Wie ich mit Steinen im Rucksack um die Welt rannte - Ferdinand Saalbach - E-Book

Wie ich mit Steinen im Rucksack um die Welt rannte E-Book

Ferdinand Saalbach

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Beschreibung

Ferdinand Saalbach rennt um die Welt. Weil er von etwas getrieben ist, das er noch nicht kennt. Und gleichzeitig von etwas nach unten gezogen wird, von dem er noch so gar nichts weiß. In seinem Erstlingswerk „Steine im Rucksack“ hat Saalbach beschrieben, wie er seine traumatische Kindheit im Rahmen einer psychoanalytischen Therapie aufgearbeitet hat. Dieses Buch setzt nun fünf Jahre davor an und zeigt, wie er versucht, nach seiner ersten Kündigung mit einer Weltreise seine innere Mitte wiederzufinden – wie es so viele von uns tun. Die Erlebnisse auf diesem Weg scheinen aber oft nur ein Pflaster zu sein für etwas, das noch viel tiefer liegt. Nichtsdestotrotz offenbart ihm die Reise erstaunliche Erkenntnisse. Über sich selbst, über die Welt und darüber, dass vieles ganz anders erscheinen kann, wenn man es aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Mit dieser Perspektive kann er selbst seinen fünf Tagen in Nordkorea jede Menge Positives abgewinnen. Denn dort entdeckt er eine Form von Gelassenheit und Glück, die er so zuvor noch nie erlebt hat. Und er findet auch Gründe dafür. Diese Art, die Welt zu betrachten, zu beobachten und zu interpretieren, sorgt für Verständnis. Für die Welt, aber eben auch für sich selbst. Und das hilft ihm mal mehr und mal weniger, sorgt aber immer dafür, dass es etwas gibt, über das es sich nachzudenken lohnt. Mit dieser Mischung aus Abenteuerlust, Selbstreflexion und humorvollen Anekdoten nimmt Ferdinand Saalbach den Leser mit auf seine ganz persönliche Reise, die weit über das bloße Umrunden der Welt hinausgeht und tief in die menschliche Psyche eintaucht.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 545

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Wie ich mitSteinen im Rucksackum die Welt rannte

Eine Reise, die in 100 Tagen um die Welt und doch nicht zu mir selbst führte

© 2024 Ferdinand Ove Orpheus Saalbach

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland

ISBN

 

Paperback

978-3-384-31323-2

e-Book

978-3-384-31325-6

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Abflug

Sao Paulo

Von Krokodilen, Eseln und Raubtieren

Wasserkraft

Aleks

Die Iguassu-Wasserfälle

Buenos Aires

Breakdown

CSI Buenos Aires

El Calafate

El Chalten

Perito Moreno

Puerto Natales

Die Atacama-Wüste

Bolivien

Salar de Uyuni

San Pedro de Atacama

Tage, die nie waren

Christchurch

On the road

Party hard

Gili-Retreat

Die Bühnen dieser Welt

Märchen aus 1001er Macht

Die Jasmin-Blüte von Shanghai

Im Auge des Sturms herrscht Ruhe

Ein Weg voller Unwägbarkeiten

Der langsame Tod einer fernen Heiligkeit

Erholsame Tage in Peking

Die nordkoreanische Botschaft

Der zweite 24-Stunden-Zug

Glück, wo man es am wenigsten erwartet

Du kommst hier net rein!

(Keine) Walhaie in Donsol

Fledermausland

Die schönen Frauen von Cebu

Glücklich unter Tage in Malapascua

Der thailändische Irrweg

The angry canadian

Unter Wasser in Koh Tao

Heimreise

Wie ich mit Steinen im Rucksack um die Welt rannte

Cover

Titelblatt

Urheberrechte

Abflug

Heimreise

Wie ich mit Steinen im Rucksack um die Welt rannte

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Back Cover

Wir sollten alle mehr darüber nachdenken, wieso wir tun, was wir tun, und wollen, was wir wollen.

Jede*r von uns hat Steine im Rucksack.

 

Abflug

Ich sitze am Flughafen und weine.

Es ist einer dieser ganz seltenen Momente in meinem Leben, in denen ich weine. Und ich weiß gerade auch gar nicht, wieso ich das tue.

Vielleicht liegt es daran, dass ich Angst habe. Angst davor, was in den nächsten drei Monaten kommen wird. Obwohl ich mich doch eigentlich darauf freue.

Vielleicht liegt es auch daran, dass ich mir insgeheim unsicher bin, ob ich das alles wirklich schaffen kann oder ob das nicht doch am Ende eine Nummer zu groß sein wird.

Vielleicht liegt es auch daran, dass mir in diesem Moment bewusst wird, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt. Dass meine Wohnung für die nächsten drei Monate untervermietet sein wird und ich nicht einfach so abbrechen und heimkehren kann. Weil es gerade kein Zuhause mehr gibt. Dass ich in wenigen Momenten in ein Flugzeug einsteigen werde, das mich auf die andere Seite der Erdhalbkugel fliegen wird. Dass dann ein Ozean sein wird zwischen dem Ort, an dem ich dann bin und dem Ort, an dem ich gerade mein Taschentuch wegwerfe.

Wahrscheinlich liegt es aber einfach nur daran, dass ich gerade zum ersten Mal zur Ruhe komme. Dass ich zum ersten Mal nicht mehr renne. Nicht mehr lese, organisiere, telefoniere, recherchiere, buche, packe, Dinge erledige und wieder von vorne anfange. Sondern, dass ich zum ersten Mal nichts mehr tun kann außer sitzen und warten. Und dass jetzt all die Gefühle durchrauschen, die ich bis dahin zur Seite geschoben habe. Zum ersten Mal seit vier Monaten. Zum ersten Mal seit der Kündigung.

Diese Kündigung hat mein Weltbild auf den Kopf gestellt. Alles, was bis dahin galt, gilt jetzt nicht mehr. Alles, woran ich mich immer geklammert habe, ist eingestürzt. Die Tragweite dieses Moments wird mir erst viele Jahre später wirklich bewusst werden. Dass diese Kündigung mein überhebliches Selbstbild zerschmettert hat. Das Selbstbild, dass ich unheimlich wertvoll sei für jedes Unternehmen, in dem ich arbeiten würde. Dass jeder froh sein müsste, mich als Arbeitskraft zu bekommen. Dass ich überdurchschnittlich schlau und wertstiftend sei. So wie es mir doch immer erzählt worden war. Worauf sich mein einziger Wert begründet hatte.

Jetzt stand ich da und musste einsehen, dass dieses Selbstbild rissig war. Dass der Weg, den ich gegangen war, vielleicht doch nicht so richtig war, wie ich immer dachte. Dass ich nun aber noch viel weniger wusste, welcher Weg für mich bestimmt sein sollte.

All das schob ich weg. In den Wochen nach der Kündigung, als ich trotzig und biestig meine Vorgesetzte verfluchte, mir eine saftige Abfindung rausverhandelte und dann meine Reise plante. In den Monaten danach, als ich in einer manchmal fast manisch anmutenden Art um die Welt rannte. Und in den Jahren danach, in denen ich verzweifelt versuchte, dieses eingestürzte Kartenhaus wieder aufzubauen. Wieder und wieder. Bis es irgendwann endgültig einstürzte.

Von einem Kartenhaus weiß ich heute aber noch nichts. Heute sitze ich am Flughafen und weine. Es ist der 1. März 2014. In 30 Minuten werde ich in einem Flugzeug sitzen, das mich nach Paris bringen wird. Dort werde ich in ein anderes Flugzeug steigen, das mich dann nach Sao Paulo fliegen wird. Irgendwo unter mir im Gepäckraum wird ein Rucksack liegen, der jede Menge nützliche Dinge enthält, um mich auf dieser Reise zu unterstützen. Und auf meinem Rücken wird ein unsichtbarer, mit Steinen gefüllter, Rucksack sitzen, der mich immer wieder aus dem Gleichgewicht bringen wird. So wie er das schon mein ganzes Leben lang tat.

Auch davon weiß ich aber heute noch nichts. Heute bin ich einfach verwirrt und überwältigt von diesem Moment. Einem kurzen Moment voller Bewusstsein. Einem Moment, in dem ich spüre, wie groß, wie neu, wie umfassend das ist, was ich mir da vorgenommen habe. Einem Moment, in dem ich für einen ganz kurzem Moment erlebe, was diese Kündigung emotional mit mir gemacht hat. Einem Moment, in dem mir klar wird, dass ich allein bin. Und dass ich es lange sein werde. In den nächsten 12 Stunden in diesen beiden Flugzeugen. Aber auch in den nächsten drei Monaten auf dieser Reise. Und wahrscheinlich habe ich auch ganz tief drin gemerkt, dass ich schon sehr lange sehr allein bin.

„Wer alleine reist, ist nie allein“, schießt mir in den Kopf. Das ist wahr und unwahr zugleich. Als Student bin ich immer mal wieder alleine in Bars und Clubs gegangen. Und habe immer wieder Bekanntschaften geschlossen, die mir wohl versagt geblieben wären, wäre ich dort mit Freunden hingegangen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese einsamen Touren oft nicht aus Eigenmotivation, sondern aus Mangel an Alternativen angesagt waren. Und zur Wahrheit gehört ebenfalls, dass zwischen den Momenten, in denen man mal irgendwen kennenlernen konnte, oft auch ellenlange, einsame Zeitstrecken lagen. So wie es auch auf dieser Reise sein wird.

Der Spruch tut dennoch seine Wirkung. Mit einem Mal versiegen die Tränen und alle Gefühle werden in den Schrank zurückgejagt, in dem sie auch davor schon versteckt lagen. Ich habe meine Fassung wieder. Ich kann mich darauf fokussieren, mich auf diese Reise zu freuen. Ich kann meine Gedanken darauf lenken, wie spannend das alles werden wird, was jetzt vor mir liegt. Ich kann es mir bildlich ausmalen. Ich kann mich rational davon überzeugen, dass alles gut wird. Nur spüren kann ich es irgendwie nicht.

Sao Paulo

Nach über 12 Stunden Flug lande ich in Sao Paulo. Es ist 8 Uhr morgens. Um 20 Uhr werde ich den nächsten Flieger besteigen. Alles muss schnell gehen. Denn wenn ich nichts mehr zu tun habe, fange ich an, zu denken und zu spüren. Und das muss ich unbedingt vermeiden. Sagt offenbar mein Unterbewusstsein. Denn wieso ich so unheimlich renne, ist mir nicht wirklich bewusst. Ich tue es einfach. Und so wird Sao Paulo als erste Station der Reise gleich ein Spiegelbild der gesamten drei Monate sein.

Ich hole meinen Rucksack vom Band und checke ihn direkt für den Flug am Abend wieder ein. Dann mache ich mich schlau über die Transportverbindungen in die Stadt und zum Flughafen, damit ich abends rechtzeitig wieder da sein werde. Und dann fahre ich los. Irgendwie ins Zentrum. Irgendwohin. Ich laufe los und schlendere durch eine Innenstadt, in der nichts offen hat, auf der Suche nach einem Restaurant, über das ich irgendwo gelesen hatte. An der Adresse angekommen sehe ich nur geschlossene Rollläden, Gitter und keine Menschen, außer einem. Als ich ihn frage, führt er mich zwischen Gittern hindurch zu einer Tür, hinter der sich ein Aufzug verbirgt. Drinnen sitzt ein Mensch, der den Aufzug bedient, auf einem Stuhl. Der Aufzug hat keine Fenster. Der Job dieses Mannes besteht darin, Knöpfe zu drücken, ohne die Sonne oder überhaupt irgendetwas außer diesem zwei Quadratmeter großen Gefängnis zu sehen. Und Menschen an einen Ort zu bringen, an dem sie wahrscheinlich ein Vielfaches seines Gehaltes ausgeben, um Nahrung aufzunehmen.

Als ich das Restaurant betrete, fühle ich mich sofort unwohl. Teils, weil ich immer noch die Kleidung trage, die ich im Flugzeug getragen habe, teils, weil ich auf dem Weg hierher doch schon ein wenig unter der Sonne geschwitzt habe, teils, wegen dieser seltsamen Begegnung im Aufzug. Mir missfällt diese riesige Kluft zwischen diesem armen Menschen im Aufzug und all den besser Gestellten hier in diesem Restaurant. Ich möchte nicht dazu gehören. Darum flüchte ich.

Als ich das Restaurant wieder verlasse, suche ich nach Inspiration dafür, was ich stattdessen tun könnte. Mir fällt eine Art Touristen-Information ins Auge und ich erkundige mich, was es hier zu sehen gibt. Das nationale Fußball-Museum im „Estadio Municipal“ erregt mein Interesse. Ich lasse mir den Weg beschreiben und laufe los. Und laufe und laufe durch eine brasilianische Metropole, die gar nicht so metropolig wirkt, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Ich laufe an Häusern mit hohen Mauern und Stacheldraht vorbei, bis ich dann schließlich in einem riesigen und menschenleeren Stadion stehe. Drinnen schaue ich mir zeitgeschichtliche Momente des Weltfußballs an, sehe eine holographierte Version von Pele und werde von einem Fan-Gesang-Simulator angebrüllt. Auf dem Parkplatz vor dem Stadion beobachte ich für ein paar Momente ein paar Jugendliche, die ohrenbetäubend laute und halsbrecherisch schnelle ferngesteuerte Rennwagen über den Beton jagen, bevor ich weitermarschiere. Ziellos, aber neugierig. Mit strammem Schritt, aber neugierigem Blick.

Ich erreiche die Avenida Paulista und fühle mich ob der Hochhäuser nun doch irgendwie wie in einer Metropole. Aber in einer Metropole mit Blick auf die Zukunft. Denn ein Fahrstreifen der belebten Straße wird gerade dazu genutzt, Brasilianer vom Fahrradfahren zu überzeugen. Dazu können die dort auf einem abgesteckten Kurs mitten auf der Straße mit Leihrädern hin und her fahren, um selbst zu erleben, wie toll das ist.

Ein paar Meter später folgt gleich die nächste Attraktion. Ein Elvis-Imitator. Aber nicht einfach nur ein Mann mit Haar-Tolle, der ein bisschen schummerig vor sich hin rockt, sondern einer, der sich gleich eine Bühne, einen Verstärker und ein paar Groupies mitgebracht hat und einen beträchtlichen Teil des Gehsteigs für sich in Beschlag nimmt. Und als ein Bus neben ihm hält, springt er einfach in die offene Tür und nutzt den Einstiegsbereich des Busses wie eine Bühne.

Ich bin mittlerweile an der Catedral de Sé angekommen und bewundere die Kirche. Aber ich bewundere auch die Ampelmännchen vor der Kirche, die keine Männchen sind, sondern Mini-Kathedralen. Und dann bemerke ich die Prostituierten auf der anderen Straßenseite. Genau gegenüber der Kathedrale. Als ob man Bigotterie in einem Gemälde darstellen wollte, aber aufgrund fehlender Leinwand einfach die Realität bemüht.

Bevor ich mich auf den Weg zum Flughafen mache, brauche ich noch etwas zu Essen und steuere aus Bequemlichkeit und Hunger den nächsten McDonald’s an. Wie ich das immer tue, wenn ich mich vorher nicht vernünftig um Nahrungsaufnahme gekümmert habe. Dort finde ich die wahrscheinlich dreckigste Ecke der gesamten Innenstadt. Hier kleben Burger-Reste an Boden und Wänden, es ist laut, es ist schmierig und ganz weit weg von dem klinischen Image, das sich die Burger-Kette bei uns in den letzten Jahren gegeben hat.

Dann endet mein Turbo-Trip durch Sao Paulo. Ein Tag, der ein Abziehbild für meine restliche Reise werden wird. Eine Reise, die ich in einem unfassbaren hohen Tempo durchgeführt habe, dabei aber an jedem Ort die Muße behielt, durch die Gegend zu laufen und mir Dinge anzuschauen. Eine Reise, bei der ich immer wieder die Highlights angesteuert habe, mich aber durch Neugier und Naivität auch zu Dingen habe ziehen lassen, die man nicht bestellen oder vorhersehen kann. Aber eben auch eine Reise, bei der mich immer wieder das Gefühl verfolgt hat, das Ganze hier nicht richtig zu machen. Irgendetwas zu verpassen. Zu schnell, zu wenig planvoll, zu durchgetaktet, zu verplant, zu engstirnig, zu uninformiert, zu überorganisiert – eben einfach: zu falsch – unterwegs zu sein. Oder am Ende einfach selbst falsch zu sein.

Für diese Gedanken ist aber keine Zeit. Mein nächstes Flugzeug wird schließlich nicht auf mich warten.

Von Krokodilen, Eseln und Raubtieren

Genau genommen sind es sogar drei Flugzeuge, die nicht auf mich warten. Denn die anstehende Reise, bei der ich eine Distanz von gerade mal 400 Kilometern überwinden muss, teilt sich auf drei Flüge auf. Weil das Ticket für diese Verbindung ein Drittel von dem gekostet hat, was der Direktflug gekostet hätte. Ein Irrsinn unserer Zeit. Und ein Irrsinn, der natürlich auch Zeit kostet. Aber da ich das Gefühl mag, mit dem Flugzeug abzuheben und mir einen Eindruck der Welt von oben zu machen und auch das Gefühl, irgendwo zu landen, nehme ich das in Kauf. Und fliege von Sao Paulo nach Cuiaba, von Cuiaba nach Brasilia und von Brasilia nach Campo Grande. Insbesondere der Flug über Brasilia ist dabei wahnsinnig faszinierend. Diese Stadt von oben zu sehen und sich dabei vorzustellen, dass das eine der wenigen Städte auf der Welt ist, die nicht organisch gewachsen ist, sondern komplett am Reißbrett geplant wurde, ist beeindruckend. Ein Eindruck, für den sich dieser Drei-Flugzeuge-Trip schon gelohnt hat.

In Campo Grande werde ich am Flughafen abgeholt und direkt ins das vorab gebuchte Hostel weitertransportiert. Und komme damit endlich in ein Bett! Es ist himmlisch. Weich und warm und kuschelig und heimelig und genau das, was ich brauche, nachdem ich über 36 Stunden auf den Beinen war und dazwischen mal eben 12 Stunden durch Sao Paulo gelaufen bin.

Natürlich ist es eher ein Bett der Kategorie „zum Glück keine Bettwanzen drin“ und das Zimmer gleicht eher einer Gefängniszelle als einer Hotelsuite, aber wenn man so erschöpft ist, dann sorgt alleine die Erleichterung, irgendwo angekommen zu sein, für ein so luxuriöses Gefühl, dass es dafür keine weiteren Annehmlichkeiten braucht.

Am nächsten Tag geht die Reise dann richtig los. Ziel: Pantanal. Mitten in den brasilianischen Regenwald hinein, um dort einen Eindruck einer ganz anderen Welt zu gewinnen. Was ich genau sehen will, weiß ich nicht. Ich bin einfach nur gespannt darauf, etwas ganz Anderes zu erleben, wie das, was ich kenne.

Der Abschied aus der Zivilisation geschieht in Etappen. Von Campo Grande aus geht es im klimatisierten Neunsitzer über asphaltierte Straßen an den Rand des Pantanal. Nach zwei Stunden halten wir an einer Art zivilisatorischen Oase an. Es gibt ein paar Hütten, eine Straßenkreuzung, an der auch ein bisschen Platz zum Parken und Wenden ist und eine staubig-matschige Straße, die davon abgeht. Wenige Minuten, nachdem wir gehalten und uns mit Getränken versorgt haben, holpern über die Matsch-Straße zwei jeep-artige Fahrzeuge heran. Bei beiden sind Bänke und Dächer auf die Ladefläche montiert worden, auf denen aktuell ein paar Touristen sitzen. Diese Touristen steigen jetzt ab und nehmen unsere Plätze im Transporter ein. Und dafür bekommen wir die Plätze auf den Jeep-Bänken.

Die nächsten zwei Stunden auf unserem Trip verlaufen geradeaus auf einer immergleichen Matsch-Staub-Straße ohne viel Variation. Keine Kurve, keine Veränderung der Vegetation. Es geht immer nur geradeaus und es sieht alles gleich aus. Staubig mit viel grünem Gras links und rechts des Weges. Die sich kaum verändernde Landschaft rauscht beständig an uns vorbei, der Fahrtwind weht uns um die Köpfe und die Schlaglöcher lassen uns auf und ab wippen.

Ab und an bremst der Jeep. Immer dann, wenn wir an eine der zahlreichen Holzbrücken heran fahren. Denn über die darf man offenbar nicht allzu schnell fahren. Nur in Schrittgeschwindigkeit. Und diese Schrittgeschwindigkeit führt dazu, dass wir die erste Bekanntschaft mit Regenwald-Bewohnern der unangenehmeren Art machen. Von der allerkleinsten und nervigsten Sorte. Mosquitos. Viele Mosquitos. Mit jeder Brücke werden es mehr. Hatte man auf den ersten Brücken noch verwundert das eine oder andere nervige Tierchen entdeckt, nimmt die Zahl beständig mit jeder weiteren Brücke zu, bis wir irgendwann in nicht mehr nur sprichwörtliche Insektenwolken eintauchen.

Ich bin auf diese Begegnung vorbereitet und habe jede Menge Schutzmittel eingepackt, das ich jetzt auch anwende. Einer meiner Mitfahrer fragt mich verwundert, mit was ich mich denn da einsprühen würde. Und mir stürzt das Gesicht ab. Ob er denn nicht daran gedacht hätte, dass der Regenwald voller Stechmücken sei und man sich davor dringend schützen müsse, weil das mitunter sogar lebensgefährlich sein könnte.

Nein, das wusste er nicht. Er war einfach losgefahren, ohne sich in irgendeiner Form darüber zu informieren, auf was er sich da einlässt. Genauso wie sein Kumpel neben ihm.

Das bringt mich in ein Dilemma. Ein Teil von mir will ihm etwas von meinem Spray abgeben. Der andere Teil in mir merkt an, dass das extrem teures Spezialzeug ist, das ich noch in Deutschland gekauft habe, das ich nirgendwo anders bekommen würde und das ich für die nächsten drei Monate noch an vielen anderen Orten brauchen würde. Außerdem ist mir auch klar, dass es nicht bei einem Mal bleiben würde. Er und sein Kumpel werden das Zeug ja auch dauerhaft in den nächsten Tagen brauchen. Ich entscheide mich schlussendlich dazu, nichts abzugeben. Aber habe natürlich sofort auch ein schlechtes Gewissen.

Und dieses schlechte Gewissen macht mich sauer. Weil ich überhaupt nichts dafür kann, dass diese beiden Typen nicht daran gedacht haben, sich auf diese Reise vorzubereiten. Weil ich plötzlich in einer Situation bin, in der ich jemandem etwas verwehren muss. In der ich mich wie ein Asozialer fühlen muss, der anderen nicht helfen möchte. Wie jemand, der verantwortungslos handelt und andere in ihr Unglück laufen lässt. Aber nicht mein Verhalten ist verantwortungslos, sondern ihr Verhalten ist es. Nicht nur ihnen selbst gegenüber, sondern auch mir gegenüber. Weil sie sich nicht informiert haben, bringen sie mich in eine Situation, in der ich mich schlecht und egoistisch fühlte, weil ich ihnen nicht helfen will. Ich kann meine Entscheidung rational vor mir selbst rechtfertigen, aber emotional frage ich mich bis heute, ob ich nicht selbstloser hätte sein sollen. Und dass ich diesen Zweifel empfinde und damit meine Reise in den Regenwald starte, das nehme ich den beiden bis heute übel.

Mein Gefühl wird auch nicht besser, als sie zu verzweifelten Hilfe-Maßnahmen greifen: sie ziehen sich Pullover an. Das wird jetzt auf dem Jeep wahrscheinlich noch gut gehen, wenn der Fahrtwind einen ab und an kühlt. Aber es wird in den nächsten Tagen bei den Wanderungen durch den Dschungel und 35 Grad im Schatten sicher keine Freude mehr sein.

Ich werde mich in ihrer Gegenwart damit noch häufiger schuldig fühlen. Und dennoch war es im Rückblick auf die gesamte Reise die richtige Entscheidung. Denn am Ende der drei Monate hatte ich das gesamte Schutzmittel aufgebraucht. Und hätte ich an diesen drei Tagen etwas abgegeben, wäre ich selbst nicht über die Runden gekommen. Ich würde gerne sagen, dass ich meinen Egoismus damit rational gerechtfertigt habe und mich nicht mehr dafür schäme. Aber das stimmt nicht. Ich zweifle bis zum heutigen Tag daran. Und in mir bleibt bis heute das Gefühl, dass mich jemand dafür verurteilen könnte, dass ich mich so entschieden habe. Weil es einen Teil in mir gibt, der über alles und jeden richtet. Über diese beiden Typen. Aber am härtesten und unnachgiebigsten eben auch über mich selbst.

Ist das normal? Hat das tiefere Ursprünge? Geht es allen Menschen so oder wäre es den meisten einfach egal? Hätten andere etwas abgegeben? Wie hätten sie sich dann gefühlt, wenn sie irgendwann genau deswegen mit leeren Händen da gestanden hätten? Wie lange darf einen so eine Entscheidung verfolgen und wann sollte man sie gehen lassen können?

Und natürlich habe ich mich auch gefragt, wie es mir auf der anderen Seite gehen würde? Was, wenn ich in Not wäre und jemanden bräuchte, der mir hilft? Natürlich würde ich mich dann freuen, wenn da jemand wäre, der mir etwas abgeben würde. Gleichzeitig aber habe ich mir eben auch bewusst gemacht, dass ich in fast jeder Situation meines Lebens immer darauf achte, niemandem zur Last zu fallen. Ich versuche immer und überall, mich so vorzubereiten und zu verhalten, dass ich selbst und ohne Hilfe klar komme. Weil ich niemanden belasten möchte. Das ist für mich auch ein Lebenscredo. Ein fundamentaler Wert. Rücksicht beginnt damit, dass ich für mich selbst sorge und mich nicht darauf verlasse, dass andere für mich mitdenken müssen. Und weil ich so denke, fühle ich mich auch missachtet, wenn jemand diesen Wert verletzt. Wenn jemand durch seine Nachlässigkeit dazu beiträgt, mich oder andere zu belasten. Ich empfinde das als rücksichtslos. Und so legitimiere ich am Ende dann auch meine Entscheidung, eben nichts von meinem Insektenzeug abzugeben.

Es ist wahrscheinlich eine dieser vielen harten Entscheidungen im Leben, bei denen es kein richtig oder falsch gibt. Eine der Entscheidungen, die man für sich nach seinen eigenen Regeln und Werten treffen muss. Deren Konsequenzen, wie auch immer sie sein mögen, man dann aber eben auch aushalten muss.

Darum ist es wichtig, bei Entscheidungen immer auch darüber nachzudenken, welche Folgen sie haben können. Nicht nur bei Entscheidungen im Leben, sondern auch und vor allem bei politischen Entscheidungen. Gerade in der Politik mögen Dinge oft einfach scheinen. Wenn man sie aus der Emotion heraus betrachtet. Aus der eigenen Perspektive. Man muss hier helfen, man muss dort die Steuern senken, man muss dieses oder jenes tun. Je tiefer man dann in die Thematik blickt, desto mehr wird einem bewusst, welche Folgen diese oder jene Entscheidung haben kann. Desto mehr wird einem bewusst, wie komplex und verwoben Entscheidungen sein können. Und desto mehr versteht man, dass die meisten Entscheidungen bei weitem nicht so einfach und eindeutig sind, wie sie vielleicht manchmal erscheinen mögen. Gerade, wenn man sie rein emotional betrachtet.

Gedanken an Politik und Zivilisation sind aktuell aber sehr weit entfernt, denn wir verabschieden uns sukzessive weiter von der Zivilisation und neben den Mücken entdecken wir die ersten Tiere, die es so bei uns zuhause nicht gibt. Fremde Vogelarten, seltsame Nagetiere und irgendwann auch Krokodile. Beziehungsweise Kaimane. Von denen einfach mal so 30 oder 40 unter einer der Brücken liegen und sich in der Sonne aalen, während wir über die Holzbalken juckeln. Langsam fühlt sich das Ganze nach Regenwald an. Langsam wird’s spannend.

Lange nach Sonnenuntergang kommen wir dann in unserer Unterkunft an. Es erinnert alles ein bisschen an eine Jugendherberge. Karge Wände, einfache Betten, minimalistische Kleiderschränke wie aus den Siebzigern – einfach alles, was man zum Leben und Überleben braucht und aber eben auch nicht mehr. Direkt neben unserer Wohnkaserne befindet sich ein offen gestalteter Bereich, in dem man sitzen, trinken und essen kann. Außerdem gibt’s einen Tischkicker und eine Dartscheibe. Zur großen Freude meiner beiden deutschen Mitreisenden ist dieser Lobby-Bereich mit Moskitonetzen abgehängt und entsprechend droht ihnen zumindest dort keine Gefahr, von den kleinen Viechern aufgefressen zu werden.

Bei einem ersten Bier lernt sich unsere Gruppe dann näher kennen. Neben den beiden insektenmittel-losen deutschen Typen sind zwei ebenfalls deutsche, aber umfassend vorbereitete, Mädels zur Gruppe gestoßen. Und eine Holländerin. Die kein deutsch spricht und mir darum jetzt schon leid tut. Denn in einer Gruppe mit fünf Deutschen wird es wohl nicht ausbleiben, dass wir uns zumindest dann und wann auch auf Deutsch unterhalten werden. Auch wenn ich mir fest vornehme, in ihrer Gegenwart immer englisch zu sprechen.

Die Tour ist auf Englisch angelegt und entsprechend spricht unser Guide auch englisch. Wenn er denn überhaupt mal spricht. Bisher ist er lediglich als dieser seltsame Dschungel-Typ in Erscheinung getreten, der irgendwann mitten auf der Route auf den Jeep gesprungen und seitdem auf der Motorhaube mitgefahren ist. Jetzt erfahren wir, dass sein Name Nico ist und dass er uns in den nächsten Tagen durch das Pantanal führen wird. Diese Information teilt er mit uns auf die erdenklich sparsamste Weise: „Me Nico. Your guide. Tomorrow we start. Good night“.

Über die nächsten Tage der Tour behält Nico diese außerordentlich sparsame Kommunikationskultur bei. Wir fahren mit dem Boot durch Sümpfe und Flüsse, wandern durch den Dschungel, fahren mit dem Jeep quer durch die Wildnis, um dann irgendwo zwischen Schmetterlingen und Tukanen ein paar Happen zu uns zu nehmen, staunen über die Vielfalt der Natur, die wir sehen, sind voller Aaaahs und Ooohs und auch nicht weniger Schweißtropfen ob der Herausforderungen, die wir auf uns nehmen, aber Nico lässt das alles völlig kalt. Er führt uns stoisch über seine Pfade, gibt ab und an ein mehr oder weniger motivierendes „Come“ von sich, wenn einer aus der Gruppe mal etwas nachlässig vor sich hin trödelt, sagt mal kurz „Careful!“, wenn wir an einem auf dem Boden liegenden Wespennest vorbei marschieren oder zeigt irgendwo in die Bäume und nennt einen Vogelnamen. Wenn es dann was zu essen gibt, preist er die dargebotenen Nahrungsmittel kurz mit „Eat!“ oder „Food!“ an und darüber hinaus hört man von Nico nicht viel.

Dennoch strahlt er ein tiefes Vertrauen aus. Ich fühle mich in seiner Gegenwart nie unsicher. Obwohl ich eine höllische Angst vor Wespen habe. Obwohl ich noch nie in einem Regenwald unterwegs war. Obwohl ich davon gehört habe, dass hier sogar Jaguare durch die Wälder streifen sollen. Nico trägt ein großes Messer am Gürtel, fast eine Machete. Egal, wo wir lang laufen, vermittelt er mir das Gefühl, dass alles in Ordnung sei. Dass er das alles hier schon tausend Mal gesehen habe und ihn das, was uns aufregt, eher langweilt. Stellt sich ein Problem in den Weg, greift er ruhig nach seinem Messer und haut einen Ast entzwei. Gerade seine Wortkargheit wirkt dabei seltsam beruhigend. Er scheint so in sich selbst zu ruhen, dass er diese Ruhe direkt an uns weitergibt. Ich mag ihn.

Am dritten Tag machen wir eine Boots-Tour. Plötzlich stoppt Nico das Boot und sagt „now we fish piranha“. Daraufhin stellt er einen Eimer mit Aalen in die Mitte (oder irgendeinem anderen mir nicht bekannten länglichen Fisch), nimmt einen raus, zerschneidet ihn in Stücke und legt diese Stücke vor sich hin. Dann gibt er jedem von uns eine provisorische Angel und ein Stück des Köderfisches in die Hand (ich nenne den vermeintlichen Aal jetzt einfach mal Köderfisch, denn das ist das, was er tun soll). Dann zeigt er uns, wie man den Köderfisch mit ein paar einfach Handgriffen auf den Haken sticht und die Angel ins Wasser wirft. Alles ganz einfach. Und tatsächlich bekommen das auch fast alle aus unserer Gruppe sofort hin. Bis auf einen. Einen der beiden männlichen deutschen Mitreisenden. Er wendet sich hilfesuchend an Nico.

Er: Can you help me with the fish? | Kannst Du mir mit dem Fisch helfen?

Nico: Why? | Warum?

Er: I cannot put it on | Ich kann ihn nicht draufstecken.

Nico: Because you are not a man? | Weil Du kein Mann bist?

Daraufhin muss Nico kurz lachen. Es ist ein Lachen, das eher einem Hickser gleicht. Ganz kurz und fast verschämt und eigentlich nicht zu bemerken und gleich danach legt er wieder seine ausdruckslose, weltferne Miene auf. Aber in diesem kurzen Moment, in dem er über seinen eigenen, stumpfen, billigen, blöden Spruch lachen muss und wenn es nur für eine halbe Sekunde ist, schließe ich ihn noch drei Mal tiefer in mein Herz. Da steckt also doch genau so ein kleines, blödelndes Kind unter dieser vermeintlichen Hartschale. Wie in uns allen. Manchmal tiefer, manchmal weniger tief vergraben. Ein Kind, das es sich nicht verkneifen kann (oder will) auch mal vollkommen unangemessene Sprüche zu machen. Das über sich selbst lachen kann, auch wenn es kein anderer tut. Aber eben auch über andere.

Es dauert nicht lange, bis wir die ersten Piranhas fangen. Nico nimmt uns blitzschnell die Angel ab und den gefangenen Fisch in Gewahrsam. Dann schlägt er ihn hart auf die Planke im Boot. Und zeigt uns den vermeintlich toten Fisch. Er erklärt, dass der Fisch noch lange nicht tot sei („piranha not dead. Look!“). Zum Beweis schiebt er ihm den kräftigen Stiel einer Seerose ins Maul, woraufhin der vermeintlich tote Fisch zubeißt und ein großes Stück des Stiels abzwickt. Das hätte gut und gerne unser Finger sein können.

Um einen Piranha zu töten, muss man mit der Machete in die Stirnfalte stoßen. Das erinnert mich ein bisschen an Zombie-Filme. Es ist auf jeden Fall ein guter Happen wertvolles Wissen, wenn man beim Piranha-Fischen seine Finger behalten will.

Abends essen wir die Piranhas. Etwas zäh und geschmacklich sicher nicht der leckerste Fisch, der mir je aufgetischt wurde, aber dann doch wieder ein großer Genuss, weil es eben etwas ist, das wir selbst gefangen haben. Das wertet Nahrung dann doch nochmal deutlich auf. Und lässt in mir den Gedanken aufkeimen, dass es wahrscheinlich gar nicht so schlecht wäre, wenn wir ab und an mal ein Rind schlachten müssten, um zu verstehen, woher unser Filetsteak kommt. Der Gedanke fliegt aber ganz schnell wieder raus aus meinem Kopf. Es ist unser letzter Abend im Pantanal. Morgen geht es wieder über die ellenlange Staubstraße zurück in die Zivilisation. Darum unterhalten wir uns jetzt über unsere Erfahrungen, wir stoßen auf die gemeinsamen Tage an, wir lachen über die Unachtsamkeit meiner deutschen Kollegen. Jetzt geht das gut. Denn irgendwann während dieses Tages haben sie einen Laden gefunden, in dem sie Insektenschutzmittel kaufen konnten. Nach zwei Tagen, an denen sie sich schwitzend mit laubbehangenen Ästen die Moskitos vom Pullover geschlagen haben, während wir durch den Dschungel marschiert sind.

Irgendwann gehen die anderen ins Bett. Ich bleibe noch ein wenig im Freien sitzen und schaue gedankenverloren in den Nachthimmel. Plötzlich kommt Nico zu mir. Er stellt zwei Dosen Bier auf den Tisch und schaut mich an.

Dann sagt er:

I think you’re the only smart guy in this group. Wanna drink with me? | Ich glaube, Du bist der einzige schlaue Typ in dieser Gruppe. Wollen wir einen trinken?

Natürlich wollen wir das! Und ganz plötzlich wird aus diesem wortkargen Tarzan-Verschnitt ein offenes Buch. Er erzählt und erzählt. Von jetzt, von seinen Touren, von seinem früheren Leben. Er will Dinge von mir wissen, hört zu und kommentiert. Aus einem Bier werden viele. Ich erfahre, dass er quasi von der ersten Minute an von unserer gesamten Gruppe genervt war. Weil die Holländerin ihn andauernd mit irgendwelchen Sonderwünschen konfrontiert hat, die er nicht erfüllen konnte. Weil er sich über die beiden Deutschen geärgert hatte, die kein Insektenspray mitgenommen haben. Weswegen er ihnen auch nicht gesagt hat, dass man direkt neben der Unterkunft welches kaufen konnte („They could have asked but they didn’t, so it’s not my problem | Sie hätten mich ja fragen können. Haben sie aber nicht, also ist es nicht mein Problem“). Weil es ihn ohnehin nervt, dass andauernd Menschen zu dieser Tour kämen, die sich kein bisschen informieren würden, aber dann enttäuscht darüber seien, dass sie keine Jaguare sehen. Wie sollen sie denn auch einen Jaguar sehen, wenn sie die ganze Zeit laut quatschend und Äste auf den Rücken schlagend durch den Dschungel latschen, fragt er mich?

Mit diesem Beispiel wird das Gespräch genereller. Wir sprechen über Erwartungen. Dass Menschen häufig zu hohe Erwartungen an etwas hätten und die dann aber mit ihrem eigenen Verhalten kaputt machten. Weil sie nicht nachdenken würden. Und überhaupt verschlössen die meisten Menschen die Augen vor der Schönheit, die diese Gegend mit sich brächte. Immer nur auf der Suche nach dem Jaguar sein und dabei die ganzen Tukane, die Capybaras, die Natur, die Horizonte, die ganzen kleinen, wunderbaren Dinge übersehen, die einem dieser Ort schenken kann.

Ich höre fasziniert zu. Manchmal stelle ich eine Nachfrage. Aber die meiste Zeit lasse ich ihn einfach reden.

Alle seien sie getrieben davon, etwas Besonderes zu erleben. Alle hätten sie ein Ziel und das müssten sie abhaken und dann könnten sie weiter rennen zum nächsten Ziel, das sie abhaken könnten. Und weil sie so beschäftigt damit seien, Dinge abzuhaken, hätten sie überhaupt keine Zeit und kein Gefühl dafür, die wirklich schönen Dinge zu entdecken. Einfach mal stehen zu bleiben, an einer Blume zu riechen und das toll zu finden. Egal, ob diese Blume jetzt mega-selten ist oder einfach nur da. Darum ginge es doch gar nicht.

Er selbst sei genauso gewesen. Genauso getrieben. Damals als er ein Banker in Sao Paulo gewesen war. Als er immer nur den nächsten Profit wollte, den nächsten Bonus, die nächste schöne Frau im nächsten besten Club. Und irgendwann habe er dann umgedacht, sagt er. Er habe angefangen zu lesen. Internationale Literatur. Viel deutsche Literatur. Viel Hermann Hesse. Er liebe Hermann Hesse, sagt er. „Siddharta changed my life“, sagt er.

Und ich bin peinlich berührt. Denn von Hermann Hesse habe ich so gut wie gar nichts gelesen. Und ich wusste bis zu diesem Moment noch nicht mal, dass er „Siddharta“ geschrieben hat. Mir wurde immer wieder gesagt, wie schlau ich doch sei und es hat mich jedes Mal mit Stolz erfüllt, das zu hören. Wenn mir dann aber jemand mein eigenes Unwissen vor Augen führt, sticht das jedes Mal mitten rein. Und das tut es auch diesmal.

Gleichzeitig bin ich aber total gerührt. Dieser Typ, der vor ein paar Stunden mit einem riesigen Dolch ein paar Piranhas den Garaus gemacht hat, der sich mit seiner Machete durch die Bäume schlägt, bei 80 Sachen auf der Motorhaube eines fahrenden Jeeps liegt und Grashalme kaut und der den ganzen Tag wirkt, wie wenn er gerade erst heute Morgen aus dem Urwald erwachsen wäre und sprechen gelernt hätte – dieser Typ hat deutsche Literatur gelesen, die ich nicht mal kenne. Die ich aber kennen sollte. Finde ich.

Es ist irgendwie ein cooles und peinliches Gefühl zugleich. Ich entscheide mich dafür, lieber mehrheitlich fasziniert zu sein, notiere aber in meinem Kopf: „Siddharta lesen!“. Dann höre ich ihn sagen, dass er sich nach dem Lesen dieser Geschichte entschieden habe, in den Dschungel zu gehen. Und seinen Frieden hier zu finden. Es sei die beste Entscheidung seines Lebens gewesen.

Am Ende des Abends haben wir viele Dosen Bier geleert. Wir nehmen uns zum Abschied in den Arm. Und ich bin baff. Baff, wie tief, wie vielfältig dieser Mensch ist. Und wie gut er das verheimlicht hat. Weil er keine Lust darauf hatte, sich mit den anderen auseinander zu setzen. Weil er für sich vor langer Zeit entschieden hat, dass er sich nur noch ganz selektiv öffnet. Und dass der Großteil seiner Öffnung der Natur gilt und der kleine restliche Teil nur ein paar wenigen ausgewählten Menschen.

Vielleicht kommt daher diese innere Ausgeglichenheit. Vielleicht kann er deswegen so in sich ruhen, weil er entschieden hat, dass nur er alleine zulässt, wer ihn berühren darf. Und vor allen Dingen: wer nicht.

Nico wird noch lange in mir nachwirken.

Am nächsten Tag machen wir noch einen letzten, kleinen Ausflug, bevor es wieder zurück in die Zivilisation geht. Nico ist jetzt wieder so wortkarg, wie er die Tage zuvor war. Aber ab und an treffen sich unsere Blicke und ich erkenne ein kleines, verschmitztes Lächeln im sonst ausdruckslosen Gesicht. Wie wenn wir ein verschwörerisches Geheimnis miteinander teilen würden, von dem die anderen nichts wissen dürfen.

Auf der Rückfahrt über die Staub- und Matschstraße begleitet uns Nico noch ein Stück weit in seiner Lieblingsposition: auf der Motorhaube des Jeeps liegend und einen Grashalm kauend. Auf ungefähr der Hälfte des Weges hält der Jeep an, Nico springt runter, winkt noch ein kurzes „Bye bye“ auf die Ladefläche und wir brettern davon. Tschüss, Großer! Auf, dass Du vielen netten, rücksichtsvollen und dankbaren Menschen begegnest und so glücklich bleibst, wie Du es offensichtlich gerade bist!

Und damit verschwindet Nico im Pantanal und für mich geht die Reise weiter. An einen Ort, der mich immer magisch angezogen hat, von dem ich aber nie so wirklich wusste, wieso.

Wasserkraft

Die Ankunft in Foz de Iguazú gestaltet sich schwieriger als gedacht. Ich erreiche den Busbahnhof und suche dort den Bus in die Stadt. Und finde ihn auch recht schnell. Im Bus treffe ich einen deutschen Verwaltungsfachangestellten, der vor einem Jahr seinen Job an den Nagel gehängt hat und seitdem in Foz de Iguazú lebt. Und von dort aus durch die Gegend reist. Er erzählt mir – während wir im Bus stehen – in unglaublich prägnanter Kurzform seine Lebensgeschichte und verabschiedet sich so schnell wie er gekommen war. Bevor ich auch nur den Gedanken beginnen kann, wie faszinierend es ist, dass ein so biederer Typ wie er einfach ausbricht und den Traum lebt, den wahrscheinlich viele Beamte hinter einem grauen Schreibtisch träumen, ist er genauso schnell aus dem Bus und meinem Leben verschwunden, wie er eingetreten war.

Ich prüfe nochmal bei Google Maps, wo das Hostel liegt, das ich im Voraus gebucht hatte und checke, wo ich mit dem Bus gerade bin. Noch eine Haltestelle, denke ich mir, dann bin ich da. Oder ich bleibe noch eine länger drin und bin dann wohl sogar etwas näher dran. Die Karte auf dem Handy und die Karte auf der Webseite sind irgendwie uneindeutig. Ich entscheide mich dafür, noch eine Haltestelle stehen zu bleiben. Der Bus allerdings entscheidet sich dafür, einfach nicht mehr stehen zu bleiben. Stattdessen fährt und fährt und fährt er. Aus der Innenstadt heraus auf eine Art Landstraße. Jetzt werde ich unruhig. Aber was soll ich denn tun?

Das Stadtbild ändert sich rasch. Waren wir eben noch in einer belebten, mit Touristen gefüllten Stadt, fahren wir jetzt plötzlich durch ein Ghetto. Es ist helllichter Tag, aber in dieser Ecke fühle ich mich alles andere als sicher. Hier will ich keinesfalls aussteigen. Ich schaue angestrengt auf die Straße und versuche, herauszufinden, ob es einen Bus gibt, der uns entgegenkommt und eventuell wieder in die Stadt zurück fährt. Die Busse hier haben aber keine Nummern oder Richtungsanzeiger und ich fürchte, dass ich in eine ganz falsche Richtung fahren könnte, wenn ich jetzt aussteige und in einen anderen Bus einsteige. Also entscheide ich, lieber sitzen zu bleiben und darauf zu warten, dass der Bus umdreht und wieder zurückfährt. Auch wenn das sicherlich viel länger dauern wird. Und ich keine Ahnung habe, ob er das wirklich tun wird.

Ich mache also das Beste draus und schaue mir an, wie die Stadt an mir vorüberzieht und immer wieder ihr Gesicht ändert. Eine halbe Stunde später sind wir offensichtlich im Reichenviertel angekommen. Hier sind jetzt überall Häuser mit Garten und sauberen Autos vor der Tür. Der Bus fährt inzwischen über kleine Sträßchen mit Kopfsteinpflaster und ich bekomme langsam Zweifel, ob der überhaupt jemals zurück in die Stadt fährt. Schon wird auch die Frage, was ich mache, wenn nicht, in meinem Kopf immer größer. Das Blöde ist, dass ich keine Antwort darauf habe. Ein Taxi würde ich hier draußen wohl nicht finden. Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich schon in so ein Haus reinlaufen und auf Englisch fragen, ob sie mir sagen können, wie ich zurück in die Stadt komme. Nur um dann wahrscheinlich festzustellen, dass hier niemand Englisch spricht. Langsam wird die Angst größer.

Wie wenn sie das gemerkt hätte, spricht mich in diesem Moment ein junges Mädchen an. Sie will wissen, ob ich eigentlich wüsste, wohin ich fahre. Sie spricht englisch. Mir fällt ein Stein vom Herzen. Ich schildere ihr, was passiert ist und sie lacht und beruhigt mich. Sagt mir, dass der Bus gleich wieder zurückfahren würde. Und dass es ohnehin keinen Bus in die Gegenrichtung gäbe. Es war also ganz richtig gewesen, einfach sitzen zu bleiben.

Wir unterhalten uns noch ein bisschen. Sie ist Schülerin und hat heute Geburtstag. Ich singe ihr spontan Happy Birthday vor und gratuliere ihr. Wir quatschen noch ein bisschen, dann haben wir ihre Haltestelle erreicht, sie hüpft aus dem Bus und ich bin wieder allein.

Aber jetzt habe ich ein Lächeln auf den Lippen. Das war eine schöne Begegnung, ich habe jemanden glücklich gemacht, eine kostenlose und spannende Sightseeing-Tour bekommen und weiß jetzt, dass ich dann doch gleich dort ankommen werde, wo ich hinmöchte.

Diesmal erwische ich die richtige Haltestelle, springe raus und mache mich auf den Weg zum Hostel. Das ist leider noch mal einen guten Kilometer entfernt und das ist bei 35 Grad im Schatten und einem schweren Rucksack auf dem Rücken wahrlich kein Zuckerschlecken.

Als ich im Hostel ankomme, bin ich zwar erschöpft und durchgeschwitzt, aber direkt wieder im Funktionsmodus. Zwei Tage hätte ich, sage ich dem Menschen am Empfang, dann geht’s weiter auf die argentinische Seite von Iguazú. Was ich denn bis dahin auf der brasilianischen Seite anschauen und erleben könnte, möchte ich daher wissen.

Wir planen meinen Aufenthalt fast minutiös. Morgen solle ich mir erstmal die Wasserfälle anschauen, um meine erste Neugier zu befriedigen. Aber mehr als einen Tag könnte ich dort ohnehin nicht totschlagen, meint er. Vor allem, wenn ich vor hätte, die Wasserfälle von beiden Seiten zu betrachten. Da wäre meine Zeit besser investiert, wenn ich am zweiten Tag den Itaipú-Staudamm besichtigen würde. Für den würde ich nur einen halben Tag brauchen und könnte dann am Nachmittag gemütlich mit dem Bus auf die argentinische Seite fahren.

Sein Plan klingt gut und ich entscheide mich, das genauso zu machen.

Am Tag darauf komme ich an den Wasserfällen an und bin sofort gefangen. Es heißt, dass die Kraft des Wassers irgendwie positive Ionen freisetzen würde. Jedem Naturwissenschaftler wird bei diesem Satz wahrscheinlich ein kalter Schauer über den Rücken laufen. Aber abseits aller logischen Unmöglichkeiten finde ich die Vorstellung irgendwie schön. Und irgendetwas Positives (im nicht-elektrischen Sinne) erlebt man tatsächlich, wenn man an diesem Ort ist. Wasser hat etwas sehr Lebendiges. Darum leben Menschen ja auch so gerne am Wasser. Und bewegtes Wasser hat etwas Kraftvolles, Positives, Starkes, das auf einen abstrahlt. Und so viel bewegtes Wasser wie man es an den Iguazú-Wasserfällen findet, hat auf jeden Fall irgendeine Wirkung. Vielleicht keine wissenschaftlich nachvollziehbare und belegbare Wirkung. Aber irgendetwas Magisches hat dieser Ort schon.

Seit ich denken kann, wollte ich an diesen Ort kommen. Iguazú! Wasserfälle! Das hat etwas in mir ausgelöst. Da war immer der Wunsch, diesen Ort einmal zu besuchen. Wieso, weiß ich nicht. Aber jetzt bin ich hier. Ich höre das Rauschen des Wassers und vor mir eröffnet sich ein fantastisches Panorama. Eine Ansammlung an kleinen und großen Wasserfällen zwischen viel viel Grün. Ich stehe auf einer Art Aussichtsplattform und kann das ganze Bild auf mich wirken lassen. Und natürlich zücke ich meine Kamera und mache davon ein Foto.

Dieses Bild werde ich Jahre später wiedersehen. Allerdings in einer Version, die über 30 Jahre alt ist. Gemacht hat es mein Vater, als er die Wasserfälle besucht hat. Davon erzählt hat er mir nie. Zumindest soweit ich mich erinnere. Vielleicht aber doch. So wenig er von sich preisgegeben hat, so dünn und unemotional die Verbindung zwischen uns immer war – vielleicht war das eines der wenigen Dinge, bei denen ich zu irgendeinem Zeitpunkt etwas Faszination in ihm gespürt habe. Ohne zu wissen, wann und wieso und mit welchem Bezug. Irgendwie so muss es wohl gewesen sein. Irgendwas muss ich wohl abgespeichert haben. Irgendwann muss ich dieses Bild wohl gesehen und für mich als Ziel übernommen haben. Und jetzt können wir diese beiden Bilder nebeneinanderlegen und wir wissen, dass wir beide am exakt selben Punkt am anderen Ende der Welt gestanden haben. Mit über 30 Jahren Unterschied.

Dass es dieses Bild gibt, weiß ich aber heute noch nicht. Ich weiß auch nicht, dass die Verbindung zu meinem Vater dünn und unemotional ist. Aktuell halte ich sie für stark und belastbar. Ich kenne die Steine noch nicht, die mir mein Vater in meinen Rucksack gepackt hat. Ich weiß nicht, dass er für vieles, was bis hierhin schiefgelaufen ist und noch schief laufen wird, Verantwortung trägt. Genauso, wie ich nichts von dem Foto wusste.

Für den späten Nachmittag buche ich eine Rafting-Tour entlang der Wasserfälle und erlaufe mir bis dahin die ganze Breite der Szenerie. Die Iguazú-Wasserfälle bestehen aus 20 größeren und 255 kleineren Wasserfällen mit teilweise über 80 Metern Höhe. Von der brasilianischen Seite aus sieht man die Fälle aus der Nähe größtenteils von unten. Und wenn man ein wenig Distanz gewinnt und etwas höher klettert, bekommt man jede Menge fantastische Panorama-Blicke. So erlaufe ich mir über den Tag hinweg jede Menge toller Perspektiven. Aber die eindrucksvollste Perspektive ist und bleibt dieses eine allererste Bild.

Natürlich verliert man an einem solchen Ort dann auch ganz schnell das Gefühl für Zeit und Distanz. Und findet sich dann in einer Situation wieder, in der es schnell gehen muss, damit man die Rafting-Tour noch erreicht. Als ich am Ticket-Stand ankomme, sind alle anderen schon auf dem Weg nach unten und mir wird klar gemacht, dass ich hinterherrennen muss. Ich spurte über kleine Kieselwege und ein winziges Waldgebiet und stehe plötzlich 200 Meter über dem Boden auf einer großen rostigen Eisen-Wendeltreppe. Und da muss ich jetzt runter. Obwohl ich Höhenangst habe. Na super. Aber ich habe keine Zeit zu zögern. Unten sehe ich die Leute, wie sie schon am Boot stehen und Helme aufhaben und auf mich warten. Also sause ich die Stufen hinunter und wundere mich, wie unwichtig Phobien sein können, wenn man keine Wahl hat.

Die Rafting-Tour ist weit weniger aufregend als ich im Vorfeld gedacht hätte. Ein paar Wellen und ein bisschen hoch und runter und ein bisschen nass. Aber so richtiger Nervenkitzel ist das nicht. Der kommt erst auf als uns die Anführer nacheinander zum Kapitän machen. Dafür muss man sich auf den hinteren Rand des Bootes stellen und zwei riesige Ruder bedienen. Und dann soll man Kommandos geben, damit die restlichen Leute im Boot rudern. Nachdem meine Vorgänger das etwas verhalten gemacht hatten und keiner der anderen so wirklich gerudert hatte, dachte ich, ich geb mal etwas Feuer rein. Und lasse mein nicht gerade leises Organ seine Arbeit tun.

Ich schreie die Mannschaft an: FORWARD! ROW THE BOAT FORWARD! GO, YOU BITCHES! THIS IS WAR! FIGHT, ROW, FORWARD!

Statt zu rudern, scheint die Mannschaft eher konsterniert zu sein. Und tut gar nichts. Die beiden eigentlichen Captains flüstern den beiden Männern vor ihnen etwas zu. Und im nächsten Moment klatschen die vier mit ihren Rudern so heftig und gezielt ins Wasser, dass ich von allen Seiten mächtig geduscht werde. Ich bekomme kaum mehr Luft, soviel Wasser fliegt mir ins Gesicht. Na gut. Hatte ich vielleicht verdient. Dabei hatte ich es mir immer so einfach vorgestellt, Führungskraft zu sein. Vielleicht sollte ich das nochmal überdenken.

Am nächsten Tag fahre ich dann zum Itaipú-Staudamm. Oder wie er korrekt heißt: Itaipú Binacional. Der Damm liegt nämlich zu Teilen auf der Grenze zwischen Brasilien und Paraguay und wird als Gemeinschaftsprojekt beider Länder betrieben. Darum ist das gesamte Gelände des Staudamms offizielles Grenzgebiet und deswegen muss man als Besucher auch seinen Reisepass mitnehmen. Im Inneren führt sich die Trennung (oder Vereinigung) der beiden Länder dann fort – bis hin zum Kontrollzentrum. Dort gibt es eine brasilianische und eine paraguayische Seite und beide werden durch eine Linie im Boden voneinander getrennt. Alle acht Stunden wechselt die Kontrolle von der einen auf die andere Seite. Als Besucher kann man einfach zwischen den beiden Ländern hin und her springen. Mich haben Grenzen schon immer fasziniert und mich faszinieren sie vor allem dann, wenn sie so kurios sind wie diese hier. Grenzen trennen Wertegemeinschaften ab. Grenzen trennen Gesetzsysteme voneinander ab. Was an einem Ort gilt, ist einen Meter weiter plötzlich ganz anders. Darum wird auch immer ein Riesen-Gewese um Grenzen gemacht. Darum ist es meistens kompliziert, sie zu übertreten. Darum sollte man sich immer Gedanken darüber machen, was auf der einen Seite gilt und auf der anderen nicht. So ist das mit den meisten Grenzen. Und dann gibt es Grenzen wie diese hier. Grenzen, bei denen man mitten in einem Raum mit dem linken Fuß in Brasilien und mit dem rechten in Paraguay stehen kann. Die Welt ist manchmal verrückt.

Diese Lösung war übrigens nötig, damit beide Länder dem Bau zustimmen konnten und sich nicht darauf einigen mussten, ob der Staudamm nun ein brasilianisches oder ein paraguayisches Unternehmen sein sollte. Außerdem gab es – Gerüchten zufolge – auch die Sorge, dass bei einem politischen Umsturz das Unternehmen einfach verstaatlicht werden könnte. Also entschied man sich dafür, ein staatsunabhängiges Unternehmen zu erschaffen, an dem beide Nationen Anteile halten, dem beide Nationen Strom abkaufen und das sich ansonsten aber selbst tragen und managen muss. Mit eigener Landesgrenze.

Der Staudamm selbst ist nicht weniger faszinierend als dieses Grenzspiel. Der Damm hat insgesamt 20 Turbinen. Also 20 dicke Rohre, durch die Wasser fällt. Und wenn man alles Wasser nimmt, was pro Sekunde die kompletten Iguazú-Fälle runterrauscht, dann würde das in gerade mal zwei dieser Rohre passen. Durch die 20 Rohre um mich herum fallen also pro Sekunde 10 Iguazú-Wasserfälle.

So viel Wasser produziert natürlich eine Menge Strom. Bis zur vollständigen Inbetriebnahme des Drei-Schluchten-Damms in China war dieses Ding für fast 30 Jahre das leistungsstärkste Wasserkraftwerk der Welt. Und das zu Recht. Denn die Stromproduktion des Damms deckt fast den kompletten Strombedarf von Paraguay (zwischen 75 und 90%, je nachdem, wen man fragt) und ein knappes Sechstel des Gesamtenergiebedarfes von Brasilien. Als es 2009 eine Störung an diesem Wasserkraftwerk gab, fiel der Strom in Rio de Janeiro UND Sao Paulo aus.

Natürlich gibt es aber auch kritische Stimmen – wie ja auch beim Drei-Schluchten-Damm in China. Für den Bau beider Dämme mussten Völker umgesiedelt und Ländereien aufgegeben werden. Das ist hart für die Menschen, die es betrifft. Aber dafür produzieren Paraguay und Brasilien jetzt einen großen Teil ihres Stroms nicht aus Kohle, Gas oder Atomkraft, sondern über Wasserkraft und damit ziemlich klimaneutral. Wie bei mir im Kleinen mit dem Insektenspray, ist es auch hier ein Dilemma der Entscheidung: es gibt ganz selten komplett richtige oder falsche Entscheidungen. Jede Entscheidung hat Konsequenzen. Jede Entscheidung hat Vorbedingungen. Viele Entscheidungen hängen mit viel mehr zusammen als man im ersten Moment denken mag. Und kaum eine Entscheidung ist so einfach, wie man sie manchmal gerne machen möchte. Ein Klimaschützer mag den Itaipú feiern. Ein vertriebener Guarani-Indianer wird das wahrscheinlich anders sehen.

Mit den Lehren vom Zwei-Länder-Damm im Gepäck geht es nun weiter nach Argentinien. Glücklicherweise hat mich der Typ im Hostel darüber aufgeklärt, dass man niemals den letzten Bus über die Grenze nehmen sollte, sondern immer mindestens den Vorletzten. Und zwar weil der Grenzübergang tückisch ist. Der Bus hält an der brasilianischen Seite der Grenze an und schmeißt alle Fahrgäste raus. Die müssen sich dann ihren Pass zur Ausreise abstempeln lassen. Das dauert aber meistens so lange, dass der Bus keine Lust hat, auf die Grenzgänger zu warten und einfach ohne sie weiterfährt. Dann muss man eine halbe Stunde auf den nächsten Bus warten. Fährt man also mit dem letzten Bus des Tages, dann kann es einem passieren, dass man Pech hat und an der Ausreisegrenze strandet. Bis dann der erste Bus am nächsten Morgen kommt.

Wenn man das weiß, ist das aber natürlich kein Problem. Dann geht’s entspannt raus aus dem Bus, rein ins Ausreisehäuschen, man schaut dem Bus beim Wegfahren zu und sitzt eine halbe Stunde an der Grenze rum, bis der nächste Bus kommt. Währenddessen kann man mit dem Grenzposten ein bisschen das radebrechende Spanisch schleifen und dabei wenig sagen, aber viel lachen.

Der nächste Bus bringt mich dann zum nächsten Grenzposten. Der eine war für die Ausreise aus Brasilien, aber eingereist nach Argentinien sind wir ja noch nicht. Dort hält unser Bus also wieder, wir steigen alle aus, gehen ins Einreisehäuschen, bekommen unseren Stempel, lassen unser Gepäck scannen, stellen fest, dass das deutlich länger dauert als das Ausreisen, gehen wieder nach draußen, suchen nach dem Bus und: finden ihn! Denn hier scheint er zu warten, bis wir alle abgefertigt sind. Muss man jetzt auch nicht verstehen. Aber manchmal darf man das ja auch einfach mal annehmen.

Genauso wie man die schönen Zufälle des Lebens manchmal einfach so annehmen darf. Zufälle wie Aleks.

Aleks

Bei meiner Ankunft im Hostel auf der argentinischen Seite ist es früher Abend. Die Sonne macht immer noch ganz gut warm und ich trinke ein kaltes Bier im gemütlichen Garten des Hostels. Und schreibe einen Brief. An mich selbst. Weil ich an jeder Station festhalten will, was ich erlebt habe. Und mir dann diese Briefe von überall aus der Welt nach Hause schicke. Und so hoffentlich für immer eine Erinnerung daran haben werde, was ich auf dieser Reise so alles erlebt habe.

Das gesamte Hostel-Areal ist menschenleer. Ich sitze allein im Garten und als es dunkel wird, entscheide ich, dass ich mir was zu essen suchen sollte. Vielleicht lerne ich ja irgendwo in der Stadt noch jemanden kennen, mit dem ich mich ein wenig unterhalten kann.

Ich gehe in mein Zimmer – ein Vierer-Dorm, das aktuell mir allein gehört. Außer mir ist also niemand da. Ich packe aus, ziehe mich aus, gehe duschen, mache mich fertig, schaue in den Spiegel und zwinkere mir aufreizend zu. Ich habe gute Laune und das sieht man mir an. Blöderweise sieht das halt nur niemand außer mir.

Ich stecke meine Schlüssel in die Tasche, checke noch mal alles und mache mich auf den Weg in einen einsamen Abend. Dann gehe ich zur Tür, um hinauszutreten und bekomme die Tür im nächsten Moment fast ins Gesicht. Ich mache erschreckt einen Schritt zurück, die Tür geht auf und vor mir steht Aleks. Sie lächelt mich an, ich mache noch einen Schritt zurück und lasse sie eintreten.

Wir unterhalten uns. Fünf Minuten. Dann sage ich, dass ich gerade essen gehen wollte und frage, ob sie mitkommen möchte. Sie möchte. Und sagt, sie hatte schon Sorge, dass sie allein essen müsste. Ich auch, sage ich, und wir freuen uns über die lustigen Zufälle, die das Schicksal manchmal für uns bereithält.

Bei meiner Anreise hatte mir die Rezeptionistin ein Restaurant besonders empfohlen und mir auch gleich einen Gutschein für zwei Gläser Wein mitgegeben. Als ob sie gewusst hätte, dass ich noch eine Begleitung finden würde. Wir schlendern dorthin und lassen es uns gut gehen. Wir unterhalten uns über alles Mögliche und alles an diesem Abend wirkt wie ein erstes Date aus dem Bilderbuch. Wir erzählen uns Geschichten aus unserem Leben, machen Witze und Sprüche, stoßen häufig darauf an, dass wir uns gefunden haben, schauen uns immer wieder ein bisschen verliebt in die Augen und haben einen großartigen Abend.

Nach dem Essen laufen wir ziellos durch die Innenstadt. Und suchen nach einem Laden, in dem wir ein letztes Glas Wein miteinander trinken können. Unser Gespräch ebbt nie ab, es gibt immer etwas Neues zu erzählen. Wir lachen viel. Wir fühlen uns wohl miteinander. Langsam ertappe ich mich beim Gedanken, dass es gar nicht so schlecht sein muss, dass wir das Zimmer ganz für uns allein haben.

Wir gehen zurück zur Anlage, haben aber beide keine Lust, unser Zimmer in Beschlag zu nehmen. Dafür ist die Nacht zu lau und der Sternenhimmel zu schön. Ich überrede die Rezeptionistin, uns noch zwei Dosen Bier zu geben, obwohl sie eigentlich schon geschlossen hat und wir legen uns auf zwei Liegen am Pool. Und unterhalten uns weiter, während wir die Sterne beobachten. Und sprechen über die Sterne. Was es da oben alles so gibt und wie weit das alles ist und was man halt so bespricht, wenn man in den Sternenhimmel schaut und Alkohol trinkt und vielleicht auch ein klein wenig aufgeregt vor dem ist, was wahrscheinlich als Nächstes kommen wird.