Wie leicht hätte es anders kommen können -  - E-Book

Wie leicht hätte es anders kommen können E-Book

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Beschreibung

Dieses Buch ist der dritte Teil der Bauerntöchtergeschichten. Während die ersten beiden Bände "Immer regnet es zur falschen Zeit" und "Gespielt wurde nach Feierabend" die Lebensgeschichten von Bauerntöchtern aus dem Süden bzw. Norden der alten Bundesländer enthielten, erzählen in Teil 3 nun auch Frauen, die in der ehemaligen DDR aufgewachsen sind. Trotz der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme ergeben sich überraschend viele Gemeinsamkeiten. Die Beiträge laden zum Erinnern und Nachdenken ein, wollen Vorbehalte abbauen und das Leben und die Lebensleistungen der anderen verstehen helfen. So leisten sie einen Beitrag zum Zusammenwachsen von Ost und West im Interesse unserer gemeinsamen Zukunft.

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Ulrike Siegel (Hrsg.)

„Wie leicht hätte es anders kommen können“

Bauerntöchter erzählen ihre Geschichte

Drüben

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Impressum

VORWORT

Drüben

„Habt ihr es gut gehabt, damit endete mancher Dialog mit meiner Freundin aus Jena – von der einen oder anderen Seite.“ So schreibt die Agrarbiologin Elke aus Nordrhein-Westfalen über den Erfahrungsaustausch nach der Wiedervereinigung mit einer Frau, die „drüben“ aufgewachsen war.

Aus der Idee der Buchprojekte „Immer regnet es zur falschen Zeit“ und „Gespielt wurde nach Feierabend“ mit den Lebensgeschichten von Bauerntöchtern aus den alten Bundesländern entstand das Interesse an den Lebenswegen von Bauerntöchtern aus den neuen Bundesländern. Die Nachfrage nach Geschichten von Frauen, die in der DDR der sechziger und siebziger Jahre ihre Kindheit und Jugend verbracht haben, führte zur Idee eines eigenen Bandes. Neben elf Beiträgen dieser „LPG-Generation“ sind sieben Beiträge aus dem Westen in diesem Buch enthalten. Auch diese Geschichten beginnen alle auf einem Hof: Hier im Westen in der Zeit des beginnenden Strukturwandels – im Osten in der Zeit, als die letzten Höfe in die LPG eingegliedert wurden. In den autobiogra­fischen Erzählungen wird „erlebbar“, wie sich diese unterschied­lichen politischen Ausgangsbedingungen auf die Kindheit und Jugend der Autorinnen auswirkten. Auf den Höfen des Westens steht die Arbeitsbelastung in Haus, Stall und auf dem Feld im Mittelpunkt. Um den Wettlauf mit dem „Wachsen oder Weichen“ des Hofes aufnehmen zu können, war die Mitarbeit aller, die auf den Höfen lebten, notwendig. Im Osten wird von der Mitarbeit der Eltern in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften erzählt und von den zu Hause auf den eigenen Resthöfen fast allgegenwärtigen „Privatwirtschaften“. Auch hier wurden viele Hände gebraucht, um mit Nebenerwerbslandwirtschaft die Familie zu versorgen und die LPG-Entlohnung aufzubessern. Trotz der unterschiedlichen Gesellschaftssysteme ergeben sich überraschend viele Gemeinsamkeiten.

Mit einem Blick über die ehemalige Grenze in den jeweilig anderen Teil Deutschlands wird in 18 Beiträgen eine Brücke hergestellt. Es werden Bilder aufgezeigt, die man von dem Leben der Menschen hinter der Grenze hatte und die, je nachdem, durch was sie vermittelt wurden, beidseitig mehr oder minder verzerrt waren. Es geht um das Erleben der Wende und den heutigen Einfluss der Wiedervereinigung auf das Leben jeder einzelnen Autorin.

Die Beiträge laden zum Erinnern und Nachdenken ein. Sie fordern auf zum „Schau mal hin, so war das bei uns, so haben wir das erlebt und empfunden!“ Sie wollen Vorbehalte abbauen und das Leben und die Lebensleistungen der anderen verstehen helfen. Sie sollen einen Beitrag leisten zum Zusammenwachsen von Ost und West im Interesse unserer gemeinsamen Zukunft.

Von Herzen danke ich allen, die mich beim Entstehen dieses Buches unterstützt haben, all denen, die mir geholfen haben, die Autorinnen zu finden. Ganz besonders danke ich den Frauen, die sich auf dieses Buchprojekt eingelassen und sich die Zeit genommen haben, mit großem Engagement diese autobiografischen Beiträge zu verfassen. Ich danke ihnen für die Geduld und das Vertrauen, mit der sie meine Fragen bearbeitet und damit einen Einblick in ihr Leben gegeben haben. Mit ihrer Offenheit haben sie dieses Buch erst ermöglicht und damit eine Epoche deutscher Geschichte mit persönlichem Erleben begreifbar gemacht.

Juni 2005

Ulrike Siegel

„Geprägt vom Leben in der Landwirtschaft und voller Idealismus wollte ich die Arbeits- und Lebensbedingungen verbessern.“

Ich war immer stolz, eine Bauerntochter zu sein

Oder wie es zu DDR-Zeiten hieß: „Soziale Herkunft – Genossenschaftsbauer“. Ich war nicht eine von vielen, ein Arbeiterkind, sondern eine der wenigen, ein Bauernkind. Auf unserem Hof lebten drei Generationen in einem Haushalt: die Mutter meines Vaters, meine Eltern, mein Bruder und ich.

Als Kind war die Landwirtschaft für mich ein großer Spielplatz. Wir sind immer und überall dabei gewesen. Gern erinnere ich mich an das frühmorgendliche Futterholen mit dem Vater. Nach dem Kindergarten gingen wir mit auf das Feld oder blieben bei unserer Oma auf dem Hof. Frauen aus dem Dorf halfen auf dem Feld mit und verdienten so ein wenig Geld dazu. Wir mussten nicht mitarbeiten und konnten so die Fantasie spielen lassen. Welch ein Spaß, mit Kartoffelmännchen und -tieren zu spielen. Oft wurden diese noch Monate aufgehoben. Nach getaner Arbeit, meistens gegen 17.00 Uhr, die Kirchenglocken hatten es verkündet, lief ich mit meiner Mutter durch ein kleines Wäldchen nach Hause. Ich höre heute noch diese Stille, das Zwitschern der Vögel und sehe die Sonne durch die Bäume glitzern. Nach der Feldarbeit gingen die Eltern in den Stall. Am interes­santesten waren für uns die neugeborenen Kälber und Ferkel. Im Sommer dressierten wir kleine Katzen oder spielten mit den Kindern aus dem Dorf. Im Winter bauten wir Buden im Stroh und in der Scheune oder fuhren Schlitten und Ski, wenn es das Wetter zuließ. Auf unserem Hof waren meist viele Kinder, Jungen und Mädchen, groß und klein ganz gemischt.

Eine große Veränderung für das ganze Leben der Familie war der Eintritt in die LPG. Meine Eltern waren 1972 die letzten Bauern, die dem LPG Typ 3 beitraten. Jetzt gingen beide in einen Schweinestall arbeiten. Sie hatten geteilte Arbeitszeit, früh und nachmittags. Meine Oma betreute bis zu ihrer Rente Jungvieh in unserem ehemaligen Kuhstall. Jetzt konnten auch wir in Urlaub fahren. Um den Hof zu erhalten, reichte der Lohn der Eltern nicht aus. Es wurden noch Schweine und ein bis zwei Bullen gemästet. Der Verkauf hat sich gelohnt und mit dem Geld wurde der Hof schrittweise modernisiert, wurden die größeren Reparaturen und Umbauten durchgeführt. In der ehemaligen DDR wurde viel Wert auf qualifizierte Arbeitskräfte gelegt. Da meine Mutter (nur) Facharbeiter für Rinderzucht war, jetzt aber im Schweinestall arbeitete, qualifizierte sie sich noch zum Facharbeiter für Schweinezucht. Wir Kinder waren stolz darauf. Als selbstständiger Landwirt hatte mein Vater in den sechziger Jahren die Fachschule absolviert. Aus Erzählungen meiner Eltern weiß ich heute, dass der Schritt in die LPG nicht so reibungslos vonstatten ging, wie es uns dargestellt wurde. Das waren aber die Probleme der Eltern, mit denen wir als Kinder nicht belastet wurden. Wir wurden im Sinne des Staates erzogen. Die Generation unserer Eltern hat ihren Wohlstand in der DDR geschaffen.

Trotz vieler Arbeit der Eltern gab es auch immer Zeit für uns Kinder. Von klein auf lernten wir: „Viele Hände machen der Arbeit ein Ende.“ So wurde gemeinsam geschafft, dann gab es auch wieder Zeit zum Spielen, zum Feiern oder für Ausflüge. Dieses Denken prägt mich bis heute.

Die Schulzeit war eine unbeschwerte Zeit, keiner brauchte sich um die Zukunft Sorgen zu machen. Es war ständig etwas los. Ich war aktives Mitglied in den Kinder- und Jugendorganisationen. Mir gefiel es, für nachmittags Veranstaltungen mitzuorganisieren und durchzuführen. Die meisten Kinder im Dorf gingen von der ersten bis zur zehnten Klasse in die gleiche Schule. Man kannte sich und auch die schulischen Leistungen. Die besten Schüler wurden am Schuljahresende mit einer Urkunde öffentlich ausgezeichnet oder auch mal mit einer Reise belohnt. Ich finde es schade, dass das Streben nach guten schulischen Leistungen heute nicht mehr so gefordert wird. Die Selbstzufriedenheit mit mittelmäßigen Leistungen und Ergebnissen, wo durchaus auch bessere zu erzielen wären, finde ich unerträglich. Förderung der leistungsschwachen Schüler steht für mich im krassen Widerspruch zu den Forderungen an die „normalen“ Schüler.

Die Klassen hatten oft einen guten Zusammenhalt und ein Teil unternahm nach der Schule noch etwas gemeinsam. Nicht selten ging fast eine ganze Klasse in die Tanzschule und zu Disco- oder Tanzveranstaltungen. Man traf sich und hatte immer viel Spaß. Da keiner wirklich arm war und sich alle das leisten konnten, was sie wollten und brauchten, spielten materielle Dinge keine große Rolle. So war das Kinogehen o. Ä. nie eine Frage des „Sich-leisten-Könnens“, sondern nur eine Frage des „Lust-Habens“. Es war selbstverständlich, dass man mit fünfzehn Jahren seinen Mopedführerschein hatte und auch ein Moped. So waren wir frühzeitig relativ mobil und unabhängig von den Eltern.

Nach der Schule nahm ich eine dreijährige landwirtschaftliche Lehre auf, welche gleichzeitig das Abitur ermöglichte. Geprägt vom Leben in der Landwirtschaft und voller Idealismus wollte ich die Arbeits- und Lebensbedingungen verbessern, die Arbeit, vor allem die Handarbeit in den Ställen und auf den Feldern, reduzieren. Mit solchen Idealen und Flausen im Kopf absolvierte ich nach der Lehre erfolgreich ein vierjähriges landwirtschaftliches Studium. Die schönsten Erlebnisse hatten wir während dieser Zeit bei den Einsätzen als Erntehelfer oder den Praktika in verschiedenen LPGs. Wir wurden als Gäste behandelt. Die Küchenfrauen sorgten für das leibliche Wohl und die Verantwortlichen der Betriebe zeigten uns mit viel Stolz ihren Betrieb und auch die Sehenswürdigkeiten ihrer Heimat.

Nach meinem Studienabschluss arbeitete ich beim Landwirtschaftsamt. Mit selbst verdientem Geld konnte ich mir nun eine eigene Wohnung einrichten. Ich lebte in der Stadt und lernte die Vorteile des Stadtlebens kennen. Abends, nach Dienstschluss, einfach noch durch die Stadt zu bummeln, ins Kino um die Ecke zu gehen, ohne vorher mit dem Auto weit fahren zu müssen, überhaupt das Angebot der Stadt habe ich genossen. Als ich meinen Mann, einen Bauernsohn, kennen lernte und er mich fragte, ob ich mit ihm auf dem Hof seiner Eltern leben würde, sagte ich trotzdem, ohne zu zögern, „Ja“. Bisher war ich mit allen gut ausgekommen. Das Leben in Generationen kannte ich. Wir hatten eine eigene abgeschlossene Wohnung, würden nach unseren Vorstellungen unsere Arbeit und unser Leben gestalten können, was sollte da noch schief gehen?

Nach der Hochzeit stellte sich bald heraus, dass auch Bauernfamilien ganz unterschiedlich leben. Was wusste ich von Aberglauben oder von Nachbarn, die aufgrund alter Geschichten nicht gegrüßt werden? Plötzlich lebte ich in völliger Zurückgezogenheit – ohne Nachbarn und Freunde. Die Schuld dafür suchte ich allein bei mir. Diese Situation verunsicherte mich so sehr, dass ich mit keinem darüber redete. Selbstverständlich durfte ich auch weder den Kinderwagen ausfahren noch mit anderen aus dem Ort reden. Wenn ich es dennoch tat, gab es jedes Mal einen großen Familienkrach. Es war ein tiefer Einschnitt in meinem Leben. Statt Wärme und Geborgenheit in der neuen Familie zu finden, wie ich es von zu Hause gewohnt war, war ich nur die geduldete Schwiegertochter.

In dieser Situation kam die Wende. Kritisch sah ich die Berichte von der Prager Botschaft und den Montagsdemonstrationen im Fernsehen. Ich konnte diese Menschen nicht verstehen. Die DDR war meine Heimat. Ich hatte Arbeit, ein gutes Auskommen und Wohlstand. Mir war es nicht wichtig, Westgeld zu haben oder in jedes Land reisen zu können. Am schlimmsten fand ich die Wendehälse. Heute roter Genosse und morgen Kämpfer für Demokratie und Freiheit. Wenn man nur genug eigene Vorteile hatte und vielleicht mit klugem Gerede auch noch Geld verdienen konnte. Die meisten wirklich Betroffenen, welche Nachteile durch die Stasi hatten, schweigen auch heute noch.

Die friedliche Revolution brachte die Wende für alle. Es war eine Aufbruchstimmung, als ob ein ganzes Volk ins Schlaraffenland einziehen würde. Niemand konnte sich dem entziehen. Auch wir setzten uns mit Kind und Kegel ins Auto und holten uns das Begrüßungsgeld ab. Ich werde nie vergessen, wie wir ohne Ziel losfuhren und abends, es war schon dunkel, in Nürnberg ankamen. Nie werde ich den ersten Blick auf den Christkindlesmarkt vergessen. Welch ein Lichterglanz im Vergleich zu unseren bescheidenen Weihnachtsmärkten! Natürlich gab es auch warnende Stimmen, aber wer wollte diese jetzt noch hören? Angesichts des Glanzes der vermeintlich unendlichen neuen Möglichkeiten? Auch wir ließen uns von der Euphorie anstecken. 1990 gründeten wir eine kleine Firma für den Vertrieb von Feinkostsalaten und Kartoffelprodukten, welche kleinere Geschäfte und vor allem Fleischereien belieferte. Anfangs lieferten wir die Ware mit dem Autoanhänger aus und fanden reißenden Absatz. Es hat unglaublichen Spaß gemacht und wir kamen jeden Tag zufrieden nach Hause. Schrittweise griffen auch die bundesdeutschen Gesetze hier im Osten. Um das Lebensmittelhygienegesetz mit seinen Verordnungen zu erfüllen, mussten wir ein Kühlfahrzeug für den Transport und eine Kühlzelle zur Lagerung der Ware anschaffen. Mit den Supermärkten kam der Umsatzrückgang und schrittweise das Aus für unsere Firma. Als mithelfende Ehefrau und Mutter von drei kleinen Kindern blieb nicht viel Zeit, nach Möglichkeiten für mich zu suchen, es musste immer die tägliche Arbeit geschafft werden. Ich war ein Jahr arbeitssuchend. Es war eine schwere Zeit für mich. Ich hatte studiert und auf dem Arbeitsamt wurde immer gesagt, ich sei nicht vermittelbar.

Nach dem Tod meines Schwiegervaters übernahm ich seinen Landwirtschaftsbetrieb im Nebenerwerb. Mein Mann arbeitet als Außendienstmitarbeiter für eine Landmaschinenfirma. Einen Bauernhof zu führen war ein Kindheitstraum. Ich habe den Stall zu einem Laufstall umgebaut und halte Mutterkühe. Es schien die ideale Lösung, Beruf und Familie zu verbinden – jedoch fehlt oft die Zeit Freundschaften zu pflegen – sowie zum Familieneinkommen beitragen zu können. Doch die Einnahmen in der Landwirtschaft gehen immer weiter zurück und die Ausgaben steigen. So gibt es für meinen Landwirtschaftsbetrieb nur eine Chance, wenn sich die Möglichkeit bietet zu vergrößern. Ich arbeite auch heute noch gern in der Landwirtschaft. Es ist die Natur, die verschiedenen Tiererlebnisse und der Hauch von Romantik, beim Weideaustrieb das Picknick mit der ganzen Familie. Für mich als Landwirtin ist Natur aber auch die natürliche Aufzucht der Tiere, der verantwortungsvolle Umgang mit Dünge- und Pflanzenschutzmitteln sowie Landschaftspflege. Als Helfer in der Not, vor allem in der Erntezeit, haben sich meine Eltern erwiesen. Während meine Mutter alle Fäden im Haushalt in der Hand hält, können wir, mein Mann, mein Vater und ich, uns voll auf das Silieren von Gras oder Mais oder auf die Heuernte konzentrieren.

Derzeit besuche ich noch einmal die Schule, um den Abschluss als Fachagrarwirt für Direktvermarktung zu ­erlangen. Da alle Teilnehmer aus der Landwirtschaft sind, ist es ein guter Ort, um auch manche Erfahrung auszutauschen und immer wieder zu erkennen, dass man mit seinen Problemen nicht alleine ist. Ich hoffe so sehr, dass es mir gelingt mit der Direktvermarktung eine zusätzliche Einnahmequelle zu erschließen, um damit eine Chance zu haben, auch in Zukunft von der Landwirtschaft leben zu können.

Auch 14 Jahre nach der Wende ist unser vereinigtes Deutschland noch nicht Heimat für mich geworden. Vieles ist fremd geblieben.

„Das gleichmäßige Geräusch der Pulsation beim Betrieb der Melkanlage hat etwas Beruhigendes an sich. Fast wie das Rauschen des Meeres ...“

Alles hatte einen Namen

Beim Melken bin ich gerne allein. Ich mag es, alleine im Melkstand zu stehen, kann dabei gut meinen Gedanken nachgehen. Das gleichmäßige Geräusch der Pulsation beim Betrieb der Melkanlage hat etwas Beruhigendes an sich. Fast wie das Rauschen des Meeres ... Es entspannt mich vom Alltag, selbst bei der Arbeit.

Man könnte fast meinen, ich würde schon lange Zeit meines Lebens hier verbringen, in diesem Milchviehbetrieb in Niedersachsen. Aber ...

Geboren und aufgewachsen bin ich in einem kleinen Ort in Sachsen. Meine Eltern bewirtschafteten dort einen kleinen Dreiseitenhof mit neun Hektar Land, sechs Milchkühen, vier Jungtieren und fünfzehn Schweinen. Jedenfalls bis zum so genannten „sozialistischen Frühling“. Anfang 1960 mussten auch sie dem Druck nachgeben und in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) eintreten. Sie waren mit bei den letzten, die zum staatlich verordneten „Ich zum Wir“ übergingen. Eine andere Wahl blieb ihnen nicht, wollten sie nicht total isoliert werden. Mittel und Wege gab es genug, um sie unter Druck zu setzen oder gefügig zu machen.

Als Mitglieder einer LPG Typ 1 wurde ihnen erst einmal das Land weggenommen und ging in die gemeinsame Bewirtschaftung. 25 Ar Ackerland blieben ihnen noch für den eigenen Bedarf als „individuelles Eigentum“. Alles hatte einen Namen ...

Das Vieh konnten sie noch behalten, mussten dafür aber ein „Soll“ (z. B. an Milch, Eiern usw.) abliefern. Was über dieses Soll hinausging, gehörte ihnen. Seit dieser Zeit arbeitete mein Vater als Traktorist in der LPG. Dabei fuhr er meist einen LKW. Meine Mutter war im Gemüsefeldbau beschäftigt.

1961 wurde mein Bruder geboren, vier Jahre später dann ich. Als ich sieben Jahre alt war, wurden meinen Eltern auch die Kühe weggenommen und in die LPG „zwangseingebracht“. Daran kann ich mich aber nicht erinnern. Ich glaube auch nicht, dass meine Eltern mit uns Kindern darüber gesprochen haben. Seit dieser Zeit hatten meine Eltern nur noch ein paar Schweine, Hühner, Enten und Kaninchen. Diese waren für den eigenen Bedarf gedacht, aber auch, um sie abzuliefern und damit den geringen Lohn, den sie für ihre Arbeit in der LPG erhielten, aufzubessern. In unserem Dorf gab es eine Annahmestelle, in der wöchentlich die Eier und monatlich Kaninchen abgeliefert werden konnten. Meine Aufgabe bestand meist darin, die Eier der Woche zu säubern, mit unserer Liefernummer zu beschriften und abzugeben. Die Schweine wurden immer schön fett gefüttert und jedes Jahr ließen meine Eltern eines für uns schlachten. Dieses Schlachten mochte ich überhaupt nicht. Der Geruch von frischem Fleisch erzeugte in mir immer einen Ekel. Geschlachtet wurde bei uns im Waschhaus. Ich erinnere mich noch genau, dass ich – selbst als alles schon vorbei war – noch die Augen zumachte und luftanhaltend durchs Waschhaus ging, um ins dahinter gelegene Bad zu gelangen. Oder ich zog es sogar vor, drei Tage unser „Plumpsklo“ draußen zu benutzen. Einmal machte mir unser Schlachter den Ringelschwanz mit einer Sicherheitsnadel an der Hose fest. Wie ich ihn dafür verachtete. Seitdem machte ich einen großen Bogen um ihn.

Mit unserem Vieh und der kleinen verbliebenen Außenwirtschaft hatte ich nicht viel im Sinn. Wir mussten zwar auch beim Stroheinfahren, Kartoffellegen und -roden mithelfen, aber ich zeigte daran kein wirkliches Interesse. Ich denke, es lag an der staatlich verordneten „Zwangskollektivierung“. Sind nicht mit dem Eintritt in die LPG die Wurzeln meiner Eltern gekappt worden? Verloren sie nicht damit ihren Ausgangspunkt als „freie Bauern“? Was sie das gekostet hat, haben sie nie erzählt. Gefühle und Empfindungen zu zeigen und auszudrücken gab es in unserer Familie nicht. So konnte ich diese „Zwangskollektivierung“ weder zuordnen noch verstehen. So lernte ich auch weder ihren und schon gar nicht meinen Ursprung als Bauern bzw. Bauerntochter kennen. Diesen gab es nicht mehr.

Mit den Wurzeln meiner Eltern sind auch meine Wurzeln abhanden gekommen. Ich fühlte mich nie als Bauerntochter. Ich verband mit dem Bauer-Sein keine Lebensform. Gerade mal einen Beruf oder eine Arbeitsstelle, wie jede andere auch. Ich denke, vielen meiner Klassenkameraden, deren Mütter oder Väter in der LPG arbeiteten, ging es bestimmt ähnlich. Keiner hat seine Eltern als Bauern im eigentlichen Sinn bezeichnet. Aber so kam es auch zu keinen Hänse­leien in der Schule wegen unserer Herkunft.

Die LPG unterhielt – wie viele Betriebe auch – ein eigenes Kinderferienlager in Großlohra im Harz. In den Sommerferien konnten die Kinder der Mitglieder jeweils für zwei Wochen hinfahren. Auch ich fuhr in jedem Sommer mit, als ich das Alter dafür erreicht hatte. Ich erinnere mich noch genau an meinen ersten Ferienlageraufenthalt. Mit drei anderen Mädchen aus meinem Dorf war ich zusammen in einem Zimmer. Trotzdem hatten wir alle schreckliches Heimweh und weinten uns gegenseitig etwas vor. Als sich unsere Betreuer keinen Rat mehr mit uns wussten, kam jemand von der LPG angefahren, um uns wieder abzuholen. Da waren wir auf einmal still und so konnten wir bis zuletzt dableiben. Es gab während der Ferienlagerzeiten ein gut organisiertes Programm mit Baden, Sportfest, Nachtwanderung, Spielen und Ausflügen. Es wurde uns einiges geboten. Bei allem durfte natürlich auch der Fahnenappell nicht fehlen und Pionier- bzw. FDJ-Kleidung mitzunehmen war auch Ehrensache. So gern wie ins Ferienlager, fuhr ich auch wieder nach Hause. Auf die letzte Ansichtskarte, die ich nach Hause schickte, schrieb ich mein Lieblingsgericht: „Hefeklöße mit Heidelbeeren bzw. Vanillesoße.“ Und meine Mutter machte mir zum Willkommen die Freude, das zu kochen.

In den Ferien waren wir oft auf uns gestellt. Meine Eltern mussten ja arbeiten gehen und Urlaub gab es nicht viel. Mittags war ich in den Ferien für das Kochen zuständig, denn meine Mutter kam in ihrer kurzen Mittagspause nach Hause zum Essen. Die Essensauswahl war gering, denn großes Interesse am Kochen hatte ich nicht. Auch so drückte ich mich gerne vor jeder Hausarbeit, wo ich nur konnte.

Zwei bis drei Wochen ging ich in den Ferien mit zu meiner Mutter aufs Feld arbeiten. Im Sommer mussten wir Freilandgurken abnehmen oder die vollen Eimer auf dem Hänger ausschütten. Manchmal auch auf der Pflanzmaschine mitfahren, um Kohlrabi, Porree oder Kohl zu pflanzen. In den Herbstferien wurde Rotkohl in die Mieten gestapelt. Die Arbeit war für mich eine gute Gelegenheit, Taschengeld zu verdienen, um mir auch einmal einen Wunsch zu erfüllen. Denn ich kann mich nicht erinnern, dass wir jemals Taschengeld von unseren Eltern bekamen.

In den Ferien fuhr ich gerne mit meinem Vater mit dem LKW mit. Es kam darauf an, was gerade an Arbeit anlag. Manchmal wurden die LKWs der LPG auch zweckentfremdet, um beim Aufbau der „sozialistischen Heimat“ zu helfen. Einmal musste er beim Bau von Leipzig-Schönefelds Plattenbauten Erdaushub abfahren. In den Pausen spielten dann die Männer im Bauwagen Karten. „Knack“ wurde mit 30 Pfennig Einsatz gespielt. Ich war gut im Spielen, da wir zu Hause oft Karten- oder andere Gesellschaftsspiele machten. Ich gewann und gewann. Jedenfalls gaben die Männer nach diesem Tag meinem Vater zu verstehen, dass er mich nicht mehr mitzubringen brauchte.

Die Schule bereitete mir keine großen Schwierigkeiten. Ich hatte nur ein Problem: Ich schwatzte gerne und war oft unaufmerksam. In der sechsten Klasse stand deshalb im Zeugnis eine Drei in Betragen. Die tendierte schon zur Vier und das bei einer Benotung von lediglich Eins bis Fünf zu DDR-Zeiten. Daher stellte mich mein Klassenlehrer als schlechtes Beispiel im Betragen vor die „Patenbrigade“. In der DDR hatten viele Schulklassen eine Patenbrigade. Das war ein Kollektiv von Männern und Frauen in einem nahe gelegenen Betrieb. Unsere arbeitete im KfL (Kreisbetrieb für Landtechnik). Mit denen trafen wir uns vielleicht ein- bis zweimal im Jahr. Wir führten dann ein einstudiertes Programm auf. Dafür wurden wir im Betrieb he­rumgeführt, bekamen Kuchen und einen Betrag für die Klassenkasse. Und vor eben diese fremden Leute stellte mich mein Lehrer. Wie habe ich mich dabei geschämt und wie wütend war ich auf ihn. Dieser Tag brachte aber für mich eine Wende. Der Ehrgeiz hatte mich gepackt. Meinem Lehrer, der mich so blamiert hatte, wollte ich es zeigen. Im nächsten Halbjahr stand deshalb nicht nur im Betragen eine Eins auf dem Zeugnis, auch in allen anderen Fächern hatte ich mich verbessert. Von da an stiegen meine Leistungen sprunghaft an.

Als die Berufswahl für mich anstand, war das Thema Landwirtschaft keine Überlegung wert. Warum auch, denn eine Perspektive sah ich da nicht. Ich wusste aber auch nicht, was ich sonst wollte. Meine Noten waren sehr gut und so schwankte ich zunächst zwischen dem Besuch der erweiterten Oberschule und dem Grundschullehrerberuf hin und her. Ich konnte mich nicht entscheiden. Meine Mutter meinte, ich sollte es mal besser haben und wollte mich am liebsten in einem Büro sehen. Ich war erst dagegen. Außerdem gab es wenig Chancen, einen Ausbildungsplatz in einem Büroberuf zu bekommen, denn solche waren zu DDR-Zeiten fast ausschließlich Schwerbeschädigten vorbehalten. Ich hatte jedoch großes Glück und bekam einen Ausbildungsplatz als Wirtschaftskaufmann in Leipzig. Die Ausbildung machte mir sogar Freude. Ich liebte es, mit Zahlen zu „jonglieren“, Abrechnungen zu machen und hatte gerne mit Menschen zu tun. Nur das Großstadtleben gefiel mir nicht und so zog ich nach meiner Ausbildung wieder zurück zu meinen Eltern und begann, als Sekretärin in einem Baustoffhandel zu arbeiten.

Inzwischen war mein Vater als Einkäufer im Lager der LPG beschäftigt. Er fuhr einen kleinen Transporter „Barkas“, mit dem er auf „Jagd“ nach den knappen Ersatzteilen für die Maschinen und Geräte der LPG ging. Er erzählte oft, wie er mit einer Kiste voll Gurken oder Äpfeln losgeschickt wurde, um Ersatzteile zu besorgen. Eine undankbare Aufgabe bei den Engpässen überall. Aber manchmal halfen die mitgebrachten Vitamine etwas nach und er konnte das Gewünschte mitbringen. Wie mag er sich dabei vorgekommen sein, wenn er auf Tour ging. Aber ich kannte das ja selbst durch meine Arbeit im Baustoffhandel, wo es nicht besser mit der Versorgungslage aussah. Es war oft eine nervenaufreibende Arbeit, vor allem dann, wenn meine Kollegen und ich von aufgebrachten Kunden beschimpft wurden, weil sie das benötigte Baumaterial nicht bekamen oder monatelang darauf warten mussten. Wie oft saß ich da und war deswegen am Weinen, konnte doch aber auch nichts herbeizaubern. Ich erinnere mich deshalb noch gut an meinen ersten Besuch mit Freunden in einem Baumarkt im „Westen“ nach dem Mauerfall. Da war alles da – man konnte einfach hingehen und kaufen. Es hatte mir nichts ausgemacht, volle Regale in den anderen Geschäften zu sehen, aber angesichts dieser Fülle an Baustoffen kam alles hoch, wie wir uns abmühen mussten und wie viel Kraft dabei sinnlos vergeudet wurde. Ich stand da und konnte nur noch weinen.

Ja, die Wendezeit war eine aufregende Zeit für mich und meine Familie. Schon die Wochen vor dem Mauerfall ängstigten mich. Das Brodeln unter dem Topfdeckel, die Montagsdemonstrationen, an denen ich teilnahm, die flüchtenden Leute, zu denen auch viele Freunde und Schulkameraden gehörten, erzeugten in mir eine Spannung, die kaum auszuhalten war. Wie wird das wohl ausgehen? Gibt es einen Aufstand, der blutig niedergeschlagen wird? Es gab ja in der DDR-Geschichte dafür Beispiele. Deshalb erschien mir die Nachricht vom Mauerfall auch so unwirklich. Konnte das wirklich friedlich möglich sein? Es war kaum zu glauben. Ich sehe mich noch heute vor dem Fernseher sitzen und fassungslos die Nachrichten verfolgen. Die Gedanken da­ran erzeugen in mir immer noch eine Gänsehaut und Tränen der Freude und Dankbarkeit. Wie leicht hätte es anders kommen können!

Plötzlich wurden wir mit vielen Dingen konfrontiert, mit denen wir noch nie in Berührung gekommen waren. Manche Veränderungen brachten Unsicherheit, ein Gefühl des „Boden-unter-den-Füßen-Wegziehens“. Ich hätte nie wieder tauschen wollen, aber das Tempo, mit dem die Ereignisse fortschritten, war manchmal zu rasant.

Bisher hatten wir unser Wissen über den „Westen“ fast ausschließlich über das Westfernsehen. Den Aussagen in der Schule und in den DDR-Medien hatte ich intuitiv nicht geglaubt, sondern wusste genau, was Lehrer und Funktionäre hören wollten. Wir wohnten ja nicht ganz im „Tal der Ahnungslosen“, wie die Gegend um Dresden genannt wurde, weil da kein Westfernsehen empfangen werden konnte, sondern hatten das Glück, auch ARD sehen zu können. Das war unsere einzige Quelle, da wir keine Verwandten im „Westen“ hatten, mit denen wir in Kontakt standen. Vielleicht ist das der Hauptgrund, dass uns als Familie die Trennung nicht so schmerzlich bewusst wurde wie anderen, bei denen Familien auseinander gerissen waren, oder wie den Menschen, die grenznah wohnten und die Zeichen der Trennung ständig vor Augen hatten. Wir lebten zwar genauso mit den Einschränkungen, die fehlende Meinungs- und Reisefreiheit und die Versorgungsmängel mit sich brachten, waren aber eben nicht mit einer Familientrennung belastet.

Der einzige Kontakt in den „Westen“, den ich noch ein Jahr vor dem Mauerfall bekam, war eine Luftballonbekanntschaft. Mein Bruder, der eine landwirtschaftliche Ausbildung gemacht hatte und als Agrotechniker in der LPG arbeitete, fand 1988 auf einem Rüben­acker einen Luftballon. Ich schickte die anhängende Karte zurück und es entwickelte sich ein reger Kontakt zu einer Familie aus Detmold, die mir bis heute liebe Freunde sind und durch die ich eine Beziehung zum christlichen Glauben fand.

Anfang der neunziger Jahre hatte ich eine Anstellung als Chef­sekretärin in einer renommierten Firma, ein ansprechendes Gehalt und eine eigene, moderne Firmenwohnung. Ich hatte mich einer freikirchlichen Gemeinde angeschlossen, in der ich mich in der Kinderarbeit engagierte. Ich war gerne unterwegs, konnte mir alle Annehmlichkeiten leisten und hatte schon einige Länder bereist. Dann lernte ich 1996 während einer christlichen Freizeit in der Schweiz meinen späteren Mann kennen – einen Landwirt aus Ostfriesland. Ich be­merkte sein Interesse an mir und beeilte mich, ihm deutlich zu machen, dass ich mit Kühen und dergleichen nichts anzufangen wisse – ja sogar Angst vor ihnen habe. Aber er ließ nicht locker. Ich staune noch heute, dass er sich trotzdem auf so eine Beziehung einlassen wollte – obwohl ich mich schon in der Schweiz wie wild gebärdete, als ich bei einer Wanderung über eine Kuhweide gehen sollte.

Wieder zu Hause, erzählte ich meinen Eltern, dass ich jemanden kennen gelernt hätte. Meine Mutter lachte nur, als ich ihr sagte, was er von Beruf sei: „Du und einen Bauern heiraten!“ – das konnte sie – und sie war nicht die Einzige – sich nun wirklich nicht vorstellen. Ich selbst ja eigentlich auch nicht und mein erster Besuch ließ mich erst einmal die Ausmaße des Betriebes und des ganzen Anwesens sehen. Aber Liebe macht ja bekanntlich blind oder naiv oder beides.

Ich, die keine Ahnung von Landwirtschaft, der Führung eines großen Haushaltes, eines großen Gartens und Grundstücks hatte, die nie die Lebensform eines landwirtschaftlichen Betriebes und einer dazugehörigen Großfamilie kennen gelernt hatte, wollte mich nach einem kurzen Kennenlernen darauf einlassen. Ich kann heute selber nur noch darüber staunen.

Als ich anfing, meine Zelte zu Hause abzubrechen, schlug mir genug Unverständnis entgegen. Wie konnte man so eine sichere Anstellung und tolle Wohnung aufgeben, um „Viehmagd“ zu werden. Ich war nicht nur Dorf-, sondern sogar Stadtgespräch. Da merkte ich auf einmal, dass viele mit dem Beruf eines Landwirts nur Negatives verbanden – dass diesem Beruf etwas „Dümmliches“ und „Hinterwäldlerisches“ anhaftete. Etwas, was ich als Kind so nicht zu spüren bekommen hatte. Ich wurde von vielen belächelt – offen oder versteckt.

Ich selbst hatte deshalb Bedenken in den „Westen“ zu gehen, weil ich Angst davor hatte, dort vielleicht als „ach, die aus dem Osten“ abgestempelt zu werden und nichts zu gelten. Diese Bedenken sollten sich später glücklicherweise nicht bewahrheiten. Ich bewundere heute noch meinen Mut, trotzdem an der Beziehung festzuhalten. Zumal nicht alle aus der Familie meines Mannes gerade begeistert davon waren, als wir die Haushalte ordneten. Mein Mut zur Ver­änderung kam aber nicht aus mir, sondern entstammte vor allem aus meinem festen Glauben heraus, dass Gott uns zusammengeführt hat, diese Verbindung möchte und auch für alles weitere sorgen wird. Denn eigentlich bin ich eher ein Mensch, der an Altem und Bekanntem festhält und nicht so gerne Neues wagt.

Meinen Eltern bin ich noch heute dafür dankbar, dass sie mir nicht in meine Entscheidungen hineingeredet hatten, sondern mich gewähren ließen. Wie schwer ist ihnen das sicherlich gefallen! Ich sehe noch heute meinen Vater vor mir, als ich mich von ihm verabschiedete. Er weinte wie ein kleines Kind – so hatte ich ihn noch nie erlebt. Sie mussten die Tochter einem Mann geben, den sie vorher gerade zwei- oder dreimal gesehen hatten.

Auf den Tag genau ein Jahr nach unserem Kennenlernen heirateten wir. Es war von Anfang an klar, dass ich nicht regelmäßig mit im Betrieb helfen musste. Mein Mann hatte zu dieser Zeit noch einen Auszubildenden und stundenweise eine Fremdarbeitskraft. Anderer­seits wollte ich nicht sofort eine neue Arbeitsstelle außerhalb annehmen, sondern erst versuchen, in den neuen vier Wänden „heimisch“ zu werden. Deshalb blieb ich erst einmal zu Hause bzw. nahm nur einen von Bekannten angebotenen Mini-Job in meinem alten Beruf an.

Es fiel mir schwer, von 100 auf fast 0 im Berufsleben zu kommen. Obwohl ich zu Hause den „Schriftkram“ und die Buchführung erledigte, hatte ich das Gefühl, im Betrieb „außen vor zu stehen“. Und so begann ich nach drei Monaten, mit in den Stall zu gehen, wenn der Azubi nicht im Betrieb war. Natürlich wurden mir auch schnell meine Unzulänglichkeiten in puncto Haushaltsführung bewusst. Deshalb belegte ich schon wenige Wochen nach unserer Heirat einen Hauswirtschaftslehrgang, auch um Kontakte zu knüpfen. Denn mein eigener Freundes- und Bekanntenkreis war ja nun weit weg. Lehrgänge und Weiterbildungen hatte ich aber früher schon immer gerne besucht, um meinen Horizont zu erweitern. In diesem Lehrgang erwachten auch mein Interesse und meine Liebe zum Garten und zur Gartengestaltung, was mich früher nicht im Entferntesten interessiert hatte. Dieses Interesse hält bis heute an und ich besuchte im Laufe der nächsten Jahre noch viele Kurse zum Thema Gartengestaltung und bin begeistert dabei, meine Ideen umzusetzen.

Auch wir blieben nicht von den Generations- und Geschwisterkonflikten verschont, die es in vielen landwirtschaftlichen Betrieben gibt. Sie bereiteten uns manche schlaflose Nacht und Schmerzen in der Magengegend. Da wir die Haushalte aber von Anfang an geordnet hatten, blieb jedem die Möglichkeit, sich in seinem Bereich zu entfalten. Mein Mann erlitt 16 Monate nach unserer Hochzeit seinen ersten Bandscheibenvorfall, durch den er mehrere Monate durch Krankheit und Kur im Betrieb ausfiel. Der Betriebshelfer fiel nach einer Woche schon aus und einen Ersatz bekamen wir nicht. So musste ich in der arbeitsreichsten Zeit des Jahres den Betrieb allein führen. Da unser Lehrling keinen Führerschein für unseren großen Trecker hatte, musste ich alle Maschinen auf die Ländereien fahren, um das Maisland für die Aussaat vorzubereiten. Am Tag der Entlassung meines Mannes konnten wir den Mais drillen.

Nachdem unser Lehrling ausgelernt hatte, bewirtschafteten wir den Hof alleine. In dieser Zeit wurde ich mit unserem ersten Kind schwanger. Der Stalldienst wurde plötzlich für mich zur Qual, da ich den Stallgeruch überhaupt nicht mehr ertragen konnte. Mir war dort permanent übel und ich musste würgen. Ich war gesundheitlich angeschlagen und deshalb stellten wir drei Monate vor dem Ende der Schwangerschaft wieder einen Auszubildenden an. Dieser kam aber nicht aus der Landwirtschaft und musste bei Punkt Null beginnen.

Wenige Wochen später verfehlte ich drei Stufen auf unserer Treppe, stürzte und kam mit vorzeitigen Wehen ins Krankenhaus. Während dieser Zeit erlitt mein Mann einen weiteren Bandscheibenvorfall. Und ich kam wieder nach Hause und sollte mich schonen, gleichzeitig musste sich mein Mann ins Krankenhaus einweisen lassen – drei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin.

Fünf Tage vor der Geburt unseres Sohnes wurde mein Mann schließlich an der Bandscheibe operiert. Ich selber hatte zu dem Zeitpunkt die Illusion, dass bei mir alles glatt gehen würde, ich das Baby bekäme und nach kurzer Zeit selbst wieder im Betrieb stehen könnte. Denn mein Mann würde ja eine ganze Weile bis zur Genesung brauchen. Aber es sollte anders kommen: Die Wehen begannen nachts und der Betriebshelfer fuhr mich ins Krankenhaus. Er war total aufgeregt und es war ihm gar nicht geheuer, mich zum Kreißsaal zu bringen. Dort wurde er von den Schwestern angesprochen, als ob er der Vater wäre. Er war heilfroh, als ich den Irrtum aufklärte und er endlich nach Hause „flüchten“ konnte. Nach zweieinhalb Tagen in den Wehen, durch die mich eine Freundin wunderbar begleitete, bekam ich endlich einen Kaiserschnitt, der kompliziert verlief. Mein Sohn war gesund, nur mir ging es schlecht. Wir waren dennoch sehr glücklich, denn Christian wurde am 9. 11. 2000 geboren, dem elften Jahrestag des Mauerfalls. Ein schönes Datum für ein Kind aus einer deutsch-deutschen Verbindung. Wir waren und sind darauf besonders stolz – trotz aller Strapazen. Mein Mann erlebte das alles per Telefon in 80 Kilometer Entfernung zu mir. Dabei hatten wir uns eine gemeinsame Geburt gewünscht und extra einen Geburtsvorbereitungskurs für Ehepaare besucht.