Wie Kinder keine Arschlöcher werden - Melinda Wenner-Moyer - E-Book
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Wie Kinder keine Arschlöcher werden E-Book

Melinda Wenner-Moyer

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Beschreibung

"Wie Kinder keine Arschlöcher werden" ist ein wissenschaftlich fundierter Leitfaden, der Eltern darin unterstützt, ihre Kinder zu großartigen Erwachsenen zu erziehen.  Vom Kleinkindalter bis in die Teenagerjahre skizziert die preisgekrönte Wissenschaftsjournalistin Melinda Wenner Moyer bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen, die es zu fördern gilt und zeigt evidenzbasierte Strategien, Kindern diese Eigenschaften zu vermitteln. Eltern erfahren, wie ihre Kinder nicht übermäßig selbstbezogen und narzisstisch werden, wie sie Tendenzen zu Mobbing und Lügen unterbinden, Rassismus und Sexismus im Keim ersticken und stattdessen Resilienz, ein gesundes Selbstvertrauen sowie ein gutes Verhältnis zum eigenen Körper fördern.

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Seitenzahl: 437

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Impressum

© eBook: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2022 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

GU ist eine eingetragene Marke der GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, www.gu.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung durch Bild, Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Projektleitung: Nikola Teusianu

Lektorat: Franziska Sorgenfrei

Covergestaltung: ki 36 Editorial Design, München, Petra Schmidt

eBook-Herstellung: Vicki Braun

ISBN 978-3-8338-8636-2

1. Auflage 2022

Bildnachweis

Coverabbildung: Getty Images (MirageC)

Fotos: Autorinnenfoto: Gabrielle Gerard

Syndication: www.seasons.agency

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Wichtiger Hinweis

Die Gedanken, Methoden und Anregungen in diesem Buch stellen die Meinung bzw. Erfahrung der Verfasserin dar. Sie wurden von der Autorin nach bestem Wissen erstellt und mit größtmöglicher Sorgfalt geprüft. Sie bieten jedoch keinen Ersatz für persönlichen kompetenten medizinischen Rat. Jede Leserin, jeder Leser ist für das eigene Tun und Lassen auch weiterhin selbst verantwortlich. Weder Autorin noch Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch gegebenen praktischen Hinweisen resultieren, eine Haftung übernehmen.

In den sozialen Netzwerken, in den Medien, manchmal auch im eigenen Freundeskreis wird Kindern zunehmend gespiegelt, dass es in Ordnung ist, egoistisch und selbstbezogen, vulgär, manchmal sogar regelrecht grausam zu sein. Gleichzeitig formen Instagram und Co. ein Körperbild, das im besten Fall als unrealistisch, im schlimmsten als krankhaft einzustufen ist. Das noch fragile Selbstverständnis wird von Anfang an beeinflusst durch Konsumwelten voller Hellblau und Pink, durch mehr oder weniger subtile Botschaften, was Jungs machen müssen und Mädchen keinesfalls dürfen.

Als preisgekrönte Wissenschaftsjournalistin wird Melinda Wenner Moyer in ihrer Elternkolumne in der New York Times regelmäßig um alle Arten von Erziehungsratschlägen gebeten: wie man Kinder dabei unterstützt, trocken zu werden, wann und ob man Brei verfüttern sollte und wie man Kinder am besten beim Einschlafen begleitet. Als Melindas eigene Kinder heranwuchsen, stellte sie fest, dass der gängige Erziehungsdiskurs einen blinden Fleck aufwies – wenn es nämlich darum ging, sicherzustellen, dass die eigenen Kinder nicht zu Narzissten, Rassisten, kleinen Machos und großen Prinzessinnen wurden.

In ihrem Buch begleitet sie Eltern mit studienbasierten Anleitungen dabei, ihre Kinder zu freundlichen, mitfühlenden und wirklich selbstbewussten Menschen zu erziehen.

EINLEITUNG

MEINE FREUNDIN MILLIE erinnert sich noch heute an einen Vorfall vor drei Jahren, als ihr damals fünfjähriger Sohn etwas unverhohlen Rassistisches sagte. Damals machte sie mit ihrer Familie Urlaub in Florida, und nach einer Woche intensiver gemeinsamer Zeit hatten sie eine Babysitterin engagiert, um als Eltern einen Abend ausgehen zu können. Diese war Afroamerikanerin.

Am nächsten Tag fragte Millie ihren Sohn, ob er Spaß mit seiner Babysitterin gehabt hatte. »Nein, ich mochte sie nicht«, antwortete er. Als Millie nachfragte, warum, sagte ihr Sohn ganz nüchtern: »Weil sie schwarze Haut hatte.«

Millie war beschämt und wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie und ihr Mann hatten gedacht, sie würden ihre Kinder zu respektvollen und vorurteilsfreien Menschen erziehen, aber plötzlich waren sie sich nicht mehr so sicher. Und sie hatten keine Ahnung, was sie denn anders machen sollten.

Die allermeisten Eltern – mich eingeschlossen – möchten, dass ihre Kinder zu freundlichen Zeitgenossen heranwachsen. Im Jahr 2020 befragte die Zeitschrift Parents mehr als zwölfhundert Eltern im ganzen Land, was sie sich am meisten für ihre Kinder wünschen. Bei dieser Umfrage gaben 73 Prozent der Mütter und 68 Prozent der Väter an, dass Liebenswürdigkeit die wichtigste Eigenschaft sei, die sie ihren Kindern mit auf den Weg geben wollten. Diese Eigenschaft hatte für sie einen noch höheren Stellenwert als Intelligenz, Individualität und gute Arbeitsmoral. In ähnlicher Weise befragte Sesame Workshop, die gemeinnützige Organisation hinter der Sesamstraße, 2016 mehr als zweitausend amerikanische Eltern von Kindern im Alter von drei bis zwölf Jahren sowie fünfhundert Grundschullehrer. Etwa drei Viertel der Eltern und Lehrerinnen meinten, es sei wichtiger, dass Kinder gutherzig sind, als dass sie gute Noten haben.

In der oben erwähnten Umfrage von Parents vertraten 76 Prozent der Mütter und 58 Prozent der Väter die Meinung, die Kinder von heute seien nicht mehr so nett wie die Kinder früher. Die Eltern in der »Sesame Workshop«-Umfrage sahen das ähnlich: 67 Prozent empfanden die meisten Kinder heutzutage als respektlos und 43 Prozent fanden darüber hinaus, dass auch ihre eigenen Kinder nicht sehr rücksichtsvoll seien. Viele Eltern würden das Gute in ihren Kindern gerne bewusst fördern, wissen aber nicht so recht, wie sie das anstellen sollen.

In den letzten neun Jahren habe ich meinen Hintergrund als Wissenschaftsjournalistin genutzt, um mich über die aktuelle Forschung zur Kindesentwicklung und -erziehung zu informieren. Ich schreibe regelmäßig Elternkolumnen für das Onlinemagazin Slate und habe schon Dutzende von Artikeln zum Thema Erziehung für die New York Times verfasst. Zu diesem Zweck beschäftige ich mich mit wissenschaftlichen Publikationen zu komplizierten Erziehungsfragen, gehe sie mit Experten durch und übersetze sie in einfache Erziehungsratschläge – Ratschläge, die von wissenschaftlichen Erkenntnissen untermauert werden. Bei dieser Arbeit war ich oft überrascht, und manchmal sogar schockiert darüber, was die Wissenschaft den Eltern empfiehlt … und wie sehr sich diese sachkundigen Anleitungen von dem unterschieden, was ich vorher angenommen hatte.

Nehmen Sie zum Beispiel das Thema Rassismus, das nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd, Breonna Taylor und anderen Schwarzen im Jahr 2020 für viele Eltern zu einem drängenden Problem wurde. Während Schwarze Personen in den USA regelmäßig mit ihren Kindern über das Thema race sprechen – es bleibt ihnen gar keine andere Wahl –, vermeiden die meisten weißen Eltern, darunter auch meine Freundin Millie, das Thema, in dem wohlmeinenden Versuch, ihre Kinder »farbenblind« zu erziehen. Wenn sie die unterschiedlichen Ethnien nicht erwähnten, so denken diese Eltern, werden ihre Kinder sie vielleicht gar nicht bemerken. Die Forschung zeigt jedoch eindeutig, dass Kinder Ethnien wahrnehmen – und dass sie, wenn ihnen kein Rahmen zur Verfügung gestellt wird, in dem sie sich einen Reim darauf machen können, vorschnelle Rückschlüsse ziehen. Sie sehen, dass Weiße tendenziell mehr Macht und Reichtum haben als andere Menschen, und dann nehmen sie an, dies liege daran, dass Erstere irgendwie besser oder klüger seien.

In einem Interview mit der Grundschullehrerin Naomi O’Brien, der Mitautorin einer Reihe von Elternratgebern zum Thema Rassismus, erzählte sie, sie erlebe regelmäßig, wie weiße Schulkinder rassistische Dinge sagen und tun (wie etwa, indem sie mit einem Mitschüler wegen seiner »schmutzigen Haut« nicht spielen wollen), ohne dass ihre Eltern ihnen solche Vorurteile vermittelt hätten. Erschwerend kommt hinzu, dass weiße Kinder, wenn sie versuchen, mit ihren Eltern über das Thema der unterschiedlichen Hautfarben zu sprechen, laut O’Brien »zum Schweigen gebracht werden und ihnen gesagt wird, darüber rede man nicht; sie verinnerlichen dann, dass das Thema Hautfarbe ein Tabu ist«. Durch wissenschaftliche Forschungen ist jedoch klar belegt, dass weiße Eltern mit ihren Kindern explizit über die Existenz ethnischer Gruppen sprechen müssen, um das Entstehen rassistischer Vorurteile zu verhindern.

Ohne es zu wollen oder sich dessen bewusst zu sein befeuern Eltern oft auch sexistische Vorstellungen, indem sie Mädchen andere Botschaften vermitteln als Jungen – Botschaften, die die oftmals frauenfeindlichen Tendenzen unserer Gesellschaft spiegeln. Beispielsweise, dass das Aussehen für Mädchen viel wichtiger sei als für Jungen. Letzteren wird wiederum beigebracht, sie dürften nicht weinen oder Angst haben. Und wenn wir den uralten Ratschlag befolgen, unsere Kinder den Streit unter Geschwistern selbst austragen zu lassen, verschlimmern wir die Rivalität unter ihnen eher noch und bringen sie möglicherweise zu der Überzeugung, Mobbing und Zwang seien geeignete Wege, um Konflikte zu lösen.

Manchmal bestätigt die Forschung unsere tief verwurzelten Erziehungsinstinkte, aber manchmal widerspricht sie ihnen auch auf faszinierende, zum Nachdenken anregende Weise – das ist einer der Gründe, warum ich beschlossen habe, dieses Buch zu schreiben. Ich wollte all die verblüffenden wissenschaftlichen Erkenntnisse teilen, die Eltern darin unterstützen können, ihre Kinder zu wunderbaren Erwachsenen großzuziehen.

SO VIELE ARSCHLÖCHER

Ich bin der festen Überzeugung, dass unsere Arbeit als Eltern heute wichtiger denn je ist. Die Welt sendet unseren Kindern gefährliche Botschaften darüber, wie sie sich verhalten und einander behandeln sollen: Diese Botschaften müssen wir dringend hinterfragen und ihnen entgegenwirken.

Bevor ich das weiter ausführe, möchte ich zunächst noch anmerken, dass sich Kinder meiner Ansicht nach manchmal durchaus wie Arschlöcher verhalten sollen. Sie müssen Grenzen infrage stellen, um sie zu verstehen, und sie müssen soziale Patzer machen, um daraus zu lernen. Ich bin dazu übergegangen, peinliche Momente als Lernmöglichkeiten für die Kinder zu betrachten – oder besser noch, als Weckrufe, die uns zeigen, woran wir als Familie arbeiten müssen.

Leider werden Eltern in der heutigen Zeit mit solchen Weckrufen förmlich bombardiert, denn es gibt zunehmend Vorfälle, bei denen sich Menschen ziemlich schlecht benehmen. So berichteten im Herbst 2018 Lehrer und Mitarbeiterinnen von Schulen für alle Altersstufen dem Southern Poverty Law Center [eine US-amerikanische Bürgerrechtsorganisation zur Bekämpfung von Rassismus], dass sie in den Monaten zuvor mehr als 3200 hassbezogene Vorfälle beobachtet hatten. In Monroe, Louisiana, wurde zum Beispiel ein Schüler verhaftet, weil er einem dunkelhäutigen Mitschüler eine Schlinge um den Hals gelegt hatte.

Und es scheint noch schlimmer zu werden. Von 2015 bis 2018 ist die Zahl der Hassverbrechen in den Vereinigten Staaten laut FBI um 21 Prozent gestiegen. Viele dieser Vorfälle wurden von Erwachsenen verübt, aber auch Kinder waren daran beteiligt. Das Mobbing scheint ebenfalls zu eskalieren. In den Jahren 2016 und 2017 befragte die Human Rights Campaign [eine der der größten LGBTQ+-Organisationen in den USA] mehr als fünfzigtausend dreizehn- bis achtzehnjährige Jugendliche, und 79 Prozent von ihnen waren der Meinung, Mobbingvorfälle seien in ihrer Schule schlimmer geworden. Als im Sommer 2017 Forschende der University of California, Los Angeles, 1535 Highschool-Lehrer befragten, gaben fast 30 Prozent an, dass ihre Schülerinnen mehr abfällige Bemerkungen über ihre Altersgenossen machten als im Vorjahr.

Dieser wachsende Mangel an Mitgefühl kann viele Ursachen haben. Eine Theorie ist, dass er zumindest teilweise durch den Aufstieg von Donald Trump angeheizt wurde. Der Gedanke, politische Persönlichkeiten könnten sogar Kinder beeinflussen, mag weit hergeholt erscheinen. Aber Trumps Rhetorik – zu der Lügen, Verharmlosung sexueller Übergriffe, Verspottung von Behinderten und die Bezeichnung von Ländern mit mehrheitlich Schwarzer Bevölkerung als shit hole countries (Dreckslochländer) gehören – war jahrelang überall im Fernsehen und im Internet zu hören und durchdrang so manches Gespräch beim Abendessen. Sie hat sich möglicherweise direkt auf unsere Kinder ausgewirkt.

Es gibt sogar Hinweise darauf, dass Unterstützung für Trump und Mobbingverhalten zusammenhängen. Im Rahmen einer im Januar 2019 veröffentlichten Studie untersuchten die Schulpsychologen Dewey Cornell und Francis Huang Hänseleien und Schikanen in Mittelschulen in Virginia vor und nach der Präsidentschaftswahl 2016. Vor der Wahl war die Quote der registrierten Vorfälle in allen Schulen des Bundestaates in etwa gleich. Danach gab es in den Trump-freundlichen Bezirken 18 Prozent mehr Mobbing als an Schulen in den Bezirken, in denen mehrheitlich die Demokraten gewählt wurden. (Es ist auch wichtig anzumerken, dass diese Ergebnisse auf einen in den Jahren zuvor dokumentierten Rückgang von Mobbing in Schulen folgten. In einer 2017 in der Fachzeitschrift Pediatrics veröffentlichten Studie wurde festgestellt, dass von 2005 bis 2014 das Mobbing unter Viert- bis Zwölftklässlern immer mehr abgenommen hatte).

Im November 2016 stellte das Southern Poverty Law Center eine Liste von 867 Hassvorfällen zusammen, die sich in den zehn Tagen nach der Präsidentschaftswahl 2016 ereignet hatten. Viele davon betrafen Kinder. Eine Lehrerin im Bundesstaat Washington berichtete, dass Schulkinder am Tag nach der Wahl in der Cafeteria ihrer Schule »Baut eine Mauer« [an der Grenze zu Mexiko] skandierten; sie hörte auch, wie ein Schüler zu einem anderen sagte: »Wenn du nicht hier geboren bist, pack deine Sachen.« In Greenville, South Carolina, wurde eine Zwölfjährige von acht Mitschülerinnen umringt, die ihr sagten, sie könnten es kaum erwarten, dass ihr »hässliches Gesicht ausgewiesen« wird, während in Cedar Falls, Iowa, eine Sechzehnjährige den weiteren Schulbesuch verweigerte, nachdem Mitschüler sie als Lesbe beschimpft und ihr gedroht hatten, ihre »Muschi zu bearbeiten«. Die Jugendliche hatte sich vier Jahre zuvor als homosexuell geoutet, und nach Angaben ihrer Eltern war sie vorher noch nie auf diese Weise belästigt worden. »Aber plötzlich, seit dem neunten [November]«, sagte ein Elternteil, »ist sie eine Zielscheibe.«

In einer 2019 im Journal of Child Psychotherapy veröffentlichten Arbeit beklagten fünf US-Kinderpsychologen, dass viele ihrer jungen, verletzlichen Patientinnen aufgrund der Grausamkeit und Unterdrückung, die sie täglich erleben, verängstigter denn je seien. »Seit den Wahlen 2016 scheinen sich die Ängste der Kinder, die einst nur mit ihrem unmittelbaren Umfeld (Schule, die Gemeinde und das Zuhause) zu tun hatten, ausgeweitet zu haben«, schrieben sie. Eine kleine Patientin tat während einer Therapiesitzung so, als würde sie die Koffer ihrer Puppe packen, und sagte: »Wir ziehen nach Kanada. Dort ist es sicher und wir können Spanisch sprechen und niemand wird uns deshalb hassen.«

Fairerweise muss man sagen, dass diese Beschreibungen nicht auf kontrollierten Studien fußen, und es ist schwer zu sagen, ob Hassreden und Mobbing nicht auch sonst zugenommen hätten, unabhängig vom Bewohner des Weißen Hauses. Möglicherweise sind sie eher ein Symptom allgemeiner sozialer Muster als ein Beweis für einen spezifischen politischen Wandel. Aber Kinder lernen von schlechten Beispielen. Nach einer in der Psychologie weithin anerkannten Theorie, der Sozialkognitiven Lerntheorie, die in den 1960er-Jahren von dem Stanford-Psychologen Albert Bandura entwickelt wurde, beobachten Kinder das Verhalten der Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung und von anderen menschlichen Vorbildern und imitieren es (Nachahmungslernen). Am ehesten eifern sie Menschen mit einem hohen Status nach, und dazu gehört natürlich auch der Präsident.

In einem bekannten Experiment von Bandura und seinem Forschungsteam wurden Drei- bis Sechsjährige einzeln in einen Raum geführt, in dem sie einem Erwachsenen beim Spielen zusahen. Bei einigen Kindern spielte dieser Erwachsene in aller Ruhe vor sich hin, bei anderen dagegen malträtierte er eine Puppe, warf sie zu Boden und beschimpfte sie. Dann wurde das Kind in einen anderen Raum geführt und einem Frustrationserlebnis ausgesetzt: Nachdem es ein paar Minuten mit coolen neuen Spielsachen spielen durfte, wurden ihm diese wieder weggenommen. Es kehrte in den ursprünglichen Raum zurück und konnte dort zwanzig Minuten lang mit anderem Kinderspielzeug, einschließlich der erwähnten Puppe, spielen.

Die Kinder, die gesehen hatten, wie ein Erwachsener der Puppe Schaden zufügte, zeigten viel häufiger aggressives Verhalten gegenüber der Puppe als die anderen Kinder; ihre Bereitschaft zur Aggressivität war deutlich ausgeprägter.

Dieses Experiment spielt sich in den USA gerade in großem Maßstab ab: Die Mächtigen sind die Erwachsenen, die allen zeigen, dass Rassismus, Sexismus, Mobbing und Aggression nicht nur in Ordnung sind, sondern von den maßgebenden Persönlichkeiten auch praktiziert werden. Infolgedessen haben sich das Verhalten und die Werte junger Menschen in besorgniserregender Weise verändert. Gemäß einer Studie sind Oberstufenschüler weniger empathisch als noch vor einem Jahrzehnt – sie haben wenig Mitgefühl für Menschen, die schlechter dran sind als sie, und versuchen kaum, sich in andere hineinzuversetzen. Als eine Highschool-Lehrerin hörte, dass ich dieses Buch schreibe, fasste sie ihre Gedanken über die heutigen Jugendlichen so zusammen: »So viele Arschlöcher.«

EINE BESSERE ZUKUNFT

Wenn Sie jetzt am liebsten die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und sich in Wein ertränken würden, verstehe ich das. Diese Phase habe ich auch durchgemacht. Inzwischen aber sehe ich das alles eher als einen Aufruf zum Handeln. Wie alle Eltern möchte ich vor allem, dass meine Kinder glücklich sind und sich geliebt fühlen. Doch während ich beobachte, wie sich in unserem Land zunehmend Unmenschlichkeit breitmacht, wünscht sich ein wachsender Teil von mir noch etwas anderes für meine Kinder: Ich möchte, dass sie gutherzig sind und andere Menschen mit Respekt behandeln. Früher habe ich nicht aktiv darüber nachgedacht, aber nun erscheint es mir dringend und wichtig.

Das Tolle ist: Wenn wir als Eltern einen Erziehungsschwerpunkt darauf legen, die Kinder zu Freundlichkeit und Güte anzuhalten, können wir die zunehmende Grausamkeit in der Welt wenigstens eindämmen. Wir ziehen schließlich zukünftige Anwältinnen, Politiker, Geschäftsleute, Kunstschaffende, Gesundheitsfachkräfte und so weiter groß. Natürlich formen wir unsere Kinder nicht aus Lehm. Viele Aspekte in ihrem Leben – Altersgenossen, Lehrerinnen, Gene, die Erfahrungen, die sie machen und die wir nicht kontrollieren können – prägen ihren Werdegang. Aber wir haben trotzdem noch beträchtliche Einwirkungsmöglichkeiten darauf, welchen Weg unsere Kinder im Leben einschlagen. Im Rahmen einer Studie aus dem Jahr 2019 haben Forschende fast 450 Kinder drei Jahre lang begleitet, um herauszufinden, welche Faktoren den Charakter und die Werte der Kinder am stärksten prägen. Sie fanden heraus, dass Gleichaltrige zwar einen Einfluss haben, vor allem beim Übergang in die Pubertät, dass aber die Eltern »eine Schlüsselrolle bei der persönlichen und sozialen Entwicklung ihrer Sprösslinge spielen«.

Sollten Sie befürchten, dass die Erziehung Ihrer Kinder zu höflichem und aufmerksamem Verhalten sie weniger glücklich oder erfolgreich macht, können Sie ganz beruhigt sein. Die Forschung zeigt immer wieder, dass Menschen (auch Kinder), die liebenswürdig und großmütig sind, sich glücklich fühlen. Und in einer 2019 durchgeführten Analyse von Daten aus dreißig Jahren, bei der der wirtschaftliche Status der Familie und der IQ der Kinder berücksichtigt wurden, zeigte sich, dass Jungen, die im Kindergarten besonders freundlich zu den anderen waren, als Erwachsene deutlich mehr Geld verdienten. Adam Grant, Organisationspsychologe an der Wharton School of Business, argumentiert in seinem forschungsbasierten Buch Geben und Nehmen: Warum Egoisten nicht immer gewinnen, Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft seien vielfach Eigenschaften, die die Erfolgreichen von den bloß Durchschnittlichen unterschieden.

Indem wir unsere Kinder zu netten Menschen erziehen, sorgen wir also dafür, dass sie erfolgreich sind. Und sie werden dabei eine bessere, gerechtere und stabilere Welt aufbauen.

MEINE ZIELE UND HOFFNUNGEN

Ich will ehrlich sein und zugeben, dass mir die Idee, einen Erziehungsratgeber zu schreiben, anfangs nicht behagte. Die ganze Prämisse kam mir irgendwie anstößig vor. Wer war ich, dass ich anderen Eltern sagen konnte, was sie tun sollten? Es ist ja nicht so, dass ich eine auch nur annähernd perfekte Mutter bin, und wenn Sie glauben, ich hätte perfekte Kinder, können Sie gerne am Wochenende vorbeikommen. Ich stelle mir Kindererziehung als ein Puzzle mit 100 000 Teilen vor, das Sie versuchen zusammenzusetzen, während Sie gleichzeitig Auto fahren, das Abendessen zubereiten und dafür sorgen, dass sich Ihre lieben Kleinen nicht gegenseitig an die Gurgel gehen.

Aber dann änderte ich meine Meinung doch. Was ich als Journalistin über die Charakterforschung lernte, veränderte meinen täglichen Umgang mit meinen Kindern – die Themen, die ich in unsere Gespräche einbrachte, die Art der Fragen, die ich ihnen stellte, wie ich auf ihre Gefühle und ihre Erklärungen reagierte. Langsam wurde mein Erziehungsstil von einem subtilen Bewusstsein für die kleinen Dinge durchdrungen, die ich tun konnte, damit meine Kinder lernten, empathisch und freundlich zu sein. Und ich begann, Veränderungen in ihrem Verhalten zu bemerken. Meine Kinder fingen an, sich etwas weniger zu streiten. Sie waren besser in der Lage, ihre Gefühle wahrzunehmen und damit umzugehen. Sie schienen widerstandsfähiger zu sein. Wenn mein neu gewonnenes Wissen mir half, mit bestimmten Situationen anders umzugehen – und meinen Kindern, bessere Menschen zu werden –, sollten dann nicht auch andere Eltern von meinen Erkenntnissen profitieren können?

Wie Sie sehen, habe ich das Buch dann tatsächlich geschrieben, und jetzt ist es an Ihnen, es zu lesen. Ich habe die Informationen für Sie folgendermaßen gegliedert. In Teil 1 gehe ich darauf ein, was die Wissenschaft über die Ausprägung bestimmter Eigenschaften sagt. Wie fördert man Großzügigkeit, Ehrlichkeit, Freundlichkeit, Ehrgeiz und Widerstandsfähigkeit? Wie kann man Unhöflichkeit, Anspruchsdenken, Arroganz, Sexismus und Rassismus ausmerzen? (Ein Hinweis zur Warnung: Einige der Themen und Szenarien, die ich erörtere, könnten schwer verdaulich sein, falls Sie selbst Diskriminierung oder andere seelische Verletzungen erlebt haben.) In jedem Kapitel stelle ich einfache, faktengestützte Ansätze vor, die Sie täglich mit Kindern verschiedener Altersgruppen anwenden können, um gute Charaktereigenschaften zu fördern und schlechte auszumustern. In Teil 2 stelle ich wissenschaftlich fundierte Strategien vor, die Ihnen helfen, besonders schwierige Situationen zu handhaben: Was sollten Sie tun, wenn Ihre Kinder streiten? Wie gehen Sie mit Technologie und sozialen Medien um? Am Ende des Buches finden Sie alle von mir im Text erwähnten Studien aufgelistet, falls Sie sie selbst nachlesen möchten.

Auf keinen Fall soll dieses Buch ein weiterer Grund für Sie sein, sich selbst zu verurteilen. Die Eltern von heute müssen schon viel zu viel Kritik einstecken – wir ruinieren unsere Kinder, weil wir Schneepflug- oder Helikoptereltern sind oder »Intensive Parenting« oder eine von 843 anderen Arten von angeblich falschen Erziehungsstilen praktizieren, die ich nicht wirklich verstehe. Der Kinderarzt Leonard Sax hat 2015 ein Buch mit dem Titel The Collapse of Parenting (übersetzt: Das Scheitern der Erziehung) geschrieben, das ich für Slate gelesen habe, und ich kann seine Argumente nicht wirklich nachvollziehen. Ich glaube nicht, dass Kinder heute mit moralischen Problemen zu kämpfen haben, weil wir einen schlechteren Job machen als unsere Eltern. Ich glaube jedoch, dass viele der Vorbilder, von denen Kinder heute lernen, gefährlich sind und wir als Eltern alles in unserer Macht Stehende tun müssen, um gegen die schädlichen Botschaften vorzugehen, die sie vermitteln.

Mit meinen Ratschlägen möchte ich keinerlei Druck ausüben und Ihnen nicht noch mehr Pflichten auferlegen, als Sie sie ohnehin schon haben. Eltern, vor allem Mütter, sind heutzutage stark eingespannt. Während ich dies niederschreibe, müssen wir alle unsere Kinder aufgrund einer Pandemie zu Hause und in Sicherheit halten, gleichzeitig arbeiten und die üblichen alltäglichen Verrichtungen erledigen. Wir würden gar nichts Weiteres in unserem Tagesrhythmus unterbringen, und wenn wir es doch versuchen, endet das möglicherweise im Chaos. (In der Zeit, als das Buchmanuskript entstand, war ich ziemlich gestresst und keine sehr geduldige oder einfühlsame Mutter. Ironie des Schicksals: Ich verbrachte so viel Zeit damit, über Kindererziehung und Elternschaft zu recherchieren und zu schreiben, dass ich selbst nicht wirklich ein effektiver Elternteil sein konnte.)

Ich hoffe also, dass dieses Buch Ihnen nicht noch mehr Arbeit aufbürdet, sondern Ihnen ein paar Dinge abnimmt und Sie innerlich stärkt. Ich möchte Ihnen Zeit und Mühe ersparen, indem ich Ihnen die Antworten auf Fragen gebe, die Sie vielleicht schon seit Jahren mit sich herumtragen. Ich möchte Ihnen Wege aufzeigen, wie Sie mit Situationen umgehen können, in denen Sie sich fragen: Was zum Teufel soll ich jetzt tun? Mit meinem wissenschaftlichen Hintergrund habe ich die komplizierte Wissenschaft über die Entwicklung von Kindern in einfache Ratschläge übersetzt, die Sie täglich anwenden können. Dieses Buch soll Ihr Leben als Elternteil ein wenig einfacher und vielleicht auch angenehmer machen.

Allerdings müssen Sie geduldig sein und Sie müssen nachsichtig sein. Die Formung des Charakters eines Kindes braucht Zeit, und die Art und Weise, wie Kinder sich mit der Welt auseinandersetzen, wird auch stark von ihrem Temperament, ihren Hormonen, ihrer Gesundheit und ihrer Lebensgeschichte beeinflusst. Unsere Kinder werden viele Erfahrungen machen, auf die wir keinen Einfluss haben, und die sie in einer Weise prägen, die wir nicht steuern können. Kinder – selbst solche mit einem großen, wunderbaren Herz – können nicht immer edelmütig, mitfühlend und warmherzig sein, und Eltern sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen, wenn es mit den Kindern unvermeidlicherweise auch mal das eine oder andere Problem gibt.

Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass wir lernen können, bessere Eltern zu sein, und dass das, was wir lernen, unseren Kindern direkt zugutekommt. Wenn wir verstehen, wie sich das Gehirn von Kindern entwickelt, warum sie das tun, was sie tun, und wie wir am besten mit ihnen kommunizieren, können wir ihnen die Werkzeuge und Bewältigungsstrategien an die Hand geben, die sie brauchen, um mit allem, was ihnen im Leben begegnet, einfühlsam umzugehen.

Nach dem, was ich gelernt habe, macht vieles einen Unterschied: die Grenzen die wir setzen, die Gespräche, die wir führen, die Verhaltensweisen, auf die wir reagieren – und die, die wir ignorieren. Als Eltern haben wir unendlich viele Möglichkeiten, unseren Kindern Werte zu vermitteln. Je mehr wir diese Gelegenheiten nutzen und je mehr wir wissen, was wirklich funktioniert, desto sicherer können wir sein, dass unsere Kinder zu den Menschen heranwachsen, wie wir sie uns wünschen – zu Menschen, die die Welt wirklich braucht.

TEIL I

EIGENSCHAFTEN

KAPITEL 1

»Es soll sich alles um mich drehen«

So erziehen wir unsere Kinder zu Menschen, die nicht übermäßig selbstbezogenen sind

IM APRIL 2019 fuhr meine Freundin Celia mit ihrer siebenjährigen Tochter Ella vom Einkaufen nach Hause, als ihr Telefon klingelte. Es war Celias Schwiegermutter – Ellas Großmutter – und Celia nahm den Anruf über die Freisprechanlage entgegen. So hörten sie im Auto eine traurige Nachricht: Ellas Urgroßmutter war gerade gestorben.

Ella schien dies jedoch nicht sonderlich zu beeindrucken. Während das Telefongespräch noch andauerte, meldete sie sich vom Rücksitz aus immer wieder mit irgendwelchen trivialen Fragen zu Wort, wie etwa, ob sie später fernsehen dürfe. Irgendwann rief sie dann noch wenig mitfühlend aus: »Wer ist gestorben?!« Celia versuchte, den Lautsprecher auszuschalten, aber wusste nicht, wie; die achtminütige Heimfahrt kam ihr unerträglich lang vor.

Als Celia das Telefonat beendet hatte, fragte Ella unvermittelt, ob sie bei der Beerdigung eine Rede halten könne. Celia fragte sie, was sie denn sagen wolle. Sie dachte, ihre Tochter wolle vielleicht von schönen Erinnerungen erzählen. Ella begann daraufhin mit ihrer Rede, deren Hauptthema war, wie sehr alle Mitleid haben müssten, dass sie ihre Urgroßmutter verloren hatte. Zwischendurch hielt sie kurz inne und fragte: »Wie hieß sie noch mal?«, um dann mit ihrer Rede fortzufahren, die nichts mit ihrer Urgroßmutter und nur mit Ella zu tun hatte.

Seien wir ehrlich: Kinder können unglaublich egozentrisch sein. Sie unterbrechen Sie bei Ihrer Arbeit im Homeoffice, um Ihnen Kackwitze zu erzählen. Sie wollen ihre Lego-Steine nicht teilen – obwohl sie 4,8 Millionen davon haben, die 642 auf dem Küchenboden nicht mitgerechnet. Außerdem haben sie die verblüffende Fähigkeit, sich selbst in den Mittelpunkt jeder Situation zu stellen, selbst wenn dies absolut unangebracht erscheint. Eine andere Freundin von mir erzählte mir kürzlich, dass sich ihre dreijährige Tochter, als ihr Sohn an seinem ersten Geburtstag Päckchen auspackte, neben ihn setzte, in Tränen ausbrach und jammerte: »Wieso bekomme ich keine Geschenke?«

Kinder wollen sich in solchen Situationen im Normalfall nicht bewusst wie kleine Egomanen verhalten. Sie können einfach nicht anders. Bei Kleinkindern und Vorschulkindern ist der Frontallappen, die Gehirnregion, die für Planung, Logik, Argumentation und Selbstkontrolle zuständig ist, noch nicht besonders gut entwickelt. Auch ich werde vielleicht mal eifersüchtig, wenn andere Leute in meiner Anwesenheit tolle Geschenke auspacken, aber ich breche nicht in Tränen aus. Ich habe vielmehr die Kunst des stillen Wütens perfektioniert (wovon mein Mann ein Lied singen kann).

Kleine Kinder haben auch noch nicht die sogenannte Theory of Mind entwickelt – die Fähigkeit, sich in die Lage anderer zu versetzen und deren Perspektive einzunehmen. Sie begreifen noch nicht, wie sich die eigenen Handlungen oder Worte auf andere auswirken könnten. Klein- und Kindergartenkinder leben im Grunde in einer egozentrischen Blase, ohne die Bedürfnisse und Erfahrungen der anderen wahrzunehmen (auch ältere Kinder haben natürlich ihre egoistischen Momente, wie der siebenjährige Neffe einer Freundin, der sich an den Tisch zu einem üppigen Mahl setzte, das seine Großmutter mit viel Liebe für die ganze Familie zubereitet hatte, nur um unverzüglich zu jammern und zu verlangen, dass sie ihm stattdessen Fischstäbchen machen sollte).

Allerdings scheinen manche Kinder selbstbezogener zu sein als andere. Meine beiden Kinder zum Beispiel könnten in dieser Hinsicht nicht unterschiedlicher sein, und ihre Halloween-Körbe sind ein gutes Beispiel dafür. Mein Sohn hortet seine Süßigkeiten und teilt nicht einmal die, die er gar nicht mag. Als ich ihn kürzlich um einen Reese’s Peanut Butter Cup bat, eine Erdnussbutter-Süßigkeit, die er eigentlich verabscheut, antwortete er: »Aber ich hab dir schon vor vier Monaten einen gegeben!« Meine Tochter hingegen verschenkt die meisten ihrer Leckereien – sie wickelt einzelne davon in Seidenpapier ein und gibt sie an Freunde, Lehrerinnen und Bekannte weiter. Wie ist es möglich, dass diese Kinder dasselbe Zuhause und dieselben Eltern haben und trotzdem so verschieden sind? Manchmal weiß ich es ehrlich gesagt auch nicht.

Forscherinnen, die sich mit dem Verhalten von Kindern befassen, sagen jedoch, dass wir als Eltern unabhängig von der grundsätzlichen Neigung eines Kindes zum Egoismus etwas bewirken können. Wir können unsere Kinder Schritt für Schritt, Tag für Tag, mit einfachen Strategien in die richtige Richtung lenken.

DAS MÄRCHEN VOM SCHWÄCHLING

Bevor ich auf diese Strategien näher eingehe, möchte ich ein weitverbreitetes Missverständnis über Freundlichkeit korrigieren. Im März 2019 veröffentlichte die Erziehungs-Website »Fatherly« einen Artikel mit dem Titel »Should Parents Want to Raise Nice Kids? Probably Not« (»Sollten Eltern nette Kinder haben wollen? Wahrscheinlich nicht«). Dieser Artikel des Wissenschaftsautors Joshua A. Krisch begann mit einigen von Krischs elterlichen Bedenken. »Wenn ich meiner Tochter beibringe, andere beim Reden nicht zu unterbrechen, frage ich mich, wie sie lernen soll, wann sie gegen diese Regel verstoßen kann, um einen unausstehlichen Schwätzer zum Schweigen zu bringen«, schrieb er. »Wenn ich meinem Sohn sage, dass er seine Kekse teilen soll, frage ich mich, ob ich ein Kind großziehe, das seine Pausenverpflegung und sein Spielzeug an Schulhofrüpel verschenkt (und ihnen vielleicht noch die Hausaufgaben macht).«

Krischs Argumente sind bedenkenswert. Wenn Sie Ihre Kinder zu Großzügigkeit anhalten, erhöhen Sie dann nicht die Wahrscheinlichkeit, dass sie ausgenutzt werden? Ich möchte auf keinen Fall, dass meine Tochter zu höflich ist, um für sich selbst zu sprechen oder das einzufordern, was ihr rechtmäßig zusteht. Gleichzeitig denke ich, dass solche Bedenken weitgehend übertrieben sind. Rücksichtnahme kann zwar ein gewisses Opfer bedeuten (wer seine Kekse teilt, hat zwangsläufig weniger für sich selbst), aber man muss nicht alles opfern, nicht die Dinge, die man wirklich unbedingt will, die Ideale, für die man steht, oder die persönliche Integrität. Als Elternteil können Sie Ihren Kindern nahelegen, auch an andere zu denken, und ihnen gleichzeitig ein Gefühl für Selbstwert und Kampfgeist vermitteln. Diese Charaktermerkmale können alle nebeneinander bestehen.

Krisch weist dann auf ein weiteres potenzielles Problem mit der Freundlichkeit hin. »Nach außen immer fröhlich und unbeschwert zu wirken, ist möglicherweise gar nicht so gesund, wie es scheint«, schreibt er. Ich stimme ihm zwar zu, aber andererseits ist Kindern beizubringen, großzügig zu sein, nicht dasselbe, wie ihnen einzutrichtern, ihre Gefühle zu unterdrücken. Wie ich gleich noch ausführen werde, können wir Kinder sogar großherziger machen, indem wir sie lehren, die Tiefe ihrer Gefühle zu erfahren und zu akzeptieren.

Die Bedenken über die »Risiken der Freundlichkeit« lassen noch einen anderen wichtigen Punkt außer Acht: Freundlichkeit zahlt sich aus. Die Forschung zeigt, dass großzügige Menschen länger leben und gesünder bleiben als geizige Miesepeter. Hilfsbereitschaft und Güte verringern auch Symptome von Depressionen, Ängsten und Stress und geben Energie. Dieses Gefühl der Euphorie, wenn wir Altruismus praktizieren, wird als »Helferhoch« bezeichnet.

Freundlich zu sein, macht Menschen glücklicher, und das gilt auch für Kinder. Bei einer Studie im Jahr 2012 gaben Psychologinnen der University of British Columbia Kleinkindern Kekse zu essen. In einer zweiten Runde erhielten sie wieder Kekse, sollten sie aber dieses Mal mit einer Affenpuppe teilen. Aus der Mimik der Kleinen ließ sich ableiten, dass sie viel glücklicher waren, wenn sie Kekse verschenkten, als wenn sie das Essen ganz für sich allein hatten. Ich bin oft überrascht über den freudigen Gesichtsausdruck meiner Tochter, wenn sie mir ein Stück ihrer Halloween-Süßigkeiten anbietet, aber es ergibt Sinn: Großzügigkeit kann sich wirklich gut anfühlen.

Darüber hinaus sind liebenswürdige Kinder beliebter, was ihnen ja letztendlich auch selbst zugutekommt. Für eine andere Studie wurden Neun- bis Elfjährige gebeten, einen Monat lang jede Woche drei »gute Taten« zu vollbringen – etwa Freunde zu umarmen, Unordnung aufzuräumen oder ihr Mittagessen mit anderen zu teilen. Wenig überraschend wurden nach den vier Wochen diese Kinder von ihren Mitschülerinnen als beliebter eingestuft als diejenigen, die sich nicht bemüht hatten, freundlich zu sein.

Sie müssen sich keine Sorgen machen, Ihren Kindern ein späteres Scheitern im Beruf quasi vorzuprogrammieren, wenn Sie sie zu Großzügigkeit erziehen. Im Gegenteil, immer mehr Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass zwischenmenschliche Fähigkeiten (sogenannte Soft Skills) wie Empathie und Freundlichkeit den langfristigen Erfolg weitaus besser vorhersagen als Hard Skills wie Schul- und Studienleistungen. Eine Studie aus dem Jahr 2018 zeigt, dass Kinder, die in der Mittelstufe von Gleichaltrigen als hilfsbereiter eingeschätzt wurden, sowohl in der Mittel- als auch später in der Oberstufe bessere Noten erhielten (der Einflussfaktor IQ war bei der Studie herausgerechnet worden). Und im Rahmen einer Studie von 2015 begleiteten Forschende eine Gruppe von Studienteilnehmern vom Kindergarten bis zum Alter von 25 Jahren und berichteten, dass die Kindergartenkinder, die gut mit Gleichaltrigen kooperierten, anderen halfen und Probleme selbst lösten, mit größerer Wahrscheinlichkeit als andere Kinder später einen Hochschulabschluss erreichten und einen festen Arbeitsplatz hatten. Mit anderen Worten, wenn wir unsere Kinder zu Hilfsbereitschaft und rücksichtsvollem Verhalten erziehen, bringen wir sie auf den Weg zu einem glücklichen, erfolgreichen Leben.

Menschlichkeit – Strategie Nr. 1

Sprechen Sie mit Ihren Kindern über ihre Gefühle und akzeptieren Sie sie; helfen Sie Ihren Kindern, damit umzugehen

An einem sonnigen Dienstag im Mai 2019 machten vierzehn Vorschulkinder in der Chambers Elementary School in Kingston, New York, eine Pause vom Lesen und Rechnen, um etwas über Gefühle zu lernen. Der ehemalige Lehrer David Levine, Leiter des Teaching Empathy Institute, saß vor der Klasse und machte ein trauriges Gesicht.

»Stellt euch vor, ich bin euer Klassenkamerad und gerade erst hierhergezogen, ich kenne niemanden«, sagte Levine zu den erwartungsvoll zuhörenden Schülerinnen. Er wandte sich an ein Mädchen, das eine strassbesetzte Haarschleife trug, und fragte sie, ob sie zu ihm nach vorne kommen und versuchen würde, im Rahmen eines Rollenspiels Kontakt mit ihm aufzunehmen.

Das Mädchen ging schüchtern auf ihn zu. »Hallo«, sagte sie.

»Hallo«, murmelte Levine und sah mit hängenden Schultern zu Boden. »Wie heißt du?«

»Amber«, sagte sie.

»Mein Name ist Howard«, sagte er. »Ich habe keine Freunde in dieser Schule. Ich kenne niemanden, und es gefällt mir hier nicht.«

»Ich kann deine Freundin sein«, antwortete Amber.

»Wirklich?« Levines Miene hellte sich auf. Seine Schultern strafften sich.

»Ja.«

»Warum willst du meine Freundin sein? Du hast mich doch gerade erst kennengelernt.«, sagte Levine, aber er war jetzt offensichtlich schon etwas fröhlicher gestimmt.

»Weil das bedeutet, nett zu einem anderen Menschen zu sein«, antwortete Amber.

Nun wandte sich Levine an die Klasse. »Seht mich an. Habe ich mich im Vergleich zum Anfang verändert?«, fragte er.

»Ja!«, riefen die Kinder unisono.

»Wie habe ich mich verändert?«, fragte er. »Versucht, es in Worte zu fassen. Was ist anders an meinem Gesicht?«

»Du lächelst«, sagte ein Mädchen.

»Und meine Augen?«

»Die sehen glücklich aus!«, rief ein Junge.

Levine lehrte die Schulkinder, wie man Emotionen liest, benennt und versteht. Das Vermitteln dieser Fähigkeit steht selten im Lehrplan, und doch ist sie so wichtig. Kinder müssen Emotionen erkennen, um ihre eigenen Gefühle zu begreifen und zu bewältigen. Und diese sogenannte Emotionsregulation steht in engem Zusammenhang mit schulischem Erfolg, der Fähigkeit, stabile und gesunde Beziehungen zu führen, Glück und anderen guten Ergebnissen.

Die Sprache der Gefühle zu verstehen, ist auch ein erster Schritt, um großzügig und hilfsbereit zu sein. Wenn ein Kind etwas Nettes für einen Freund tun möchte, muss es zunächst in der Lage sein, die Gefühle und Bedürfnisse dieses Freundes zu erkennen. Es muss das Gesicht und die Körpersprache seines Freundes lesen können, um nachzuvollziehen, was sein Freund vielleicht gerade durchmacht und was er sich wünschen könnte. Kindern, die Mühe haben, diese Fähigkeit zu entwickeln, fällt es verständlicherweise schwerer, mit anderen in Kontakt zu treten und mitfühlend und hilfsbereit zu sein. Dies ist nicht nur theoretisch so; diverse Studien haben bestätigt, dass emotionale Kompetenz eng mit altruistischem Verhalten verbunden ist.

Für eine 2013 durchgeführte Studie lud Celia Brownell, Psychologin an der University of Pittsburgh, Kleinkinder und ihre Bezugspersonen – zumeist die Mutter – in ihr Labor ein und bat die Mutter jeweils, ihrem Kind ein Buch vorzulesen. Dies wurde aufgenommen und später wurde analysiert, wie oft die Mutter ihr Vorlesen unterbrochen hatte, um die Gefühle der Figuren zu beschreiben und zu erläutern (wobei die Annahme war, dass sie dies beim Vorlesen zu Hause ebenso praktizierte). Danach wurde das Kleinkind eingeladen, mit Spielzeug und einer wissenschaftlichen Mitarbeiterin in einem anderen Raum zu spielen. Dabei hatte es die Möglichkeit, seine Spielsachen zu teilen und der Mitarbeiterin zu helfen, wenn diese vorgab, Unterstützung zu benötigen (sie tat beispielsweise so, als ob sie nicht an etwas heranreichte, was sie aus einem Regal holen wollte; oder sie gab vor zu frieren und hoffte, dass das Kleinkind ihr eine im Zimmer bereitliegende Decke bringen würde).

Als Brownell und ihre Kollegen die Vorlesegewohnheiten der Mütter mit dem Verhalten der Kinder verglichen, stellten sie fest, dass die Kinder von Müttern, die beim Vorlesen über Gefühle sprachen – und so ihre Kinder lehrten, ebenfalls Gefühle zu benennen – viel eher bereit waren, beim Spielen zu helfen und zu teilen.

Diese Strategie gilt aber nicht nur für Kleinkinder und Vorschulkinder, und man muss auch nicht unbedingt ein Buch (vor)lesen, um über Gefühle zu sprechen. Idealerweise sollten Eltern mit Kindern aller Altersgruppen solche Themen im Alltag ansprechen. Versuchen Sie dabei auch, sich offen über Ihre eigenen Gefühle zu äußern. Ich bin heute verärgert, weil mein Chef den Bericht kritisiert hat, auf den ich so viel Zeit verwendet habe. Und fragen Sie nach, wie es Ihren Kindern geht. Ist alles in Ordnung, mein Schatz? Du siehst ein bisschen traurig aus. Bist du denn traurig? »Diese Art von Gesprächen fördert Empathie und Mitgefühl, im Sinne von Verständnis für und Rücksichtnahme auf die Gefühle anderer«, so der Entwicklungspsychologe Stuart Hammond, Leiter des Social Moral Development Lab der University of Ottawa. Allein schon das Benennen und Definieren von Gefühlen kann hilfreich sein. Vor nicht allzu langer Zeit haben meine Kinder und ich beim Abendessen versucht, so viele Gefühle wie möglich aufzuzählen und darüber zu sprechen, was sie bedeuten. Es war eine lustige und lehrreiche Übung. Am nächsten Tag hörte ich, wie meine Tochter im Gespräch mit ihrem Bruder das Wort »begeistert« verwendete, was sie vorher noch nie getan hatte.

Auch bei Bitten und Aufforderungen kann das Erwähnen von Gefühlen einen Unterschied machen: In einem Experiment wurde Dritt- und Viertklässlern Geld gegeben und sie wurden ermuntert, es an hilfsbedürftige Kinder zu spenden. Einigen wurde gesagt, dass sie damit anderen Kindern helfen und sie glücklich machen würden. Den anderen wurde gesagt, dass es eine gute Sache sei, etwas von seinem Besitz an Bedürftige abzugeben. Letztendlich spendeten viel mehr Kinder der ersten Gruppe ihr Geld als aus der zweiten. Andere Studien haben gezeigt, dass, je mehr Mütter im Allgemeinen auf die Gefühle anderer Rücksicht nehmen und ihre Kinder ermutigen, dasselbe zu tun, die Kinder desto einfühlsamer, hilfsbereiter und freundlicher sind.

Bei erzieherischen Gesprächen sollten Gefühle ebenfalls einfließen. Wenn Ihre Kinder sich so verhalten, dass sie andere Menschen traurig machen oder verletzen, sagen Sie es. Wenn zum Beispiel meine Tochter ihren Bruder schlägt, versuche ich über die Ermahnung Nicht hauen! hinauszugehen und stattdessen etwas zu sagen wie: »Hauen ist nicht in Ordnung, denn es tut deinem Bruder wirklich weh, und ich vermute, dass er deshalb im Moment so traurig ist.« Und dann bitte ich sie nicht nur, sich zu entschuldigen, sondern nachzusehen, wie es ihrem Bruder geht, und möglicherweise zu überlegen, was sie tun kann, damit es ihm wieder besser geht.

Dieser Gedanke ist die Grundlage eines Erziehungsansatzes, der als Induktion bekannt ist und von den Kinderpsychologen Martin Hoffmann und Herbert Saltzstein in den 1960er-Jahren entwickelt wurde. Ihre Forschungen ergaben, dass bei Erziehungsmaßnahmen Kinder eher die Bedeutung dieser Maßnahmen begreifen und ihr Verhalten ändern, wenn die Eltern ihnen erklären, wie sich ihre Handlungen auf andere auswirken. Die Eltern vermitteln dem Kind dadurch Mitgefühl und ein Gefühl der Verantwortlichkeit. Beispiele für solche Erläuterungen (Induktionen) sind: Wenn du Schnee auf den Gehweg der Nachbarn wirfst, müssen sie ihn noch einmal freischaufeln oder Bitte versuche, leise zu sein, denn wenn dein Bruder noch eine Weile schläft, wird er sich beim Aufwachen viel besser fühlen. (Mehr zum Thema Erziehungsmaßnahmen finden Sie in Kapitel 8.)

Im Rahmen einer Studie aus dem Jahr 1996, mit der Hoffmanns Theorie überprüft werden sollte, befragten die Forschenden Mütter von Sechst- und Siebtklässlern über die Art und Weise, wie sie ihre Kinder disziplinieren. Die Kinder wiederum wurden gefragt, wie sie von ihren Eltern gemaßregelt werden. Die Lehrerinnen schließlich sollten bewerten, wie altruistisch und hilfsbereit die Kinder waren. Als weitere Komponente der Studie wurde mittels entsprechender Tests der Grad an Empathie bei den Kindern beurteilt, und außerdem wurde ihre Großzügigkeit getestet, indem sie aufgefordert wurden, Geld an eine Wohltätigkeitsorganisation zu spenden. Kinder, deren Eltern Induktion als Erziehungsmaßnahme einsetzten (die also ihren Kindern erklärten, wie sich ihre Handlungen auf andere auswirkten), waren großzügiger und einfühlsamer als Kinder, deren Eltern sie auf eine machtbewusste Art und Weise erzogen, beispielsweise mit Strafen.

Bei anderen Studien kam heraus, dass die Kinder von Müttern, die ihnen deutlich erklärten, wie ihre Verfehlungen anderen schadeten, mehr daran interessiert waren, Fehler wiedergutzumachen, und eher bereit waren, bei einem Experiment scheinbar hilfsbedürftigen Passanten zu helfen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt beim Aufbau emotionaler Kompetenz ist die Bestätigung der Gefühle Ihrer Kinder, auch wenn sie Ihnen übertrieben erscheinen oder für Sie keinen Sinn ergeben. Ich kann nachvollziehen, wie schwierig das manchmal ist. Meine Tochter rastet oft aus und reagiert wie irre auf Dinge, die für andere keine große Sache zu sein scheinen. Sie weiß inzwischen, wie sie sich selbstständig aus ihrem Kindersitz »befreien« kann, aber schwankt jeweils noch zwischen dem Wunsch, dass ich die Autotür für sie öffne, und dem, sie selbst aufzumachen. Natürlich sagt sie mir nicht, was sie an einem bestimmten Tag bevorzugt (und wenn ich sie frage, wird sie wütend), also muss ich raten – und Gott steh mir bei, wenn ich die Autotür an einem Tag öffne, an dem sie es nicht will. Dann muss ich damit rechnen, dass sie sich auf dem Boden wälzt, um sich schlägt und schreit.

Diese Momente sind … herausfordernd. Vor allem, wenn ich es gerade eilig habe oder müde bin, würde ich eigentlich gerne etwas zu ihr sagen wie: »Beruhige dich doch!« oder »Das ist doch keine große Sache!« Aber für sie ist es eben doch eine große Sache. Die Welt einer Fünfjährigen unterscheidet sich sehr von der einer Einundvierzigjährigen. Es gibt Dinge in der Erwachsenenwelt, die ich als beschämend empfinde und die ihr nur ein Achselzucken entlocken würden. Wie damals, als ich während der Coronavirus-Pandemie vergaß, dass ich meine Haare zu lächerlichen Zöpfen frisiert hatte, und mir das erst wieder bewusst wurde, nachdem ich mich zu einem Zoom-Interview mit einem von mir sehr geschätzten Mediziner eingeloggt hatte und mich auf dem Bildschirm erblickte.

Wir sollten die Gefühle eines Kindes bestätigen und anerkennen, auch wenn wir ihm eigentlich am liebsten sagen würden, dass es sich doch beruhigen oder sich zusammenreißen solle. In dem Beispiel mit meiner Tochter würde ich also etwas sagen wie: »Oh, jetzt bist du wohl enttäuscht, dass ich die Autotür aufgemacht habe, obwohl du das gar nicht wolltest!« Forschungen haben gezeigt, dass, wenn Eltern auf die Gefühle ihrer Kinder eingehen, diese langfristig besser in der Lage sind, mit ihren eigenen negativen Emotionen zurechtzukommen und sich anderen gegenüber einfühlsamer und hilfsbereiter verhalten. (Das Eingehen der Eltern auf die Gefühle ihrer Kinder ist auch ein wesentlicher Bestandteil der Bindungstheorie, die von der Psychologin Mary Ainsworth und ihrem Kollegen John Bowlby in den 1950er-Jahren entwickelt wurde. Diese Theorie, die durch Forschungsergebnisse gestützt wird, besagt, dass Kinder, deren Eltern empathisch auf eine von den Kindern so empfundene Notsituation reagieren, lernen, dass sie sich in Bezug auf Trost und Sicherheit auf ihre Eltern verlassen können; langfristig macht sie das unabhängiger und widerstandsfähiger.

Das bedeutet jedoch nicht, dass Sie die Art und Weise, wie Ihr Kind mit seinen Gefühlen umgeht, gutheißen müssen. Es ist völlig in Ordnung, Ihrem Kind mitzuteilen – vielleicht, wenn es aufgehört hat zu weinen –, dass Sie zwar wissen, dass es so unglaublich wütend war, es aber trotzdem nicht in Ordnung war, vor Wut den Küchenstuhl umzuwerfen (das ist etwas ganz anderes, als die Gefühle nicht ernst zu nehmen oder dem Kind zu sagen, es hätte nicht so wütend sein dürfen).

Vielleicht sagen Sie: »Welche anderen Möglichkeiten hättest du gehabt, um dich besser zu fühlen?« Zu den Alternativen, die ich mit meiner Tochter besprochen habe, gehören langsames, tiefes Atmen, Schreien in ihrem Zimmer oder an einem anderen angemessenen Ort und mit den Füßen stampfen. Und sie lernt tatsächlich dazu: Als sie sich kürzlich aufgeregt hat, ist sie aufgestanden, nach draußen gegangen und hat dort ein oder zwei Minuten lang wie eine Furie geschrien (meine armen Nachbarn).

Wenn Eltern ihren Kindern bei der Lösung von Problemen helfen, damit sie eine Situation verbessern können oder sich selbst besser fühlen, werden ihre Kinder im Laufe der Zeit rücksichtsvoller. Im Rahmen einer 2016 veröffentlichten mehrjährigen Studie befragten Forschende der Pennsylvania State University und der University of California Mütter über das Verhalten ihrer Kleinkinder und die Art und Weise, wie sie typischerweise auf deren negative Gefühle reagierten. Außerdem beobachteten sie die Mütter und Kinder im Labor, nachdem sie eine Situation herbeigeführt hatten, in der die Kinder enttäuscht waren, weil sie ein Geschenk erhalten hatten, das sie nicht wollten. Es stellte sich heraus, dass die Kinder, deren Mütter ihnen in dieser Situation bei der Problemlösung halfen, im Laufe der Zeit bessere emotionale Regulationsfähigkeiten entwickelten und mitfühlender und hilfsbereiter wurden.

Und in einer Studie aus dem Jahr 2019 stellte sich heraus, dass, wenn Mütter sich bemühten, ihren Kleinkindern bei der Bewältigung von Stresssituationen zu helfen, diese Kinder ein Jahr später eher bereit waren als andere, einen Forscher zu trösten, der so tat, als sei er verletzt worden. Man geht davon aus, dass Kinder, deren Eltern in Stresssituationen warmherzig reagieren und ihnen die Mittel an die Hand geben, sich selbst zu beruhigen, lernen, ihre eigenen Emotionen zu verstehen. Sie können dann emotionale Bedürfnisse, die sie bei anderen sehen, erkennen und darauf reagieren.

Aber auch Kinder mit einer guten Herzensbildung sind nicht immer nur nett. Die gleichen emotionalen Fähigkeiten, die Kindern helfen, sich in andere und deren Bedürfnisse einzufühlen, können vielmehr auch durchaus dazu benutzt werden, das Wohlbefinden anderer zu beeinträchtigen – etwas, das ich fast täglich im Umgang meiner Kinder untereinander miterlebe, wenn sie sich gegenseitig mit perfekt ausgefeilten Beleidigungen beschimpfen, die genau dort treffen, wo es am meisten wehtut. Geschwisterkonflikte sind jedoch kein Anzeichen dafür, dass Ihre Kinder böse sind, keine Sorge; solche Streitereien sind bis zu einem gewissen Grad normal und ganz natürlich (mehr darüber, was Sie tun können, damit Geschwister gut miteinander auskommen, finden Sie in Kapitel 9). Und selbst wenn Kinder ihren Geschwistern gegenüber ab und zu unausstehlich sind, können sie trotzdem ihren Freundinnen gegenüber sehr freundlich und rücksichtsvoll sein (kleine Jekyll und Hydes sozusagen).

Fassen wir zusammen: Sprechen Sie mit Ihren Kindern über Gefühle – Ihre, die Ihrer Kinder, die von allen anderen. Bringen Sie ihre Handlungen und Entscheidungen mit den Gefühlen anderer Menschen in Verbindung. Wenn sie wütend sind, bestätigen Sie ihre Gefühle, auch wenn Sie eigentlich am liebsten mit den Augen rollen würden. Und wenn sie sich wieder etwas beruhigt haben, besprechen Sie mit ihnen, welche Art von Gefühlsausdruck angemessen sein kann. Helfen Sie ihnen, Strategien zu finden, die sie in Zukunft in schwierigen Situationen anwenden können.

Menschlichkeit – Strategie Nr. 2

Schaffen Sie Gelegenheiten, bei denen Ihre Kinder helfen können

Kürzlich wollte meine damals fünfjährige Tochter an einem Sonntag unbedingt die Toastscheiben fürs Frühstück rösten. Sehr lieb von ihr, aber ihr zu erlauben, zu »helfen«, bedeutete, dass wir einen Hocker finden, den Toaster an den Rand der Arbeitsplatte schieben und den Hocker davorstellen und dann auch noch aufpassen mussten, dass sie sich nicht verbrennt. Ihre »Hilfe« erforderte also zusätzliche Arbeit und Zeit von uns Eltern und war somit de facto nicht sonderlich hilfreich.

Der Begriff, der dies beschreibt, lautet »Nicht hilfreiches Helfen«. Das Backen von Plätzchen mit Kindern dauert etwa dreimal so lange wie das Backen allein und macht die Küche achtmal so unordentlich. Und wie lustig ist es, wenn sie »helfen«, ohne Sie um Erlaubnis zu fragen? Sieh mal, Mama, ich habe die Wäsche gefaltet! Oh nein … Hey, Papi, ich habe dein Auto gewaschen! Oh Scheiße, ist das ein Gartenschlauch auf dem Vordersitz? Die Wissenschaftlerin Celia Brownell und ihr Kollege Stuart Hammond befragten 2018 mehr als fünfhundert Eltern zum Thema »Nicht hilfreiches Helfen«. Eine Mutter gab zu, dass sie mehrmals am Tag den Papierkorb kontrollieren muss, weil ihre Tochter ständig alle möglichen Dinge wegwirft. »Wir glauben, dass auf diese Weise einer ihrer Lieblingsschuhe verloren gegangen ist«, sagte sie.

Manchmal aber hat man einfach keine Zeit, um sich von seinen Kindern nicht hilfreich helfen zu lassen. Als berufstätige Mutter geht es mir oft so, und ich sage dann: »Nein, Schatz, dieses Mal leider nicht, ich habe es eilig.« Und dann mache ich alles selbst, weil ich auf Effizienz abziele. Ich versuche jedoch, mich in dieser Hinsicht öfters etwas zu entspannen, denn Untersuchungen haben ergeben, dass Kinder umso mehr helfen wollen und umso besser darin sind, je mehr Möglichkeiten sie dazu bekommen. In der Wissenschaft wird dies als »Gerüstbau« bezeichnet. Das bedeutet nicht, dass Ihr Kind bei jedem Schritt des Pfannkuchenbackens mitmachen muss: Sie könnten Aufgaben vorgeben, von denen Sie glauben, dass es sie bewältigen kann, wie zum Beispiel das Umrühren des Teigs oder das Hinzugeben von vorher abgemessenen Zutaten. Mit der Zeit erlernen die Kinder dann die Fähigkeiten, die ihre Hilfe eines Tages wirklich hilfreich machen.

Diverse Forschungsergebnisse unterstreichen dies. Im Rahmen einer Studie aus dem Jahr 2015 (durchgeführt von Stuart Hammond und Jeremy Carpendale) wurden Mütter mit Kleinkinder zu einer gestellten kleinen Party eingeladen und danach gebeten, aufzuräumen. Je mehr die Mütter ihre Kinder ermutigten, beim Aufräumen zu helfen, und je mehr sie die (manchmal kontraproduktiven) Hilfsversuche ihrer Kinder unterstützten, desto mehr boten diese Kinder den Forschungskräften ihre Hilfe an, als diese etwas später vorgaben, Probleme zu haben.

Joan Grusec, Entwicklungspsychologin und emeritierte Professorin an der University of Toronto, hat schon vor längerer Zeit herausgefunden, dass Kinder, die regelmäßig im Haushalt helfen – vor allem, wenn sie dabei Aufgaben erledigen, die andere Menschen direkt unterstützen –, auch rücksichtsvoller werden. In einer Studie im Jahr 1997 befragten sie und ihre Kolleginnen Mütter zu den Aufgaben, deren Erledigung von ihren zehn- bis vierzehnjährigen Kindern im Haushalt erwartet wurde (sie fragten auch die Väter, aber die wussten selten, was ihre Kinder im Haushalt tun – Väter, ich hoffe, dass ihr heute bei einer solchen Befragung besser abschneiden würdet!). Dann baten die Forscher die Mütter, den Grad der Rücksichtnahme ihrer Kinder auf andere zu bewerten sowie aufzuschreiben, wann ihre Kinder anderen Menschen geholfen, etwas mit ihnen geteilt, sie getröstet oder verteidigt haben. Darüber hinaus fragten sie noch die Lehrerinnen, wie hilfsbereit die Kinder im Klassenzimmer und wie freundlich sie zu ihren Mitschülern waren.

Grusec und ihr Team fanden heraus, dass vor allem bei älteren Kindern (im Alter von zwölf bis vierzehn Jahren) diejenigen, von denen routinemäßig erwartet wurde, dass sie im Haushalt helfen, und deren Aufgaben direkt der Familie zugutekamen – sie deckten den Tisch und/oder räumten ihn ab, halfen beim Kochen, holten Dinge für andere und räumten gemeinsam genutzte Zimmer auf –, hilfsbereiter und rücksichtsvoller waren als Kinder, die nicht mithelfen mussten. Und es kam auf die Art der Aufgaben an: Kinder, von denen nur die Erledigung selbstbezogener Aufgaben erwartet wurde, wie das Aufräumen des eigenen Zimmers oder das Wegräumen der eigenen Kleidung, wurden als weniger zuvorkommend eingestuft.

Interessanterweise deuten einige Forschungsergebnisse darauf hin, dass es bei jüngeren Kindern besser ist, ihnen die Wahl zu lassen, ob sie helfen wollen, als sie dazu zu zwingen. In einem Studienexperiment im Jahr 2017 wurde Fünfjährigen gesagt, sie könnten selbst entscheiden, ob sie in einem Zimmer auf dem ganzen Boden verstreutes Papier aufräumen wollten oder nicht. Eine andere Gruppe von Fünfjährigen hingegen bekam die ausdrückliche Anweisung, das herumliegende Papier aufzuräumen. Es stellte sich dann heraus, dass diejenigen, denen das Aufräumen freiwillig anheimgestellt worden war, dreimal so viel Papier aufräumten wie die Kinder der anderen Gruppe. Forschungen des Psychologen Edward Deci haben gezeigt, dass Menschen, die etwas aus freien Stücken tun, sich viel motivierter und leistungsfähiger fühlen (in Kapitel 2 finden Sie noch mehr zu Decis Forschungsergebnissen). Wenn Helfen freiwillig ist, können die Kinder außerdem viel Anerkennung dafür einheimsen, was ihnen ein gutes Gefühl gibt.

Sie können Ihren Kindern die Möglichkeit geben, nicht nur bei Ihnen zu Hause, sondern auch in der Gemeinde zu helfen. Wenn Ihr Kind etwa im Vor- oder Grundschulalter ist, könnten Sie eine Patenschaft für eine bedürftige Familie übernehmen, für die Sie Geschenke kaufen (und Ihre Kinder beim Aussuchen der Geschenke helfen lassen). Oder Sie helfen als Familie ehrenamtlich bei einer Wohltätigkeitsorganisation oder einem Obdachlosenheim mit. Sollten Sie regelmäßig Geld für wohltätige Zwecke spenden, besprechen Sie, welche Organisationen Sie auswählen und warum, und spornen Sie Ihre Kinder an, etwas von ihrem Taschengeld hinzuzugeben. Sie könnten sogar ein richtiges System einrichten, wie beispielsweise drei Töpfe, auf die Ihre Kinder ihr Taschengeld aufteilen: »Spenden«, »Sparen« und »Ausgeben«.