Wie man ein Pferd fliegt - Kevin Ashton - E-Book

Wie man ein Pferd fliegt E-Book

Kevin Ashton

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Beschreibung

Wie schafft man etwas Neues? Viele glauben, nur Genies wie Steve Jobs von Apple oder Bill Gates von Microsoft können erfolgreiche Produkte entwickeln, die die Konkurrenz vom Markt fegen. Doch das ist falsch. Kevin Ashton beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dieser Frage. Aus seiner Arbeit am renommierten MIT und in mehreren erfolgreichen Start-up-Unternehmen weiß er: Man muss kein Genie sein, um Kreativität zu besitzen. Denn wirklich kreative Menschen warten nicht auf den einen phantastischen Einfall, der alle Probleme löst. Sie arbeiten sich Schritt für Schritt voran, bis sie am Ziel sind – und machen weiter, wenn andere längst aufgegeben haben.

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Kevin Ashton

Wie man ein Pferd fliegt

Ungewöhnliche Konzepte für Innovation und Kreativität

Aus dem Englischen von Sigrid Schmid

Titel der Originalausgabe:

How to Fly a Horse. The Secret History of Creation, Invention, and Discovery.

United States: Doubleday, a division of Random House LLC, New York, 2015.

Canada: Random House of Canada Limited, Toronto, Penguin Random House companies, 2015.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Datensind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdruckes und der Vervielfältigung des Buches oder von Teilen daraus, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung – mit Ausnahme der in den §§ 53, 54 URG genannten Sonderfälle –, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Kevin Ashton © 2015

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© 2016 Carl Hanser Verlag München

www.hanser-literaturverlage.de

Herstellung: Denise Jäkel

Umschlaggestaltung und Motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich

Datenkonvertierung E-Book: Kösel Media, Krugzell

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany

ISBN 978-3-446-44696-0

E-Book-ISBN 978-3-446-44704-2

Für Sasha, Arlo und Theo

Ein Genie ist, wer sich selbst am meisten gleicht.

THELONIUS MONK

Sei du selbst, so gut es geht. Dort ist dein Zuhause.

BILL MURRAY

Inhalt

Vorwort: Der Mythos

1 Kreativität ist normal

Edmond

Erfinder zählen

Das Neue

Das Ende des Genies

Termiten

Gewöhnliche Handlungen

2 Denken ist wie Gehen

Karl

Die Frage des Findens

Kleine Schritte, keine Sprünge

Aha!

Steves Geheimnis

Jede Menge Glühbirnen

Wie man ein Pferd fliegt

21 Schritte

3 Mit Widerständen ist zu rechnen

Judah

Fehlschlag

Fremde mit Süßigkeiten

Waschen Sie Ihre Hände

Bessere Mausefallen

Endgültig widerlegt

Der Ablehnungsreflex

Das Wesen des Nein

Einen Weg aus dem Irrgarten finden

4 Wie wir sehen

Robin

Man bemerkt nicht das, was man sieht

Offensichtliche Tatsachen

Shoshin

Struktur

Die Grenze zwischen Auge und Verstand

Der Zauberer vom Mars

5 Ehre, wem Ehre gebührt

Rosalind

Die falschen Chromosomen

Die Wahrheit in Ketten

Der Harriet-Effekt

Auf Schultern schon, aber nicht von Riesen

Erbe

6 Kausalitätsketten

William

Der Zusammenklang der Menschheit

Exkurs zu den Amischen

Die Büchse der Pandora

Wer das lesen kann, verdankt es einem Müller

7 Was uns antreibt

Woody

Eine Wahlmöglichkeit bei Belohnungen

Die Wegkreuzung

Die zwei Wahrheiten des Harry Block

Die andere Hälfte des Wissens

Eine Sucht, irgendwie

Anfänge

Von E nach F

8 Organisationen erschaffen

Kelly

Beweisen Sie es mir

Von Wahrheit und Leim

Sei schnell, sei leise, sei pünktlich

Das Geheimnis von Ernie und Bert

Wenn der Weg endlos erscheint

Ein ungeeignetes Arbeitsumfeld

Ein bisschen weniger reden

Woraus Organisationen bestehen

Rituale des Handelns

9 Tschüss, Genie

Die Erfindung des Genies

Das ursprüngliche Genie

Warum wir das Neue brauchen

Danksagungen

Danke

Anmerkungen

Literatur

Vorwort: Der Mythos

Im Jahr 1815 veröffentlichte die Allgemeine musikalische Zeitung einen Brief, in dem Mozart seinen Schaffensprozess beschreibt:

Wenn ich recht für mich bin und guter Dinge, etwa auf Reisen im Wagen, oder nach guter Mahlzeit beym Spazieren, und in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann: da kommen mir die Gedanken stromweis und am besten. […] Das erhitzt mir nun die Seele, wenn ich nämlich nicht gestört werde; da wird es immer grösser; und ich breite es immer weiter und heller aus; und das Ding wird im Kopfe wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so dass ichs hernach mit einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen, im Geiste übersehe, und es auch gar nicht nach einander, wie es hernach kommen muss, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen. […] Wenn ich nun hernach einmal zum Schreiben komme, so nehme ich aus dem Sack meines Gehirns, was vorher, wie gesagt, hineingesammlet ist. Darum kömmt es hernach auch ziemlich schnell aufs Papier; denn es ist, wie gesagt, eigentlich schon fertig, und wird auch selten viel anders, als es vorher im Kopfe gewesen ist.1

Mozarts größte Sinfonien, Konzerte und Opern fielen ihm also einfach so ein, komplett, wenn er allein und in Stimmung war. Er brauchte für die Kompositionen keinerlei Hilfsmittel. Er musste sich seine Meisterwerke einfach nur bis zu Ende vorstellen und sie dann nur noch aufschreiben.

Dieser Brief wurde häufig als beispielhafte Erklärung für den Schöpfungsprozess herangezogen. Er wurde in Teilen in The Mathematician’s Mind von Jacques Hadamard aus dem Jahr 1945 zitiert, in der von Philip E. Vernon im Jahr 1970 herausgegebenen Anthologie Creativity: Selected Readings, im preisgekrönten Computerdenken von Roger Penrose aus dem Jahr 1989, und auch Jonah Lehrer verweist in seinem Bestseller Imagine! von 2012 auf diesen Brief. Der Brief beeinflusste die Dichter Puschkin und Goethe ebenso wie den Dramatiker Peter Shaffer. Der Brief hat, direkt oder indirekt, die landläufige Vorstellung vom kreativen Schaffen geprägt.

Da ist nur ein kleines Problem: Mozart hat diesen Brief nie geschrieben. Er ist eine Fälschung. Diese wurde von dem Mozart-Biografen Otto Jahn im Jahr 1856 bewiesen und seither von anderen Gelehrten bestätigt.

In Mozarts echten Briefen – an seinen Vater, seine Schwester und andere – steht, wie er tatsächlich arbeitete. Er war außergewöhnlich talentiert, aber seine Kompositionen waren keine Zauberei. Er fertigte Rohfassungen an, überarbeitete sie und kam manchmal nicht weiter. Er brauchte ein Klavier oder Cembalo zum Arbeiten. Manche Arbeiten legte er beiseite und nahm sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder auf. Beim Schreiben berücksichtigte er theoretische und handwerkliche Aspekte, und er dachte viel über Rhythmus, Melodie und Harmonien nach. Durch sein Talent und lebenslange Übung arbeitete er schnell und flüssig, aber seine Arbeit war doch nur das: Arbeit. Seine Meisterwerke entsprangen nicht fertig vollendet seiner Vorstellungskraft, er schrieb sie nicht am Stück und unverändert auf, und er brauchte ein Instrument dazu. Der Brief ist nicht nur gefälscht, er ist falsch.2

Er hält sich, weil er einer romantischen Vorstellung von Erfindungskraft entspricht. Ein Mythos umgibt Neuschöpfungen. Genies erleben dramatische Momente der Erkenntnis, in denen Großes mit einem Schlag entsteht. Gedichte werden in Träumen geschrieben. Symphonien werden am Stück komponiert. Wissenschaftliche Erkenntnisse werden von Heureka-Rufen begleitet. Unternehmen entstehen durch Zauberei. Etwas ist von einem Moment auf den anderen einfach da. Den Weg zwischen Nichts und Neuem sehen wir nicht, wollen ihn vielleicht auch gar nicht sehen. Kunst muss mysteriöse Magie sein, nicht Schweiß und Schinderei. Durch die Vorstellung, dass jede elegante Gleichung, jedes schöne Gemälde und jede brillante Maschine durch Arbeit und Irrtum entsteht, als Frucht von Fehlstarts und Fehlschlägen, und dass jeder Schöpfer genauso fehlbar, klein und sterblich ist wie wir anderen, verliert die Kunst ihren Glanz. Der Gedanke, dass große Erfindungen uns auf wundersame Weise durch Genies geschenkt werden, ist verführerisch. Daraus entstand der Mythos.

Der Mythos prägt unsere Ansichten über kreatives Schaffen, seit sich die Menschheit Gedanken darüber macht. In antiken Kulturen glaubten die Menschen, Dinge würden nur entdeckt, nicht erschaffen. Sie glaubten, alles sei bereits erschaffen; dieselbe Ansicht vertritt Carl Sagan in einem Witz zum Thema: »Wenn man einen Apfelkuchen völlig selbst machen will, dann muss man zunächst einmal das Universum erfinden.« Im Mittelalter waren kreative Schöpfungen möglich, aber Gott vorbehalten und jenen, die von Gottes Geist inspiriert waren. In der Renaissance glaubte man endlich, Menschen seien zu kreativen Schöpfungen fähig, aber es mussten außergewöhnliche Männer sein – Leonardo, Michelangelo, Botticelli und dergleichen. Um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert wurde das kreative Schaffen zum Gegenstand zunächst philosophischer und dann psychologischer Untersuchungen. Man fragte sich: »Wie machen das diese außergewöhnlichen Menschen?« Und in der Antwort klang immer noch die mittelalterliche Vorstellung von der göttlichen Intervention mit. Damals erhielt der Mythos auch einen Großteil seiner heutigen Gestalt durch einige wenige Anekdoten über Geistesblitze und Geniestreiche – wie den gefälschten Mozart-Brief –, die immer wieder verbreitet wurden. Im Jahr 1926 leitete Alfred North Whitehead aus einem Verb ein Substantiv ab, das dem Mythos einen Namen gab: Kreativität.3

Der Mythos Kreativität besagt, dass nur wenige Menschen kreativ sein können, dass jeder erfolgreiche Schöpfer dramatische Geistesblitze der Erkenntnis erlebt, und dass kreatives Schaffen mehr Magie als Arbeit ist. Ein paar wenige Menschen haben die nötigen Voraussetzungen, und ihnen fliegt alles zu. Die kreativen Versuche aller anderen Menschen sind zum Scheitern verurteilt.

In Wie man ein Pferd fliegt geht es darum, warum dieser Mythos falsch ist.

Ich selbst glaubte an den Mythos bis zum Jahr 1999. Meine ersten Berufsjahre – in der Studentenzeitung der London University, bei einem Nudel-Start-up in Bloombury namens Wagamama und bei einem Seifen- und Papierhersteller namens Procter & Gamble – ließen annehmen, dass kreatives Schaffen nicht zu meinen Stärken gehörte. Es fiel mir schwer, meine Ideen umzusetzen. Die Leute wurden wütend, wenn ich es versuchte. Und wenn ich erfolgreich war, vergaßen sie, dass es meine Idee gewesen war. Ich las jedes Buch über kreatives Schaffen, das ich in die Finger bekam, und in allen stand dasselbe: Ideen sind magische Eingebungen, sie werden von den Menschen wohlwollend aufgenommen, und Schöpfer sind Sieger. Meine Ideen entstanden schrittweise, die Menschen reagierten eher hitzig als wohlwollend auf sie, und ich fühlte mich wie ein Loser. Meine Leistungsbeurteilungen waren schlecht. Ich war ständig in Gefahr, meinen Job zu verlieren. Ich verstand nicht, warum meine kreativen Erfahrungen nicht so verliefen, wie sie in den Büchern beschrieben wurden.

Auf die Idee, dass die Bücher unrecht haben könnten, kam ich im Jahr 1997. Damals arbeitete ich gerade an der Lösung eines scheinbar langweiligen Problems, das sich dann doch als interessant erwies. Ich hatte Schwierigkeiten, Läden mit einer beliebten Lippenstiftsorte von Procter & Gamble versorgt zu halten. In der Hälfte der Läden war er immer ausverkauft. Ich forschte nach und fand heraus, dass die Ursache des Problems ein ungenügender Informationsfluss war. Hierin lag eine der größten Hürden der Informationstechnologie im 20. Jahrhundert. Fast alle Daten in den Computern der 1990er-Jahre stammten von Menschen, die auf Tastaturen tippten oder manchmal Strichcodes einscannten. Die Verkäufer konnten aber nicht den ganzen Tag die Regale anstarren, um dann die Daten dessen, was sie sahen, einzugeben, dazu fehlte ihnen die Zeit. Und so war das Computersystem jedes Ladens blind. Die Ladenbesitzer bemerkten nicht, dass der Lippenstift ausverkauft war, die Käufer schon. Sie zuckten dann mit den Schultern und nahmen eine andere Farbe, wodurch meine Verkaufszahlen wahrscheinlich sanken, oder sie kauften überhaupt keinen Lippenstift. Dann sanken auch die Verkaufszahlen des Ladens. Der fehlende Lippenstift war eigentlich ein winziges Problem, aber er war die Folge eines der größten Probleme überhaupt: Computer waren Gehirne ohne Wahrnehmung.

Es war ein so offensichtliches Problem, dass es nur ganz wenigen Menschen auffiel. Im Jahr 1997 gab es Computer seit 50 Jahren. Die meisten Menschen waren mit ihnen aufgewachsen und waren ihre Funktionsweise gewohnt. Computer verarbeiteten Daten, die Menschen eingaben. Wie der Name schon sagte, wurden Computer als denkende Maschinen betrachtet, nicht als wahrnehmende Maschinen.

Doch so waren intelligente Maschinen nicht von Anfang an konzipiert. Im Jahr 1950 schrieb Alan Turing, der Erfinder der Computertechnologie: »Wir dürfen hoffen, daß Maschinen schließlich auf allen rein intellektuellen Gebieten mit dem Menschen konkurrieren. Aber mit welchem sollte man am besten beginnen? Viele glauben, daß eine sehr abstrakte Tätigkeit, beispielsweise das Schachspielen, am besten geeignet wäre. Ebenso kann man behaupten, daß es das beste wäre, Maschinen mit den besten Sinnesorganen auszustatten, die überhaupt für Geld zu haben sind, […] ich meine, daß man beide Ansätze erproben sollte.«4

Doch nur wenige Menschen beschäftigten sich mit dem zweiten Ansatz. Im 20. Jahrhundert wurden die Computer schneller und kleiner, und sie wurden miteinander vernetzt, aber sie bekamen nicht »die besten Sinnesorgane, die für Geld zu haben sind«. Sie bekamen überhaupt keine »Sinnesorgane«. Und so kam es, dass im Mai 1997 ein Computer namens Deep Blue den amtierenden menschlichen Schachweltmeister Garri Kasparow zum ersten Mal schlug, aber kein Computer feststellen konnte, ob ein Lippenstift in einem Regal lag. Dieses Problem wollte ich lösen.

Ich setzte einen winzigen Funkchip in einen Lippenstift ein, baute eine Antenne ins Regal ein und meldete dies unter der allgemein gehaltenen Bezeichnung »Vorratssystem« als mein erstes Patent an. Der Mikrochip stellte eine Verbindung zum Internet her, das in den 1990ern gerade für die Öffentlichkeit zugänglich wurde, speicherte dort die Daten und sparte so Geld und Speicherplatz. Damit die Manager bei Procter & Gamble das System, mit dem man Dinge wie Lippenstift – und Windeln, Waschmittel, Kartoffelchips oder jedes andere Objekt – mit dem Internet verbinden konnte, das besser verstanden, gab ich ihm einen kurzen und ungrammatischen Namen: »Das Internet der Dinge.« Bei der Umsetzung arbeitete ich mit Sanjay Sarma, David Brock und Sunny Siu vom Massachusetts Institute of Technology zusammen. Im Jahr 1999 gründeten wir gemeinsam ein Forschungszentrum. Ich siedelte von England in die Vereinigten Staaten über und wurde Geschäftsführer des Zentrums.

Im Jahr 2003 wurde unsere Forschung von 103 Firmensponsoren unterstützt, uns standen weitere Labore an Universitäten in Australien, China, England, Japan und in der Schweiz zur Verfügung, und das Massachusetts Institute of Technology schloss einen lukrativen Lizenzvertrag ab, durch den unsere Technologie kommerziell einsetzbar wurde.

Im Jahr 2013 wurde mein Ausdruck »Internet of Things« ins Oxford Dictionary aufgenommen und als »geplante Weiterentwicklung des Internets, bei der alltägliche Gegenstände netzwerkfähig gemacht werden und so die Möglichkeit erhalten, Daten zu senden und zu empfangen«, definiert.

Diese Erfahrung hatte mit den Geschichten in den Büchern über »Kreativität«, die ich gelesen hatte, nicht das Geringste gemeinsam. Es gab keine Zauberei und nur sehr wenige Geistesblitze – nur viele Tausend Stunden Arbeit. Der Aufbau des Internets der Dinge war schwierig und ging langsam voran, politische Überlegungen spielten eine große Rolle, wir machten jede Menge Fehler, und niemand folgte einem großen Plan oder einer Strategie. Ich lernte, Erfolg zu haben, indem ich lernte, mit Misserfolgen umzugehen. Ich lernte, mit Konflikten zu rechnen. Ich lernte, mich nicht von Widerständen überraschen zu lassen, sondern mich auf sie vorzubereiten.

Meine Erfahrungen halfen mir beim Aufbau mehrerer Technologieunternehmen. Eines von ihnen gehörte im Jahr 2014 zu den zehn »innovativsten Unternehmen im Internet der Dinge«, und zwei weitere wurden an größere Unternehmen verkauft – weniger als ein Jahr, nachdem ich sie gegründet hatte.

Ich hielt außerdem noch Vorträge über meine Erfahrungen beim kreativen Schaffen. Mein beliebtester Vortrag zog so viele Menschen mit so vielen Fragen an, dass ich jedes Mal im Anschluss mindestens eine Stunde Zeit einplanen musste, um alle Fragen aus dem Publikum beantworten zu können. Auf diesem Vortrag basiert dieses Buch. In jedem Kapitel erzähle ich die wahre Geschichte eines kreativen Menschen; jede Geschichte spielt an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit, handelt von einem anderen kreativen Gebiet, und jede liefert wichtige Erkenntnisse über den kreativen Schaffensprozess. Es gibt Geschichten in den Geschichten und kleine Exkursionen in Wissenschaft, Geschichte und Philosophie.

Zusammen machen diese Geschichten ein Muster sichtbar, wie Menschen neue Dinge erschaffen, das Mut macht, aber auch schwierig ist. Ermutigend daran ist, dass jeder schöpferisch tätig sein kann, das lässt sich ziemlich schlüssig beweisen. Das Schwierige besteht darin, dass es keinen magischen Moment der Schöpfung gibt. Schöpferisch tätige Menschen verbringen nahezu ihre ganze Zeit damit, schöpferisch zu sein, trotz Zweifeln weiterzumachen, sie erleben Fehlschläge, Spott und Zurückweisung, bis sie endlich erfolgreich etwas Neues und Nützliches erschaffen haben. Es gibt keine Tricks, keine Abkürzungen oder Kreativ-in-null-komma-nix-Methoden. Es handelt sich um einen gewöhnlichen Vorgang, auch wenn das Ergebnis ungewöhnlich ist.

Kreatives Schaffen ist keine Magie, sondern Arbeit.

1 Kreativität ist normal

Edmond

Im Indischen Ozean, 2500 Kilometer östlich von Afrika und 6500 Kilometer westlich von Australien, liegt eine Insel, die die Portugiesen Santa Apolónia nannten, die Briten Bourbon und die Franzosen, ein Zeit lang, Île Bonaparte. Heute heißt die Insel Réunion. In Sainte-Suzanne, einer der ältesten Städte auf Réunion, steht eine Bronzestatue. Sie zeigt einen jungen Afrikaner aus dem Jahr 1841 im Sonntagsstaat, mit einer Jacke, einer Fliege und einer Flatfront-Hose, die auf dem Boden aufliegt. Schuhe trägt er nicht. Seine rechte Hand ist nach vorn gestreckt, aber nicht, als wolle er jemanden begrüßen, sondern mit gekrümmten Fingern, als wolle er eine Münze werfen. Er ist zwölf Jahre alt, eine Waise und ein Sklave, sein Name ist Edmond.1

Statuen von den versklavten Kindern Afrikas gibt es weltweit nur wenige. Um zu verstehen, warum Edmond dort auf diesem einsamen Felsen im Ozean mit eben jener Handgeste steht, muss man mehrere Tausend Kilometer nach Westen und mehrere Hundert Jahre in die Vergangenheit reisen.

In Papantla, am Golf von Mexiko, wird seit Menschengedenken die Frucht einer Kletterorchidee getrocknet und als Gewürz verwendet. Um 1400 trieben die Azteken die »schwarze Blume« als Steuer ein. Im Jahr 1519 brachten die Spanier sie unter dem Namen »kleine Schote« (vainilla) nach Europa. Im Jahr 1703 benannte der französische Botaniker Charles Plumier sie in »vanilla« um.2

Der Vanilleanbau ist schwierig. Die Vanilleorchidee ist eine Kriechpflanze und hat mit den Phalaenopsis-Blumen, die wir zu Hause aufstellen, nicht viel zu tun. Vanilleorchideen können mehrere Hundert Jahre alt und sehr groß werden. Manche erreichen die Höhe eines fünfstöckigen Gebäudes und erstrecken sich über mehrere Hundert Quadratmeter. Frauenschuhorchideen gelten als die höchsten Orchideenpflanzen und Tigerorchideen als die größten, aber im Vergleich mit der Vanille sind sie winzig. Mehrere Tausend Jahre war das Geheimnis ihrer Blüte nur jenen bekannt, die sie anpflanzten. Sie ist nicht schwarz, wie die Azteken glaubten, sondern besteht aus blassen länglichen Kelchen, die nur einmal im Jahr einen Morgen lang blühen. Wenn die Blüte bestäubt wird, reift in neun Monaten eine lange, grüne, bohnenähnliche Kapsel heran, die genau zum richtigen Zeitpunkt gepflückt werden muss. Erntet man zu früh, ist die Kapsel zu klein; erntet man zu spät, bricht die Kapsel auf und wird unbrauchbar. Die geernteten Schoten werden mehrere Tage in der Sonne ausgelegt, bis sie fertig ausgereift sind. Zu diesem Zeitpunkt riechen sie noch nicht nach Vanille. Der Duft entsteht erst durch die Fermentierung: Die Schoten liegen zwei Wochen lang tagsüber auf Wolldecken im Freien und werden zum Schwitzen jede Nacht eingepackt. Danach werden die Schoten vier Monate lang getrocknet und am Ende von Hand gestreckt und zwischen den Fingern gerollt. Das Ergebnis sind ölig-schwarze Fäden, die mit Silber oder Gold aufgewogen werden.

Die Europäer waren begeistert von der Vanille. Anne von Österreich, Tochter von König Philip III. von Spanien, trank sie in heißer Schokolade. Königin Elizabeth I. von England aß sie in Nachspeisen. Unter König Heinrich IV. von Frankreich drohte Vanillefälschern die Prügelstrafe. Thomas Jefferson entdeckte die Vanille in Paris und schrieb das erste amerikanische Rezept für Vanilleeis.

Doch niemand außerhalb von Mexiko schaffte es, die Vanilleorchidee anzubauen. 300 Jahre lang wurden Pflanzen nach Europa gebracht, die dort aber nicht blühten. Nicht eher als im Jahr 1806 blühte die erste Vanilleorchidee in einem Londoner Gewächshaus, und es dauerte weitere 30 Jahre, bis in Belgien zum ersten Mal in Europa eine Pflanze Früchte trug.

Das Problem war, dass die Orchideen nicht bestäubt wurden. Die Blüte in London war ein Zufallsereignis. Die Frucht in Belgien war das Ergebnis einer komplizierten künstlichen Bestäubung. Erst Ende des 19. Jahrhunderts folgerte Charles Darwin, dass ein mexikanisches Insekt für die natürliche Bestäubung der Vanille verantwortlich sein musste, und erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde eine leuchtend grüne Biene namens Euglossa viridissima als dieses Insekt identifiziert. Ohne diesen Bestäuber hatte Europa ein Problem. Die Nachfrage nach Vanille stieg ständig, aber Mexiko produzierte nur ein oder zwei Tonnen pro Jahr. Die Europäer brauchten eine weitere Bezugsquelle. Die Spanier hofften, die Vanille würde auf den Philippinen gedeihen. Die Holländer pflanzten sie auf Java an. Die Briten schickten sie nach Indien. All diese Versuche schlugen fehl.

Und hier kommt Edmond ins Spiel. Er wurde im Jahr 1829 in Sainte-Suzanne geboren. Damals hieß Réunion noch Bourbon. Edmonds Mutter, Mélise, starb bei der Geburt. Seinen Vater kannte er nicht. Sklaven hatten damals keine Nachnamen – er war einfach nur »Edmond«. Seine Besitzerin, Elvire Bellier-Beaumont, verschenkte den nur wenige Jahre alten Edmond an ihren Bruder Ferréol, der im nahe gelegenen Belle-Vue eine Plantage besaß. Edmond folgte Ferréol Bellier-Beaumont als Kind über die ganze Plantage und lernte so die Obst-, Gemüse- und Blumensorten kennen, die dort angebaut wurden. Eine besondere Kuriosität der Plantage war eine Vanillepflanze, die Ferréol seit 1822 am Leben hielt.

Wie alle Vanillepflanzen auf Réunion trug auch Ferréols Orchidee keine Früchte. Französische Siedler hatten seit 1819 versucht, die Pflanze auf der Insel anzusiedeln. Nach einigen Fehlversuchen – einige Orchideen gehörten der falschen Art an, andere gingen ein – gab es schließlich 100 lebende Exemplare. Doch auf Réunion hatte man mit der Vanille ebenso wenig Erfolg wie in den anderen europäischen Kolonien. Die Orchideen blühten selten und trugen niemals Früchte.

Doch eines Morgens gegen Ende des Jahres 1841, bei Frühlingsbeginn auf der südlichen Erdhalbkugel, sah Ferréol bei seinem üblichen Rundgang mit Edmond zu seiner Überraschung zwei grüne Kapseln an der Vanilleranke hängen. Seine Orchidee, die 20 Jahre lang unfruchtbar gewesen war, trug Früchte. Noch überraschter war er allerdings, als der zwölfjährige Edmond ihm sagte, er habe die Pflanze bestäubt.

Auch heute noch gibt es Menschen auf Réunion, die das nicht glauben. Sie können sich nicht vorstellen, dass ein Kind, ein Sklave und vor allem ein Afrikaner das Problem lösen konnte, an dem Europa mehrere Hundert Jahre lang gescheitert war. Diese Leute sagen, es sei reiner Zufall gewesen – dass Edmond versucht habe, die Blüten nach einem Streit mit Ferréol zu beschädigen, oder dass es geschehen sei, als er ein Mädchen in den Gärten verführt hatte.

Auch Ferréol glaubte dem Jungen zunächst nicht. Doch als sich wenige Tage später weitere Früchte entwickelten, bat er um eine Demonstration. Edmond schob die Lippe der Vanilleblüte zurück, hob mit einem zahnstochergroßen Stück Bambus den Blütenteil an, der die Selbstbefruchtung verhindert, und drückte dann vorsichtig den pollengefüllten Staubbeutel und die Pollen auffangende Narbe zusammen. Die Franzosen nennen diesen Vorgang heute noch le geste d’Edmond – Edmonds Handgriff. Ferréol rief die anderen Plantagenbesitzer zusammen, und kurze Zeit später reiste Edmond über die Insel und brachte anderen Sklaven bei, wie man die Vanilleorchideen befruchtete. Nach sieben Jahren produzierte Réunion 100 Pfund getrocknete Vanilleschoten pro Jahr. Nach zehn Jahren waren es zwei Tonnen. Am Ende des Jahrhunderts produzierte Réunion 200 Tonnen und damit mehr als Mexiko.

Im Juni 1848 schenkte Ferréol Edmond die Freiheit, sechs Monate früher, als die meisten anderen Sklaven von Réunion die Freiheit erhielten. Edmond bekam den Nachnamen Albius, was auf Latein »Weißer« bedeutet. Manche vermuten, das sei auf der rassistisch geprägten Insel Réunion ein Kompliment gewesen. Andere halten es für eine Beleidigung durch die Namensregistratoren. Doch mit welcher Absicht auch immer Edmond seinen Namen erhielt, er brachte ihm kein Glück. Edmond verließ die Plantage und ging in die Stadt, wo er wegen Diebstahls verhaftet wurde. Ferréol konnte die Gefängnisstrafe nicht verhindern, aber er erreichte Edmonds vorzeitige Freilassung nach drei statt fünf Jahren. Edmond starb mit 51 Jahren im Jahr 1880. In einem kleinen Artikel in einer Zeitung auf Réunion, Le Moniteur, stand zu lesen, sein Ende sei »mittellos und elend« gewesen.

Edmonds Erfindung verbreitete sich nach Mauritius, erreichte die Seychellen und die große Insel im Westen von Réunion: Madagaskar. Madagaskar bot perfekte Bedingungen für die Vanille. Im 20. Jahrhundert war die Jahresernte an Vanille auf der Insel mehr als 100 Millionen US-Dollar wert. Damit produzierte Madagaskar die meiste Vanille weltweit.

Die Nachfrage nach Vanille stieg mit wachsendem Angebot weiter. Heute ist sie das beliebteste Gewürz der Welt und, nach Safran, das zweitteuerste. Sie findet tausendfach Verwendung, manchmal bei unerwarteten Dingen. Mehr als ein Drittel der Eiscreme weltweit hat Jeffersons originale Geschmacksrichtung: Vanille. Vanille ist der Hauptaromastoff in Coke, und Coca-Cola gilt als der größte Abnehmer von Vanille auf dem Weltmarkt. Die edlen Parfums Chanel No. 5, Opium und Angel enthalten die mit 10 000 US-Dollar pro Pfund teuerste Vanille der Welt. Die meisten Schokoladensorten enthalten Vanille, ebenso wie viele Reinigungsprodukte, Kosmetikartikel und Kerzen. An jenem Tag des Jahres 1841, als Edmond Ferréol seine Entdeckung vorführte, wurden weltweit weniger als 2000 Vanilleschoten produziert, alle in Mexiko, und alle waren das Ergebnis von Bestäubung durch Bienen. Am gleichen Tag im Jahr 2010 wurden weltweit mehr als fünf Millionen Vanilleschoten produziert, unter anderem in Indonesien, China und Kenia, und fast alle Schoten – auch die mexikanischen – waren das Ergebnis von le geste d’Edmond.

Erfinder zählen

Ungewöhnlich an Edmonds Geschichte ist nicht, dass ein junger Sklave etwas Wichtiges erschaffen hat, sondern dass seine Leistung anerkannt wurde. Ferréol tat alles, um die Erinnerung an Edmond wachzuhalten. Er erzählte den Plantagenbesitzern von Réunion, dass Edmond die erste Vanille bestäubt hatte. Er machte Werbung für Edmond: »Dieser junge Schwarze verdient die Anerkennung dieses Landes. Das Land steht in seiner Schuld, weil er einen neuen Industriezweig mit einem fantastischen Produkt begründet hat.« Als Jean Michel Claude Richard, Direktor des botanischen Gartens von Réunion, behauptete, er habe die Bestäubungstechnik erfunden und sie Edmond gezeigt, widersprach Ferréol. »Aufgrund seines hohen Alters, eines schlechten Gedächtnisses oder aus anderen Gründen«, schrieb er, »glaubt Mr. Richard heute, er habe das Geheimnis der Bestäubung der Vanille entdeckt, und er glaubt, er habe die Technik dem Menschen beigebracht, der sie entdeckt hat! Lassen wir ihm seine Illusion.« Ohne Ferréols Bemühungen wäre die Wahrheit in Vergessenheit geraten.

In den meisten Fällen geriet die Wahrheit tatsächlich in Vergessenheit. So wissen wir nicht, wer als Erster bemerkte, dass die Frucht einer Orchidee so aufbereitet werden kann, dass sie gut schmeckt. Die Vanille wurde von Menschen entdeckt, an die sich schon lange niemand mehr erinnert. Das ist nicht die Ausnahme, sondern die Norm. Unsere Welt besteht zum größten Teil aus Erfindungen von Menschen, an die sich schon lange niemand mehr erinnert – keine außergewöhnlichen Menschen, sondern ganz gewöhnliche.

Vor der Renaissance wurden Autoren und Erfinder nur selten namentlich genannt oder ihre persönlichen Leistungen anerkannt. Bis zu Beginn des 15. Jahrhunderts hatte das Wort »Autor« die Bedeutung »Vater«, vom lateinischen Wort auctor, »Meister«. Auctor-schaft implizierte Autorität, die in den meisten Teilen der Welt seit Gilgameschs Herrschaft über Uruk 4000 Jahre zuvor das gottgegebene Recht von Königen und religiösen Führern gewesen war. Gewöhnlichen Sterblichen war sie verwehrt. Bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts war ein »Erfinder« genau das, ein Entdecker oder »Er-Finder«, jemand, der etwas findet, kein Schöpfer, und auch die namentliche Anerkennung ihrer Leistungen setzte sich erst ab Ende des 16. Jahrhunderts durch.

Auch aus diesem Grund weiß man aus der Zeit vor dem 14. Jahrhundert nur selten, wer was erfunden hat. Es lag nicht daran, dass keine Aufzeichnungen gemacht wurden – Schrift gab es schon seit Tausenden von Jahren. Und es lag auch nicht daran, dass nichts erschaffen wurde – die Wurzeln von allem, was wir heute nutzen, reichen bis an die Anfänge der Menschheit zurück. Doch bis zur Renaissance waren Menschen, die Dinge erschufen, nicht besonders wichtig. Allein die Vorstellung, dass zumindest manche Menschen, die etwas erschufen, Anerkennung verdienten, war ein großer Fortschritt. Deswegen wissen wir heute, dass Johannes Gutenberg um 1440 in Deutschland den Buchdruck erfand, aber wir wissen nicht, wer um 1185 in England die Windmühlen erfand. Wir wissen, dass Giunta Pisano um 1250 das Kruzifix in der Basilica San Domenico in Bologna malte, aber wir wissen nicht, wer um 1110 das Mosaik des heiligen Demetrios im St. Michaelskloster in Kiew erschuf.

Es gibt Ausnahmen. Wir kennen die Namen von mehreren Hundert griechischen Philosophen der Antike, von Acrion bis Zeno, und auch die Namen einiger weniger griechischer Ingenieure aus dieser Zeit, Eupalinos, Philo und Ctesibius etwa. Auch einige chinesische Künstler aus der Zeit ab 400 n. Chr. sind namentlich bekannt, unter ihnen die Kalligrafin Wei Shuo und ihr Schüler Wang Xizhi. Doch meist sah es anders aus. Man kann grob sagen, dass ab der Mitte des 13. Jahrhunderts bekannt wurde, wer was erschuf. Diese Entwicklung verstärkte sich in der europäischen Renaissance zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert und hält bis heute an. Die Gründe für diesen Wandel sind kompliziert und unter Historikern umstritten – dabei geht es um Machtkämpfe der europäischen Kirchen, den Aufstieg der Naturwissenschaften und die Wiederentdeckung der Philosophie der Antike –, doch es gibt kaum Zweifel daran, dass die meisten Urheber erst nach dem Jahr 1200 Anerkennung für ihre Schöpfungen erhielten.

Dies geschah unter anderem in Form von Patenten, die eine Urheberschaft innerhalb strenger Richtlinien anerkennen. Die ersten Patente wurden im 15. Jahrhundert in Italien vergeben, in Großbritannien und den Vereinigten Staaten im 17. und in Frankreich im 18. Jahrhundert. Das moderne US-Patent- und Markenamt stellte am 31. Juli 1790 das erste Patent aus. Am 16. August 2011 vergab es das achtmillionste Patent.3 Das Patentamt führt keine Aufzeichnungen darüber, wie viele verschiedene Leute Patente anmeldeten, aber der Ökonom Manuel Trajtenberg fand eine Möglichkeit, das festzustellen. Er analysierte die Namen phonetisch, glich die Treffer mit Postleitzahlen, Miterfindern und anderen Informationen ab und identifizierte so jeden Erfinder eindeutig. Trajtenbergs Daten zufolge erhielten bis zum Jahresende 2011 mehr als sechs Millionen Menschen mindestens ein US-Patent.4

Die Erfinder sind nicht gleichmäßig über die Jahre verteilt. Es werden immer mehr.5 Es dauerte 130 Jahre, bis die erste Million Erfinder ihr Patent bekommen hatte, die zweite Million brauchte 35 Jahre, die dritte Million 22 Jahre, die vierte Million 17 Jahre, die fünfte Million zehn Jahre, und bis zum sechsmillionsten Erfinder dauerte es noch acht Jahre. Selbst wenn man die ausländischen Erfinder herausrechnet und das Bevölkerungswachstum berücksichtigt, ergibt sich ein unverkennbarer Trend. Im Jahr 1800 erhielt etwa einer von 175 000 Amerikanern ein Patent. Im Jahr 2000 meldete einer von 4000 Amerikanern ein Patent an.6

Nicht alle Schöpfungen werden durch Patente geschützt. Bücher, Lieder, Filme und andere Kunstwerke unterliegen stattdessen dem Urheberrecht oder Copyright. In den Vereinigten Staaten ist die Überwachung des Copyrights die Aufgabe des Copyright Office, das zur Library of Congress gehört. Beim Copyright steigen die Zahlen ebenso wie bei den Patenten. Im Jahr 1870 wurden 5600 Werke fürs Copyright registriert.7 Im Jahr 1886 stieg die Zahl auf über 31 000, sodass Ainsworth Spofford, damaliger Leiter der Library of Congress, um mehr Platz bitten musste. »Wieder einmal muss auf die Schwierigkeit und Probleme bei der Aufstellung des Jahresverzeichnisses aller kürzlich fertiggestellten Bücher und Pamphlete hingewiesen werden«, schrieb er in einem Bericht an den Kongress. »In jedem Jahr und in jedem Monat werden die Sammlungen noch überfüllter, und obwohl viele weitere Räume bereits gefüllt wurden, um die Hauptbibliothek zu entlasten, wird es immer schwieriger, diese riesige Menge unsortierter Bücher zu bewältigen.« Dieselbe Klage wurde immer wieder vorgebracht. Im Jahr 1946 berichtete der Leiter des Copyright Office, Sam Bass Warner: »Die Anzahl der Copyrightmeldungen hat mit 202 144 einen historischen Höchststand erreicht. Der bestehende Mitarbeiterstab war von der Menge derart überfordert, dass der Kongress auf den Bedarf reagierte und großzügig Mittel für weitere Mitarbeiter bereitstellte.«8 Im Jahr 1991 war die Zahl der Copyrightmeldungen auf über 600 000 gestiegen. Wie bei den Patenten war die Zunahme auch hier höher als das Bevölkerungswachstum. Im Jahr 1870 kam auf einen von 7000 US-Bürgern eine Copyrightmeldung. Im Jahr 1991 war es schon eine Copyrightmeldung pro 400 US-Bürger.

Auch in den Naturwissenschaften werden Schöpfungen heute stärker anerkannt. Im Science Citation Index werden die wichtigsten fachlektorierten Zeitschriften aus Naturwissenschaft und Technik berücksichtigt. Für das Jahr 1955 verzeichnet der Index 125 000 neue wissenschaftliche Artikel – etwa einen pro 1350 US-Bürger. Für das Jahr 2005 sind im Index mehr als 1 250 000 wissenschaftliche Artikel gelistet – einer pro 250 US-Bürger.9

Patente, Copyrightmeldungen und fachlektorierte Artikel geben nur ein ungenaues Bild wieder. Ihre Zunahme wird nicht nur durch Wissen, sondern auch durch Geld befeuert. Nicht jede Arbeit, die diese Art der Anerkennung erhält, ist auch gut. Und wie ich später zeigen werde, ist auch die Nennung einzelner Urheber manchmal irreführend. Kreatives Schaffen ist eine Kettenreaktion: Tausende Menschen tragen dazu bei, die meisten von ihnen anonym, aber alle sind kreativ. Doch angesichts der hohen Zahlen wird eines völlig klar, selbst wenn man sich dabei verzählt hat oder nicht alles mitgezählt hat: In den letzten Jahrhunderten wurden mehr Menschen aus mehr Fachbereichen als Urheber anerkannt.

Die Menschheit war nicht kreativer als vorher. Die Menschen in der Renaissance wurden in eine Welt hineingeboren, in der menschliche Erfindungen aus Tausenden von Jahren zur Verfügung standen: Kleidung, Kathedralen, Mathematik, Schrift, Kunst, Landwirtschaft, Schiffe, Straßen, Haustiere, Häuser, Brot und Bier, um nur einen Bruchteil zu nennen. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts und die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts mögen wie eine Zeit noch nie da gewesener Innovationsfreude wirken, aber dafür gibt es andere Gründe, auf die ich später noch eingehen werde. Doch diese Zahlen zeigen etwas anderes: Wenn man anfängt, die Urheber zu zählen, merkt man, dass sehr viele Menschen etwas erschaffen. Im Jahr 2011 meldeten fast genauso viele US-Amerikaner ihr erstes Patent an wie üblicherweise ein Autorennen des US-amerikanischen Motorsportverbandes NASCAR besuchen.10 Kreatives Schaffen ist nicht einer kleinen Elite vorbehalten. Von einer kleinen Elite kann noch nicht einmal ansatzweise die Rede sein.

Die Frage ist nicht, ob Erfindungen das alleinige Vorrecht einer winzigen Minderheit sind, sondern das genaue Gegenteil: Wie viele von uns sind kreativ? Die so offensichtliche wie unausgesprochene Antwort lautet: Wir alle. Der Widerstand gegen die schiere Möglichkeit, dass Edmond, ein Junge ohne Schulbildung, etwas Wichtiges erfinden konnte, gründete auf dem Mythos, dass kreatives Schaffen etwas Außergewöhnliches ist. Kreatives Schaffen ist nicht außergewöhnlich, auch wenn die Ergebnisse es manchmal sind. Kreatives Schaffen ist menschlich. Wir alle zusammen sind Schöpfer. Jeder ist ein Schöpfer.

Das Neue

Auch ohne Zahlen wird deutlich, dass kreatives Schaffen nicht nur wenigen Genies mit gelegentlicher Inspiration vorbehalten ist. Wir sind umgeben von Schöpfungskraft. Alles, was wir sehen und fühlen, entstand durch sie oder wurde durch sie beeinflusst. Kreatives Schaffen ist zu verbreitet für seltene Schöpfungen.

Dieses Buch ist eine kreative Schöpfung. Sie haben wahrscheinlich mittels einer kreativen Schöpfung davon erfahren, oder die Person, die Ihnen davon erzählt hat, hat so davon erfahren. Das Buch wurde durch kreatives Schaffen geschrieben, und kreative Schöpfungen sorgen dafür, dass Sie es verstehen. Sie werden gerade jetzt oder spätestens nach Sonnenuntergang von einer kreativen Schöpfung beleuchtet. Sie werden durch kreative Schöpfungen gewärmt, gekühlt oder zumindest vor dem Wetter geschützt – durch Kleidung, Wände und Fenster. Über den Himmel über Ihnen ziehen tagsüber Rauch- und Smogschwaden, und nachts wird er durch elektrisches Licht verschmutzt – alles Folgen kreativer Schöpfungen. Über Ihrem Kopf sehen Sie ein Flugzeug vorbeifliegen oder einen Satelliten oder sich langsam auflösende Kondensstreifen. Äpfel, Kühe und alle anderen landwirtschaftlichen Produkte, so natürlich sie erscheinen mögen, sind ebenfalls kreative Schöpfungen: Sie sind das Ergebnis von vielen Tausend Jahren Innovation in Handel, Zucht, Fütterung, Ackerbau und Nutztierhaltung und – sofern man nicht auf einem Bauernhof lebt – das Produkt von Konservierung und Transport.

Wir alle sind das Ergebnis von kreativen Schöpfungen. Sie halfen dabei, dass unsere Eltern sich trafen. Wahrscheinlich halfen sie bei der Geburt, während der Schwangerschaft und möglicherweise bei der Empfängnis. Vor der Geburt schafften menschliche Schöpfungen Krankheiten und Gefahren aus dem Weg, die zum Tod hätten führen können. Nach der Geburt wird man durch Schöpfungen geimpft und gegen weitere Gefahren geschützt. Schöpfungen helfen beim Heilen von Wunden und erleichtern Schmerzen. Bei unseren Eltern und deren Eltern war es schon genauso. Gerade eben erst sorgte eine Schöpfung dafür, dass Sie zu essen und zu trinken bekamen. Wegen kreativer Schöpfungen sind Sie, wo Sie sind. Autos, Schuhe, Sättel oder Schiffe transportierten Sie oder Ihre Eltern oder Großeltern an den Ort, den Sie heute als Heimat bezeichnen, und den einige kreative Schöpfungen erst angenehm bewohnbar machten – vorher war er im Sommer zu heiß oder im Winter zu kalt oder zu nass oder zu sumpfig oder zu weit von der nächsten Trinkwasser- oder Nahrungsquelle entfernt, es gab dort zu viele Raubtiere, oder vielleicht traf alles davon zu.

Überall hört man kreative Schöpfungen; eine Notarztsirene, Musik in der Ferne, Kirchenglocken, Handys, Rasenmäher oder Schneefräsen, Basketbälle und Fahrräder, Wellen an der Brandungsmauer, Hämmer und Sägen, das Knistern und Knacken von schmelzenden Eiswürfeln, selbst das Bellen eines Hundes, der sich durch Jahrtausende menschlicher Züchtung aus dem Wolf entwickelte, oder das Schnurren einer Katze, die alle von nur fünf afrikanischen Wildkatzen abstammen, aus denen Menschen in 10 000 Jahren alle Hauskatzen züchteten.11 Alles, was durch bewusste Eingriffe von Menschen entstand, ist eine Erfindung, eine kreative Schöpfung, etwas Neues.

Wohin wir auch blicken oder lauschen, sehen und hören wir menschliche Schöpfungen. Sie stecken in uns und umgeben uns, was dazu führt, dass wir sie nicht wahrnehmen. Wir leben in einer Symbiose mit dem Neuen. Wir tun das nicht bewusst, sondern es ist Teil dessen, was wir sind. Menschliche Schöpfungen haben Einfluss auf unsere Lebenserwartung, unsere Größe und unser Gewicht, auf die Art, wie wir gehen, unsere Lebensführung, wo wir leben und was wir denken und tun. Wir verändern unsere Technologien, und unsere Technologien verändern uns. Das gilt für jeden Menschen auf der Erde, seit 2000 Generationen, seit unsere Spezies zum ersten Mal über Verbesserungsmöglichkeiten für Werkzeuge nachdachte.

Alles, was Menschen erschaffen, ist ein Werkzeug – etwas, das zu einem bestimmten Zweck hergestellt wurde. Viele Tierarten benutzen Werkzeuge. Biber bauen Dämme. Vögel bauen Nester. Delfine benutzen Schwämme zur Fischjagd.12 Schimpansen graben mit Holzstöcken nach Wurzeln und zerschlagen mit Steinhämmern harte Schalen, um an Essen zu kommen. Fischotter brechen mit Steinen Krebspanzer auf. Elefanten verscheuchen Fliegen mit Wedeln aus abgebrochenen Ästen, die sie mit den Rüsseln greifen. Offensichtlich sind unsere Werkzeuge besser. Der Hoover-Staudamm übertrifft den Biberdamm. Aber warum?

Unsere Werkzeuge sind noch nicht lange überlegen. Vor sechs Millionen Jahren nahm die Evolution zwei unterschiedliche Wege. Der eine Weg führte zu den Schimpansen – entfernte Verwandte, aber die nächsten lebenden Verwandten, die wir haben. Der andere Weg führte zu uns. Niemand weiß, wie viele Menschenarten sich entwickelten. Es gab Homo habilis, Homo heidelbergensis, Homo ergaster, Homo rudolfensis und viele andere. Der Status von einigen ist nach wie vor umstritten, andere harren noch ihrer Entdeckung. Alle waren sie Menschen, aber sie waren nicht wir.

Menschen benutzten Werkzeuge wie andere Tierarten auch. Die ersten Werkzeuge waren spitze Steine, mit denen Nüsse, Früchte und vielleicht Fleisch geschnitten wurden. Später stellte irgendeine Menschenspezies doppelschneidige Äxte her, die sorgfältig bearbeitet wurden und nahezu perfekt symmetrisch sein mussten. Doch abgesehen von ein paar kleineren Anpassungen blieben die Werkzeuge der Menschen eine Million Jahre lang unverändert, egal, wann oder wo sie benutzt wurden. Über 25 000 Generationen wurden sie ohne Änderung weitergegeben.13 Die Herstellung dieser frühen Axt setzte zwar konzentriertes Arbeiten voraus, wie auch der Biberdamm oder das Vogelnest, aber sie wurde aus dem Instinkt heraus entwickelt, nicht durch bewusste Überlegung.

Die ersten Menschen, die aussahen wie wir, erschienen vor 200 000 Jahren auf der Bildfläche. Diese Spezies bekam den Namen Homo sapiens.Vertreter dieser Spezies verhielten sich jedoch in einer entscheidenden Hinsicht anders als wir: Sie hatten einfache Werkzeuge, die sie nicht veränderten. Warum das so war, ist unbekannt. Das Gehirn dieser Menschen war ebenso groß wie unseres. Sie hatten opponierbare Daumen und dieselben Sinne und dieselbe Kraft wie wir. Dennoch erschufen sie 150 000 Jahre lang ebenso wenig Neues wie die anderen Menschenspezies jener Zeit.

Doch dann, vor 50 000 Jahren, geschah etwas. Die groben, kaum erkennbaren Steinwerkzeuge des Homo sapiens veränderten sich erstmals – und zwar rasch. Bis zu jenem Moment erfand diese Spezies ebenso wenig wie alle anderen Tiere. Sie benutzten die gleichen Werkzeuge wie ihre Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Sie stellten sie neu her, aber sie verbesserten sie nicht. Die Werkzeuge waren ererbt, instinktiv und unveränderlich – Produkte der Evolution, nicht bewusst erschaffen.

Schließlich kam der wichtigste Augenblick in der Geschichte der Menschheit – der Tag, an dem ein Vertreter der Spezies ein Werkzeug ansah und dachte: »Ich kann es verbessern.« Die Nachkommen dieses Individuums nennen wir Homo sapiens sapiens. Es sind unsere Vorfahren. Sie sind wir. Die Menschheit hatte das Erschaffen erschaffen.

Die Fähigkeit, etwas zu verändern, veränderte alles. Der Drang, Werkzeuge zu verbessern, verschaffte uns einen enormen Vorteil gegenüber allen anderen Arten, einschließlich konkurrierender Menschenspezies. Nur wenige Zehntausend Jahre später waren alle anderen Menschenarten ausgestorben. Sie waren durch eine anatomisch ähnliche Spezies verdrängt worden, die sich in nur einem wichtigen Punkt unterschied: Sie entwickelte ihre Technologien immer weiter. Durch Innovationen unterschied sich unsere Spezies von den anderen und dominierte sie. Das Besondere an uns ist nicht die Größe unseres Gehirns, die Sprache oder die reine Tatsache, dass wir Werkzeuge benutzen. Wir zeichnen uns dadurch aus, dass jeder Einzelne von uns Dinge immer weiter verbessern will. Wir besetzen die evolutionäre Nische des Neuen. Die Nische des Neuen gehört nicht nur einigen wenigen Privilegierten. Sie macht uns zu Menschen.

Welcher evolutionäre Funke vor 50 000 Jahren die Innovationsfreude zündete, ist nicht genau bekannt. Die Fossilien liefern keinerlei Hinweise dazu. Man weiß nur, dass sich unser Körper nicht veränderte, auch die Größe unseres Gehirns blieb gleich. Unser unmittelbarer prä-innovativer Vorfahr, Homo sapiens, sah genauso aus wie wir. Dadurch wird unser Verstand zum Hauptverdächtigen: die genaue Anordnung unserer Gehirnzellen und die Verbindungen zwischen ihnen. Dort hat sich anscheinend strukturell etwas verändert – vielleicht als Endpunkt von 150 000 Jahren Feinabstimmung. Es hatte tief greifende Folgen, was immer es war, und es hat bis heute in jedem von uns überdauert. Der Verhaltensneurologe Richard J. Caselli meint: »Ungeachtet großer qualitativer und quantitativer Unterschiede von Mensch zu Mensch gelten für alle Menschen dieselben neurobiologischen Prinzipien kreativen Verhaltens, unabhängig davon, wie kreativ man ist.«14 Einfacher ausgedrückt: Wir alle denken kreativ.

Dies ist einer der Gründe, weswegen der Kreativitätsmythos so entsetzlich falsch ist. Kreativität ist nicht selten. Jeder Mensch wird damit geboren. Sie wirkt vielleicht magisch, weil sie angeboren ist. Manche Menschen mögen bei kreativen Arbeiten besser sein als andere, aber das liegt daran, dass Kreativität Teil des Menschseins ist, wie Sprechen oder Gehen. Menschen sind nicht alle gleich kreativ, wie sie auch nicht alle gleich gute Redner oder Sportler sind. Aber wir alle können etwas erschaffen.

Das kreative Potenzial der Menschheit steckt in uns allen, es ist nicht nur auf einige wenige Menschen konzentriert. Menschen haben zu großartige und zahlreiche Dinge erschaffen, als dass diese Schöpfungen von einigen wenigen Menschen in nur wenigen Schritten hätten erschaffen werden können. Sie müssen in vielen Schritten von vielen Menschen erschaffen worden sein. Erfindung ist ein schrittweiser Prozess – eine Folge kleiner und konstanter Veränderungen. Manche Veränderungen öffnen Türen zu neuen Welten voller Möglichkeiten. Dann sprechen wir von einem Durchbruch. Andere Veränderungen merkt man kaum. Doch bei genauerem Hinsehen führt immer eine kleine Veränderung zur nächsten. Manchmal geschieht dies im Denken eines Einzelnen, oft braucht es aber mehrere Menschen, manchmal über Kontinente oder Generationen hinweg. Manchmal wird das Staffelholz der Innovation über Stunden oder Tage, gelegentlich mehrere Jahrhunderte lang in einem endlosen Staffellauf der Erneuerung weitergereicht.

Kreative Schöpfungen bauen aufeinander auf und verbinden sich miteinander, und so wird menschliches Leben jeden Tag durch die Summe aller vorangehenden menschlichen Schöpfungen ermöglicht. Jeder Gegenstand in unserem Leben, alt oder neu, so unscheinbar und einfach er scheinen mag, trägt die Geschichten, Gedanken und den Mut Tausender Menschen in sich, von denen manche noch leben, die meisten aber schon tot sind. Jeder Gegenstand ist eine Ansammlung von Neuem aus 50 000 Jahren menschlicher Innovation. Unsere Werkzeuge und Kunstwerke machen unsere Menschlichkeit aus, sie sind unser Erbe und das ewige Vermächtnis unserer Vorfahren. Die Dinge, die wir herstellen, ergeben die Sprache unserer Spezies: Geschichten von Triumphen, Mut und Kreativität, von Optimismus, Anpassung und Hoffnung; es sind nicht die Geschichten von einzelnen Menschen hier und da, sondern von allen Menschen überall; geschrieben in einer gemeinsamen Sprache, nicht afrikanisch, amerikanisch, asiatisch oder europäisch, sondern menschlich.

Dass Kreativität menschlich und angeboren ist, ist in vielfacher Hinsicht etwas Schönes. Schön daran ist, dass wir alle auf mehr oder weniger dieselbe Weise kreativ sind. Unsere individuellen Stärken und Veranlagungen erzeugen natürlich Unterschiede, aber sie fallen im Vergleich zu den vielen Gemeinsamkeiten kaum ins Gewicht. Uns verbindet mehr mit Leonardo, Mozart und Einstein, als uns trennt.

Das Ende des Genies

Der frühneuzeitliche Glaube, kreatives Schaffen sei Genies vorbehalten, überdauerte das Zeitalter der Aufklärung im 17. Jahrhundert, die Romantik im 18. Jahrhundert und die industrielle Revolution des 19. Jahrhunderts. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts bildete sich aus ersten Studien über das Gehirn eine alternative Sichtweise heraus – dass jeder Mensch zu kreativem Schaffen fähig ist.

In den 1940er-Jahren war das Gehirn noch ein Mysterium. Die Geheimnisse des Körpers waren in mehreren Jahrhunderten medizinischer Forschung entschlüsselt worden, aber das Gehirn, das Bewusstsein ohne bewegliche Teile erzeugte, blieb ein Rätsel. Das mag mit dazu beigetragen haben, dass Theorien zur Kreativität auf Magie als Ursache zurückgriffen: Das Gehirn, Sitz der Kreativität, war ein graues, eineinhalb Kilo schweres Mysterium.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs tauchten neue Technologien auf. Unter ihnen der Computer. Mithilfe dieses mechanischen Gehirns schien es zum ersten Mal möglich, das Gehirn zu verstehen. Im Jahr 1952 gipfelte die Aufregung im Buch Design for a Brain von Ross Ashby. Er fasste das neue Denken elegant zusammen:

Die Erde ist mehr als 2 000 000 000 Jahre alt, und durch natürliche Selektion gab es eine ständige Auslese unter den lebenden Organismen. Das führte dazu, dass die heute noch lebenden Arten spezialisierte Überlebenskünstler sind. Diesem Zweck diente auch die Entwicklung eines Gehirns […] eines Organs, das sich im Lauf der Evolution speziell zur Überlebenssicherung entwickelte. Ich gehe hier davon aus, dass sich das Nervensystem, und lebende Materie generell, nicht grundsätzlich von anderer Materie unterscheidet. Ich werde keinen Deus ex Machina heranziehen.15

Kurz gesagt: Das Gehirn braucht keine Magie.

Allen Newell aus San Francisco trat während dieser Zeit in die akademische Welt ein. Er ließ sich von der Energie dieser Ära inspirieren, gab seinen Berufswunsch Förster auf (was mit daran lag, dass sein erster Job darin bestand, brandige Kalbslebern an junge Forellen zu verfüttern) und wurde stattdessen Wissenschaftler. An einem Freitagnachmittag im November 1954 hatte er während eines Seminars über Mustererkennung ein »Bekehrungserlebnis«, wie er es später beschrieb. Er widmete daraufhin sein Leben einer einzigen wissenschaftlichen Fragestellung: »Wie kann menschliches Bewusstsein im physischen Universum vorkommen?«16

»Wir wissen inzwischen, dass die Welt physikalischen Gesetzen folgt«, erklärte er. »Und wir wissen inzwischen, dass sich die Biologie da gut einfügt. Aber wie schafft das unser Bewusstsein? Darauf muss es eine detaillierte Antwort geben. Ich muss wissen, wie die Zahnräder ineinandergreifen, wie der Antrieb funktioniert, all das.«

Newell machte sich an die Arbeit und erkannte als einer der Ersten, dass man kein Genie sein muss, um kreativ zu schaffen. Im Jahr 1959 fasste er in dem Artikel »The Processes of Creative Thinking« die wenigen psychologischen Daten zusammen, die es damals zu kreativem Arbeiten gab, und stellte dann seine radikale Theorie vor: »Kreatives Denken ist nur eine besondere Art von Problemlösung.« Er formulierte seinen Ansatz in der nüchternen Sprache, die Wissenschaftler verwenden, wenn sie wissen, dass sie auf der richtigen Spur sind:

Die gegenwärtig verfügbaren Daten über die Prozesse des kreativen und nicht kreativen Denkens weisen auf keinerlei besondere Unterschiede zwischen den beiden Denkarten hin. Allein anhand von statistischen Beschreibungen der Prozesse ist ein gut ausgebildeter Profi nicht von einem Amateur zu unterscheiden. Kreatives Vorgehen scheint also nur eine spezielle Klasse des Problemlösens zu sein, die sich durch Neuartigkeit, Unkonventionalität, Hartnäckigkeit und schwierige Problemstellungen auszeichnet.17

Das war der Anfang vom Ende des Genies. Die Erfindung intelligenter Maschinen zwang der Gedankenforschung eine neue Präzision auf. Immer mehr wies darauf hin, dass schöpferische Fähigkeiten eine angeborene Funktion des menschlichen Gehirns und mit der Standardausstattung nutzbar waren, also kein Genie voraussetzten.

Newell behauptete nicht, alle Menschen seien gleich kreativ. Bei der Kreativität, wie bei allen menschlichen Fähigkeiten, gibt es eine Bandbreite an Kompetenz. Aber jeder ist grundsätzlich dazu in der Lage. Es gibt keinen elektrischen Zaun zwischen jenen, die kreativ sein können, und jenen, die es nicht können, mit dem Genie auf der einen Seite und der Allgemeinheit auf der anderen.

Newells Arbeit untergrub, gemeinsam mit anderen aus dem Fachbereich künstliche Intelligenz (KI), den Kreativitätsmythos. So kam es, dass in der folgenden Generation die ersten Wissenschaftler anders über kreatives Schaffen dachten. Einer der wichtigsten von ihnen war Robert Weisberg, ein Kognitionspsychologe an der Temple University in Philadelphia.

In den ersten Jahren der KI-Revolution war Weisberg noch im Grundstudium. Die frühen 1960er-Jahre verbrachte er in New York, machte dann seinen Doktor in Princeton und ging als Dozent an die Temple University.18 Er widmete seine Karriere dem Beweis, dass kreatives Schaffen natürlich menschlich und gewöhnlich ist, dass jeder es kann.

Weisberg vertritt eine einfache Sicht. Er baut auf Newells Erkenntnis auf, kreatives Denken sei ganz normales Problemlösen, geht dann aber noch weiter, indem er behauptet, kreatives Denken sei normales Denken, nur mit einem kreativen Ergebnis. Er schreibt: »Wenn man über jemanden sagt, er oder sie ›denke kreativ‹, dann sagt man nur etwas über das Ergebnis des Prozesses aus, nicht über den Prozess selbst. Zwar können kreative Ideen und Produkte durchaus weitreichende Folgen haben, aber die Mechanismen, durch die sie entstehen, können sehr gewöhnlich sein.«19

Oder anders ausgedrückt: Das normale Denken ist reichhaltig und komplex – so reichhaltig und komplex, dass es manchmal zu außergewöhnlichen – oder »kreativen« – Ergebnissen führt. Wir brauchen gar keine anderen Prozesse. Weisberg beweist das gleich zweifach: durch sorgfältig geplante Experimente und detaillierte Fallstudien schöpferischen Tuns – von Picassos Guernica bis zur Entdeckung der DNA und der Musik von Billie Holiday. Für jedes Beispiel zeigt Weisberg durch eine Kombination aus Experiment und Geschichte, wie man schöpferisches Tun auch ohne die Annahme eines Genies oder einer großen Eingebung erklären kann.

Weisberg schrieb nicht über Edmond, aber seine Theorie funktioniert auch für Edmonds Geschichte. Zunächst kam Edmonds Entdeckung, wie man die Vanilleorchidee bestäuben konnte, aus dem Nichts und wirkte wie ein Wunder. Doch Ferréol Bellier-Beaumont erzählte in seinen letzten Lebensjahren, wie der junge Sklave das Rätsel der schwarzen Blume gelöst hatte.

Ferréol begann mit seiner Geschichte im Jahr 1793 mit der Entdeckung des deutschen Naturforschers Konrad Sprengel, dass Pflanzen sich geschlechtlich fortpflanzen. Sprengel sprach dabei vom »Geheimnis der Natur«. Doch dieses Geheimnis wurde nicht sehr positiv aufgenommen. Sprengels Kollegen wollten nichts vom Sexualleben der Blumen hören.20 Seine Entdeckungen verbreiteten sich dennoch, vor allem unter Botanikern und Bauern, die lieber gute Pflanzen anbauten, als über Moralfragen der Flora nachzudenken. So erfuhr auch Ferréol, wie man von Hand Wassermelonen befruchtete, indem man »die weiblichen und männlichen Teile vereinigt«. Er zeigte es Edmond, der später, wie Ferréol beschrieb, »bemerkte, dass auch die Vanilleblüte weibliche und männliche Elemente hatte, und selbst herausfand, wie man sie zusammenbrachte«. Edmonds Entdeckung hatte zwar riesige wirtschaftliche Auswirkungen, aber sie war nur ein kleiner Schritt. Das Ergebnis ist dadurch nicht weniger kreativ. Alle großen Entdeckungen, selbst jene, die wie Quantensprünge wirken, sind nur kleine Hüpfer.

Weisbergs Arbeiten, mit Untertiteln wie Genie und andere Mythen und Jenseits des Genie-Mythos waren nicht das Ende der magischen Vorstellung, dass kreative Menschen eine eigene Spezies sind. Geheimnisse lassen sich besser verkaufen. Heute gibt es in den Buchhandlungen Bücher mit Titeln wie 10 Wege zum kreativen Durchbruch, 33 Erfolgsprinzipien der Innovation oder Ein Kurs zur Erschließung Ihrer Kreativitätsreserven. Weisbergs Bücher sind inzwischen vergriffen,21 aber der Kreativitätsmythos hält sich hartnäckig.

Doch er kommt langsam aus der Mode, und Weisberg ist nicht der Einzige, der eine erleuchtungsfreie Jedermann-Theorie zur Kreativität vertritt. Ken Robinson wurde für seine Arbeit über Kreativität und Erziehung zum Ritter geschlagen, und seine bewegenden, witzigen Vorträge bei der jährlichen TED-Konferenz in Kalifornien sind berühmt. Häufig spricht er darüber, wie die Schulerziehung Kreativität unterdrückt. Er erzählt von »der wirklich außergewöhnlichen Kapazität, die Kinder haben, die Kapazität für Innovation«, und sagt: »Alle Kinder haben großartige Talente, und wir ersticken sie, ziemlich gnadenlos.« Robinson ist überzeugt, »dass heute Kreativität genauso wichtig für Bildung ist wie Lesen und Schreiben, und wir sollten sie gleichwertig behandeln«.22 Der Karikaturist Hugh MacLeod drückt dasselbe etwas anschaulicher aus: »Jeder Mensch wird kreativ geboren; jeder Mensch bekommt im Kindergarten eine Schachtel Wachsmalstifte. Wenn man dann viele Jahre später einen ›Kreativitätsanfall‹ hat, dann hört man ganz einfach eine Kinderstimme, die sagt: ›Ich möchte bitte meine Wachsmalstifte wieder haben.‹«23

Termiten

Wenn man ein Genie sein muss, um schöpferisch tätig sein zu können, dann müsste man kreative Fähigkeiten im Voraus feststellen können. Das hat man in Experimenten mehrfach versucht. Die bekannteste Version wurde im Jahr 1921 von Lewis M. Terman begonnen und läuft heute noch.24 Der Kognitionspsychologe Terman, geboren im 19. Jahrhundert, war ein Eugeniker, der glaubte, die menschliche Rasse könne durch selektive Zucht verbessert werden. Er klassifizierte Menschen nach Fähigkeiten, so wie er sie wahrnahm. Sein berühmtestes Klassifizierungssystem war der Stanford-Binet-IQ-Test, bei dem Kinder auf einer Skala eingestuft wurden, die von Schwachsinn am einen Ende bis zu Genie am anderen reichte. Die Zwischenstufen waren »zurückgeblieben«, »geistesschwach«, »normal schwerfällig«, »durchschnittlich«, »überlegen« und »stark überlegen«. Terman war so überzeugt von der Genauigkeit seines Tests, dass er glaubte, er sage eine unentrinnbare Bestimmung voraus. Außerdem glaubte er, wie alle Eugeniker, dass Afroamerikaner, Mexikaner und andere den englischsprachigen Weißen unterlegen seien. Er beschrieb sie als »die Holzfäller und Wasserträger der Welt«, denen die Voraussetzungen fehlten, um »intelligente Wähler und fähige Bürger« zu sein. Die Kinder, sagte er, »sollten in eigenen Klassen getrennt unterrichtet werden«. Den Erwachsenen solle man »nicht erlauben, sich fortzupflanzen«. Im Gegensatz zu den meisten Eugenikern machte sich Terman an die Aufgabe, seine Vorurteile zu beweisen.

Sein Experiment bekam den Titel »Genetische Untersuchung von Genialität«. Es war eine Langzeitstudie, was bedeutet, dass die Teilnehmer über lange Zeit hinweg beobachtet wurden. Die Studie umfasste mehr als 1500 Kinder in Kalifornien, die durch Termans IQ-Test oder ähnliche Verfahren als »begabt« eingestuft worden waren. Fast alle Teilnehmer waren weiß und kamen aus Familien der Ober- oder Mittelschicht. Der Großteil von ihnen war männlich. Kaum überraschend war, dass von den 168 000 Kindern, aus denen die 1500 Studienteilnehmer ausgewählt wurden, nur eines schwarz war, eines war indianischer Herkunft, eines war mexikanisch und vier waren japanisch. Die Auserwählten hatten einen Durchschnitts-IQ von 151 und nannten sich selbst »Termiten«. Daten über ihre Lebensverläufe wurden alle fünf Jahre gesammelt. Nach Termans Tod im Jahr 1956 setzten andere seine Forschungen fort mit dem Ziel, die Arbeit fortzuführen, bis der letzte Teilnehmer sich aus der Studie zurückzog oder starb.

Nach 35 Jahren Experimentdauer prahlte Terman mit den Erfolgen »seiner Kinder«:

Fast 2000 wissenschaftliche oder technische Abhandlungen und Artikel und etwa 60 Bücher und Monografien in Naturwissenschaft, Literatur, Kunst und Geisteswissenschaften. Mindestens 230 angemeldete Patente. Weiterhin 33 Romane, etwa 375 Kurzgeschichten, Novellen und Theaterstücke; mindestens 60 Essays, Kritiken und Studien; sowie 265 sonstige Artikel. Mehrere Hundert Veröffentlichungen von Journalisten in Form von Zeitungsartikeln, Kommentaren oder Kolumnen. Mehrere Hundert, wenn nicht gar Tausend Skripte für Radio, Film oder Fernsehen.

Die Identität der meisten Termiten ist geheim. Etwa 30 Teilnehmer haben sich zu erkennen gegeben. Manche davon sind bekannte Künstler. Jess Oppenheimer arbeitete fürs Fernsehen und war maßgeblich an der Entwicklung der erfolgreichen und mit einem Emmy Award ausgezeichneten Comedy-Serie I Love Lucy beteiligt. Edward Dmytryk war Filmregisseur und führte bei mehr als 50 Hollywood-Filmen Regie, darunter Die Caine war ihr Schicksal mit Humphrey Bogart in der Hauptrolle, der mehrere Oscar-Nominierungen erhielt und der zweitmeistgesehene Film des Jahres 1954 war.

Andere Teilnehmer waren weniger erfolgreich. Sie gingen gewöhnlicheren Beschäftigungen nach, wurden Polizist, Techniker, Lkw-Fahrer oder Schreibkräfte. Einer wurde Töpfer und landete irgendwann in einer psychiatrischen Klinik; ein anderer reinigte Swimmingpools; mehrere lebten von Sozialhilfe. Im Jahr 1947 musste Terman zugeben: »Wir haben gesehen, dass Intellekt und Erfolg weit von einer perfekten Korrelation entfernt sind.« Und das, obwohl Terman seine Teilnehmer tatkräftig unterstützte, indem er Empfehlungsschreiben verfasste und ihnen Tipps gab. Der Filmregisseur Dmytryk profitierte von einem solchen Brief, nachdem er mit 14 Jahren vor seinem gewalttätigen Vater geflohen war. Terman erklärte dem Jugendamt von Los Angeles, Dmytryk sei »begabt«, und sein Fall verdiene daher besondere Berücksichtigung. Er wurde vor einer Kindheit voller Misshandlungen bewahrt und kam in eine gute Pflegefamilie. Der TV-Produzent Oppenheimer verkaufte Mäntel, bis Terman ihm zu einem Studienplatz in Stanford verhalf. Manche Termiten machten in Termans Fachgebiet Erziehungspsychologie Karriere, und viele wurden in Stanford aufgenommen, wo er ein angesehener Professor war. Ein Termite führte die Studie nach Termans Tod weiter.

Die Schwächen und Fehler der Studie tun hier nichts zur Sache. Aber wirklich interessant ist, was mit den Kindern geschah, die Terman von seiner Studie ausschloss. Die Theorie des kreativen Genies besagt, dass nur diejenigen Kinder, die Terman als Genies einstufte, kreativ schaffen würden. Von denen, die ausgeschlossen wurden, hätte keines irgendetwas Kreatives machen dürfen: Sie waren schließlich keine Genies.

Und genau hier fällt Termans Studie durch. Terman richtete keine Kontrollgruppe mit Nicht-Genies zum Vergleich ein. Über die vielen Hundert Kinder, die ausgewählt wurden, weiß man gut Bescheid, aber über die vielen Zehntausend, die ausgeschlossen wurden, weiß man nur wenig. Das wenige, das bekannt ist, reicht jedoch aus, um die Genietheorie zu untergraben. Zu den Kindern, die Terman in Betracht zog, dann aber doch ausschloss, gehörte ein Junge namens William Shockley. Ein weiterer Junge hieß Luis Alvarez. Beide bekamen als Erwachsene den Nobelpreis für Physik verliehen – Shockley für die Erfindung des Transistors und Alvarez für seine Arbeit zur kernmagnetischen Resonanz. Shockley gründete Shockley Semiconductor, eine der ersten Elektronikfirmen im Silicon Valley. Einige von Shockleys Angestellten gründeten später Fairchild Semiconductor, Intel und Advanced Micro Devices. In Zusammenarbeit mit seinem Sohn Walter stellte Alvarez als Erster die Theorie auf, dass ein Asteroideneinschlag zum Aussterben der Dinosaurier geführt haben könnte – die »Alvarez-Hypothese« –, die Wissenschaftler heute, nach mehreren Jahrzehnten Kontroverse, als Tatsache akzeptiert haben.

Dass Terman bei der Identifizierung dieser Erfinder versagt hat, bedeutet jedoch noch nicht das Todesurteil für die Geniehypothese. Vielleicht war seine Definition von Genie unzureichend, oder bei Shockley und Alvarez wurden die Tests falsch durchgeführt. Aber die Größe ihrer Leistungen rückt eine andere Schlussfolgerung in den Bereich des Möglichen: Genialität ist kein Vorhersagekriterium für schöpferische Fähigkeiten, weil es keine Voraussetzung dafür ist.

Nachfolgende Studien versuchten, diesen Fehler zu korrigieren, indem man speziell die kreativen Fähigkeiten testete. Ab dem Jahr 1958 führte der Psychologe Ellis Paul Torrance an Schulkindern in Minnesota eine Reihe von Tests durch, die später als die Torrance Tests of Creative Thinking bekannt wurden. Zu den Aufgaben gehörte, sich eine ungewöhnliche Verwendung für einen Ziegelstein auszudenken, Verbesserungsmöglichkeiten für ein Spielzeug zu finden und eine Zeichnung auf der Grundlage einer vorgegebenen Form, zum Beispiel eines Dreiecks, zu improvisieren. Die Forscher beurteilten die Kreativität eines Kindes je nachdem, wie viele Ideen es hatte, wie stark sich die Ideen voneinander unterschieden, wie ungewöhnlich und detailliert sie waren. An Torrances Arbeit wird deutlich, wie sich das Denken über das Denken in der Psychologie nach dem Zweiten Weltkrieg verändert hatte. Torrance vermutete nun, schöpferisches Arbeiten sei »für jedermann im Alltag möglich«25, und achtete darauf, rassistische und sozioökonomische Verzerrungen bei seinen Tests auszuschließen. Im Gegensatz zu Terman erwartete Torrance nicht, mit seiner Methode verlässliche Vorhersagen über die Zukunft treffen zu können. »Wenn jemand starke Fähigkeiten dieser Art hat, bedeutet das noch nicht unbedingt, dass diejenige Person sich sehr kreativ verhält«, schrieb er. »Doch wenn bei jemandem diese Fähigkeiten sehr ausgeprägt sind, dann erhöht sich die Chance, dass er oder sie sich kreativ verhält.«

Wie stark erfüllten Torrances Kinder aus Minnesota diese etwas bescheideneren Erwartungen? Die erste Follow-up-Untersuchung wurde im Jahr 1966 durchgeführt mit Kindern, die im Jahr 1959 getestet worden waren. Die Kinder wurden gebeten, die drei Klassenkameraden mit den besten Ideen zu benennen, und sollten dann einen Fragebogen zu ihrer eigenen kreativen Arbeit ausfüllen. Die Antworten wurden mit den Daten von sieben Jahren zuvor verglichen. Die Korrelation war ganz ordentlich. Auf jeden Fall war sie besser als bei Terman. Die Ergebnisse nach dem zweiten Follow-up-Test im Jahr 1971 bestätigten das weitgehend. Anscheinend eigneten sich die Torrance-Tests relativ gut, um kreative Fähigkeiten vorherzusagen.

Der Moment der Wahrheit kam nach 50 Jahren, als die Teilnehmer ihre Berufslaufbahn beendet und alle kreativen Fähigkeiten bewiesen hatten, die sie besaßen. Die Ergebnisse waren einfach. 60 Teilnehmer antworteten. Kein Teilnehmer mit besonders hohen Testergebnissen hatte irgendetwas erschaffen, das ihm öffentliche Anerkennung gebracht hätte. Viele hatten kreative »persönliche Erfolge« erzielt, wie Torrance und seine Anhänger es nannten, etwa eine Bürgerinitiative gegründet, ein Haus gebaut, oder sie waren einem kreativen Hobby nachgegangen. Die Torrance-Tests hatten ihr mäßiges Ziel erreicht und erfolgreich vorhergesagt, wer ein einigermaßen kreatives Leben führen würde. Wer allerdings Karriere als Kreativer machen würde, hatten sie keineswegs vorhergesehen.

Doch Torrance hatte unabsichtlich etwas ganz anderes erreicht. Er hatte bestätigt, was Termans Ergebnisse bereits gezeigt hatten und was Terman hartnäckig ignoriert hatte: Kreative Fähigkeiten haben mit Genialität nicht das Geringste zu tun, selbst wenn man kreative Fähigkeiten sehr weit definiert und großzügig misst. Torrance hatte den IQ all seiner Teilnehmer aufgezeichnet. Seine Ergebnisse zeigten keinerlei Zusammenhang zwischen kreativen Fähigkeiten und allgemeiner Intelligenz. Terman entgingen die beiden Nobelpreisträger Shockley und Alvarez, weil das, was er gemessen hatte, nichts mit Kreativität zu tun hatte. Auch wenn wir Shockley und Alvarez heute als kreative Genies bezeichnen, wenn kreative Genialität erst im Nachhinein offenbar wird, dann ist das nichts anderes, als »kreativ« zu meinen.

Gewöhnliche Handlungen

Die Beweise gegen das Genie sind eindeutig: zu viele Kreative, zu viele Kreationen und zu wenig Vorherbestimmung. Aber wie kommt es dann zu einer kreativen Schöpfung?