Wie ich mir das Glück vorstelle - Martin Kordic - E-Book

Wie ich mir das Glück vorstelle E-Book

Martin Kordic

3,8

Beschreibung

Eine große Suche nach dem Glück und ein erstaunliches Debüt: Viktor ist ein Junge, der von Geburt an anders ist. Er muss ein Korsett tragen und auch in seinem Kopf scheint etwas nicht zu stimmen. Als der Krieg ausbricht, wird er von seiner Familie getrennt und wächst in einer Gebetsgemeinschaft auf. Später kehrt er zurück in die Stadt der Brücken, wo er sich mit einem Einbeinigen, einer Rothaarigen und einem Hund zu einer eigentümlichen Bande zusammenschließt. Eines Tages aber sind Viktors Weggefährten verschwunden und er macht sich auf zu seiner letzten großen Reise. Ein düsteres Märchen über die Kraft der Poesie und ein Bericht aus einer anderen Welt.

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Seitenzahl: 215

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Hanser E-Book

Martin Kordić

WIE ICH MIR DAS GLÜCKVORSTELLE

Roman

Carl Hanser Verlag

ISBN 978-3-446-24582-2

© Carl Hanser Verlag München 2014

Alle Rechte vorbehalten

Bildnachweis Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, unter Verwendung einer Fotografie © Eric Isselée / Thinkstock

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de

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für Baba Matija

Ich lebe in einem der alten Häuser, weit oben im Berg. Ich heize mit dem Ofen in der Küche, und das Wasser, mit dem ich mich wasche, kommt aus dem Brunnen neben der Räucherscheune. Wenn ich frühmorgens den kleinen Acker gewässert und die Tiere gefüttert habe, koche ich Kaffee und stelle ein paar Tassen und Gläser auf den Schemel, den ich bei gutem Wetter dann nach draußen trage. Den Rest des Tages sitze ich gemeinsam mit dem Hund im Schatten unter einem Baum.

Die Menschen, die zu mir hochsteigen, bringen mir etwas übriggebliebenes Lammfleisch von einer Familienfeier, ein Stück Schokoladentorte, einen Kürbis oder eine Wassermelone, etwas Wirsing, ein paar Knochen für den Hund. Und immer bringen sie Geschichten. Ihre eigenen oder welche, die sie von jemand anderem erzählt bekommen haben. Manchmal höre ich die gleiche Geschichte sogar mehrfach, leicht variiert, mal kommt der eine besser weg, mal ist der andere der Böse, einer hat sie selbst erlebt, ein anderer berichtet, was er von einem Dritten gehört hat.

Warum die Menschen ausgerechnet zu mir kommen, kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Ich glaube aber, es hat etwas mit der Lage dieses Hofes zu tun. So weit oben im Berg, und so weit weg von der nächsten Straße, hat man nicht das Gefühl, dass dieser Ort etwas mit dem Rest der Welt zu tun hat.

DER JUNGE

Der Junge hat die Aufgabe, Wasser an die Pilger auf dem Erscheinungsberg zu verteilen. Der lange Weg hoch zum Gipfel und die große Hitze machen alle sehr durstig. Der Junge sitzt jetzt aber ein paar Kilometer vom Sehergebirge entfernt vor Bubkas kleinem Laden. Er macht die Aufgabe heute nicht. Keiner aus der Gemeinschaft von den Söhnen Marias darf das wissen. Der Junge trinkt heute schon die dritte Fanta. Der Junge bin ich selbst, Viktor.

Ich habe einigen Schaden an meinem Körper. Als ich zur Welt komme, haben die Menschen gleich eine Menge mit mir zu tun. Maria, o Maria. Ich habe damals schon ein ordentliches Rückenproblem. Ich bin so schief und steif, dass die Oma und die Mutter mich wochenlang nur in Tücher wickeln können. Dass mit meinem Kopf was nicht stimmt, findet nie ein Doktor raus. Ich selbst weiß auch nicht, was mir da fehlen soll.

Aber wenn die anderen mich loswerden wollen, sagen sie: Du Kretin!

Ich sitze vor Bubkas kleinem Laden auf dem Schotter. Ich kneife die Augen zusammen. Die Sonne hängt mir über dem Gesicht. Sie lässt sich nicht vertreiben. Staub fegt mir von hinten in die Wunde. Unter dem Druck von der Rückenspinne wird die Wunde in den letzten Wochen wieder größer. Das Unterhemd hat abends an dieser Stelle immer einen großen braunen Fleck. Mir tut da aber gar nichts weh. Auf den Schultern habe ich seit dem Beginn der großen Hitze einen starken Sonnenbrand. Das Fleisch ist rot und nass.

Ich gucke rüber zur Straße. Da steht ein Mann vor einem Baum. Der Baum ist eine Kiefer und gehört zu einer ganzen Reihe von Kiefern. Die stehen am Rand von der Straße, über die alle Menschen fahren müssen, die hier leben. Auch ich komme auf dieser Straße zu Bubka. Es ist die einzige Straße.

Bubka schnauft und sagt: Verfluchte Hitze!

Ich sage: Verfluchte Hitze!

Es sieht so aus, wie wenn mir der Mann, den ich angucke, zuwinkt. Das kann aber gar nicht sein. Außerhalb von der Gemeinschaft kenne ich keinen. Dass ich zu den Söhnen Marias gehöre, sieht mir keiner an. Wir sehen aus wie alle. Nur Bubka weiß über mich Bescheid. Bubka selbst steht aber hinter mir in seinem kleinen Laden.

Die Sonne brennt so stark, dass ich den Mann nur verschwommen sehen kann. Ich kann erkennen, dass er abgeschnittene Jeans und ein gelbes Hemd trägt. Er macht sich an einem Baumstamm zu schaffen. Der Mann nagelt was an den Baum. Er geht weiter. Er lässt einen Baum aus und macht sich am nächsten zu schaffen. Er nagelt schon wieder eine Menge Dinge an den Baum. Jetzt kann ich erkennen, was es ist. Es sind Zettel.

Bubka sagt: Jeder noch so dreckige Köter verreckt doch bei dieser verdammten Hitze!

Ich sage: Verdammte Hitze!

Ich darf nicht vor Bubkas kleinem Laden sitzen. Auch Gebete können da nichts ausrichten. Der Betrug fällt in der Gemeinschaft nicht auf, weil Bubka mir jeden Tag ein paar Münzen in die Büchse wirft. Das ist die Büchse für die Spenden. Ich muss sie abends den beiden Schwestern geben, die mich abholen. Bubka ist ein guter Mann. Morgens sammelt er mich mit dem Bus am Erscheinungsberg ein und abends fährt er mich wieder hin. Bei Bubka verstecke ich auch meine Sachen. Keiner in der Gemeinschaft darf das wissen.

Bubka passt auf diese Dinge auf:

x  das Foto

x  das versteinerte Stück Holz

x  den Grundig Yacht Boy 500

x  den Zauberwürfel

Seit Jahren arbeite ich an der Lösung von dem Würfel. Ich bin so nah dran wie noch nie zuvor. Außerdem habe ich neuerdings ein Taschenmesser. Das habe ich immer bei mir. Ich schiebe es unter die Rückenspinne. Es hilft mir, als einer von meinen Brüdern verraten will, dass ich beim Morgengebet in der Kapelle wieder einschlafe. Ich gehe nach dem Frühstück zu ihm hin und ziehe das Messer raus. Ganz langsam klappe ich die Sägeklinge auf, damit ich mich selbst nicht verletze. Ich halte dem Jungen das Messer ans Ohr.

Ich sage: Du Missgeburt.

Männer versammeln sich um die Bäume mit den Zetteln. Ich gehe langsam auf sie zu. Sie schauen mich an. Ich trage nur die Sporthose. Das Unterhemd liegt bei Bubka im Kühlschrank.

Die Brüder in der Gemeinschaft sagen: Mit der Rückenspinne siehst du aus wie ein Krieger aus der Spezialeinheit.

Die Zettel sind weiß und haben einen schwarzen Rand. Auf einem von den Zetteln erkenne ich sofort das Gesicht von einer Schwester aus der Gemeinschaft. Das sind Todesanzeigen für die Gemeinschaft von den Söhnen Marias aus dem Sehergebirge. Meine Gemeinschaft. Meine Brüder. Auf jedem Zettel steht: Mit traurigem Herzen und Schmerz in der Seele verabschieden wir uns. Dazu der Name von dem Toten und ein Foto. Unter jeder Anzeige steht außerdem: Die trauernden Söhne Marias in aller Welt.

Die Wunde unten am Rücken ist nass. Der Wind macht die Stelle kalt. Eine Todesanzeige ist für den Jungen. Auf der Anzeige ist das Foto von mir, das ich auch bei Bubka verstecke. Ich bin auf dem Foto drei oder vier Jahre alt. Es zeigt hier nur einen kleinen Ausschnitt. Mein Gesicht. Ich kneife die Augen zusammen und reiße den Mund weit auf und lache. Unten auf dem Foto sind noch die Hosenträger und der Pulli, den ich darunter anhabe. Auf dem Foto hier ist alles grau und weiß. Aber in echt sind die Hosenträger dunkelblau und der Pulli ist hellblau. Ich umarme auf dem Bild meinen Bruder. Er sitzt rechts neben mir. Aber das kann hier keiner sehen.

Die Mutter sagt: Morgen kommt der Fotograf ins Gärtchen, da musst du bitte lachen, Viktor.

Die Mutter macht mir eine Grimasse vor. Sie zieht die Mundwinkel weit auseinander und zeigt alle Zähne. Im Mund von meiner Mutter glitzert ganz schön viel Gold. Ich übe beim Zähneputzen vor dem Spiegel. Ich mache genauso eine Grimasse am nächsten Tag für den Fotografen, wie die Mutter sie mir vormacht. Ich kneife die Augen zusammen, ich reiße den Mund weit auf und lache.

An dem Baum hängt auch eine Anzeige für den dicken Dim. Der ist doch schon lange tot. Der wirft sich letzten Winter in den Brunnen und bricht sich den Kopf, weil da gar nicht so viel Wasser drin ist. Ich finde ihn. Ich weiß, dass der dicke Dim immer zum Brunnen geht, wenn der welche von den Geistern sieht. Das erkläre ich dir später.

Auf jeder Anzeige steht das Datum von heute. Unsere Geburtstage stehen da nicht. Die Schwestern kennen nur unseren Fundtag. Wir können uns nicht an unseren Geburtstag erinnern. Irgendwo auf dem Gelände von unserer Gemeinschaft muss jetzt auf jeden Fall ein ganzer Haufen Toter rumliegen, und einer macht diese Anzeigen und denkt, dass die Söhne Marias alle tot sind. Die Schwestern bereiten uns auf diesen Tag vor. Gott liebt uns, wie wir sind. Er liebt auch uns. Er hat uns seinen Sohn gegeben. Zu seiner Mutter beten wir. In ihrem Schoß weinen wir. Maria, o Maria. Der Junge ist ein alter Mann, wenn er stirbt. Wenn wir sterben, sind wir alle alt.

Ich gehe in Bubkas kleinen Laden. Das Radio hinten auf dem Tresen ist an. Bubka ist nicht da. Der ist oft drüben beim Nachbarn, der den Männern die Haare schneidet. Ich gehe zum Kühlschrank und hole das Unterhemd raus. Im Radio läuft die Mittagsmesse aus dem Sehergebirge. Die sind schon kurz vor dem Abendmahl. Ich ziehe mir das kalte Unterhemd an. Ich nehme mir eine Flasche Fanta und trinke die aus. Wenn ich Bubka nach meinen Sachen frage, geht der immer in den Lagerraum. Der Schlüssel steckt. Der Raum ist zugestellt mit Getränkekisten. Ich finde fünf Pakete. Auf die ist in blauer Schrift das Wort CARE geschrieben. Ich kenne diese Kisten aus unserer Gemeinschaft. Wir bekommen eine große Lieferung und in jeder von den Kisten sind Dinge drin, die wirklich nützlich sind. Bananen, Knackbrot, Shampoo. Die Bananen essen wir. Knackbrot kennen wir nicht. Wir trauen uns nicht, es an die Hühner zu verfüttern. Haare müssen wir uns keine waschen. Das Beste an den Paketen ist das Paket selbst und das weiß jeder. Bis heute schleppen wir alles Mögliche damit rum, wenn wir auf dem Gelände arbeiten. Die Pakete sind sehr stabil.

Ich öffne ein Paket. Ich finde darin das Foto, das versteinerte Stück Holz, den Grundig Yacht Boy 500 und den Zauberwürfel. Ich werfe noch ein paar Flaschen Fanta in die Kiste. Ich mache die anderen Carepakete auf. Orange Plastiktüten, die Bubka auch hinter dem Tresen hat. Die sind bis oben hin gefüllt mit Geldscheinen. Ich nehme überall eine Tüte raus und lege sie zu mir ins Paket. Ich gehe aus dem Lagerraum zur Kasse, mache sie auf und stopfe mir einen Bündel Scheine unter den Gummizug von der Sporthose.

Ich stehe vor Bubkas kleinem Laden. Die Sonne brennt mir auf die nassen Wunden von meinen Schultern. Kurz bevor die Ladentür langsam hinter mir ins Schloss fällt, kann ich hören, wie im Sehergebirge die Mittagsmesse mit der Segnung von den vielen Pilgern zu Ende geht.

HIER IST DER JUNGE

x  Dorf der Glücklichen

x  Stadt der Brücken

x  Sehergebirge

DIE GEBURT VON DEM JUNGEN

Ich kann nur von dem erzählen, was ich weiß. Sicher ist, dass die Mutter extra in das Dorf der Glücklichen reist, weil der Vater das so will. Sicher ist, dass es tagelang ohne Pause durchschneit und einer die Kuh aus dem Stall in die Küche holt, damit es nicht so kalt ist. Sicher ist, dass ich ein paar Jahre nach dem Erscheinen von der Jungfrau Maria zur Welt komme und viele Jahre bevor die Söhne Marias sterben, meine Brüder. Den genauen Tag weiß ich nicht. Aber das Ende. Die Küche voller Blut, die Mutter so gut wie tot, der Rest der Welt still vor Schreck.

Den Ort kannst du dir so vorstellen: Von einer Straße geht ein Weg ab, der aussieht, wie wenn ein Panzer über große Steine fährt und alles platt macht. Nach einem anstrengenden Fußweg taucht zwischen zwei Felsen aus dem Nichts plötzlich ein Gittertor auf, das sehr laut quietscht, wenn du es aufmachst. Du kommst an einem Kuhstall und an einem Schweinestall vorbei. Wenn du Glück hast, stehen die Tiere draußen und du kannst dir die angucken. Ich bewerfe die Kuh mit Steinen oder füttere die Schweine mit Disteln. Dann ist da noch ein Brunnen. Den sprengt der Vater mit Dynamit aus dem Boden, als der ungefähr so alt ist wie ich jetzt. Von dem Brunnen aus kannst du gut über die Felder und Weinberge vom Opa sehen. Wenn du nicht schnell rennen kannst, gehst du da aber nicht hin. Der Bruder sieht dort eine Schlange. Außerdem steht eine kleine Scheune auf dem Hof, da sind die Hühner und die Eier drin.

In den Ferien bin ich immer hier bei der Oma. Ich treibe mich am Brunnen rum. Hinter dem Brunnen schlachten die heute schon ein Kalb und jetzt ist da überall Blut. Mit einem Stock grabe ich den Boden auf und steige da rein. Ameisen krabbeln auf meine Füße drauf. Das fühlt sich an, wie wenn mich der Doktor durchkitzelt und nachguckt, ob ich auch alles mitbekomme. Ich bekomme alles sehr gut mit.

Keiner ist da. Nur die Oma ist in der Küche und macht eine Pfanne für den Mann, der das Kalb schlachtet. Der sitzt auch in der Küche. In die Pfanne macht die Oma viel Fett, die Niere und die Leber und etwas Fleisch von dem Kalb. Da gucke ich schon oft zu und ich weiß wie das geht und dass der Mann, der das Kalb schlachtet, das alles allein aufessen darf und ich nichts davon abbekomme. Die anderen sind alle auf dem Feld und holen Kartoffeln aus der Erde.

Von der Oma bekomme ich keinen Ärger. Nur die Mutter ist böse, als die mich vor dem Schlafengehen umziehen will. Die Beine sind ganz schwarz und es kleben viele Ameisen dran. Draußen ist es schon stockdunkel, aber ich muss mit der Mutter wieder in den Hof. Sie tunkt einen Schwamm in die Schale mit dem Brunnenwasser und reibt mir das Blut und die Ameisen ab. Das Waschen tut weh und das Wasser ist sehr kalt. Ich bekomme Hausarrest. Aber zum ersten Mal höre ich so spät noch die Kühe. Die stehen im Stall und muhen ganz laut. Das hört sich an, wie wenn die Verwandten alle weinen, weil da einer tot ist. Weil der sich mit einem Gewehr ins Gesicht schießt und jetzt zum Friedhof getragen wird. Die ganze Nacht bin ich wach und höre das Geheule von den Kühen.

Am nächsten Tag machen die Kinder vom Nachbarhof unten am Weg im Gestrüpp ein Feuer. Ich will mir das angucken. Aber ich darf nicht vom Hof runter. Also bringt mir die Oma bei, wie ich an Eier komme.

Die Oma sagt: Es kann dir noch das ganze Leben retten, wenn du mal richtig Hunger hast und du kannst ein Ei stehlen. Wenn du das schaffst, drehen wir eine kleine Runde.

Ich sage: Und was ist mit der Mutter?

Die Oma sagt: Das behalten wir für uns.

Die Oma und ich gehen zusammen in die Scheune mit den Hühnern. Die sitzen da einfach nur rum und gucken uns ganz komisch an. Erst denke ich, dass die mich vielleicht picken, wenn ich denen ein Ei wegnehme. Aber die sind gar nicht böse zu mir. Ich greife dem Huhn unter den Bauch und nehme mir ein Ei und die anderen Eier lasse ich ja auch alle da. Ich halte der Oma das Ei hin.

Die Oma sagt: Omas Sohn.

Das Haus, in dem ich zur Welt komme, ist nicht viel größer als die Scheune mit den Hühnern. Es sieht aus, wie wenn es jeden Moment einstürzt. Es ist nicht aus Holz. Es ist aus Stein. Jeder Stein hat eine andere Größe und wird vor vielen Jahren von meinem Opa direkt hier vom Boden aufgesammelt. In die Zwischenräume von den großen Steinen spachtelt der ein Gemisch aus kleinen Steinen und Zement. In unserer Gemeinschaft bekommen wir solche Häuser besser hin. Wir nehmen nicht irgendwas vom Boden und haben immer gutes Material von den Spenden. Vorne hat das Haus zwei Holztüren, die du nur mit einem Schlüssel aufbekommst, der so lang ist wie eine Gurke. Den hat die Oma selbst geschmiedet. Das ist ein rostiger und verbogener Eisenstab.

Öffnest du damit die linke Tür, stehst du in einem Raum mit einem Ofen, einem Tisch, zwei Stühlen und einer alten Rückbank aus dem Bus von dem Onkel, der vor langer Zeit nach Amerika auswandert. Öffnest du die rechte Tür, stehst du in einem Raum, der mit Strohmatratzen ausgelegt ist. Ansonsten stehst du draußen. Zwischen den Räumen gibt es keine Tür. Das ist alles. Du wäschst dich vor dem Brunnen. Da steht eine Schale, in die du das Wasser reinkippst, das du vorher mit einem Eimer aus dem Brunnen hochziehst. Und wenn du strullen musst, gehst du entweder in den Schweinestall oder einfach irgendwohin. Du musst aufpassen, dass dich keiner beobachtet.

Als ich zur Welt komme, leben hier vier Erwachsene (die Oma, der Opa, der Onkel und die Frau vom Onkel) und fünf Kinder (die Kinder vom Onkel). Mit den beiden Nachbarhöfen zusammen sind im alten Teil vom Dorf ungefähr dreißig Menschen. Mit den neuen Häusern an der Straße weiter unten sind es ungefähr achtzig. Ich versuche manchmal alle aus meiner Familie auf ein Bild zu malen, aber immer vergesse ich einen. Zusammen sind wir ein Dorf, das alle das Dorf der Glücklichen nennen. Gehst du ungefähr eine Stunde zu Fuß hinten über die Felder und Weinberge, kommst du zum Dorf der Verrückten. Das ist das Nachbardorf. Ein paar Schwestern von dem Vater werden dahin verheiratet. Die Männer sind sehr brutal. Die suchen immer einen Grund, sich zu betrinken oder mit Gewehren wie wild in der Gegend rumzuschießen. Wenn es hier irgendwo einen Krieg gibt, sind es immer die Männer aus dem Dorf der Verrückten, die die großen Helden sind. Sogar bei uns in der Gemeinschaft von den Söhnen Marias sind ein paar von den Männern. Auch die sind große Helden, als die zu uns kommen.

Den ganzen Herbst verbringt die Mutter hier im Dorf. Die Mutter wartet mit den anderen Verwandten und dem Bruder auf den Winter und die Geburt. Der Vater ist wieder in der Stadt oder sonst wo auf der Welt. Der fährt Mercedes und hat einen wichtigen Beruf. Der Vater ist Bauarbeiter. Der baut Brunnen, Straßen und Brücken. Ohne den Vater und ohne die anderen aus dem Dorf der Glücklichen sieht die Welt ganz anders aus. Überall bauen die Sachen auf. Die Menschen, die in den Ländern und in den Städten leben, sind sehr glücklich darüber und dankbar. Der Vater fährt Mercedes. Alle wichtigen Menschen fahren Mercedes.

Das versteinerte Stück Holz findet der Vater, als er ganz weit weg in der Wüste kilometertief in den Sand bohrt. Mit einem Gerät, das kein einziger Wüstenmensch selbst bedienen kann. Deshalb holen die den Vater. Mit einem Flugzeug fliegt er dahin und ein Geländewagen holt ihn ab und fährt ihn in die Wüste. Zwei Jahre hat der Vater keinen festen Boden unter den Füßen. Nur Sand und die Pedale von seiner riesigen Bohrmaschine. Ich kenne ein Foto vom Vater in der Wüste. Der steht auf einem Sandberg und trägt gelbe Hosenträger. Auf der Brusttasche ist ein blauer Flicken mit einem weißen Buchstaben drauf. Auf dem Helm ist ein blauer Kleber mit einem weißen Buchstaben drauf. Rechts und links hat der zwei Männer im Arm. Die haben beide einen Turban auf dem Kopf.

Der Vater sagt: Ganz kaputte Knie hatten die und trotzdem sind sie jeden Tag gekommen und wollten helfen. Da kann also auch aus dir noch ein richtiger Arbeiter werden.

Der Vater haut mir hinten auf den Kopf und der Schmerz zieht mir bis in den großen Zeh.

Aber ich will dir doch erzählen, was ich von meiner Geburt weiß. Die Verwandten finden die Geschichte immer sehr spannend. Die Verwandten sprechen immer darüber, wenn ich in den Ferien zu Besuch bin.

Ein paar Tage vor meiner Geburt fängt es an zu schneien. Am Ende kann keiner mehr erkennen, wo genau der Brunnen steht. Die Mutter erwartet ein Mädchen. Sie ist sich absolut sicher und jeder glaubt ihr. Kurz vor Mitternacht trägt der Onkel die schreiende Mutter aus dem Raum mit den Strohmatratzen in die Küche und legt sie auf die ausgebaute Rückbank von dem Bus. Direkt neben den Ofen, in dem das Holz brennt. Seit zwei Tagen liegt die Mutter in den Wehen. Schon ein paar Mal ist sie bewusstlos. Seit fünf Tagen schläft sie nicht mehr und die Oma macht ihr heiße Wickel an die Beine. Alle sind da. Die Oma, der Opa, der Onkel, die Tante, die fünf Kinder, der Bruder und die Kuh.

Die Schwestern in der Gemeinschaft sagen: Wenn Gefahr besteht, rücken die Menschen zusammen, o Maria.

Die Tante macht einen Tee. Es ist ein Tee, der die Mutter lähmen soll. In einen Topf wirft die Tante verschiedene Kräuter, die die Oma schon Wochen vorher einer Alten vor der Kapelle im Dorf der Verrückten abkauft. Als der Tee fertig ist, nimmt die Tante einen Strohhalm. Sie beugt sich über den Ofen und den Topf und zieht den Tee in ihren Mund rein, ohne runterzuschlucken. Der Onkel packt die Mutter an den Schultern und drückt sie fest in die Rückbank von dem Bus. Die Tante versucht der Mutter den Strohhalm in den Mund zu stecken, damit sie ihr den Tee in den Körper pusten kann. Es ist ein lautes Würgen, bis der ganze Topf mit dem Tee im Körper von der Mutter ist und ihre Muskeln schlaff sind. Aber es dauert jetzt tatsächlich nicht mehr lange, bis sich zwischen den Beinen von der Mutter was tut. Die Oma betet den Rosenkranz. Sie sitzt zwischen den Beinen von der Mutter und ist die erste, die mich kommen sieht.

Alle denken: Das ist der Kopf von dem neuen Kind!

Nur die Oma sieht schon, dass das die Schulter von dem Jungen ist. Wenn ich mich jetzt vorwärtsbewege, breche ich mir das Genick. Die Tante nimmt den Topf vom Ofen und schlägt ihn der Mutter auf den Kopf. Die Mutter hört auf zu pressen.

Die Oma sagt: Bringt mir die Messer aus dem Stall.

Was die Oma jetzt gleich macht, macht noch nie einer im Dorf der Glücklichen. Das ist auch der Grund, warum sich alle diese Geschichte später weitererzählen. Bei der Geburt gestorben sind schon viele. So zur Welt gekommen wie ich ist keiner.

Mitten in dieser Vollmondnacht stapft der Onkel also durch den Schnee über den Hof zum Kuhstall. In einem kleinen Verschlag räuchert der Schinken. Er nimmt die zweizackige Schinkengabel und das Messer, das die Oma benutzt, wenn sie Lämmern die Kehle durchschneidet. Die Oma legt den Rosenkranz aus der Hand. Die Oma kniet jetzt direkt zwischen den Beinen von der Mutter und beobachtet jede Bewegung von meiner Schulter. In die linke Hand nimmt die Oma die Schinkengabel, in der rechten Hand hält sie das Messer. Zuerst setzt sie die Schinkengabel an, schiebt sie unter meine Schulter und zieht die Haut zwischen den Beinen von meiner Mutter nach unten. Sie setzt das Messer exakt zwischen die Zacken von der Gabel, holt tief Luft, zieht blitzschnell die Schinkengabel unter meiner Schulter vor und drückt gleichzeitig das Messer mit aller Kraft tief Richtung Po durch.

Alle sind ganz still vor Schreck. Vor allem die Kinder, weil die zum ersten Mal im Leben so viel Blut sehen. Und die Mutter, weil die jetzt fast tot ist. Nur die Kuh stöhnt laut auf, als die Oma das Kind an ihr vorbei zum Ofen trägt. Da putzt die Oma das in einem großen Topf mit lauwarmem Schneewasser sauber. Das Kind schreit. Und spätestens jetzt sehen es auch alle. Das Kind ist ganz schief. An seinem Unterkörper hängt ein Penis. Weil die Mutter nur einen Mädchennamen für das Kind hat, und die jetzt aber halbtot auf der Sitzbank liegt, beschließt die Oma, das Kind nach der Stadt zu benennen, in die der Onkel zieht, als der die Rückbank aus dem Bus ausbaut und in die Küche stellt: Viktor, die Stadt des Goldes und der Goldsucher in Amerika.

DER LETZTE TAG

Das erste, was er sieht, als er seine Augen öffnet, ist eine Möwe. Sie steht direkt über ihm im Wind und bewegt sich keinen Meter vorwärts. Wo sie die Beine hingetan hat, kann der Junge nicht erkennen. Ihr Bauch ist wunderschön. Er würde ihn gerne berühren. Aber dann lässt sich die Möwe fallen, verschwindet aus seinem Blickfeld, und der Junge kann unendlich weit in den Weltraum schauen.

TANGO

Jetzt, als ich ganz allein auf der Straße gehe und Bubkas kleiner Laden weit hinter mir liegt, muss ich an unser Ta-ta-Spiel denken. Alles, was ich nun bei mir habe, sind die Sachen, die Bubka für mich versteckt und die sowieso mir gehören, mehrere Plastiktüten voller Geld, von dem ich nicht wirklich weiß, was es überhaupt wert ist, und ein paar Flaschen Fanta. Bald schon ist die Fanta so strullwarm wie die Suppe, die die Schwestern in der Gemeinschaft für uns kochen.

Ta-ta ist das Lieblingsspiel von den Kindern in der Gemeinschaft. Das ist das Geräusch, das ein Revolver macht, wenn du zweimal hintereinander abdrückst. Ta-ta, ta-ta. Ich kenne kein Spiel, das gerechter ist.

Du formst die Hand zu einem Revolver, zielst auf einen anderen und sagst: Ta-ta.

Ob du triffst oder nicht, weißt du, wenn der andere sich auf den Boden wirft und jault oder wenn der sich eben noch schnell über einen Sandhügel schmeißt und gleich zurückschießt. Dann weißt du, dass es höchstens ein Streifschuss ist. Der Feind entscheidet selbst, ob du ihn triffst oder nicht. Keiner kann das Spiel verlieren.

Alle rennen rum und rufen: Ta-ta!