Wie ich die Angst vor dem Tod wiederfand - Stefan Eduard Krenn - E-Book

Wie ich die Angst vor dem Tod wiederfand E-Book

Stefan Eduard Krenn

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Beschreibung

Was ist lebensmüde? Ein Schritt auf die Straße und der Autobus prescht herbei. Zwei Möglichkeiten: Man liegt kurz darauf sterbend auf dem Boden oder es passiert einfach gar nichts, weil der Busfahrer rechtzeitig bremst. Der Roman 'Wie ich die Angst vor dem Tod wiederfand' erzählt, was der Titel verspricht: Eine Extremsituation rüttelt wach und macht plötzlich klar, dass man vom Leben rein gar nichts mehr erwartet. Der Bus, und ob er bremsen kann oder nicht, ist einem vollkommen egal. Doch was nun? Die Resignation leben oder aufstehen und kämpfen? Auf der Suche nach der Angst vor dem Tod lernt der Protagonist sein Dasein wieder wertzuschätzen.

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Seitenzahl: 243

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Deshalb wird sie uns alle überleben.

Lebensmüde.

Das Wort lebensmüde hat keinen allzu guten Ruf. Man denkt dabei an Menschen, die gefährlich knapp an einem Abgrund tänzeln, auf Motorrädern viel zu schnell und ohne Helm dahin fahren, oder vielleicht von einem Boot ins Wasser springen, sobald sich ein Hai darunter befindet.

Ich denke dabei gerne an eine dunkle Kneipe, in der Männer um einen Tisch sitzen, sich abwechselnd einen Revolver an die Schläfe halten und abdrücken. In der Trommel des Revolvers befindet sich nur die eine Patrone. Bei sechs Kammern ergibt das eine Chance von eins zu sechs. Verrückt, könnte man sagen. Oder lebensmüde.

Das Gefühl, das man dabei empfindet – sofern man nach dem Abdrücken noch empfinden kann -, ist vermutlich der eigentliche Grund, bei diesem Spiel mitzumachen. Bei einem Revolver mit tausend Kammern würde sich die Chance natürlich entsprechend erhöhen - was allerdings recht unspannend wäre. Was jedoch bei sechs und tausend Kammern gleich bleibt, ist die Möglichkeit, zu sterben.

Man dreht die Trommel, sie bleibt stehen. Man starrt dem Gegenüber unentwegt in die Augen, zeigt keine Schwäche. Westernflair auf gut Russisch. Das Gefühl, in diesem Moment sein Leben oder eben den potenziellen Tod selbst in die Hand zu nehmen, ist das Spannende dabei. Wie kann man ohne weiteres dasitzen und ernsthaft diesem Spiel nachgehen? Sind diese Männer wirklich so unglaublich mutig?

Eine Antwort: Diese Männer haben keine Angst vor dem Tod. Eine etwas andere Antwort: Sie haben nichts zu verlieren.

Das bedeutet nämlich, dass sie keine Angst haben müssen. Nicht um irgendjemanden und nicht um irgendetwas. Sie haben nur ihr eigenes Leben. Und in diesem Moment, setzen sie es als Pfand.

Lebensmüde.

Das Wort bedeutet mehr als nur 'ich setzte mein Leben auf´s Spiel'. Es bedeutet auch, dass man müde geworden ist, zu leben. Man klettert dann nicht auf lebensgefährliche Felsvorsprünge und riskiert Kopf und Kragen. Nein. Es ist viel schlimmer. Man riskiert gar nichts mehr. Man ist müde. Vegetiert dahin. Die Tage verrinnen, Routine macht sich breit und ist irgendwann der einzige Grund, überhaupt noch am Leben zu sein.

Es war kein besonderer Tag, sogar ein ausgesprochen durchschnittlicher, an dem ich diese Erkenntnis erhielt.

Erhielt deshalb, weil ich irgendwie das Gefühl hatte, dass mir das gar nicht selbst eingefallen war. Es kam von irgendwo daher geflogen und blieb in meinem Kopf stecken.

Ich ging wie jeden Arbeitstag die Straße vor meiner Wohnung entlang, dann links über den Zebrastreifen. Zwar hatte die Ampel gerade geschaltet, aber ich war wichtig genug, doch noch zu passieren. Beeilen musste ich mich deshalb aber auch wieder nicht. Im nächsten Moment stand ein Bus direkt neben mir. Bereits auf dem Zebrastreifen. Der Busfahrer war so bleich geworden, dass ich ihn durch die dunkle Scheibe erkennen konnte. Wir sahen uns einen Moment an, ich ging ein paar Schritte zurück und stand wieder auf dem Gehsteig, von dem ich kam. Erst in dem Moment erinnerte ich mich an ein lautes Quietschen, das wohl vom bremsenden Bus kam. Wie ein Echo, das im Kopf umher spukt. Aus dem Bus starrten noch viele weitere erschrockene Gesichter, bis der Chauffeur bereit war, die Fahrt fortzusetzen. Es war mir schon etwas peinlich.

Ich fragte mich, warum um alles in der Welt ich diesen Bus übersehen habe. Und die Frage, die mich noch viel länger beschäftigen sollte: Warum habe ich gar nichts gespürt?

Mein Puls war normal, kein Schwitzen, kein schneller Atmen. Als ob ich gerade aufgewacht wäre und mich im Bett umdrehte. Fast so, als wäre es mir egal gewesen, hätte mich der Bus nun doch erwischt. Aber genau so war es. Es war mir egal. Ich blickte dem Bus nach und stellte mir vor, wie ich blutverschmiert und regungslos am Boden liegen würde. Die Leute schreien umher, man ruft die Rettung und ich, ich liege ruhig im Getümmel und es ist mir egal. Lasst mich verbluten. Oder auch nicht. Was spielt das schon für eine Rolle.

Endlich wurde es grün und ich machte mich weiter auf den Weg in die Arbeit. Emotionslos stand ich meinem Tod gegenüber und dieses Gefühl verkroch sich unbemerkt immer weiter in den Tiefen meiner Hirnwindungen.

Stumm saß ich wie immer an meinem Schreibtisch und in meinem Kopf blieben kaum interessante Gedanken hängen. Mein Körper war im energiesparenden Überlebensmodus. Warum war ich nochmal hier? War das eigentlich meine Entscheidung, mich an diesen außergewöhnlich kalten Tisch zu setzen? Ja, war sie. Ich nahm den Job an, weil ich das Geld unbedingt gebraucht habe. Man sitzt nicht den lieben langen Tag an einem Schreibtisch, weil man sich das so ausgesucht hat. Oder doch? Ergibt doch eigentlich keinen Sinn. Wie könnte ich hier sitzen, wenn ich mir das gar nicht ausgesucht habe? Wie kann ich jeden Tag hier herkommen, wenn nicht ich - der Herrscher meines eigenen Lebens - es mir so gewünscht habe? Immerhin habe ich auch einen Vertrag unterschrieben, ihn mit nach Hause genommen und ihn immer und immer wieder gelesen. Das war doch meine Entscheidung. Oder nicht?

Als mein Kopf endlich etwas weh tat, holte ich mir einen Kaffee und lehnte mich nachdenklich an die Mauer in der kleinen, schäbigen Kaffeeküche der Firma. Überall der deprimierende 70er-Jahre Braun-in-Beige-Farbstil. Wieder und wieder musste ich mich fragen, wie ich hier gelandet war. Gerade noch ein Mitarbeiter, der zur Türe herein kam und jetzt ein Fremder inmitten dieses komplexen Haufens, den ich eigentlich nicht richtig verstand. Ich war so sehr in Gedanken, dass ich den Herren verpasste, der vor mir stand und bereits eine Zeitlang auf mich einredete. Mein starrer Blick war offensichtlich kein Hinweis für ihn, dass ich nicht auf Empfang war. Zwar verstand ich hin und wieder ein Wort, den Zusammenhang jedoch nicht.

Nach einigen Momenten berührte er mich mit seinem spitzen Zeigefinger an der Schulter.

»Geht es ihnen gut?«, fragte er, »Sie sind so weiß wie die Wand.«

Ich entgegnete nichts, mein Blick durfte in dem Moment sowieso mehr als genug Aussage gehabt haben. Er redete noch immer und mir kam es vor, als würden seine Augen abwechselnd größer und dann wieder kleiner werden - weshalb ich dann wieder nicht auf seine Worte achten konnte. Bald verließ er mit einem etwas sorgsamen Lächeln den Raum. Ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte.

Der Kaffee brachte kaum Wirkung, also entschied ich, mit einem größeren Briefumschlag von Abteilung zu Abteilung zu gehen. Im Briefumschlag waren nur irgendwelche Zettel von meinem Schreibtisch, jedoch fragte dann keiner was ich mache, oder wohin ich gehe. Mein Handy zeichnete die zurückgelegten Schritte auf. Bei etwa dreitausend Schritten nach knapp dreißig Minuten ging ich wieder zurück an meinen Platz. Dann habe ich mich wieder einmal um meinen Email-Posteingang gekümmert, indem ich die Emails zur Abwechslung nach dem Absender, seiner von mir angenommenen Dummheit und seiner Schleimfähigkeit geordnet habe. Kurz vor Dienstende hörte ich, dass einer der Abteilungsleiter seine Runden zieht. Somit suchte ich meine Zeitschaltuhr aus der Lade und stellte sie so ein, dass mein Schreibtischlicht um kurz nach Dienstende ausgeht, damit man glaubt, ich wäre noch hier. Dabei habe ich meine Jacke längst in einen kleinen Karton gestopft, darüber einige unwichtige Zettel als Tarnung. Am Hinterausgang angekommen, zog ich meine Jacke an und warf den Karton weg.

Als ich die Straße entlang ging – eigentlich genauso wie immer – fühlte es sich an, als ob man mir mit einer Schnur den Hals zusammenzog. Nicht wie ersticken, sondern wirklich wie eine Schnur. Es bleibt einem die Luft weg, aber es war ein Schmerz dabei, der sich quer über den Hals zog.

Ich wurde nervös und sorgte dafür, dass mein Kragen locker saß. Ganz schön voll hier. Die Leute - all diese Leute. Sie starrten mich an. Ich war mir fast sicher. Es war nicht zum Aushalten. Immer mehr und immer tiefere Blicke, immer weiter in mich hinein, bis sie meine Seele so offengelegt hatten, um zu erkennen, dass ich sie dafür verabscheute.

Jeden einzelnen. Mit ihren billigen Klamotten, die sie um ein paar Euro gekauft hatten, um sich wertvoller zu fühlen. Die, die in den verlogenen In-Lokalen hocken und sich einen Salat in den Mund schieben, der weiter gereist war als sie selbst, um keinen Tier ein Leid zuzufügen. Unter dem Tisch die knallpinken Kunstlederschuhe, unter denen nur die Menschen leiden mussten, die sie hergestellt hatten.

Die Dicken und Verfressenen, denen immer noch die Soße im Mundwinkel hing und die angewidert an den Menschen am Straßenrand vorbei gingen, ohne nur ein Stück ihres Fettes abzugeben.

Aber auch die Leute am Straßenrand, die zu faul waren um was anderes zu machen. Bettelnd und sabbernd wie Gott sie sicherlich nicht schuf, standen sie da und versuchen mit übertriebener Freundlichkeit einen Euro herauszuschlagen, als Tausch gegen ein besseres Gewissen. Ihr wollt nicht der Gesellschaft Knecht sein? Und das macht ihr, indem ihr die anderen Knechte ausnehmt? Konsequent sein heißt etwas anderes. Weg mit dem Geld, weg mit den Bierdosen und dem Gewand. Ab in den Wald und lebt so, wie ihr gerne behauptet zu leben.

Meine Güte! Ich stoppte, um durchzuatmen. Es war, als ob mein Kopf platzen würde. Zu viele Gedanken, zu viel Hass und Wut. Über die, alle, alles und mich. Da ich jedem Anzugsträger am liebsten einen geknallt hätte, entschloss ich, nicht mit der U-Bahn zu fahren. Die Gefahr war zu groß, auch noch weitere Menschen darin zu finden.

Vorsichtig schlich ich mit gesenktem Blick durch die Menge und suchte meinen Weg durch die kleinsten Gassen hindurch bis ich sicher sein konnte, dass ich am richtigen Weg war. Bald würde ich zuhause sein.

Es dauerte nicht lange, da kam ich in einen kleinen Park.

Die Sonne glitzerte durch die Bäume und es war, als ob ich die Stadt verlassen und einen Ruhepol gefunden hatte.

Immer noch starr und verwirrt setzte ich mich auf die Bank in diesem grünen Dasein. Ihr Holz war alt und weich, ich fuhr mit der Hand darüber - war mir nie aufgefallen. Die Vögel waren so laut und übertönten alles umher. Erst als ich in diesem goldenen Käfig angekommen war, konnte ich meine eigenen Gedanken wieder verstehen. Ich schluckte aufgeregt, mein Herz schlug schneller und meine Handflächen waren feucht geworden. War es ein Herzinfarkt? Eine Krankheit, die mich in diesen Zustand versetzte? Langsam ballte ich eine Faust, sah mich ruhig um.

Meine Augen waren so weit aufgerissen als hätte ich etwas Schreckliches gesehen - inmitten dieses Idylls. Es wurde besser, doch ich erschrak, als ein Jogger in scheinbar unmöglicher Lautstärke an mir vorüberlief. Bumm, knirsch, bumm, knirsch. Wie Folter. Ich war der Boden, die Steine die aneinander rieben, der Schuh, der Gummi, der sich verzweifelt zwischen Fuß und Dreck ausdehnte. Ich war der Wind, der sich hinter dem Jogger verwirbelte und dem wegen all der Dreherei schon richtig schlecht war. Ich war der Schweiß, der ihm den Hals hinunter kroch und sich ein schönes Plätzchen am Shirt suchte. Ich war das Gras, die Bäume, die Straße, jedes einzelne Auto, die Abgase, die grauen Hausfassaden, die dicken Tauben, die Zeitung von gestern im Wind, der Dreck auf der Windschutzscheibe, die Mücken, der Zaun. Ich war alles, ich war alles und das bis ins letzte Detail - einfach alles.

Diese unfassbare Menge an Informationen, an Bewegung, an Masse und Gewicht, an Konfrontation, Zusammenleben und einfachem Sein. Wie wild lief ich weiter, immer weiter, an den lauten Autos vorüber, ich sah wie ich als Schmutzpartikel im Profil der Reifen gefangen war. Vorbei an Pfützen und ich wusste, wie sich der Regenwurm darin fühlt. Vorbei an Hunden und ich bemerkte, wie unbeschwert das Leben sein kann.

Vor meiner Wohnung stand eine junge Frau, die ich an jedem anderen Tag als attraktiv angesehen hätte. Heute aber, heute sah ich ihr Gesicht, verbogen von der Gesellschaft, ihre Haut so grob wie ein Gebirge und als sie an ihrer Zigarette zog, flog ich mit in sie hinein. Ich sah wie dunkel, wie leer es in ihr war. Als ich als stinkender Rauch wieder auf die Straße kam, stürzte ich in meine Wohnung. Es war wie immer und ganz anders. Es war dreckig. Es war schmierig. Die Fenster blendeten mich, jedes Möbelstück war der reinste Mist und alles, was ich besaß, war wertloser Schrott. Ich war nicht Zuhause. Ich war in der Hölle.

Mit zitternden Knien versuchte ich, in der Wohnung etwas zu finden, das ich nicht verabscheute. Meine Hände schüttelten sich selber durch, meine Füße gaben nach und ich knickte langsam und mit Verzweiflung in den Augen auf den Teppich hernieder. Mein Körper besaß keine Spannung mehr, mein Kopf war dumpf und nicht mehr zu benutzen.

Nachdem ich endgültig am Teppich angekommen war, wurde es schwarz um mich.

Es war ein langer und tiefer Schlaf. So tief - noch nie hatte ich so tief geschlafen. Und so lange, dass ich alles verschlafen hatte. Mein Telefon war leer geworden, vor Stunden hätte ich in der Arbeit sein sollen und sogar so lange, dass ich eine Einladung am Abend verpasste. Eine dieser Einladungen die von irgendwelchen Leuten kam die man allgemein als Freunde bezeichnet und die gleichzeitig so unwichtig war, dass ich nicht eine Sekunde darum getrauert hatte.

Als ich mit dem Gesicht am Teppich aufwachte, war es bereits wieder dunkel geworden. Der dumpfe Schein der Straßenlaternen ließ mich meine Wohnung in Umrissen erkennen und mir war übel, obwohl ich seit langem nichts gegessen hatte. Vorsichtig kämpfte ich mich hoch, saß einige Minuten einfach da und irgendwann bemerkte ich, dass ich keinen Gedanken im Kopf hatte. Nichts. Ich war einfach.

Einfach da. Erst nach und nach kam mir, was gestern passiert war und mein Kopf schaltete wieder ein. Es war ein eigenartiges Gefühl. Wie ein Schock für mein Gehirn, welches ein solches Denken nicht gewohnt war und dann in einem Moment gleich tausendfach überfordert wurde. Wie ein Buch, dass man 97 Mal gelesen hat, es auswendig kennt und plötzlich bemerkt, dass in den Sätzen oft ein Wort fehlte. Nun kennt man das Wort und setzt es in die Lücken, jedoch ergibt das Buch dadurch einen gänzlich anderen Sinn.

Ich packte mich zusammen und machte wie immer einfach weiter. Im ersten Moment gerade so, als ob nie was geschehen war.

Ich ignorierte die Tatsache, dass ich etwa 24 Stunden am Boden geschlafen hatte, duschte und suchte mir einige Reste aus dem Kühlschrank, weil ich mittlerweile wirklich hungrig war. Zwar war es schon etwas besser geworden, dennoch waren meine Gedanken noch immer sehr wirr. Mein Kopf ratterte immer und immer wieder durch die selben Gedanken, kam jedoch auf keine Lösung. Weil auch der Fernseher nicht in der Lage war mich abzulenken, beschloss ich, meine Gedanken durch niederschreiben zu erleichtern.

So saß ich also mindestens schon 20 Minuten da, dachte nach. Meine Gedanken drifteten immer wieder ab, kamen wieder zum Thema zurück, um schließlich wieder abzudriften. Aber auch das war mir irgendwann zu blöd. Ich überblickte den Zettel, fand darauf aber nur einen einzelnen Strich, weil ich mit dem Bleistift abgerutscht war.

Zugegeben - ich war nie gut in sowas. Was beschrieb meine Situation am besten? Vielleicht nur einige Wörter? Eine Silbe, oder wenigstens ein verdammter Laut! Aber wie schreibt man einen Laut? Soll man das so schreiben, wie man es sagen würde, oder den Laut an sich verbalisieren?

Oder ist das das Selbe? Muiumi. Mui – umi. Aber was soll das bedeuten? Moment, ich wollte doch Wörter aufschreiben!

Ich gab vorerst auf. Wo der Zettel und der Bleistift waren, wusste ich, wenn mir was einfallen sollte, schreibe ich es nieder. Außerdem kam es mir vor, als ob ich nicht konzentriert denken konnte. Als wäre mein Kopf mit etwas Wichtigerem beschäftigt. Defragmentieren, fiel mir dabei ein. Wie damals beim alten Computer, wo man oft Stunden davor saß und geradezu hypnotisch die blinkenden Kästchen verfolgte. Wiederum suchte ich was zu Essen und schlief danach auch bald wieder ein.

Es war etwa Mittag als ich aufgelehnt an meinem Schreibtisch in Richtung Türe starrte. Schon eine ganze Weile. Die Arbeit ging sehr leicht von der Hand, ich war längst damit fertig. Mein Kopf war frei wie lange nicht. Aber ich starrte auf die Türe weil ich erwartete, dass irgendwer, irgendwann hereinkommen würde, um mich zu fragen, wo ich den gestern war. Aber es kam niemand. Es war niemandem aufgefallen. Ich dachte an die Zeitschaltuhr, welche mein Schreibtischlicht am Morgen auch eingeschaltet hatte, weshalb wohl jeder dachte, ich wäre nur gerade nicht in meinem Büro. Hm. Wie wichtig ich doch bin. Hätte der Bus mich überfahren und ich die Zeitschaltuhr zuvor eingesteckt, hätte man es erst nach Tagen oder Wochen bemerkt. Ersetzt durch Technik. In meinem Fall: eine Zeitschaltuhr. Ich kramte meinen großen Umschlag hervor - schon ganz betagt war vom ständigen herumtragen - um meinen Schrittzähler wieder etwas zu füttern.

Wie so oft wanderte ich von Abteilung zu Abteilung. Es war heute irgendwie anders. Zwar ging ich schneller als sonst, aber es kam mir langsamer vor. Die kurze Zeit, in der ich an einer Türe eines Büros vorbeizog reichte, um Dinge zu erkennen, die mir bisher nicht aufgefallen waren. Natürlich konnte ich es nicht beweisen, aber es war mir, als ob ich eine Affäre bemerkte, mindestens zwei Homosexuelle und einer schien mir suizidgefährdet. Leider hatte ich keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn ein paar Türen weiter warf man mir etwas entgegen:

»Stopp!«

Ich stoppte, trat vorsichtig zurück, um in das Büro meines Abteilungsleiters zu blicken, der mich schon erwartete.

»Kommen Sie herein. Nur einen Moment«, meinte er und ich tat, wie mir gesagt. Er musterte mich einen Moment und setzte immer wieder ein verhaltenes Lachen auf. Irgendwie war er nervös und wirkte recht angepisst.

»Was machen sie mit dem Umschlag?«

Das war zu schnell gefragt. Ich musste erst überlegen, was ich darauf antworten sollte. Scheinbar dauerte das zu lange.

»Sie wirken nicht gerade so, als ob Sie wüssten, was Sie hier tun«, fügte er hinzu. Etwas beschämt atmete ich ein und räusperte mich, als ob ich etwas sagen wollte. Wollte ich aber sowieso nicht und mein Abteilungsleiter wollte mich auch nicht lassen.

»Wissen Sie, es sind schwierige Zeiten«, meinte er. Zusätzlich machte er eine kleine Pause, um das zu dramatisieren, in der Zeit konnte ich aber den Satz in meinem Kopf hundertfach überdenken.

»Nachdem wir uns in der Führungsriege die Zahlen des letzten Quartals angesehen haben, konnten wir einen Abwärtstrend erkennen. Dieser muss natürlich kompensiert werden. Wir sehen uns gerade um welche Mitarbeiter uns Geld bringen und welche uns Geld kosten. Und Mitarbeiter, die nicht genau wissen was sie tun, kosten wohl mehr als sie bringen.«

Wieder machte er eine dramatische Pause.

»Oder was sagen sie?«

Ich sagte nichts. Stumm blickte ich umher, ich dachte nach, aber nicht über das, was er dachte, das ich denke. Es fielen mir Sachen ein, von denen mir nicht klar war, dass ich überhaupt davon wusste, aber es war mir noch unmöglich, etwas davon zu fokussieren.

»Zumindest machen Sie es uns nicht schwer«, murmelte er und sah auf den Schreibtisch nieder, zeigte mit per Hand den Weg aus dem Büro. Da ich aber noch nicht einmal angefangen habe, war ich bei weitem nicht fertig.

Und sein arrogantes Getue war so etwas wie mein Startschuss.

»Darf ich offen sprechen?«, frage ich, er hob langsam den Kopf, sichtlich widerwillig stimmte er zu.

»Ich bitte Sie darum.«

Meine Gedanken waren plötzlich dort, wo ich sie brauchte.

»Man kann Ihnen nur zustimmen. Meine Position ist beinahe umsonst. Mir ist die meiste Zeit langweilig und oft trage ich diesen Umschlag durch die Gegend, damit die Zeit vergeht.«

Ein süffisantes Lächeln machte sich auf dem Gesicht meines Gegenübers breit. Zufrieden atmete er durch, wollte sich auf einen weiteren Satz vorbereiten, aber ich fuhr fort.

»Das liegt aber nicht an mir. Mein Position gibt es drei Mal in vier Abteilungen, denen sicherlich auch gewaltig langweilig ist. Das war aber nicht immer so. Es ist allseits bekannt, dass die Sekretärinnen der Führungsriege für private Sachen missbraucht werden. Die Firmenwägen sowieso. Eigenartig ist auch, dass eine Firma die früher mal produziert hat, heute fast nur noch verkauft und aus irgendwelchen Gründen eine beachtenswerte Summe in ein Geschäft fehlinvestiert hat, das nicht einmal im selben Bereich tätig ist. Aber irgendwer von Ihnen wird im Gegensatz zur Firma schon damit Gewinn gemacht haben.

Nicht? Und wenn wir schon von Gewinn reden, dann reden wir mal von den Bonuszahlungen. Wissen Sie, dass ihr Vorgänger ein knappes Monatsgehalt als Bonus erhalten hat und weniger verdiente als Sie? Wenn man den Zeitraum hochrechnet, so wäre das eine Inflationsanpassung von weit über eintausend Prozent in gerade einmal zehn Jahren. Und Sie sind nicht der Einzige. Jeder Abteilungsleiter bekommt ähnlich viel. Ist Ihnen überhaupt klar, dass Sie Leute rausschmeißen, um deren Gehalt einzustreifen - und nicht um Geld zu sparen? Was machen Sie eigentlich, nachdem Sie diese Firma von unten nach oben ausgesaugt haben?

Haben sie schon Pläne?«

Es war mir klar, dass er auf diese Frage nicht antworten würde, dennoch überraschte mich sein Gesichtsausdruck.

»Natürlich weiß ich, dass Sie und ihre Kollegen sich nicht ändern werden. Sie werden nicht auf das Geld verzichten und solange sie die Zahlen hinbiegen, können sie rausholen, was geht. Und dann verlassen die Ratten das sinkende Schiff. Sie sind ja nicht mal selber schuld, wahrscheinlich hat man es ihnen vorgelebt und in Privatuniversitäten auch noch beigebracht, wie das geht. Tun Sie was Sie wollen, aber ich tue Ihnen sicherlich nicht den Gefallen und gehe freiwillig. Ich denke, das habe ich verdient.«

Eigentlich wollte ich schon gehen, aber der Kerl erhob sich dann doch noch. Bevor er was sagen konnte, wollte ich noch eins draufsetzen, habe aber die Situation nicht vollständig erkannt.

»Tun Sie mir nur einen Gefallen«, fuhr ich fort, »drehen Sie ihr Namensschild um, lesen sie den Firmenslogan unter Ihrem Namen und denken Sie darüber nach. Dort steht nämlich nicht das Wort Kunde oder Opfer, dort steht...« - jemand unterbrach und übernahm das Gespräch, indem er den Slogan laut aussprach.

»Mit dem Menschen, für den Menschen.«

Ich erschrak, es war eine tiefe Stimme, die direkt hinter mir über mein Nacken bis an meine Ohren vibrierte. Der Abteilungsleiter war starr vor Schreck, ich war mit meinem Schicksal im Reinen und drehte mich um. Es war der Chef.

Also nicht einer der Chefs, sondern wirklich der Chef - der Gründer. Seine Stimme verdankte er jahrelangem Rauchen.

Sein hohes Alter, weil er damit aufgehört hat. In dem Moment verstand ich auch, dass der Abteilungsleiter nicht wegen mir aufgestanden war.

»Stehen Sie schon länger da?«, fragte ich den werten, alten Herrn. Dieser schenkte mir zwar keinen Blick, entgegnete aber ein kratziges

»Ja.«

Es war Zeit zu gehen. Schnell, aber befreit, schlüpfte ich am Chef vorbei, den Gang voller ungläubiger Gesichter entlang, zurück in mein Büro. Normalerweise würde ich jetzt zitternd um meinen Job bangend umher laufen, aber ich war ganz ruhig. Ich legte meine Mitarbeiterkarte und was ich sonst noch von der Arbeit hatte ab, holte mir seelenruhig einen Kaffee und setzte mich noch für die letzten Stunden meiner Dienstzeit, an meinen kalten Schreibtisch.

Es kamen viele Gedanken hoch, ich sah immer wieder, wie die Hand des Chefs die Bürotüre des Abteilungsleiters von innen schloss. Dann kam das schlechte Gewissen und fast zugleich der Gedanke, dass er es verdient hatte. Das einzige, wobei ich mir nicht sicher war ist, ob ich derjenige war, der darüber richten durfte. Philosophisch, klar. Aber andererseits tat es sonst auch keiner. Fairerweise hab ich mich auch selber gerichtet. Bestätigt wurde das, nachdem der Abteilungsleiter nach über einer Stunde an meine Türe kam und mich verabschiedete.

»Sie wissen wo die Türe ist, lassen Sie die Mitarbeiterkarte da.«

Und schon war er wieder weg. Stress hatte ich keinen, weshalb ich noch meine Kontaktdaten aus dem Firmennetzwerk löschte, sowie privates mitnahm oder wegwarf. Eigentlich wollte ich auch noch befreundete Kollegen besuchen und mich verabschieden, ich hatte aber keine. Wie habe ich es nur so lange hier ausgehalten?

Lebensmüde.

Müde, zu leben. Zum Leben zu müde. Man fragt sich oft, ob es einen Unterschied machen würde, würde man nicht gelebt haben. Ich spreche nicht nur von den kleinen Unterschieden, die man notwendigerweise heraufbeschwört, wenn man dahinlebt, sondern, ob der Verlust von einem als Mensch auch ein Verlust für die Menschheit wäre. Was mache ich schon für einen Unterschied, wenn ich irgendwo in einem Büro hocke und Plastikhundeknochen oder so verkaufe? Ändere ich damit die Welt? Mache ich damit etwas besser? Oder schlechter? Mache ich irgendetwas aus?

Mein Blick hat sich versteinert, ich stand gerade vor einem Regal im Supermarkt und eine mitteljunge Frau starrte mich entgeistert an. Man konnte gut ihr Doppelkinn erkennen, das sie durch ihren Blick noch weiter betonte.

Wahrscheinlich hatte sie ihr halbes Leben damit verbracht, Menschen in ihrer Umgebung zu beurteilen – so wie in diesem Moment – und dabei zieht sie ihren Kopf wie eine Schildkröte nach hinten. Anatomisch geschuldet, schafft sie das nicht sehr weit, dennoch manifestiert sich dieser Zustand in Form eines so weit nach hinten gedrückten Kinns, dass es beinahe plan mit dem Hals wird und die Haut darunter – wo soll sie auch anders hin – wird optisch zum zweiten Kinn. Das Doppelkinn. Und das nur, weil dieser Mensch alles komisch findet und sich zurückzieht aus der nicht bekannten Situation. Schaffen tut er es natürlich eh nicht. Was er - oder in dem Fall sie - aber schafft, war, mir einen dummen Blick zuzuwerfen und dabei auch noch ganz schön dämlich auszusehen. Die Manifestierung des Doppelkinns nicht zu vergessen, wie bereits erwähnt.

So stand diese Frauenperson nun da, starrte mich dümmlich an presste ihren Kopf so weit nach hinten, dass es aussah, als würde man ihr mit einem Brett gerade ins Gesicht geschlagen haben. Ich blickte einfach zurück.

Sie sah mich an, ich sie. Aber nicht lange, denn in einem fast unmöglichen Akt, drückte sie ihr Kinn für einen Moment noch weiter in den Hals, bis sie es mit einem Ruck wieder raus ließ und in einer Kurve um mich herum verschwand.

Den Kopf leicht schüttelnd. Egal, dachte ich.

Weiter mit dem Einkauf. Ich trug eines dieser Plastik-Dinger, die man im Supermark bekommt, in meiner Hand.

Dieses war rot, der Inhalt schien dadurch nahezu grau zu sein. Als ich näher ranging, bemerke ich doch noch ein paar Farben, aber gerade so, als wären die wenigen Sachen, die ich bis jetzt in dem Plastik-Ding hatte, im höchstem Maße uninteressant. Etwas irritiert testete ich meine Augen an den Regalen um mich, da war doch noch viel Farbiges erkennbar. Als erstes suchte ich mir eine ruhige Ecke, wo ich den jetzigen Inhalt meiner Tragetasche entleeren konnte.

Dann ging ich entschlossen durch die Reihen des Supermaktes.

Zuhause starrte ich eine Zeit lang in meinen Kühlschrank, dann auf die Rechnung über 127,46 Euro. Nicht gerade schlecht für jemanden, der gerade gekündigt wurde. Nicht alles, was ich gekauft hatte war mir unbekannt, dennoch habe ich zu dem Zeitpunkt zum Beispiel nicht gewusst, was ich mit Couscous anfangen sollte. Da ich müde vom Tag war, setzte ich mich vor den Fernseher und ließ mich berieseln, bis mir die Einkaufstüte auffiel, die ich heute mitgekauft hatte. Weil ich nicht aufstehen wollte, streckte ich mich vom Sofa aus, bis ich beinahe drankam. Aber nicht ganz. Ich musste meinen Körper weiter über die Lehne pressen, bis ich überkippte, dann mit den Händen am Boden etwas nach vorne ging, bis ich nur mehr mit den Knien am Sofa war. So konnte ich die Tüte erreichen und musste nicht aufstehen. Nachdem ich mich wieder retour auf die Couch gekämpft hatte, begann ich interessiert an der Tüte zu reiben und riechen. ‘Aus Mais’ stand darauf. Trotz reiben und riechen, konnte ich dem auf die Schnelle nicht recht geben. Während der Fernseher mich weiterhin anbrüllte, sah ich mich in der Wohnung um, weil ich dem nachgehen wollte. Nachdem ich den Gedanken, das Plastikding mit dem Feuerzeug anzubrennen, wieder abgetan hatte, griff ich auf meine komplett vertrocknete Pflanze, die meine Mutter mir irgendwann mal wegen irgendwas geschenkt hatte, zurück. Mit einem Griff konnte ich die Pflanze und die komplette Erde aus dem Topf ziehen.

Steinhart. Vorsichtig donnerte ich den Erdball einige Male zurück in den Topf, bis etwas Erde darin liegen blieb. Darauf legte ich ein Stückchen dieser Plastiktüte und schloss das wiederum mit dem Retournieren der Pflanze samt restlicher Erde ab. Um das Experiment zu beginnen, musste ich aber noch etwas Wasser darüber gießen, das vorerst kein Interesse hatte, in die Erde einzuziehen. Nach einigen Minuten geduldigem Wartens war die Erde aber endlich bewässert und ich sah das Experiment vorerst als abgeschlossen.

Eindeutig Zeit für ein Bier.

Als ich den Kühlschrank öffnete, erinnerte ich mich an die Buntheit, die neuerdings hier herrscht. Verwundert suchte ich zwischen Champignons und Grana Padano nach Dosen.

Tatsächlich wurde ich auch fündig, es dauerte nur länger, da mir keines der Biere bekannt war. Wer hat das denn bitte eingekauft? Es wirkte wie eine Kiste voll bunter Bauklötzchen. Aus der Unkenntnis heraus entschied ich mich für das erste, das mir in die Finger kam. Wenn man jahrelang das gleiche Bier in der selben grauen Farbe trinkt, verwundert das nicht. Bis zu diesem Tag sah ich nicht einmal eine Notwendigkeit für das Vorhandensein weiterer Biersorten am Markt. Ich wurde eines Besseren belehrt.