Fränze stockte nun doch.

Der Mutter freundliches Gesicht wurde ernst. »Nein, mein Kind, heute kann ich dir keine Erlaubnis zum Fortgehen erteilen. Du weißt, daß ich dir sonst gern jedes Vergnügen gönne, doch heute ...«

»Ich will ja gar nicht fortgehen, aber ...« Fränzes frischfröhlicher Mut verkroch sich vor der Scheueratmosphäre.

»Was gibt's denn noch für ein Aber?« Die Mutter war bereits in der Tür.

»Ich kriege Besuch, zum Kaffee. Es braucht ja bloß Musstullen zu geben.« Sie sprudelte es heraus, nur um es vom Herzen zu haben.

Die Wirkung war verblüffend. Das gefährliche Donnerwetter blieb aus. Statt dessen lachte Frau Doussin, daß ihr die Tränen über das frische Gesicht liefen. »Mädel, heute habe ich wirklich keine Zeit für deine Schnurren. Macht, daß ihr an die Arbeit kommt!«

»Aber, Mutterchen, es ist doch wahr! Du kannst es wirklich glauben. Die Mädel kommen zum Abschiedskaffee zu mir und um gleichzeitig unser neues Maienkränzchen würdig einzuweihen. Ich wußte nicht, daß wir heute Reinemachen haben.«

Der Mutter blieb das Wort in der Kehle stecken. »Das bekommst auch nur du fertig, daß du an die für einen Haushalt wichtigsten Tage nicht denkst. Bei Klärchen könnte das nicht vorkommen. Besuch ist heute unmöglich; das siehst du ja selbst. Die gute Stube wird gerade gescheuert, in der Wohnstube stehen die Möbel. Hier in der Eßstube soll heute noch ausgeräumt werden. Du mußt den Mädchen absagen.« Damit verschwand die Mutter ärgerlich.

»Absagen – das läßt sich doch nicht so schnell bewerkstelligen! Ich kann doch nicht in ganz Berlin herumlaufen und alle wieder ausladen!« Trotzdem Berlin damals noch nicht allzu ausgedehnt war, erschien Fränze das ganz unmöglich.

»Schick doch 'n Eckensteher 'rum!« schlug Hugo, das Doussinsche Kakelnest, vor. Die Eckensteher, die an jeder Straßenecke auf Aufträge warteten und dabei dem lieben Herrgott die Zeit fortstahlen, waren gute Freunde des Jungen.

Der Vater knurrte in seiner Sofaecke. Es war auch unrecht, ihm die kurzbemessene Ruhezeit nach Tisch noch mehr zu kürzen. Auf den Zehen schlich Fränze hinaus, hinter ihr die jüngeren Geschwister.

»Zu zweien oder dreien deiner Freundinnen kann ich ja hinlaufen und absagen, Fränzchen«, erbot sich Klärchen gefällig. »Und Luchen und Huchen übernehmen gewiß ganz gern auch ein paar.«

»Ja, wenn die Fränze jedem einen Dreier zu Naute schenkt«, verlangte Ludwig.

»Fällt mir nicht im Traume ein! Ihr braucht euch nicht für mich anzustrengen; es wird nicht abgesagt.«

»Ja, aber – es geht doch heute wirklich nicht!« In häuslichen Angelegenheiten war die Jüngere verständiger als die Große. Was die sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, mußte auch ausgeführt werden. Sie schämte sich vor den Freundinnen, nach der selbstbewußten Einladung nun an solchen prosaischen Dingen, wie Großreinemachen, die Einweihung des Maienkränzchens scheitern lassen zu müssen. Aber die Zeit drängte. Was tun?

Da erschien ein rettender Engel. Er trug Holzpantinen, einen derben Warbrock und hatte ein gutmütiges, pockennarbiges Gesicht.

»Mine, geliebtes Minchen, was fange ich bloß an? Ich soll meine Freundinnen alle wieder ausladen. Das geht doch gar nicht, wo ich sie erst eingeladen habe!«

»Nee, das jeht nich«, pflichtete Mine bei, ihren Scheuereimer niedersetzend. »Das jeht partu nich.« Das brave alte Mädchen hielt auf Repräsentation des Hauses Doussin.

»Kaffee will ich euch kochen; ich koch ja sowieso vor uns und vor die jungen Leute unten im Laden. Und Jußzwiebäcke kann Klärchen holen. Aber, Fränzchen«, Mine kratzte sich bedenklich den glatten Scheitel, auf dem ein winziges Zöpfchen thronte, »wo willste denn so viel Mann hinsetzen?«

»Wir sind ja bloß acht. Wenn wir den Kinderstubentisch in unser Stübchen 'reinsetzen, haben wir alle Platz. Liebstes Minchen, laß mich nicht im Stich! Mach Mutter bloß klar, daß es sich sehr gut einrichten läßt und daß es nicht ein bißchen stört!«

Davon war Mine ja nun nicht ganz überzeugt. Aber auch ohne Fränzchens bettelnde blaue Augen und streichelnde Hände wäre es wohl das erstemal gewesen, daß Mine eins der Doussinschen Kinder im Stich gelassen hätte. Mit all ihren Sorgen kamen sie zu der guten Alten.

»Na, weil du heute Schulabjang hast! Denn jeht man und deckt euch 'n Tisch! Mit 's Fensterputzen wollen wa schon ohne euch fertig werden und mit Muttern auch.« Mines Holzpantinen klapperten eilig weiter, eine druckbefreite Mädchenseele zurücklassend.

Was Mine versprach, hielt sie. Wie sie's anfing, Madam Doussin, so nannte sie die Mutter damaliger Sitte entsprechend, zu überzeugen, das war den Kindern ein Geheimnis; aber ihnen genügte ja das Ergebnis.

Auch diesmal wurde Fränze nicht enttäuscht. Die jungen Mädchen waren bereits dabei, ihr Stübchen für den Besuch herzurichten, als die Mutter noch nachträglich die Erlaubnis erteilte. »Als Belohnung für das gute Abgangszeugnis. Aber spätestens um sieben Uhr muß Schluß sein.«

Damit waren alle Teile einverstanden.

Drittes Kapitel: Gußzwiebäcke und Frauenfrage

Inhaltsverzeichnis

Es war ein kleines, bescheidenes Zimmerchen, das die Schwestern bewohnten. Grasgrüne Tapeten hatte es mit Rosenkränzen, unter Glas einige schwarze Scherenschnitte an der Wand. Vor dem mit weißen Mullgardinen verhangenen Fenster, das auf den großen Fabrikhof hinausging, stand auf erhöhtem Fensterplatz ein rundes Mahagoninähtischchen mit weißer Häkeldecke. An den Scheiben hingen bunte Glasbilder. Zwei niedliche Myrtenbäumchen grünten auf dem Fensterbrett.

Dieser Platz, so gemütlich er war, erfreute sich nicht besonders Fränzes Zuneigung. Sie überließ ihn großmütig Klärchen, die immer etwas zu sticheln, zu häkeln oder zu stricken hatte. Viel lieber saß Fränze an dem alten Mahagonisekretär mit der heraufgezogenen Rollklappe. Dort war ihr Element. Da wurden die besten Aufsätze für die Schule verfaßt, da entstand so mancher Vers, der ins Geheimfach des alten Schreibtisches wanderte; denn auslachen mochte sich die poetische Fränze nicht lassen. Nannten sie doch die Brüder, denen nicht einmal die Poesie heilig war, sowieso schon mit dem Spottnamen »Rosa Immergrün«, unter dem sie einmal der »Gartenlaube« ein Gedicht zum Abdruck eingesandt hatte.

Unter der Petroleumhängelampe stand der gedeckte Kaffeetisch. Trotz dem Scheuertag hatte Fränze die giftgrünen, von weißen Blattkränzchen verzierten Staatstassen mit den Goldfüßchen herumgesetzt, wenn die auch eigentlich die Gesellschaft von Gußzwiebäcken nicht gerade gewöhnt waren und nur bei besonders feierlichen Gelegenheiten aus der Glasvitrine Auferstehung hielten. Aber konnte es irgendwann eine feierlichere Gelegenheit geben als Schulabgang und Maienkränzchen-Einweihung?

Als Fränzchen die hellbraunen Zöpfe noch einmal frisch aufgenestelt und das zierliche Latzschürzchen zurechtgezupft hatte, klang auch schon die Porzellanschelle.

Da war auch schon der erste Trupp: Freundin Lisabeth nebst Mariechen, Gustel und Hanna. Sie füllten das enge Zimmerchen mit ihren bauschigen Reifröcken, mit Lachen und fröhlichem Schwatz.

»Ach, wie gemütlich, daß wir hier in euerm Stübchen unter uns sind!« rief Gustel erfreut.

»Ich hatte schon Angst, daß wir in die gute Stube hineinkomplimentiert würden, wo man vor lauter Staatsmöbeln und abgezirkelter Ordnung nicht zu atmen wagt.« Das war natürlich Hanna, die sich eine derartige Kritik erlaubte.

»Hat seinen guten Grund, daß wir hier hinten tagen. Da vorne nämlich ist's fürchterlich, und der Mensch versuche die Götter nicht! Man ersäuft in Scheuerfluten«, erklärte Fränze lachend.

»Und dann darfst du dir Besuch einladen?« Mariechen und Gustel riefen es wie aus einem Munde.

»Ich hatte euch ja glücklicherweise eingeladen, ohne erst die mütterliche Erlaubnis einzuholen. So ganz einfach war die Sache doch nicht gerade«, gab Fränze etwas beschämt aber aufrichtig zu; »Mine hat eben wieder einmal wie so oft den rettenden Engel gespielt.«

»Zu mir hättet ihr auch kommen können; aber freilich, so nett und gemütlich ist es bei uns nicht«, sagte Hanna, Umschau haltend.

»Das liegt nur an dir, Hanna. Ihr habt so schöne Räume und so herrliche Möbel, aber es gehört dazu auch eine liebevolle Frauenhand, die alles geschmackvoll ordnet«, meinte Lisabeth Körner ehrlich. »Deine Tante Mathilde mag ja hauswirtschaftlich eine Perle sein, aber ihr fehlt wohl das Verständnis für das Schöne.«

»Auch für manches andere. Tante Mathilde ist nur in ihrem Element, wenn sie mit der Küchenschürze am Herd steht. Für mich und meine Interessen hat sie nicht die Bohne Verständnis.«

»Du bist ihr trotzdem Dank schuldig, Hanna«, gab Fränze zu bedenken. »Sie hat doch immerhin das Verdienst, dich und deine Brüder aufgezogen zu haben.«

»Unsere Strümpfe hat sie uns gestopft und das Essen für uns gekocht. Was eine Kindesseele sonst noch zum Gedeihen braucht, eine heitere Atmosphäre, liebevolles Eingehen auf kindliche Regungen und Wünsche, das war Tante Mathilde in ihrer trockenen, hausbackenen Art ein Buch mit sieben Siegeln. Gerade mutterlosen Kindern Liebe entgegenzubringen, das müßte für eine Frau ein segensreiches Feld sein. Was ließe sich da alles schaffen und aufbauen!«

»Du könntest ja Pflegemutter von einem Waisenhaus werden, wenn dir, wie uns andern, Haustochterpflichten nicht genügen«, schlug Gustel voller Bewunderung für die Freundin, die immer Gedanken hatte, auf die keine andere kam, vor.

»Nee, danke für Backobst! Das paßt für eine von euch, die ihr wirtschaftliche Talente habt, viel besser. Ich trage mich mit ganz andern Plänen.« Hanna macht ein vielsagendes Gesicht.

»Was hast du vor? – Beichte! – Verrate es uns! – Die Hanna muß immer eine Extrawurst haben!« Die Gefährtinnen umdrängten neugierig die sie fast um Kopfeslänge Überragende.

»Es ist ja noch gar nicht spruchreif, Kinder, aber ...«

»Fränze, du sollst uns Gußzwiebäcke geben, hat Mutter gesagt, jedem drei Stück.« Die Tür wurde aufgerissen, ein dunkler und ein blonder Jungenkopf wurden sichtbar. Gegenseitig stießen sie sich in das ihnen heute unbedingt versperrte Heiligtum der Schwestern hinein.

»Himmel – die Landplage!« Fränze machte ein recht wenig erbautes Gesicht. »Na, wollt ihr nicht anständigerweise guten Tag sagen? Und im übrigen habt ihr zu warten, bis was übrigbleibt.«

»Ja, Pustekohl! Da können wir lange warten!« Luchen, der seine Flegeljahre damit bewies, daß er jedem der großen Mädel einen freundschaftlichen Klaps versetzte, hielt in dieser merkwürdigen Begrüßung empört inne, während Huchen, der nur von dem Großen zu allen Dummheiten verleitet wurde, begehrlich auf die Gußzwiebäcke schielte.

»Gib ihnen doch etwas, Fränzchen!« Das gutmütige Mariechen, das daheim in Neu-Trebbin selbst eine Schar kleiner Geschwister hatte, griff nach den Zwiebäcken.

»Du, dann bleibt nichts für uns. Es ist bestimmt Schwindel, daß Mutter gesagt hat, ich solle jedem drei geben«, erhob Fränze, aufgeregt ihre Gußzwiebäcke zählend, Einspruch.

»Dann gib jedem von uns wenigstens einen!« schlug Luchen diplomatisch vor.

Die Verhandlung konnte nicht zu Ende geführt werden. Man hatte die Türschelle überhört. Von Klärchen geführt, erschienen die noch fehlenden Freundinnen. Es gab lebhafte Begrüßungen, Händeschütteln und Umarmungen. Diesen allgemeinen Trubel benutzte Luchen, um wenigstens einen Gußzwieback fortzustibitzen. Der Kleine, Huchen, der es ihm natürlich sogleich nachtat, wurde dabei von der großen Schwester erwischt und nachdrücklich hinausbefördert.

»Laßt euch heute nachmittag nicht wieder bei uns blicken!« rief Fränze aufgebracht, mit dem sich sträubenden Ludwig einen verzweifelten Kampf ausfechtend. Die giftgrünen Staatstassen auf den Goldfüßchen gerieten in dem Handgemenge ernstlich in Gefahr.

Das Zimmerchen schien plötzlich die vielen Menschen mit ihrem faltigen Rockumfang nicht fassen zu wollen. Aber »viele geduldige Schafe gehen in einen Stall«. Schließlich saß man doch um den Kaffeetisch, während die an die Luft gesetzten Jungen »furchtbarste Indianerrache« schworen. Klärchen machte als Hausmütterchen die Runde mit der bauchigen Kaffeekanne. Die Gußzwiebäcke verschwanden im Nu zwischen gesunden Mädchenzähnen. Armes Luchen – armes Huchen! Kein Bröselchen blieb übrig.

Die jungen Mädchen zogen Handarbeiten aus buntgestickten Beuteln. Müßig blieb nur Hanna Kruse, die für weibliche Handarbeiten durchaus unbrauchbar war, wie sie selbst versicherte. Man bewunderte gegenseitig die komplizierten Häkelmuster, die patentgestrickten weißen Strümpfe, Ännes mit Perlen behäkelte Geldbörse und Marthas feine Gobelinstickerei, die eine selbstentworfene Landschaft darstellte.

Klärchen hatte mit dem zusammengeräumten Tassengeschirr taktvoll das Zimmer verlassen. Sie wußte, daß jüngere Schwestern, wenn sie auch noch so nett waren, im Kreise der älteren Freundinnen nicht allzu gern gesehen wurden. Da ging sie lieber der Mutter zur Hand.

»So«, sagte Gustel, nachdem Klärchen das Zimmer verlassen hatte, und hielt in dem Zählen ihrer kunstvollen Beinkleidkante, an der sie häkelte, inne, »nun schieß los, Hanna!«

»Womit denn?« fragte diese nicht wenig verwundert.

»Du hast doch so etwas Interessantes erzählen wollen von deinen Plänen!« Gustel platzte vor Neugier.

»Ja, richtig. Also ich habe die Absicht, in die Schweiz zu gehen.«

Die Wirkung war ungefähr dieselbe, als wenn Hanna die Mitteilung gemacht hätte, den Mond zu besuchen. Die Handarbeiten sanken herab, die Mädchenköpfe hoben sich jäh.

»In die Schweiz? – In die Märkische oder in die Sächsische? – Gehen willst du bis dahin?« Es schwirrte durch das Stübchen.

»Mariechen, du hast noch nicht viel von der Berliner Luft profitiert. Natürlich fahre ich, wenn ich sage, ich gehe, und zwar mit der Eisenbahn. Mach nicht solche entsetzten Augen, Mariechen! Es geschieht dabei ebensowenig ein Unglück wie mit der Post. Aber weder in die Märkische noch in die Sächsische Schweiz – nach Bern oder Zürich will ich.«

»Davon hast du mir doch noch kein Sterbenswörtchen erzählt!« Eva Nikolai, die Vertraute, war mit Recht wie aus den Wolken gefallen.

»Mit deinem Vater, Hanna? Habt ihr dieses Jahr so herrliche Sommerpläne?« Fränze dachte nicht mehr an den Sofaschoner, den sie zu Mutters Geburtstag filierte.

»Nein, allein will ich hin.«

Es war, als ob eine Bombe in den Mädchenkreis geplatzt sei. »Allein? – In die weite Welt? – Ins Ausland? – Ja, das kann doch ein junges Mädchen gar nicht!« riefen sie aufgeregt durcheinander.

»Warum nicht, Änne? Weil unsere Großmütter und Mütter es nicht tun durften? Es ist Zeit, mit den alten Vorurteilen aufzuräumen.«

»Du bist ja übergeschnappt, Hanna!« Eva Nikolai sprach allen andern aus dem Herzen.

»Röschen hatte einen Piepmatz«, begann Lisabeth aus einer beliebten Posse zu singen. Die andern fielen lachend ein.

»Beruhigt euch, Kinder! Vorläufig sitze ich ja noch hier. Es kann noch einige Zeit vergehen, bis es so weit ist. Ohne Vorbereitung läßt sich mein Plan nicht verwirklichen.« Hanna ließ sich nicht beirren.

»Vorbereitung – wozu, Hanna?« Fränze war ganz Ohr. Ihre Wangen glühten.

»Um an einer Schweizer Universität die Aufnahmeprüfung zu bestehen und dort Medizin zu studieren.« Wie der Ton einer Fanfare erklang Hannas Stimme in den Kreis der strickenden und häkelnden Mädchen.

Mariechen bekam den vor Staunen aufgerissenen Mund überhaupt nicht wieder zu; aber auch die andern saßen starr und stumm. Man hörte das Surren einer Frühfliege an der Fensterscheibe.

Plötzlich lachte Gustel hell hinaus; ordentlich befreiend klang es in der sekundenlangen Stille. »Das kannst du andern Leuten als uns weismachen!«

»Medizin studieren, hahaha! Die Hanna als Herr Doktor mit der Brille auf der Nas' und dem Goldknaufstock! – Die Hanna hat Einfälle wie ein altes Haus!« Sie lachten und johlten durcheinander.

Fränze klopfte mit der vor ihr liegenden Schere auf den Tisch. »Als zweite Vorsitzende des Maienkränzchens beantrage ich Ruhe. – Hanna, ist das Ernst oder Scherz?«

»Ernst – heiliger Ernst. Aber ihr seid ja nicht reif für solche bahnbrechenden Ziele; ihr lauft ja mit Scheuklappen durchs Leben, seht nicht rechts, nicht links, nicht mal geradeaus. Ihr wißt ja gar nicht, was um euch herum vorgeht.«

»Oho – oho! – Spiel dich nur nicht so auf!« Hier und da sah man gekränkte Mienen.

»Also sagt, habt ihr schon mal was von Frauenbewegung gehört? – Mariechen, ich meine nicht die Frauenbewegung, die darin besteht, daß die Frau Strümpfe strickt, scheuert oder ihre Kinder verkloppt; in geistiger Beziehung ist es natürlich zu verstehen.«

Da machten sie alle nicht gerade schlaue Gesichter.

Eva Nikolai aber reckte sich empor, strich den spiegelglatten blonden Scheitel noch glatter und sagte ziemlich ärgerlich: »Hanna, tu nicht so, als ob du allein die Weisheit mit Löffeln gegessen hättest! Die Frauenbewegung macht sich in Nordamerika breit. Die Sklaverei will sie abschaffen und ...«

»Vor allem die eigene Sklaverei, die Sklaverei der Frau«, unterbrach Hanna die Sprecherin lebhaft.

»Jene Mannweiber sind das, die alle Weiblichkeit abgestreift haben, die studieren, in Versammlungen Reden halten, rauchen und es den Männern gleichtun wollen. Aber Gott sei Dank, bei uns in Europa kennt man so was nicht! Wir deutschen Frauen halten fest an unserer Weiblichkeit.« Eva setzte die Stricknadeln an ihrem durchbrochenen weißen Strumpf klirrend in Bewegung, als müsse sie dadurch ihre Weiblichkeit beweisen.

»Du irrst, liebes Kind. Auch bei uns in Deutschland beginnt es zu dämmern«, sagte Hanna mit lächelnder Ironie. »Die Frauen fangen an, sich auf ihr Menschenrecht zu besinnen, auf ihren Anspruch auf Bildung, Arbeit und freien Beruf. Namen wie Luise Otto-Peters und Auguste Schmidt sind euch natürlich unbekannt; ihr kennt nur Adam und Eva. Aber ich kann euch versichern, daß die Genannten durchaus keine Mannweiber sind, daß die ein weiblicheres Empfinden und ein wärmeres Herz für ihre Mitschwestern haben als die meisten Frauen.«

»Vor dem heraufziehenden Licht der Morgenröte dürfen wir Jungen nicht die Augen verschließen«, rief Fränze begeistert.

»Fränzchen dichtet bereits wieder.« Die Freundinnen lachten sie aus.

»Fränze ist die einzige von euch, die es einzusehen scheint, daß nicht für jedes junge Mädchen oder jede Frau das enge Heim allein den Kreis bilden kann, daß außerhalb dieses für sie ein großes Feld der Betätigung liegt.« Hannas meist bleiches Gesicht hatte vor Erregung Farbe bekommen. Ihre großen grauen Augen schienen die Wände des Stübchens zu durchdringen.