Wie ich Betti nach drei Monaten im Schrank wiederfand - Jannik Winter - E-Book

Wie ich Betti nach drei Monaten im Schrank wiederfand E-Book

Jannik Winter

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Beschreibung

"Bald haben wir ihn soweit, Kommissar Muckel wird zu den Pillen greifen, den grünen." Betti ist verschwunden. Ihr Mann Jens habe sie im Garten verbuddelt, weiß Kati, die Nachbarin. Dazu passen Jens' Morddrohungen und seine ruinösen Geschäftsideen mit Kontosperre und drohender Scheidung. Die Polizei stößt schnell auf menschliche Überreste, allerdings in Katis Rosenbeet – und die sind nicht von Betti. Die Liste der Verdächtigen wird endlos. Nachbarn, Schwägerin, Schwiegereltern, sogar die vierzehnjährige Tochter und ihr Nachhilfelehrer stehen drauf. Kommissar Maximilian Muckel wird psychisch von der Beweislawine erdrückt, die Psychologin Doktor Hahnemann soll helfen. Doch warum weiß die mehr über den Fall als die Polizei?

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Seitenzahl: 389

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Jannik Winter

Wie ich Betti nach drei Monaten im Schrank wiederfand

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

1. Schlafzimmer Rohwinkel

2. Büro Muckel, vormittags

3. Büro Muckel, nachmittags

4. Praxis Doktor Hahnemann

5. Wohnzimmer Hofer

6. Kellerraum, 17. März

7. Wohnzimmer Rohwinkel

8. Büro Fischer

9. Küche Klamm

10. Wohnzimmer Rohwinkel

11. Wohnzimmer Strauch

12. Vorraum zum Keller

13. Kellerraum, 29. März

14. Wohnzimmer Strauch

15. Kneipe Ackergaul

16. Praxis Doktor Hahnemann

17. Firmengelände Gatti GmbH

18. Praxis Doktor Hahnemann

19. Vorraum zum Keller

20. Kellerraum, 4. April

21. Vernehmungszimmer

22. Kneipe Ackergaul

23. Chirurgie der Universitätsklinik

24. Praxis Doktor Hahnemann

25. Vorraum zum Keller

26. Kellerraum, 15. April

27. Villa Klamm

28. Anwesen Strauch

29. Praxis Doktor Hahnemann

30. Haus Rohwinkel

31. Büro Fischer

32. Vorraum zum Keller

33. Kellerraum, 20. April

34. Küche Rohwinkel

35. Kneipe Ackergaul

36. Büro Hofer-Rohwinkel

37. Praxis Doktor Hahnemann

38. Büro Fischer

39. Vorraum zum Keller

40. Kellerraum, 3. Mai

41. Ministerium, vormittags

42. Ministerium, mittags

43. Büro Fischer

44. Vorraum zum Keller

45. Kellerraum, 18. Mai

46. Therapie Rohwinkel

47. Klub Havanna

48. Küche Rohwinkel

49. Klub Havanna

50. Vorraum zum Keller

51. Kellerraum, 12. Juni

52. Herzogenstraße 1

53. Praxis Doktor Hahnemann

54. Büro Fischer

55. Kellerraum, 15. Juni

56. Edelboutique Frou-Frou

57. Klub Havanna

58. Küche Rohwinkel

59. Schlafzimmer Rohwinkel

Epilog

Nachwort

Impressum neobooks

Prolog

Das Prasseln des Regens auf das Wellblechdach übertönt sein Stöhnen. Nur die Person, deren Kontur sich gegen das Fenster abzeichnet, hat es gehört und weist ihn zurecht.

»Hör auf zu jammern! Ich will eine Lösung! Heute noch!«

Mit Schaudern erinnert er sich an die wochenlange vergebliche Suche nach einer Alternative. Er versucht es mit Ausflüchten.

»Wir könnten mit ihr reden, ihr Vorschläge unterbreiten und eine zweite Chance geben.«

»Papperlapapp! Dafür haben wir keine Zeit mehr. Die Situation ist längst in die kritische Phase getreten. Wir müssen handeln, und zwar schnell.«

»Aber … wenn … lass sie doch …«

Vergeblich sucht er die Worte zu ordnen, um die härteste aller Maßnahmen zu verhindern. Seine Brille ist in dem unterkühlten Raum vom Atem beschlagen. Umständlich entnimmt er dem Etui ein Putztuch und reinigt die Gläser.

»Sei ehrlich zu mir. Hast du diesen Ort für unsere Unterredung gewählt, weil du den Keller vorschlagen wolltest?«

Aus Richtung des Fensters ertönt ein kräftiges Schnauben.

»Ja, was dachtest du denn? Außerdem ist es deine Schuld, dass der Raum nicht hergerichtet ist. Das Deckenlicht funktioniert nicht, die Belüftung ist defekt und die Klospülung mussten wir abdrehen, weil sie ununterbrochen lief. Das weißt du jetzt seit zwei Wochen und du zögerst es immer wieder hinaus. Ich hoffe, dass ich mich auf dich verlassen kann, oder?«

Er erhebt sich und begibt sich mit bedächtigen Schritten zur Tür, öffnet sie und betätigt den Lichtschalter. Als er die Treppenstufen hinunterblickt, schwankt er ein wenig und stößt einen weiteren Seufzer aus.

»Es ist kalt da unten. Und sie wird sehr einsam sein.«

»Ja klar doch. Sie braucht das volle Programm, sonst klappt es nicht. Also, was ist?«

»Du meinst, es wird funktionieren?«

»Sie bleibt so lange da drin, bis es funktioniert.«

Er schüttelt den Kopf und fasst sich an die Stirn.

»Du bist unbarmherzig.«

»Nein. Ein Arzt, der krankes Gewebe mit dem Skalpell wegschneidet, ist auch nicht unbarmherzig.«

Sein Blick gleitet über die endlos hinabführenden Stufen und trifft auf eine zweite Tür, wuchtig, massiv und mit Ansätzen von Rost. Im unteren Bereich ist eine Klappe mit einem Doppelriegel erkennbar.

»Also gut, gehen wir diesen Weg. Ich kümmere mich um die technischen Probleme und du arrangierst ein Treffen mit ihr.«

»Wir machen es heute Nacht. Das heißt, du musst alles in den nächsten fünf Stunden erledigen. Bekommst du die Schubkarre in den Kombi und hast du das Flunitrazepam besorgt?«

»Ja, doch. Vom Rohypnol habe ich zehn Filmtabletten, es bleiben also genügend als Reserve. Für den Transport werde ich die Rückbänke umklappen müssen.«

»Sehr gut. Der Regen hat aufgehört. Lass uns loslegen und sieh zu, dass alles funktioniert. Wenn sie im Keller ist, dürfen wir den nicht mehr betreten.«

Er nickt, begibt er sich nach unten und öffnet mit einem knarzenden Geräusch die schwere Eisentür.

»Ölen lohnt sich nicht. Sie hört es eh nicht und danach bleibt die Tür ja sehr lange geschlossen.«

1. Schlafzimmer Rohwinkel

Weg damit. Das Foto durfte niemand sehen. Es hatte mich so erschreckt, dass ich es sofort zerkauen und runterschlucken wollte. Doch die Kante war scharf, schnitt mir in die Zunge und ein Tropfen Blut fiel auf mein weißes Hemd.

Mist.

Nach diesem Desaster riss ich das Blatt in kleine Schnipsel und steckte die in die Hosentasche.

Erste Dummheit.

Kein Feuerzeug, das wahre Problem eines Nichtrauchers aus Rücksichtnahme. Beweise abfackeln war früher eine Sache von zwanzig Sekunden, doch Betti hasst Raucherküsse und deswegen parkte das Schredderfoto zunächst in meiner Hosentasche.

Der nächste Fehler war das Fenster, das hätte ich vorher schließen müssen. Aber warum war es überhaupt so weit geöffnet? Nicht gekippt, sondern mit ausgebreiteten Armen wie die Christusstatue in Rio.

Klar, alles geplant. Sie hat gelüftet, damit sein Mief aus dem Schlafzimmer verschwindet. Ich sog die Luft ein und wollte mich an den Geruch des Mistkerls erinnern. Doch dazu fiel mir nichts ein. Sie ist klug, weiß, dass der Dunst nach heißem Sex im Raum, im Bettzeug und in den Gardinen hängen bleibt. Deshalb hatte sie auch die Laken abgezogen. Und, bei dem Gedanken wurde mir richtig übel, sie wollte seine ekligen Flecken in meiner Waschmaschine vernichten. Diese Schwimmdinger überleben monatelang in der Trommel, haben die im Discovery Channel gebracht. Oder war das Arte?

Jedenfalls gab der Gedanke an die feindlichen Invasoren den Ausschlag. Zu viel ist zu viel. Wie gesagt, ich hätte das Fenster vorher schließen müssen. Doch ein so emotionaler und sensibler Mensch wie ich achtet nicht auf solche Nebensächlichkeiten. Unsere Nachbarin Kathi gegenüber auf dem Balkon hatte ich genauso ausgeblendet wie den aufsteigenden Qualm aus dem Zimmer ihres Sprösslings daneben. Es ist wichtig, im Leben Prioritäten zu setzen. Deswegen versank für mich die Umwelt in Anbetracht des Fotos und der abgezogenen Bettwäsche in Bedeutungslosigkeit.

Der laute Ruf der Empörung war nicht nur gerechtfertigt, sondern notwendig. »Vollumfänglich«, hatte mein Anwalt den Schrei gelobt. Damit meinte er den Stimmumfang. Anfangs kam ein höllentiefes Uaaa, gegen das Darth Vaders Krächzen zum Vogelgezwitscher degradiert wurde. Kapriziös schraubte sich der langgezogene Ton in mir bislang unbekannte Höhen und endete in dem Iiihhh eines Oskar Matzerath, wobei ich hoffnungsvoll auf die Scheibe des linken Fensterflügels blickte. Die vibrierte verdächtig und meine Erwartung stieg exponentiell. Leider ging mir die Puste aus, bevor mir der Triumph zersplitternden Glases gegönnt wurde. Doch einen negativen Effekt hatte der Schrei, er lockte die Langhaarmähne des Nachbarsöhnchens an die frische Luft. Dadurch bekam er ebenfalls alles mit.

›Alles‹ halte ich angesichts der vier Wörter für völlig überzogen. »Ich bringe sie um!«, darf schon mal rausrutschen. Im Affekt ist das gerechtfertigt. Ich meine den Schrei, nicht das Umbringen. Angeblich hätte ich das mehrmals wiederholt. Miststück Kathi hat ausgesagt, da wäre noch so einiges mehr gekommen.

»Ich bring die Schlampe um, ich erwürg sie, ich knall sie ab!«

An die Wörter erinnere ich mich nicht. Blackout, Erinnerungslücke. Ihr verwöhntes Söhnchen Lukas kann sich ja noch nicht einmal meinen Vornamen merken. Er redet mich nur mit Rohwinkel an. Manchmal höre ich Rohstinker oder Rohpinkel. Aber den Satz hat er angeblich behalten.

»Und ihn murks ich gleich mit ab. Ihr seid beide tot. Geschichte, Abfall, Sondermüll!«

Das wären die Wörter gewesen. Das mit dem Müll habe ich sicher nicht gesagt, es ist einfach nicht mein Stil.

Bettina würde ich niemals etwas antun. Sie ist eine gute Frau und wir lieben uns über alles. Am Abend zuvor hatte ich ihr noch die Füße gewärmt. Sie kann nicht einschlafen, wenn die eiskalt sind. Dann streckt sie die auf meine Bettseite rüber und ich bleibe geduldig liegen. Ich bin der beste Ehemann der Welt, unabhängig davon, wohin sie mir ihre kalten Dinger steckt. Das ist wahre Zuneigung, wenn Betti sich nach vierzehn Ehejahren immer noch die Füße an meinen Körperteilen wärmen darf.

Also kann ich Wörter wie ›Umbringen‹ oder ›Abfall‹ niemals benutzt haben. Allerdings erinnere ich mich daran, was ich Kathi zugerufen habe. Nach dem Wutausbruch wurde ich allmählich wieder empfänglich für die Umwelt und bemerkte die Spannerin. Lots Weib aus der Bibel hatte es angemessen erwischt und Kathi wünschte ich in dem Moment auch so eine Salzsäule an den Hals. Neugierige Nachbarweiber gehen mir unheimlich auf den Senkel, da werden Worte der Notwehr zwingend notwendig.

»Was glotzt du blöde Schlampe so dämlich! Verpiss dich, sonst bist du auch dran.«

Den Satz, den sie zurückgeschrien hat, fand ich maßlos überzogen.

»Ich zeig dich an, du perverser Frauenmörder!«

Mörder? Ich bin ein liebevoller Ehemann, geduldig und besorgt um die Familie. Gut, ich hätte Betti einen Tag früher bei der Polizei als vermisst melden können. Oder zwei. In den Krimis zeigen sie immer, dass die ohnehin nichts machen. Dann bekommst du beruhigende Sätze mit auf den Weg, die deine emotionale Lage nur verschlimmern. »Nun gehen Sie ganz entspannt nach Hause. Sie ist eine erwachsene Frau und kein kleines Kind mehr. Wenn sie zurückkommt, öffnen Sie ihr die Tür und nehmen sie in den Arm. Dann möchte sie getröstet werden und wird sich entschuldigen.«

Genau so.

Sie könnte bei ihrer Schwester Judit sein. Eventuell bei den Eltern. Oder ganz woanders. Deswegen bin ich nicht zur Polizei marschiert. Es hätte noch gefehlt, dass ein Uniformierter meine Betti aus dem Bett dieses Hallodris ziehen muss.

Schwiegermonster Hildegard konnte vorher schon nervig sein. »Wieso fährst du den großen Schlitten und die arme Betti darf sich in den Polo quetschen?«

Betti kann froh sein, so ein handliches Auto fahren zu dürfen. Stichwort Einparken. Nur ein einziges Mal konnte ich dabei neben ihr sitzen bleiben, bekam Schweißausbrüche und Herzrasen. Meine wertvollen Tipps hat sie ignoriert und nur dümmlich gegrinst. Dafür darf sie jetzt allein zum Einkaufen fahren. Die Wasserkisten schleppe ich auch nicht mehr, die kann sie selbst rauswuchten und in der Garage stehen lassen. Als Angriff auf meine persönliche Ehre empfand ich allerdings, dass sie ihr zwei Monate später das Golf Cabrio gekauft haben. Betti hat mich ja nie danach gefragt, sonst wäre es von mir. Das Dach öffnet sich elektrisch. In vier Sekunden. Sogar während der Fahrt.

Pah.

Schwiegernörgel wurde irgendwann dauerlästig.

»Wenn du das nicht machst, dann gehen wir eben zur Polizei.« Männchen Christian stand daneben und nickte ergeben. Schleimer! Sie konnten es nicht lassen und wollten mir auch diese Initiative entreißen. Ich sah schon den anklagenden Blick des Polizisten.

»Herr Rohwinkel, Ihre Frau ist entführt worden und Sie haben das drei Tage lang nicht gemeldet? Blablabla.«

Dann würde sich Schwiegeralbs die Hände reiben und mich fertigmachen. »Sie ist ihm egal. Unsere geliebte Tochter geht ihm am Arsch vorbei.«

Nein, Bettina ist mir nicht egal, deswegen musste ich ihnen diesen Triumph versalzen. Zugegeben, körperlich ist Hildegard noch top in Form und saß schneller im Wagen, als ich Gas geben konnte.

»Wir kommen mit.«

Die Plappertante wollte ich eigentlich nicht mitschleppen, doch sie stieg trotz massiver Drohungen nicht wieder aus. Kriecher Christian blieb dann natürlich auch hocken.

Auf dem Präsidium war der Beamte zuvorkommend und höflich. Bettinas Name und der Sachverhalt wurden in ein Informationssystem eingetragen. So weit ist es bei der Polizei schon gekommen. Sachverhalt? Pah. Für die Farbe ihrer Kleider interessierte sich der Beamte. Muss ein Mann kontrollieren, ob seine Frau ordentlich angezogen ist? Fehlte nur, dass er mir mit einem lüsternen Grinsen ihre BH-Größe entlocken möchte. Wie war die noch mal? Ich glaube XL. Ne, das steht in meinem T-Shirt.

Doch er saß da, tippte alles in eine Datei, speicherte und beendete das Programm mit einem »Das war es auch schon.« Ich hätte mit einer Hundertschaft gerechnet. Suchhunde, Hubschrauber, Aufrufe im Fernsehen. Stattdessen sah er mich kritisch an.

»Sie kommen spät. Gibt es dafür bestimmte Gründe?«

Genau den Satz wollte ich vermeiden. Möchte ich ein einziges Mal die Polizei vor blindem Aktionismus bewahren, wird mir daraus ein Strick gedreht. Also gab ich keine Antwort, besorgtes Kopfschütteln war angesagt und ein deutliches Nö hinzugefügt. Er nickte einigermaßen überzeugt.

»Ihre Frau ist somit zur Fahndung ausgeschrieben. Wir informieren Sie, sobald wir Näheres erfahren.«

Dann fragte er mich noch, ob ich einen Verdacht hätte.

»Was für einen Verdacht soll ich denn haben?«

Es folgte die Litanei der Fragen, die ich aus den Krimis kenne: Auszeit von der Ehe, Streit, allein in den Urlaub, bei Verwandten, Bekannten, eventuell eine Affäre?

»Hören Sie auf mit diesen Unterstellungen. Niemals. So etwas hätte sie mir gesagt. Unsere Ehe beruht auf absolutem Vertrauen. Wir lieben einander sehr und da gibt es überhaupt keine Geheimnisse.«

Gut, dass der Beamte in dem Moment auf den Computer starrte, sonst wäre ihm Mamis vernichtender Blick aufgefallen. Der wurde bei den Wörtern ›Vertrauen‹ und ›Wir lieben uns sehr‹ besonders angriffslustig.

Aus der Antwort des Beamten hörte ich ein wenig Neid heraus. Es stimmt ja auch, von so einem problemlosen Verhältnis wie bei Betti und mir träumen viele.

»Wir kümmern uns um den Fall. Es wird jemand zu Ihnen nach Hause kommen und sich das Umfeld ansehen. Sie haben eine Tochter? Dann sollte sie dabei sein. Und halten Sie bitte ein aktuelles Foto Ihrer Frau bereit. Zusätzlich brauchen wir eine Liste aller Verwandten und Freunde. Die Nachbarn werden wir auch befragen.«

Auf mich machte der Beamte bis dahin einen hilfsbereiten und mitfühlenden Eindruck. Deshalb musste ich ihm diese dumme Idee ausreden. Die sollen Betti besser suchen, anstatt Leute zu belästigen.

»Die Nachbarn? Das halte ich für überflüssig. Zu denen haben wir kein besonderes Verhältnis. Untertrieben gesagt sind die uns völlig schnuppe. Die wissen auch nichts, da bin ich mir absolut sicher.«

Er sah mich so merkwürdig an. »Das ist bei uns Routine.«

Die lieben Schwiegereltern nickten heftig und sprachen auf der Rückfahrt kein einziges Wort.

Nachbarn befragen? Schwachsinn.

Sie machten es trotzdem.

Deswegen musste ich dann zu Oberkommissar Muckel. Der Name allein bürgt ja schon für Einfühlungsvermögen und er zeigte sich deutlich verständnisvoller für meine Situation.

2. Büro Muckel, vormittags

Die drei DIN-A4-Bögen auf dem Schreibtisch imponieren durch exakte Abstände und an einer Linie ausgerichtete Oberkanten. Über dem linken Blatt liegt ein Kugelschreiber mit der Aufschrift Sparkasse, über dem mittleren ein Radiergummi, und rechts ein Bleistift nebst Anspitzer. Den hat er wohl vor Kurzem benutzt, denn er schiebt die Brösel mit der Hand in den Mülleimer.

»Guten Tag, ich bin Oberkommissar Maximilian Muckel. Sie sind hier als Zeugen geladen, weil Sie Nachbarn der vermissten Bettina Hofer-Rohwinkel sind. Können Sie etwas zur Aufklärung beitragen?«

»Ja, können wir. Er war das. Das Schwein hat sie umgebracht und im Wald verscharrt. Es wäre ja auch nicht das erste Mal. Ein Serientäter ist er. Jawohl. Serienkiller und Lustmörder.«

Muckels Blick irrt von der Zeugin Katharina Strauch über die drei leeren Bögen zu ihrem Sohn Lukas, der auf dem Smartphone spielt. Dann sieht Muckel zur Decke. Seine Atmung ist schneller geworden und der Bleistift in der Hand zittert. Er stellt das Buch mit dem Titel ›Moderne Forensik‹ senkrecht vor das linke Blatt, sodass es die direkte Sicht verdeckt. Es vergeht eine Minute, bis er auf dem Papier den Umriss eines Mundes skizziert hat. Es folgt eine größere Sprechblase, die leer bleibt. Muckel nickt befriedigt in ihre Richtung.

»Tut mir leid, so weit sind wir noch nicht. Außerdem stelle ich hier die Fragen und das führe ich systematisch durch. Zuerst möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie als Zeugin nur dann zur Aussage verpflichtet sind, wenn Sie sich damit nicht selbst belasten.«

»Selbst belasten? Ha. Hier haben Sie einen Fall, der so klar ist wie die Fleischbrühe seiner Mutter. Die kann übrigens auch nicht kochen. Ich hab ja mit eigenen Ohren gehört, wie er das Geständnis abgelegt hat. Erwürgt und erschossen hätte er sie. Dann zersägt und die Einzelteile in den Abfall geworfen, wahrscheinlich in irgendeine Mülltonne. Nein, sagen Sie jetzt nichts … Sie ziehen so ein Gesicht, als wenn Sie sie bereits in unserer Tonne …? Oh mein Gott!«

Der Mund auf dem Papier bekommt durch zwei wellige Linien Dynamik, die Sprechblase ein Fragezeichen verpasst.

»Frau Strauch, beruhigen Sie sich bitte. Also noch einmal von vorne. Was er aus dem Fenster geschrien hat, haben Sie ja schon mehrfach wiederholt. Ihr Sohn hat das im Wesentlichen bestätigt. Wie kommen Sie jedoch zu der Ansicht, Ihr Nachbar Jens Rohwinkel wäre ein Mörder?«

»So, jetzt hören Sie mir einmal gut zu, denn ich wiederhole das nur ungern. Er hat eine Kettensäge. Jawohl. Die hat er angeschmissen und mich damit bedroht. ›Die ist für dich‹, hat er geschrien und mit der Tatwaffe wie wild in meine Richtung gefuchtelt. Damals hätte ich schon die Polizei rufen sollen, dann wäre es zu dem zweiten Mord überhaupt nicht gekommen.«

Muckels Stirn wellt sich. Der Bleistift kratzt auf dem Papier. Es sind drei Kreuze und zwei Smileys zu erkennen.

»Frau Strauch, bleiben wir doch bitte bei den Tatsachen. Haben Sie gesehen, wie Herr Rohwinkel etwas aus dem Haus transportiert hat. Sind Ihnen Details aufgefallen, die für uns von Bedeutung sein könnten?«

»Ja. Er hat eine Garage und ein Auto mit einem großen Kofferraum. Und Schleifgeräusche. Ich bin mir sicher, dass ich an dem Abend gehört habe, wie er sie in den Wagen gezerrt hat. Das Plopp war eindeutig. Sie müssen im Profil der Räder nach Waldboden suchen. In einem Krimi haben die gezeigt, dass sie aus der Erde genau bestimmen können, an welcher Stelle er sie verbuddelt hat. Eine Schaufel hat er auch, das kann ich beschwören.«

Die Furchen auf der Stirn des Oberkommissars werden tiefer. Es sind auf Blatt zwei weitere Smileys hinzugekommen, wobei eins von ihnen scharfe Eckzähne aufweist.

»Frau Strauch, abgesehen von Ihren Verdächtigungen, welches Verhältnis haben Sie zur Familie Rohwinkel?«

»Verhältnis? Wir haben doch kein Verhältnis zu denen. Wie ich schon sagte, er ist ein ganz mieses Schwein, ein Gewaltverbrecher und Frauenmörder. Zu so einem hat man kein Verhältnis.«

Die Eckzähne auf Smiley Nummer fünf werden um drei Millimeter verlängert.

»Und du, Lukas, ich darf doch Du sagen, wie ist denn deine Einstellung zu der Familie Rohwinkel?«

»Den Rohpinkler dürfen Sie meinetwegen einbuchten. Aber wenn seine Alte schon hops ist, wäre ja Miriam ganz allein. He, das ist doch eine Idee. Mom, können wir Miriam nicht adoptieren? Wir haben ja noch Dads Zimmer. Dann sind wir die Erziehungsberechtigten. Sie darf sogar an meine Xbox. Vielleicht nehme ich sie mit zum Güterbahnhof, da … ach nix.«

Muckel unterbricht das Zeichnen eines Herzens auf Blatt zwei und setzt sich senkrecht.

»Was ist denn auf dem Güterbahnhof?«

Sein Gegenüber tippt wild auf dem Handy herum.

»Da ist nix, da fahren nur Züge. Total langweilig.«

»Lukas, hast du irgendetwas gehört oder gesehen, was uns weiterbringen könnte?«

Der Bleistift vibriert über Blatt drei.

»Nein, ich kümmere mich nicht um die Nachbarn. Die assige Familie Rohstinker kann mir gestohlen bleiben.«

Die Spitze des Stiftes setzt abermals beim Herzen an und verharrt dort.

»Aber Miriam findest du nett, oder?«

»Ja, die ist einigermaßen okay. Sie kann ja nichts für ihre Alten. Mom, was ist mit der Adoption? Da solltest du dranbleiben. Jugendamt, Fürsorge, da kriegst du bestimmt ’ne Menge Kohle für sie. Bei mir … ich meine bei uns hat sie es doch tausendmal besser.«

Das Herz bekommt die Initialen L&M mit einem Ausrufezeichen verpasst.

»Hast du irgendetwas bemerkt? Unbekannte Gesichter, die noch nie in der Straße waren, Autos, die nicht zur Familie gehören?«

»Nein, nur welche, die ich kenne. Die Eltern von Bettina kommen drei Mal die Woche. Aber die Hofers sind zu klapprig, um sie in den Kofferraum zu wuchten. Dann Judit, ihre Schwester, die ist auch oft da. Die kannst du voll vergessen, weil sie meistens besoffen ist.«

Auf dem rechten Blatt erscheint ein Sektglas gefüllt mit einem J und dahinter ein Fragezeichen.

»Frau Strauch, eine letzte Frage. Sie leben hier allein mit Ihrem Sohn? Aus den Unterlagen entnehme ich, dass Sie verheiratet sind. Hier steht, Ihr Mann Tilman Strauch ist Schriftsteller.«

»Ja, das stimmt. Aber er hat mich vor fünf Jahren verlassen. Einzelheiten dazu kann ich Ihnen nicht sagen. Er war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Danach hat er mir noch einige Postkarten geschickt. Aus Berlin. Er hätte jemanden kennengelernt.«

»Zahlt er denn regelmäßig Unterhalt?«

»Nein, keinen Cent bekomme ich von ihm. Aber er war schon früher ein Geizkragen und ich musste ihn immer um Geld anbetteln. Im Moment weiß ich auch nicht, wie ich ihn erreichen soll. Er hat irgendetwas von USA gefaselt. Da kann ich ihn lange suchen.«

»Darf ich die Postkarten oder Briefe sehen?«

»Aber selbstverständlich. Es sind nur drei Karten. Die letzte kam vor zwei Jahren, seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört.«

Unter dem gezeichneten Mund erscheint ein TS mit einem Fragezeichen dahinter.

»Darf ich fragen, wovon Sie Ihren Unterhalt bestreiten? Hier steht, Sie sind Hausfrau.«

»Ja, das stimmt. Ich muss mich ja um Lukas kümmern. Frühstück, Mittag und Abendessen, dann die Hausaufgaben. Das ist Arbeit genug. Jetzt lebe ich von dem Ersparten, das wir rechtzeitig auf die Seite gelegt haben.«

Muckel hält den Kopf nach rechts geneigt. Es vermittelt den Eindruck, als hätte er in der Ecke des Büros etwas Wichtiges entdeckt. Sein Mund ist halb geöffnet und der Bleistift in der Hand zittert.

»Es gibt … da sind ungeklärte … vielen Dank, Sie haben uns sehr geholfen.«

Muckel begleitet Familie Strauch bis an die Tür seines Büros. Danach sinniert er über die drei A4-Blätter. Er blickt auf den Mund, dann auf das TS mit dem großen Fragezeichen, bei dem der Unterpunkt wie ein Schweineschwänzchen geringelt ist.

»Tilman Strauch, was ist los mit dir?«

Er führt seine Augen nah an das Sektglas und gibt ein Schnauben von sich. Der Zeigefinger gleitet über fünf Smileys, eins davon mit Vampirzähnen. Dann faltet er die Papiere sorgfältig zusammen und legt sie in die Schublade rechts unten.

»Alle. Sie sind alle verdächtig. So ein Schlamassel! Warum krieg ich immer so ein Wahnsinnspuzzle auf den Tisch? Bettina Hofer-Rohwinkel, drei Tage nicht als vermisst gemeldet. Tilman Strauch, ihr Nachbar, seit fünf Jahren verschwunden. Zufall? Oder gibt es dort ein schwarzes Loch?

Die Kopfschmerzen fangen wieder an.«

3. Büro Muckel, nachmittags

Miriam bekommt soeben eine wichtige Nachricht, deswegen kann sie dem Kommissar nicht die Hand reichen. Seine fühlt sich ohnehin schlabberig an, überhaupt nicht wie der ehrliche Händedruck eines Mannes. Dafür ist der Schreibtisch im Vergleich zu meinem akkurat aufgeräumt. Ich habe schon lange vermutet, dass die im Fernsehen lügen. Es liegen keine Akten herum und die obligatorische Kaffeetasse fehlt. Er spitzt seinen Bleistift, während Miriam genervt in ihr Handy schreit.

»Du spinnst ja total, Alte!«

Der Ruf hat Muckels wichtige Arbeit unterbrochen. Er war damit beschäftigt, hinter einer Wand aus zwei hochgestellten Büchern drei weiße Blätter sorgfältig auszurichten.

»Wer ist bitte die ›Alte‹?«

Er kann nicht wissen, dass alle weiblichen Kontakte auf ihrem Handy grundsätzlich die ›Alten‹ sind, wobei die Jungs die ehrenvolle Bezeichnung ›Digger‹ tragen.

»Saskia. Die macht wieder krass ätzend.«

Ich erkenne, wie Muckel die Augenbrauen hebt. Da bin ich ihm mit meiner Kenntnis der Jugendsprache weit voraus. Er startet den Versuch, ihren bedeutungsschwangeren Satz aufzuschreiben, hält dann mitten in der Bewegung inne, um mir eine Frage zu stellen.

»Herr Rohwinkel, Sie wollten bei der Befragung Ihrer vierzehnjährigen Tochter Miriam dabei sein. Deswegen nehme ich gleich die Aussagen von Ihnen beiden auf.«

»Das ist auch besser so. Eure Polizeitricks kenne ich. Ihr belabert sie so lange, bis sie davon überzeugt ist, dass nur ich der Mörder sein kann.«

Es ist erschreckend, dass der Kommissar bei so einem plumpen Scherz die Augen aufreißt.

»Und? Sind Sie es denn?«

Sein Bleistift bleibt regungslos über dem linken Blatt hängen. Scheiße, was habe ich gerade gesagt? Das wird er doch wohl nicht …?

»Waas? Nun reden Sie mal nicht so einen Quatsch. Überhaupt, wer sagt denn, dass Betti tot ist. Ich als Ehemann würde das merken. Nein, meine geliebte Frau ist entführt worden. Bald wird jemand Lösegeld verlangen. So ist das doch immer, wenn man die übrigen Möglichkeiten ausschließen kann.«

Der Kommissar bewegt nacheinander die Finger der rechten Hand. Zählt er etwa die Optionen ab?

»Hat sich denn dieser Jemand schon bei Ihnen gemeldet?«

»Nein, aber das wird jede Minute passieren.«

Jetzt sieht er auf die Uhr. Wenn ein Experte für Entführungen so eine Reaktion zeigt, sollte ich langsam anfangen, das Lösegeld zusammenzukratzen.

»Sind Sie denn so wohlhabend, dass sich eine Erpressung lohnen würde?«

Jetzt als Millionär aufzutreten erzeugt nur Neid.

»Ich möchte die Leistung meiner Firma Everphase nicht unter den Scheffel stellen, doch mit dem Konzept Refurbishing und Recycling von Akkus haben wir einen Meilenstein gesetzt. Das startet ausgesprochen hoffnungsvoll.«

Er weiß nicht, dass ich über seine provisorische Blicksperre hinwegsehen kann, wenn ich mich etwas aufrecht setze. Aber wieso kritzelt er auf das leere Blatt ein Dollarzeichen und dahinter ein Fragezeichen?

»Refurbishing? Hat das was mit Umtausch zu tun?«

»Nein. Aus Alt mach Neu. Unsere aufbereiteten Akkus sind so gut wie neuwertig und kosten nur die Hälfte.«

»Reparierte Akkus? Lohnt sich das denn? Ich meine, kauft die jemand?«

»Doch schon. Die Umsätze steigen jedes Jahr zweistellig.«

Ich erkenne, wie er das Dollarzeichen mit einem kräftigen Kreuz durchstreicht. Unverschämtheit. Er starrt auf das Blatt. Sein Mund bewegt sich, ohne dass ich etwas hören kann. Dann sieht er mich an.

»Haben Sie einen Verdacht, wo sich Ihre Frau aufhalten könnte?«

»Nein, sagte ich doch schon. Sie kam abends nicht nach Hause und ihr Wagen stand nicht da. Im Backofen war kein Abendessen und wir mussten uns Pizza liefern lassen.«

Der Mund des Kommissars bleibt leicht geöffnet. Der Bleistift deutet in die linke, dann in die rechte Ecke.

»War das normal? Ist sie schon früher über Nacht weggeblieben?«

So heftig habe ich noch nie den Kopf geschüttelt und muss vorsichtig im Nacken nachfühlen. Bei so drastischen Halsbewegungen kann leicht etwas ausrenken.

»Was denken Sie nur? Wenn, dann fahren wir zusammen irgendwo hin. Ins Restaurant, ins Theater oder zu einer Vernissage.«

Es wäre besser gewesen, Miriam auf dem Flur sitzen zu lassen. Sie hat die besondere Gabe, sich dann einzumischen, wenn es gerade ungünstig ist.

»Da fährst du nie mit ihr hin. Restaurant? Dass ich nicht lache. Mit dir geht es maximal zum Mac, aber auch nur, wenn ich lange genug meckere und der Kühlschrank wieder leer ist. Ihr fahrt nirgendwo hin und du weißt ja noch nicht mal, was eine Vernissage ist.«

Rotzgöre. Dafür gibt es nur eine Strafe.

»Miriam, halt die Klappe, sonst kriegst du das Nokia.«

Ha, damit hab ich sie. Hausarrest, Taschengeldentzug, alles Babykacke gegen die Androhung, ihr iPhone 8 in ein Nokia 3310 zu verwandeln. Damals, das war vor fast zwanzig Jahren, da konnte ich mit dem Ding bewundernde Blicke auf mich ziehen. Es funktioniert immer noch, aber wenn ich es ihr nur zeige, folgt ein Schreikrampf mit roten Flecken am Hals.

Wieso malt er schon wieder ein Fragezeichen auf sein Blatt? Miriams Antwort scheint keinen Eindruck hinterlassen zu haben und er sieht mich freundlich an.

»Ich möchte die Frage präzisieren. Wo arbeitet Ihre Frau?«

Na klar, den Gatti sollte er dringend überprüfen. Die Italiener sind ja bekannt für Entführungen mit Lösegelderpressung. Und schleimig genug sieht er aus. Na ja, zumindest stimmt das Geld, dann darf er sich meinetwegen die Haare kiloweise mit Pomade einschmieren.

»Betti ist bei der Firma Gatti GmbH als Assistentin der Geschäftsführung angestellt. Das ist eine sehr verantwortungsvolle Position.«

Wieso notiert er das nicht? Immerhin nickt er.

»Und sie hat immer pünktlich Feierabend und kommt dann direkt nach Hause?«

Er weiß tatsächlich nicht, wie aufreibend so eine Tätigkeit als Assistentin sein kann.

»Das mag bei Ihnen bei der Polizei so sein. Nein, sie trägt jede Menge Verantwortung. Bilanzen bis spät abends, Vorbereitung der Meetings, dann oft mehrere Tage auf einem Kongress. Aber das stimmen wir immer ab. Einvernehmlich natürlich.«

»Und an dem Tag wussten Sie nichts von einem Termin, der ihr Fortbleiben erklären könnte?«

Er hat null Checkung. Der Kommissar hat keine Ahnung, wie das harte Leben in der freien Wirtschaft abläuft. Also werde ich ihm das ganz behutsam verklickern. Ich will ihn ja nicht beleidigen.

»Ihr mit euren regelmäßigen Feierabenden habt doch keinen Schimmer, wie hart ein richtiger Beruf sein kann. Natürlich kommt es vor, dass sie länger arbeiten muss, oder später noch mal los, um was zu erledigen. So, nun verrate ich Ihnen mal was. Haben Sie schon mal die ganze Nacht durchgearbeitet und dann den nächsten Tag auch? Sehen Sie. Meine Bettina ist da anders gestrickt als ihr Sesselfurzer, die kann das. Und wenn ihr Auto nicht vor dem Haus steht, ist sie in der Firma. Hart schuften, falls der Begriff Ihnen was sagt.«

Ha, jetzt hab ich den Kommissar aber drangekriegt und er ist verschämt zurückgezuckt. Das wäre für ihn der richtige Zeitpunkt, das Feld zu räumen, doch er sieht mich fragend an.

»Tatsächlich, ihr Wagen steht immer noch auf dem Firmenparkplatz. Aber dort ist sie nicht. Ihre Aussagen widersprechen sich irgendwie. Anfangs hatten Sie zu Protokoll gegeben, Ihre Frau würde über Nacht niemals wegbleiben. Daraus ist vor zwei Minuten ›regelmäßig‹ geworden. Seltsam. Haben Sie denn nie Argwohn gehegt und sich gefragt, ob sie eine heimliche Beziehung hat? Einen Freund, einen Geliebten oder etwas in der Art?«

»Nein, sagte ich doch, unsere Ehe beruht auf Vertrauen und Ehrlichkeit. Außerdem lieben wir uns über alles. Warum also sollte sie dann einen anderen wollen?«

Jetzt erkenne ich, dass er einen fetten Punkt neben das Fragezeichen gesetzt hat. Die Antwort hat gesessen und er sieht etwas ratlos Miriam an. Doch die hat keine Zeit, ihr Handy hat soeben ein wichtiges Ping von sich gegeben.

»Miriam, wie siehst du das?«

»Wie sehe ich was?«

Braves Mädchen. Mit solchen Gegenfragen bekommt man einen Kommissar ganz schnell in die Klapse.

»Die Frage war, ob es möglich sein kann, dass deine Mutter einen Geliebten hat. Vielleicht eine geheime Beziehung oder etwas Ähnliches?«

»Warum denn das? Sie haben doch gehört, meine Eltern lieben sich so furchtbar.«

Das war jetzt deutlich zu dick aufgetragen. Außerdem klang ihre Stimme nicht überzeugend. Eher wie: »Sie wollen mir weismachen, das Nokia 3310 wäre besser als mein iPhone 8?«

Der Kommissar öffnet die rechte untere Schublade. Sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er dort die geheimsten Dokumente aufbewahrt, doch es wird nur ein einziges Blatt. Er legt es umgedreht auf den Tisch, will mich damit nervös machen. Ha, bei einem Unschuldigen funktioniert das nicht. Nur Miriam rutscht unruhig hin und her. Weiß sie mehr als ich? Deshalb sieht er sie besonders scharf an.

»Du bleibst also dabei, dass dir eine Liebesbeziehung deiner Mutter unbekannt ist? Und Sie, Herr Rohwinkel, wissen auch nichts von einem Geliebten?«

»Ich verbitte mir solche Unterstellungen. Allein das Wort ›Geliebter‹ hört sich aus Ihrem Mund unanständig und falsch an. Wenn ich Ihnen sage, es gibt da nichts, dann ist das so. Basta.«

Er schaut meine Tochter schon wieder so durchdringend an. »Du weißt, dass du hier bei der Wahrheit bleiben musst.« Sie hat leider für so einen Schwachsinn keine Zeit, denn es hat erneut Ping gemacht.

»Oh, die Alte nervt. Da geh ich nicht dran. Was sagten Sie noch mal, wobei soll ich bleiben?«

Jetzt hat sie die Spielregeln kapiert. Bald haben wir ihn so weit und er wird zu seinen Pillen greifen, zu den grünen.

»Nun gut. Dann verraten Sie mir bitte, was Sie auf diesem Bild erkennen.«

Er dreht das Blatt um.

Der Begriff ist nicht oft angebracht, außerdem klingt er ordinär und unanständig. Aber jetzt wäre ›heilige Scheiße!‹ der passende Ausdruck. Meine in mühevoller Schweißarbeit zerrissenen Schnipsel wurden sorgfältig zusammengeklebt. Für so etwas gibt es spezielle Software, habe ich gelesen. Die Schredderdokumente der Stasi haben die sogar wieder zusammengeflickt. Aber das Foto so zu behandeln ist eine Unverschämtheit. Und woher hat er das überhaupt? Das lag in meinem privaten Mülleimer. Illegal beschaffte Beweismittel sind das. So etwas ist verboten. Glaube ich jedenfalls. Jetzt heißt es, ruhig zu bleiben.

»Keine Ahnung. Ich erkenne da nichts. Das ist ja komplett in Fetzen. Wer zum Henker soll aus dem Wirrwarr was deuten können?«

Er nickt, also habe ich recht. Hoffentlich kann Miriam diesmal ihre vorlaute Klappe halten. Sie kann.

»Ich sehe auch nichts. Was soll das denn sein?«

»Nun, lassen Sie es mich so ausdrücken. Meine drei Kollegen und ich sind uns hundert Prozent einig, dass es sich hier um Ihre Frau Bettina handelt. Das, was die beiden auf dem Foto durchführen, wird im Fachlexikon für sexuelle Praktiken als ›Coitus a Tergo‹ bezeichnet. Den deutschen Begriff Hündchenstellung halte ich dagegen für ordinär. Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie mir jetzt noch den Namen des jungen Mannes auf dem Bild nennen könnten. Wie gesagt, wir ermitteln in alle Richtungen. Sie möchten doch Ihre Frau und du deine Mutter wiederhaben, oder?«

Miriam ist schneller als ich.

»A Tergo heißt das? Ist ja krass.«

So, jetzt bin ich dran.

»Ich weiß nicht, woher Sie das haben, aber Bettina kann das auf den Schnipseln unmöglich sein. Das liegt ausschließlich daran, dass ihr so viele ähnlich sehen. Gehen Sie doch nur einmal durch die Stadt, halten das Blatt hoch und fragen, ob jemand sie erkennt. Dann bekommen Sie spielend hundert Frauen zusammen.«

»Wir haben das Bild aber nicht aus der Stadt, es lag vor Ihrem Haus in Ihrer Mülltonne.«

Dürfen die das? Zugegeben, ich hätte das Foto doch runterschlucken sollen. Das hatte ich ja versucht, sogar noch, als die Zunge von der scharfen Kante blutete. Aber ich bekam ein Würgegefühl und habe es dann aufgegeben. Jetzt fällt mir wieder ein, dass die natürlich immer in der Mülltonne rumwühlen. Meine stille Hoffnung bestand darin, dass es durch ekelige Küchenabfälle ausreichend abgedeckt wäre. Mist, ich hatte vergessen, dass Betti nicht da war und die harten Pizzaränder immer noch in der Küche herumgammeln.

»Die Mülltonne ist frei zugänglich. Jeder kann das da reingeworfen haben. Ein Pornofoto aus dem Internet, das jemand loswerden wollte. Oder so.«

Jetzt nickt sogar Miriam.

»Wir haben auf dem Bild Fingerabdrücke von drei Personen gefunden. Und Blutspuren. Wir möchten ausschließen, dass es Ihre sind. Den Fall einer vermissten Ehefrau nehmen wir genauso ernst wie Sie. Deswegen wird es Ihnen sicher nichts ausmachen, uns Ihre Abdrücke als Vergleich zu überlassen. Eine Speichelprobe für den DNA-Abgleich ist ebenfalls Standard.«

Miriam rutscht tiefer in den Stuhl und tippt wie verrückt auf dem Handy, das sie verkehrt herum hält. Da ich ein absolut reines Gewissen habe, kann er die Abdrücke ruhig nehmen.

»Aber klar doch, ich mache ja alles mit. Nur finden Sie dann bitte Betti. Wir vermissen sie sehr.«

Habe ich da von Miriam einen ungläubigen Blick geerntet? Das mit dem Vermissen stimmt tatsächlich. Noch heute Morgen hat sie es mir gestanden. 

»Wann kommt Mama endlich nach Hause? Dein Müsli ist voll ekelig. Igitt, Rosinen? Du weißt doch, dass ich die hasse wie die Pest.«

Weil ich absolut unschuldig bin, können sie mir auch nichts nachweisen. Sie dürfen von mir aus alle Proben nehmen, die sie benötigen. Dieser hartnäckige Kommissar deutet auf das Foto, das wie eine Anklageschrift vor ihm auf dem Schreibtisch liegt.

»Sehen Sie bitte noch einmal genau hin. Das Bild wurde mit einem Teleobjektiv durch ein Fenster in einem Raum mit Bett aufgenommen. Kann es sein, dass es Ihr Schlafzimmer ist?«

»Nie und nimmer. Wer zum Henker sollte das machen? Warum auch? Und so komische bunte Bettwäsche haben wir sicher nicht. Wenn Sie mich fragen, das wurde in irgendeinem billigen Pornostudio gedreht. Nein, so einen Schmutz lassen wir uns nicht unterjubeln, Herr Kommissar.«

Er macht mit dem Bleistift in den gezeichneten Kreis einen dicken Punkt. Dabei ist ihm die Bleistiftspitze abgebrochen und er pustet die Brösel vom Tisch. »Gut, zur Sicherheit müssen wir noch einmal Ihre Wohnung besichtigen. Machen Sie sich keine Sorgen, das ist eine Routineprozedur.«

»Im Keller ist sie nicht, falls Sie das meinen, da habe ich schon nachgesehen. Sogar die Auszugsleiter zum Dachboden bin ich hochgestiegen. Mit Taschenlampe. Sie suchen am falschen Ort, bei uns gibt es nicht das kleinste Fitzelchen eines Beweises.«

Glaube ich jedenfalls. Aber er hört sowieso nicht hin.

»Und den jungen Mann auf dem Bild kennen Sie mit Sicherheit nicht?«

Er schwenkt das Foto so dicht vor meiner Nase, dass ich zurückzucke. Miriam muss wenige Sekunden später eine ähnliche Tortur ertragen. Dabei schüttelt sie heftig mit dem Kopf und das Handy fliegt ihr aus der Hand. Aber ich darf dem Kommissar ruhig etwas zum Nachdenken dalassen.

»Doch, jetzt wo Sie es sagen. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Til Schweiger. Bettina kann sich über seine Filme totlachen.«

Der Kommissar hebt den Zeigefinger und sieht mich vorwurfsvoll an.

»Haben Sie soeben ›totlachen‹ gesagt? Soll das etwa ein Hinweis sein?«

Er kritzelt erregt auf dem Zettel herum. Ausgerechnet jetzt kann ich nichts erkennen, denn er hält die Hand davor.

»Sie sorgen sich auf eine sehr merkwürdige Art um Ihre Frau. Was das zu bedeuten hat, finde ich noch heraus.«

Oha. Bei ihm muss ich wohl jedes Wort auf die Goldwaage legen. Aber totgelacht hat sich Betti bestimmt nicht.

4. Praxis Doktor Hahnemann

Die sechs DIN-A4-Bögen liegen akkurat vor ihm auf dem Schreibtisch. Da der Platz nicht ausreichte, sah er sich gezwungen, ihre Fachbücher, den Standbehälter mit Kugelschreibern sowie ein gerahmtes Bild zur Seite zu schieben.

»So wird es gehen. Obwohl? Mir wäre es lieber, es bliebe etwas mehr Platz dazwischen. Eine fehlende Distanz kann zu völlig falschen Ergebnissen führen.«

Die blondierte Mittdreißigerin gegenüber lässt den Kugelschreiber in der linken Hand rotieren. Irritiert sieht er dem Spiel zu. Dabei verrutscht sein Ellbogen und verschiebt das rechte der sorgfältig ausgerichteten Blätter.

»Oh, Entschuldigung. Die Übersicht. Das war mein Fehler.«

»Herr Muckel, Sie sind hier, weil Sie sich zu viel Sorgen machen. Ihre Ängste, etwas zu übersehen, nicht aufgeschrieben zu haben oder falsch aufzufassen, die erzeugen Stress. Der bewirkt eine Rückkopplung und Sie verlieren sich in Details. Ihr Verlangen nach Perfektion und die Ansprüche werden dadurch höher und Sie sind mit Ihren Leistungen nie zufrieden. Damit rennen Sie in eine Sackgasse, in der es nur einen Ausweg gibt: umkehren und in die entgegengesetzte Richtung gehen.«

Sie bemerkt, dass er irritiert auf den rotierenden Kugelschreiber starrt und auf dem Stuhl hin und her rutscht. Er versuchte mehrmals, sie zu unterbrechen, doch sie redete unbeirrt weiter. Erst jetzt bekommt er Gelegenheit, seinen Standpunkt darzulegen.

»Warum entgegengesetzt? Ist es denn falsch, den Job besonders gut machen zu wollen?«

Sie schlägt ihre Beine übereinander. Umständlich entnimmt sie dem Behälter für die Kugelschreiber eine lange Haarnadel und steckt sie sich in den Haarknoten, der vorher bereits perfekt saß. Er runzelt die Stirn, greift zum Stift und möchte etwas zu Papier bringen. Dann stoppt er unvermittelt die Bewegung und platziert ihn wieder exakt mittig über dem linken Blatt.

»Sehen Sie, das, was Sie soeben veranstaltet haben, war eindeutig ein Anzeichen Ihrer Psychose. Sie ist bekannt als anankastische Persönlichkeitsstörung. Damit sind Sie nicht in der Lage, wichtige Dinge von unwichtigen zu unterscheiden. Sie bestehen auf Ihren Prinzipien und Normen und können es schwer ertragen, davon abzuweichen. Was wollten Sie gerade aufschreiben?«

Er stutzt, überlegt, ob er es zugeben soll.

»Ich fand es merkwürdig, dass Sie sich bei unserem Gespräch Zeit für Ihr Haar nehmen. Außerdem ist eine zusätzliche Haarnadel unnötig, sie hat keinen praktischen Nutzen. Das wollte ich skizzieren und zu meinen Aufzeichnungen legen.«

Sie schmunzelt. Es fällt ihm schwer, nicht nach dem Stift zu greifen. Stattdessen versucht er, den Ausdruck in ihrem Gesicht einzuordnen. Für ein Auslachen ist es nicht ausdrucksstark genug. Aber was fand sie lustig?

»Steht die Nadel in meinem Haar in irgendeinem Zusammenhang mit dem Fall, an dem Sie arbeiten?«

Seine linke Hand umkrampft die rechte, die wie ferngesteuert nach dem Stift greifen möchte.

»Der Fall? Haarnadel, Foto, Sektglas, Herz. Die Haarnadel durchstößt das Herz? Mit der Nadel erstochen und im Garten verscharrt? Das ist statistisch gesehen sehr unwahrscheinlich. Sie haben mit dem Fall bislang keine Berührungspunkte und wurden von mir nach anderen Kriterien ausgesucht. Ich bin hergekommen, weil, weil … Sie haben recht, das mit der Nadel muss ich überhaupt nicht notieren. Aber schaden kann es auch nicht.«

Sie sieht ihn lange scharf an, bis er den Kopf hängen lässt.

»Es wäre überflüssig, stimmt’s?«

»Nicht nur überflüssig, es ist kontraproduktiv. Ich habe hier einen wunderbaren Tee, Melisse, Hopfen, Baldrian. Sie trinken doch mit mir einen Tee?«

Er sieht immer noch angespannt auf die sechs Blätter auf dem Schreibtisch, sucht nach einer Verbindung zwischen der Haarnadel und dem Fall.

»Ich habe verstanden. Baldrian, ja? Dabei bin ich überhaupt nicht aufgeregt oder nervös. Allerdings ist es unbefriedigend, dass ich mir unbedeutende Details merken muss.«

»Na, na. Halten Sie eine zusätzliche Nadel in meinem Haarknoten für unbedeutend?«

Er sieht sie an und errötet.

»So war das nicht gemeint. Nur mit dem aktuellen Fall kann die Nadel nicht zusammenhängen.«

Erleichtert erkennt er, dass sie nickt.

»Was würden Sie denn sagen, wenn ich Ihnen verrate, dass ich an der Nadel hänge?«

Seine Stirnfalten werden tiefer. Der Blick irrt über die sechs Blätter, dann sieht er vorwurfsvoll in ihr Gesicht.

»Sie hängen an der Nadel? Abhängig vom Heroin? Aber Sie sind meine Therapeutin, da wäre es schlecht, wenn Sie zusätzlich …«

»Ganz ruhig, Herr Muckel, tief durchatmen. Der Begriff ›An der Nadel hängen‹ ist eine Redewendung. Das Wort ›hängen‹ habe ich dabei als Polysem verwendet, da es in dem Satz unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Es sollte ein Scherz sein.«

»Heroinsucht ist nicht witzig. Moment, Sie sagten ›hängen‹ ist was? Sie hängen an der Nadel … Sie mögen die Nadel, eigentlich Ihre Haarnadel. Sie sind überhaupt nicht süchtig, sondern in Ihre Haarnadel verliebt. Puh, ein schwieriger Witz. Ohne Ihre Hilfe wäre ich da niemals drauf gekommen.«

»Es war ein Test, ob Sie in der Lage sind, Scherze als solche zu erkennen. Im Endeffekt haben Sie ihn ja auflösen können. Sie befinden sich damit auf Stufe eins, was nicht heißt, dass es so bleiben kann. Fehlende Flexibilität im Denken und Handeln sind bei Ihrem Krankheitsbild oft so drastisch ausgebildet, dass eine Umkehr einer gefassten Meinung unmöglich wird. Herr Muckel, bei Ihnen jedoch habe ich Hoffnung, dass Sie es schaffen können.«

»Wie heißt das? Polysem? Ich werde mir ein Wörterbuch der Polyseme anschaffen und alle auswendig lernen. Dann falle ich nicht wieder so plump darauf rein.«

Dabei sieht er wie hypnotisiert auf die Nadel im Haarknoten. Auf seinem Gesicht erkennt sie die Frage, ob es möglich sein kann, an einem so banalen Hilfsmittel zu hängen.

»Nein, hören Sie sofort damit auf. Es geht hier nicht um Fachwissen, vielmehr um die Flexibilität des Geistes. Sie sollten sich niemals zu früh eine feste Meinung bilden, sondern verschiedene Optionen in Erwägung ziehen. So wie beim Wort ›hängen‹.«

»Aber solche Scherze dürfen Sie mit mir nicht machen. Ich hatte ernsthaft überlegt, welcher Therapeut denn wohl für eine Therapeutin zuständig ist.«

»Nun gut. Lassen Sie sehen, wie Sie meine übrigen Empfehlungen umgesetzt haben. Sie erinnern sich, warum Sie zur Therapie gekommen sind? Erklären Sie mir das bitte noch einmal aus Ihrer Sicht.«

Irritiert sieht er auf den Kugelschreiber in ihrer Hand, der die Bewegungen der Rotoren eines Helikopters imitiert.

»Es war der Zusammenbruch. Die achtundvierzig Bögen passten nicht mehr nebeneinander auf den Schreibtisch, deshalb habe ich den Fußboden dazu genommen. Das Querlesen funktionierte nur unzureichend. Bei jeder Zeugenbefragung hatte ich zwanzig eng beschriebene Seiten notiert. Beim Nachschlagen kam ich durcheinander. Ich erinnere mich, dass mir schwarz vor den Augen wurde und ich Minuten später auf den Boden liegend aufwachte. Zu viele Informationen. Alle wichtig, das ist klar, das kann nur ein Großrechner des FBI bewältigen. Aber die können meine Notizen bestimmt nicht lesen. Ich war so verzweifelt, dass ich, dass ich …«

Er greift zum Tee, nimmt vorsichtig zwei Schluck. Sie erkennt, dass er sich bemüht, nicht das Gesicht zu verziehen.

»… dass Sie einen Zusammenbruch bekamen. Und nicht nur einmal.«

Sie nickt ihm aufmunternd zu.

»Genau aus dem Grund habe ich vorgeschlagen, das Ganze minimalistisch anzugehen. Sie sollten unbedeutende Details ausblenden und sich pro Tag nur einen einzigen Stichpunkt herausgreifen. Keinen Text, nur einfache Symbole. Wie ich sehe, hat das ja wunderbar geklappt. Erklären Sie mir anhand der Beispiele auf den Blättern bitte, was Sie bewegt hat. Ich möchte weder Namen noch Details hören. Ich bin eine unbeteiligte Person und werde das auch bleiben.«

Als er zum Stift greifen will, sieht er ihr Kopfschütteln. Also legt er seine Hände auf den Tisch und startet mit Blatt eins oben links.

»Ein Smiley mit Vampirzähnen. Die zeichnete ich erst nachträglich hinein, nachdem ich ihre Aussage zunächst amüsant fand. Ihren Hass auf ihn habe ich noch nicht ganz verstanden. Da muss mehr sein als ein Fuchteln mit der Kettensäge in ihre Richtung. Das, was die Dame da über ihn behauptet, hat tief greifende Ursachen.«

»Sehen Sie, Herr Muckel, das war es auch schon. Sie können alle anderen Zettel zerreißen. Ein einziger Anhaltspunkt, ein Ansatz. So einfach ist das. Wir treffen uns übermorgen. Dann möchte ich von Ihnen ein weiteres Symbol. Und legen Sie sich ein Notizbuch zu! Oberkommissare schreiben nicht auf losen Blättern. Aber ich warne Sie, maximal eine Seite pro Befragung und davon merken Sie sich nur ein einziges Icon. Schluss mit Ihrem Drang nach Perfektionismus, fünf Prozent Erfolg sind für heute genug. Sie müssen sich daran gewöhnen, schluderig zu arbeiten. So, jetzt sehen Sie sich das Vampir-Smiley noch einmal an und dann ab in den Papierkorb mit allen Blättern.«

Er sieht sie an, als hätte sie ihm befohlen, vor einen fahrenden Zug zu springen.

»Ein Smiley … das sind … Moment, eins von zweiunddreißig Symbolen, das sind nur drei Prozent, nicht fünf.«

Ihr Zeigefinger deutet erbarmungslos auf den Papierkorb. Seine Hand zittert, als er die gesammelten Informationen dem Eimer überlässt.

Er schließt die Tür hinter sich und sie hört auf dem Flur ein unterdrücktes Schniefen.

5. Wohnzimmer Hofer

Die Kiesauffahrt wirkt gepflegt. Unter der Klingel neben dem Gartentor blinkt die Linse einer Kamera. Auf dem Messingschild ist der Name Hofer in der schwer lesbaren Schriftart Old English eingraviert. Er hatte sich zwar angekündigt, trotzdem dauert es drei Minuten, bevor das Tor elektrisch geöffnet wird. Entweder lieben die beiden Gartenarbeit oder sie haben einen Gärtner angestellt. Die Blumenbeete wirken gepflegt, der Rasen wurde frisch gemäht. Neben der Eingangstür stehen zwei Terrakottakübel mit blühenden Margeriten.

»Guten Tag. Ich bin Kriminaloberkommissar Muckel und ermittle im Fall Ihrer vermissten Tochter Bettina Hofer-Rohwinkel. Darf ich Ihnen dazu einige Fragen stellen?«

»Ach, die arme Betti. Kommen Sie doch herein. Natürlich wollen wir der Polizei helfen, sie schnell zu finden.«

Sie setzt ihm ohne Nachfrage eine Tasse Tee vor, der nach frisch gepflückter Minze schmeckt. Auf dem Tellerrand liegen zwei Kekse; die erinnern ihn an den Hundekuchen, den seine Verlobte für ihre Daisy kauft. Die Hofers sitzen nebeneinander auf dem Sofa. Sie lächelt und er zieht ein griesgrämiges Gesicht.

»Sie sind Hildegard und Christian Hofer und arbeiten in der Stadt in Ihrem eigenen Buchgeschäft ›Hofer’sche Schätzchen‹. Ihre Töchter Bettina und Judit sind beide verheiratet und Sie besuchen sie wöchentlich. Ist das alles korrekt?«



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