Wie man einen Traum aufgibt, um ein Leben zu gewinnen - Nico Langmann - E-Book

Wie man einen Traum aufgibt, um ein Leben zu gewinnen E-Book

Nico Langmann

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Beschreibung

Du musst wieder gehen können: Mit dieser Maxime ist Nico Langmann aufgewachsen. Seit einem Autounfall im Alter von zwei Jahren ist er querschnittsgelähmt – was seine Eltern nicht akzeptieren wollten. Jahrelang kämpfte er gegen den Rollstuhl, in russischen Reha-Zentren ebenso wie bei brasilianischen "Wunderheilern": ein Kampf, den er nicht gewinnen konnte. Heute ist Langmann nicht nur einer der besten Tennisspieler der Welt, sondern auch ein Mutmacher – trotz eines zweiten Schicksalsschlages in seiner Jugend, trotz einer Welt, die nicht für Menschen wie ihn gebaut und in der Diskriminierung Alltag ist. Nicos Geschichte ist Inspiration für uns alle. Sein Credo: "Du musst keine Grenzen akzeptieren, die dir jemand anderes auferlegt. Du kannst deinen eigenen Weg finden, über all die Hürden hinweg – oder unter ihnen hindurch oder an ihnen vorbei."

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NICOLANGMANN

WIE MAN EINENTRAUMAUFGIBT, UM EINLEBENZU GEWINNEN

In Zusammenarbeit mitChristian Bartlau

EINLEITUNG

1. KAPITEL:EINE KINDHEIT, EIN ZIEL

2. KAPITEL:ANDERS ALS DIE ANDEREN

3. KAPITEL:NEUSTART

4. KAPITEL:EINE UNERWARTETE REISE

5. KAPITEL:MEHR ALS »NUR« EIN SPORT(LER)

6. KAPITEL:UNTER DER GÜRTELLINIE

7. KAPITEL:EIN LEBEN NACH DEM SPORT

EINLEITUNG

ICH HATTE EINEN TRAUM, und es fühlte sich schrecklich an.

Ich wache im Bett meiner Großmutter auf. Ich muss so zehn Jahre alt sein, wie so oft verbringen wir in den Sommerferien einige Wochen in Schwaz, der Heimatstadt meiner Mutter. Unten in der Küche läuft Radio U1 Tirol, mein Bruder und meine Oma sind also schon aufgestanden, bestimmt gibt es gleich Frühstück. Ich wuchte mich aus dem Bett und krieche am Badezimmer vorbei zur Treppe. Ganz vorsichtig, damit ich den Teppich nicht verrutsche, sonst schimpft Oma.

Die Treppe ist perfekt zum Klettern: runde Stufen, ohne harte Kanten, mit Filz überzogen. Ich werfe meine Beine nach vorn, ziehe den Hintern nach und plumpse nach unten. Beine, Hintern. Beine, Hintern. Elf Stufen sind es, dann kommt ein Plateau, zum Abschluss noch einmal fünf Stufen. Hunderte Male habe ich sie schon mitgezählt, Hunderte Male bin ich diese Treppe runter und wieder rauf gekrabbelt. Beine, Hintern. Beine, Hintern.

Mit zwei Jahren hatte ich einen Autounfall, seitdem bin ich ab dem achten Brustwirbel abwärts querschnittsgelähmt und auf einen Rollstuhl angewiesen. Hier bei meiner Oma steht er draußen im Treppenhaus neben der Haustür. Ein ungeschriebenes Gesetz in meiner Familie: Der Rollstuhl kommt nicht in die Wohnung. Nico soll sich gar nicht erst an das Ding gewöhnen.

Nach dem Unfall haben die Ärzte meinen Eltern gesagt, dass ich nie wieder gehen würde. Weder mein Vater noch meine Mutter haben diese Diagnose akzeptiert. Ihr Leben und damit auch mein Leben kennen seit diesem Moment nur noch ein Ziel: Du musst wieder gehen können. Das ist meine einzige Aufgabe, der einzige Traum, den ich haben soll.

Mein Vater erzählt mir oft, dass wir eine große Feier veranstalten, wenn ich es geschafft habe, wer alles eingeladen sein würde, wie wir dann alle zusammen sein Lieblingslied singen würden, »We Are the World« von Michael Jackson. Unsere Familie, unser Freundeskreis, einfach alle wissen: Der Nico wird wieder gehen können. Niemand hinterfragt das. Auch ich nicht. Wenn ich Bilder von unserer Familie male, zeichne ich mich wie meine Eltern und meinen Bruder auch: stehend. In meinen Träumen gehe ich aufrecht, auf meinen eigenen zwei Beinen.

Bis heute Nacht.

Eigentlich passiert in diesem Traum nicht viel: Ich spaziere eine Gasse entlang mit meinem Bruder und einigen Freunden. Als meine Blicke runter auf den Asphalt wandern, sehe ich meine Beine – im Rollstuhl, in dem roten Rollstuhl, der bei meiner Oma im Treppenhaus steht. Der verbannt wird aus meinem Leben, wann immer es geht. Und der jetzt plötzlich zum ersten Mal in meinen Träumen auftaucht.

Beim Frühstück sage ich kein Wort. Eigentlich bin ich ein aufgewecktes kleines Kind, aber an diesem Morgen plagt mich ein furchtbar schlechtes Gewissen: Wenn ich mich jetzt schon im Traum im Rollstuhl sehe, verfestigt sich der Gedanke in meinem Kopf. Ich verliere den Kampf.

Der Kopf, das hatten meine Eltern mir immer eingebläut, ist das Wichtigste: Mit der Kraft der Gedanken kann ich alles schaffen. Wenn ich nur fest daran glaube, werde ich irgendwann wieder gehen können. Nur glaubt mein Kopf offenbar nicht mehr daran. Ich muss gegensteuern. Oder meine Eltern werden böse auf mich sein.

Was an diesem Sommermorgen am Frühstückstisch meiner Oma in mir tobt, ist das prägende Gefühl meiner Kindheit: die Angst, nicht genug zu tun für mein großes Ziel. Die Angst, zu versagen. Die Angst, meine Familie zu enttäuschen.

In diesen Jahren lebe ich im Takt der Therapien: dreimal die Woche drei Stunden Physiotherapie. Einmal die Woche Akupunktur, einmal Hypnose, einmal Akupressur. Dazu Übungen an einem der Dutzenden Geräte, die meine Eltern gekauft haben: die Maschine, in der meine Beine an Kurbeln angeschnallt werden, die ich mit dem Rudern meiner Arme in Gang setze, sodass die Beine sich mitbewegen und besser durchblutet werden. Geräte, die Stromschläge verteilen. Laser. Klangschalen.

Die Wochenenden und die Ferien gehören oft den Heilern, oder, wie sich die meisten selbst bezeichnen: den Heilpraktikern. Heute nenne ich sie anders: Scharlatane. Sie verleihen ihren Methoden weihevolle Namen, machen Energie- oder Meridianarbeit – in Wahrheit nichts anderes als Handauflegen. Meine Eltern glauben trotzdem daran.

Sie hoffen auf ein Wunder, und sie folgen jedem, der es ihnen verspricht. Egal wohin: Sie fliegen mit mir zu Elektro-Therapien nach Russland, zu einer Ayurveda-Kur nach Indien, sogar zu einem Guru nach Brasilien, der mittlerweile im Gefängnis sitzt.

Was mir das alles bringt? Druck, der immer größer wird, verstärkt von den bohrenden Fragen meiner Eltern: Wann kommt der nächste Fortschritt? Arbeitest du wirklich hart genug? Warum ist so lange nichts mehr passiert?

Wie alle Kinder spüre ich natürlich genau, was von mir erwartet wird. Ich weiß: Meine Eltern wollen unbedingt, dass ich wieder laufen kann. Und ich will ihnen diesen Wunsch erfüllen.

Ich erinnere mich gut an einen Besuch bei einem Heiler in Tirol, bei dem wir Stammgäste sind. »Der Köck«, wie wir ihn nennen, lebt in Igls, eine halbe Stunde von meiner Oma entfernt, im ersten Stock eines alten Bauernhauses in Hanglage.

Als ich noch leichter war, konnte meine Mutter mich einfach die Treppe nach oben tragen, mittlerweile muss sie mich an den Hinterfüßen packen, während ich mit den Oberarmen nach oben klettere, wie beim Schubkarre-Spielen.

Das Wartezimmer ist eines dieser Portale in eine andere Welt, in der ich mich so gar nicht wohlfühle. Diese Räume sehen überall gleich aus: dunkel, schwere Polster liegen auf Couches, der Geruch von Räucherstäbchen wabert durch die Luft. Beim Köck hängen Porträtbilder an der Wand von Menschen, deren Köpfe von bunten Lichtkegeln umgeben sind – ihrer »Aura«. Mit einem Tiroler Bauernhaus hat das nichts zu tun, eher mit einem indischen Ashram.

Es gibt einen zweiten Grund, warum ich mich nicht wohlfühle: Ich weiß, was mir bevorsteht. Mindestens zwei, manchmal drei Stunden Therapie. Den Anfang macht auch heute wieder die Goldbürste. Der Köck, ein kleiner, kerniger Tiroler, über 80 Jahre alt, bürstet mich damit ab, um meinen »Energiefluss« ins Laufen zu bringen. Eine Prozedur, die meine Mutter in unseren Alltag übernommen hat: Jahrelang sitzt sie am Abend an meinem Bett und massiert mich mit der Goldbürste, von den Armen über den Oberkörper bis in die Beine.

Der Köck gehört zu den Heilern, die immer wieder nach neuen Methoden suchen, um den Patienten zu helfen. Mal lasert er meine Stirn, um mein »drittes Auge« zu stimulieren, mal hält er eine Lampe an jedes meiner sieben Chakren – angefangen beim Penisansatz. Dieses Mal fährt er mit spitzen Stäben an meinem Körper entlang, was fürchterlich wehtut. An meinen Beinen angelangt, sticht er so tief hinein, dass sie zucken – ein gutes Zeichen, behauptet der Köck. Das ist völliger Quatsch: Unkontrollierte Muskelkrämpfe sind die Art, wie mir mein gelähmter Unterkörper Schmerzen signalisiert. Ich behalte es für mich.

Als Nächstes muss ich mich auf eine Liege legen, über die der Köck einen riesigen Glasdeckel stülpt. Es sieht aus wie eine Art gläserner Sarg, in den per Lautsprecher Schwingungen übertragen werden, die nach Meditationsmusik klingen. Am Glas sind durchsichtige Kristalle angebracht, fünf davon so geschliffen, dass sie auf mich zeigen, wie ein umgekehrtes Nagelbett. Ich bin schon so an solche abstrusen Geräte gewöhnt, dass ich mich nicht weiter wundere. Ich langweile mich einfach nur schrecklich. Allein in einem Glassarg – nicht einmal plaudern kann ich mit dem Köck. Immerhin: Das ist der letzte Teil der Therapie für heute.

Nach der Behandlung führt mich der Köck für einen Test in sein Wohnzimmer. Bäuchlings liege ich auf einer Liege – glücklicherweise genau so, dass ich seinen Fernseher gut sehen kann, einen großen alten Röhrenbildschirm, der stark reflektiert. Den Kopf im richtigen Winkel nach rechts gedreht, schon habe ich meinen ganzen Körper im Blick. Ein versteckter Spiegel, die perfekte Hilfe für meinen Taschenspielertrick.

»Und, Nico, wo drücke ich jetzt?«

»Am linken Oberschenkel.«

»Sehr gut!«

Ich schaue zu meiner Mutter hinüber, die während der ganzen Therapie nicht von meiner Seite gewichen ist. Sie lächelt. Ich weiß: Das wird eine angenehme halbe Stunde zurück zu meiner Großmutter. Die Stimmung im Auto hängt immer davon ab, ob die Therapiesitzungen gut laufen oder nicht. Heute hat es mal wieder einen Fortschritt gegeben. Heute ist Mama zufrieden. Und ich bin zufrieden, weil sie zufrieden ist.

Ich muss eine Entscheidung treffen, die jahrelang gereift ist. Eine Entscheidung, die meine Eltern enttäuschen wird, ein letztes Mal. Eine Entscheidung, die einen Traum beenden wird. Damit mein Leben beginnen kann.

Aber es gibt immer eine nächste Therapie. Auf Dauer bringen mich meine Tricks, die Schauspielerei und die kleinen und großen Notlügen nicht weiter. Ich kann immer noch nicht gehen. Ich versage, Tag für Tag. Woche für Woche. Monat für Monat. Jahr für Jahr.

Je älter ich werde, desto unglücklicher werde ich. Ich fürchte mich im Dunkeln, kann nicht allein in meinem Bett schlafen. Ich fühle mich einsam, weil ich zu Therapien fahren muss, statt mit meinen Freunden zu spielen. Ich streite mit meinen Eltern, weil ich keine Lust mehr habe, stundenlang an irgendwelchen Geräten zu üben. Ich will einfach nur ein normales Leben haben, wie alle anderen auch.

Ich muss eine Entscheidung treffen.

Ich muss eine Entscheidung treffen, die jahrelang gereift ist. Eine Entscheidung, die meine Eltern enttäuschen wird, ein letztes Mal. Eine Entscheidung, die einen Traum beenden wird. Damit mein Leben beginnen kann.

1. KAPITEL

EINE KINDHEIT, EIN ZIEL

»EINEN FRÖHLICHEN 7. FEBRUAR wünsch ich dir, liebe Frau Mama!« »Ach, hör auf … Ich denk eh schon den ganzen Tag dran!«

Oh. Das war jetzt wohl doch etwas unsensibel von mir. Eigentlich ist es nur eine spontane Idee gewesen, meine Mutter anzurufen, weil ich mich auf meiner gemächlichen Fahrt über den Wiener Gürtel im Auto langweile und mir gerade aufgefallen ist, welches spezielle Datum wir heute haben. Vielleicht kommt mein Spruch über die Freisprechanlage auch nicht gut rüber. Vielleicht unterschätze ich auch immer noch, was dieses Datum für meine Mutter bedeutet.

Heute ist der 7. Februar 2022, der 22. Jahrestag des Unfalls, der das Leben meiner Familie in ein Davor und ein Danach teilt. Ein Zusammenstoß auf Kilometer 217 der Westautobahn Richtung Tirol, drei Verletzte: meine Mutter, mein Bruder, ich. Einige Wochen lang sah es so aus, als wären wir alle glimpflich davongekommen. Bis meine Eltern merkten, dass etwas mit mir nicht stimmt – ich bewegte meine Beine nicht mehr. Die Diagnose: Querschnittslähmung vom achten Brustwirbel abwärts.

Für gewöhnlich spricht man von solchen Unfällen als »Schicksalsschlag« oder »schwarzer Tag«. Aber ich war noch nicht einmal ganz zwei Jahre alt, ich habe keine Erinnerungen, verbinde keine Emotionen mit diesem 7. Februar 1999. Für mich ist dieser Unfall etwas, was vor meinem Leben passiert ist. Ich kann an diesem Jahrestag dumme Witzchen reißen, meiner Mutter ist diese Lockerheit nicht vergönnt.

Natürlich prägt der Unfall mein Leben. Natürlich verkompliziert er es, legt mir Grenzen auf – und eine unmögliche Aufgabe, die meine Kindheit bestimmen und in gewisser Weise auch überschatten wird. Einfacher macht dieser Unfall die Sache jedenfalls nicht. Aber: Ich kenne kein anderes Leben als das eines Querschnittsgelähmten. Ich habe nichts verloren. Meine Mutter und meine ganze Familie hingegen mussten ihr Leben von einem auf den anderen Tag komplett umkrempeln.

Während ich mein Auto über den Wiener Gürtel manövriere, versuche ich, das Gespräch mit meiner Mutter in angenehmere Bahnen zu lenken: »Jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen. Ist es für dich echt noch schlimm?« »Nein, nein. Aber natürlich denk ich dran.«

KILOMETER 217

Als Kind habe ich die Geschichte vom Unfall geschildert, wie ich sie aus Erzählungen kannte – oder zu kennen glaubte. Meine Mutter oder mein Vater haben nur wenig über diesen 7. Februar 1999 gesprochen, ich schnappte nur auf, was sie Ärztinnen und Therapeuten auf Nachfrage erzählten. Meine Stille-Post-Versionen waren voll mit falschen Details und Begriffen, die ich selbst gar nicht richtig verstehe: Warnblinkanlage, Führerscheinneuling, Reisebus.

Erst vor drei oder vier Jahren habe ich begonnen, meinen Famile auszufragen, was eigentlich genau passiert ist. Jahrelang war ich die Strecke von Wien zu meiner Oma in Tirol gefahren, als Beifahrer und später am Steuer, ohne zu wissen, wo die Unfallstelle liegt. Erst im Sommer 2020 frage ich meinen Bruder, ob er sich noch erinnern kann. Er kann: Es ist eine Linkskurve, kurz hinter der Ausfahrt Laakirchen-West, Oberösterreich.

Der 7. Februar 1999 ist ein Sonntag, meine Mutter fährt mit meinem Bruder Alex, damals vier Jahre alt, und mir nach Tirol zum Skifahren. Alex sitzt hinten rechts in einem Kindersitz, ich in der Mitte in einem Maxi-Cosi.

Wir reisen in der Dunkelheit, mittlerweile ist es halb sieben Uhr abends, es schneit ganz leicht. Und plötzlich steht dieses Auto auf unserer Spur, ohne Licht. Meine Mutter weicht aus, steigt auf die Bremse, unser Auto gerät ins Schleudern und prallt auf einen Bus, der die Fahrbahn blockiert. Totalschaden. Wie eine Ziehharmonika sieht unser Auto aus.

Einige Buspassagiere ziehen meine Mutter aus dem Wrack, wie wir herauskommen, kann sie nicht mehr sagen, sie hat Erinnerungslücken, die sich nie geschlossen haben. Unmittelbar nach dem Unfall ist sie das Sorgenkind der Ärzte, der Motorblock hat sich ins Wageninnere geschoben und ihre Beine zertrümmert. Bis heute trägt sie 17 Schrauben in den Füßen mit sich herum. Außerdem hat der Airbag ihren Kehlkopf gebrochen, das Reden fällt ihr tagelang schwer. Alex und ich sind auf den ersten Blick glimpflich davongekommen, er mit angeknackstem Sprunggelenk, ich mit einem gebrochenen Oberschenkel. Vom Krankenhaus aus hat meine Mutter meinen Vater am Telefon erreicht und ihm vom Unfall erzählt, mit so brüchiger Stimme, dass er sie kaum erkennt. Völlig aufgelöst stürmt er Stunden später ins Krankenhaus in Vöcklabruck, wo wir alle drei liegen. Die Ärzte haben in der Zwischenzeit mein Bein eingegipst, ein Monat Ruhe, dann sollte alles heil zusammenwachsen. Dementsprechend entspannt empfangen sie meinen Vater: »Regen Sie sich nicht auf, Herr Langmann. Der Nico wird schon noch für Rapid bereit sein.«

Die Operation meiner Mutter aber wird recht kompliziert, prophezeien die Ärzte, und weil Tiroler nur Tirolern vertrauen, lässt sie sich lieber nach Innsbruck verlegen. Ich werde erst einmal in häusliche Pflege zu meiner Oma nach Schwaz entlassen, bis ihr Hausarzt mich besucht und interveniert: Mit einem so schweren Bruch muss der Junge ins Krankenhaus in Schwaz. Dort fixiert man beide Beine mit einer Art Gerüst, damit alles gerade zusammenwächst. Auch meine Mutter wird nach ihrer OP nach Schwaz verlegt, drei Wochen strenge Bettruhe für uns beide, ich liege mich dabei so wund, dass ich eine münzgroße Narbe am Rücken davontrage.

Meine Eltern haben mittlerweile erfahren, was sich vor dem Unfall abgespielt hat: Ein Führerscheinneuling war beim Überholen des Reisebusses in die Leitplanken geraten und liegen geblieben, der Busfahrer hatte seinerseits angehalten, um sich um den Mann zu kümmern. Eine dunkle Fahrbahn, zwei stehende Fahrzeuge – meine Mutter hatte keine Chance. Und Glück, dass wir zufällig mit dem Firmenauto meines Vaters unterwegs waren, einer Limousine mit großzügiger Knautschzone. Eigentlich fuhren wir zu der Zeit einen Van mit Platz für Kinderwagen und viel Gepäck, aber sehr kurzer Schnauze. Der lakonische Kommentar des Unfallgutachters, offenbar ein eher unsensibler Typ: »Mit dem Van wären Sie jetzt alle tot.«

»ES TUT MIR LEID, ABER SIE HABEN DOCH RECHT«

Rund drei Wochen nach dem Unfall entfernen die Ärzte den Gips von meinen Beinen. Es ist meine Großmutter, die als Erste ein ungutes Gefühl hat: Warum bewegt der »Bua« seine Beine nicht mehr?

Meine Mutter spricht noch einmal mit mir im Krankenhaus in Schwaz vor, wird aber erst einmal abgewimmelt – nur keine Aufregung, alles nur psychosomatisch, vielleicht ein Lymphstau, er hat halt so lange gelegen, das kommt schon wieder.

»Es tut mir leid, aber Sie haben recht. Es ist etwas mit dem Rückenmark. Ihr Sohn wird nie wieder gehen können.« Pause. »Und jetzt wissen Sie, warum man bei uns die Fenster nicht aufmachen kann.« Damit niemand hinausspringen kann, will er damit sagen.

Nur ein Arzt merkt an, das Bein wirke auf ihn, als sei es gelähmt – was meine Mutter nur noch wütender macht: Was für ein Trottel!

Also suchen wir wieder das Uniklinikum Innsbruck auf, an einem Freitag, und werden auf Dienstag vertröstet. Dienstag, den 3. 3., noch so ein Datum, das wir nie vergessen werden. Es wühlt meine Mutter heute noch auf, wenn sie von diesem Tag erzählt: Nach dem MRT warten wir in einem Krankenzimmer auf das Ergebnis, ohne meinen Vater, der sich wie üblich verspätet. Mit Absicht, behauptet meine Mutter. Weil er geahnt hat, was kommt.

Zuerst kommen die Ärztinnen und Ärzte, nicht eine Person, viele, die gesamte Belegschaft der Station scheint sich in den Raum zu drängen. Einer von ihnen tritt vor und sagt: »Es tut mir leid, aber Sie haben recht. Es ist etwas mit dem Rückenmark. Ihr Sohn wird nie wieder gehen können.« Pause. »Und jetzt wissen Sie, warum man bei uns die Fenster nicht aufmachen kann.« Damit niemand hinausspringen kann, will er damit sagen.

Dann erläutert er die Details: Beim Unfall haben sich meine Wirbel auseinandergezogen, durch eine Einblutung wurde das Rückenmark abgequetscht. Wahrscheinlich würde ich niemals ohne Hilfe sitzen oder mich umdrehen können, meine Beine würden nicht mitwachsen, also für immer die Beine eines Zweijährigen bleiben.

Dann lassen die Ärzte meine Mutter und mich allein. Nur ein Krankenpfleger bleibt und streichelt ihre Hand.

AUF DEM ROSENHÜGEL

Das Gefühl, allein gelassen zu werden, sollte sich in den nächsten Monaten noch verstärken. Aus dem Nichts stehen meine Eltern vor der ungeheuren Aufgabe, ihr und unser Leben völlig neu zu organisieren, ohne eine rechte Ahnung, wie das funktionieren soll, nur mit einer niederschmetternden Diagnose und einer noch schlechteren ärztlichen Prognose im Kopf.

Üblicherweise besuchen Querschnittsgelähmte ein Rehabilitationszentrum, in dem sie lernen, den Alltag zu meistern. In Österreich gibt es damals drei Zentren, die auf Querschnittslähmung spezialisiert sind – nur ist keines davon auf Kinder ausgelegt. Alle drei lehnen uns ab.

Über Umwege landen wir schließlich auf dem Rosenhügel in Wien, ein Kinder-Rehabilitationszentrum, eigentlich eher für mental beeinträchtigte Kinder gedacht, auch sogenannte »Schwer-Erziehbare« sind dort untergebracht. Ein völlig unpassendes Umfeld. Ich erhalte einmal die Woche Physiotherapie, den Rest der Woche liege ich herum und werde ignoriert. Nachts toben Jugendliche über das Gelände, Fensterscheiben gehen zu Bruch, im Nebenzimmer weint ein Zweijähriger mit Hirnschaden stundenlang, ohne dass sich jemand um ihn kümmert. Für meine Mutter, die noch immer unter Schock steht, reiner Psychoterror – sie will einfach nur so schnell wie möglich raus aus der Klinik.

Der leitende Arzt auf dem Rosenhügel macht die Sache nicht besser: Sosehr meine Mutter ihn beschwört, die Physiotherapie zu verstärken, um mich zu fördern – er beharrt auf seinem Ansatz. Der Arzt setzt auf »Soziale Reintegration«, damit ich ein Leben im Rollstuhl führen kann. Das ist sein Plan. Doch meine Mutter hat einen anderen.

Meine Mutter erzählt gern, dass sie nach einem Gespräch mit dem Arzt in mein Krankenzimmer ging – und ich im Bett saß, aus eigener Kraft, mit einem Grinsen im Gesicht. Als wollte ich sagen: Schau, was ich kann.

Sie deutet es als Zeichen, dass die Ärzte mir zu wenig zutrauen, dass sie falschliegen.

Schon an jenem 3. März, als die Ärzte in Innsbruck uns die Hiobsbotschaft überbringen, hat sich ein Gedanke bei meinen Eltern manifestiert: Wir akzeptieren das nicht. Wir machen es rückgängig. Nico wird wieder gehen können.

Ein Verhalten wie aus dem Psychologie-Lehrbuch: Laut der berühmten Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross durchläuft man fünf Phasen der Trauer, erst Schock und Verdrängung, dann Wut, Verhandlung, Verzweiflung, schließlich Akzeptanz.

Die ersten beiden Phasen haben meine Eltern an dem Punkt schon hinter sich. Nicht bewältigt, vor allem den Schock nicht, aber erlebt. Nun beginnt die Phase des Verhandelns. Sie werden jahrelang nicht aus ihr herauskommen. Und sie wollen es auch nicht: Sie wollen zurück, den Unfall ungeschehen machen. Ein Ziel, das unser Leben bestimmen wird.

RUSSISCHE REZEPTE

Ich bin am 17. März 1997 in Wien geboren. Doch das Leben, das ich kenne, beginnt in Russland, im Dikul’s Rehabilitation Center in Moskau. Gegründet wurde die Klinik vom Zirkusartisten Valentin Dikul, der noch als Jugendlicher 1962 bei einer Luftakrobatik-Nummer 13 Meter in die Tiefe stürzte, schwer verletzt überlebte und fortan gelähmt war. Mit einem selbst ausgedachten Trainingsprogramm lernte er wieder laufen – und trat in den 1980er-Jahren wieder im Zirkus auf. Seine Methode probierte er ab 1988 in seiner Klinik aus – und konnte damit angeblich vielen Menschen helfen. Also vielleicht auch mir.

Die fixe Idee, dass ich wieder komplett geheilt werden könnte, hat sich schnell bei meinen Eltern eingenistet. Mit jeder schlechten Erfahrung mit der »Schulmedizin« wird sie stärker und drängender, also suchen sie nach Alternativen – und finden sie im Geistheiler-Center im achten Bezirk in Wien, ein Tipp einer Freundin meines Vaters. Zwei russische Geistheiler erzählen ihm dort vom Dikul’s Center, wo angeblich schon Querschnittsgelähmte geheilt wurden.

Nach drei sinnlosen Monaten auf dem Rosenhügel fällt die Entscheidung meinen Eltern nicht schwer: Wenn uns hier nicht geholfen wird, versuchen wir es eben auf eigene Faust. Sie schreiben an das Dikul’s Center – und bekommen eine positive Antwort. Wenige Wochen später ziehe ich mit meiner Mutter nach Moskau. Erst einmal für einen Monat, mein Bruder bleibt in Wien bei meinem Vater. Mehr als ein halbes Jahr lang wird mein Lebensmittelpunkt nun in Russland liegen, nur für kurze Heimatbesuche bin ich in Wien.

Die Ideen von Valentin Dikul basieren auf Kraft, Kraft und nochmals Kraft. Also verbringe ich als Dreijähriger meine Tage in einer Fitnesskammer und stemme Gewichte. Einen Rollstuhl darf ich nicht benutzen, auch das ist Teil der Philosophie: Ich soll lernen, Barrieren aus eigener Kraft zu überwinden, also muss ich krabbeln, klettern, hangeln. Damit ich mich über längere Distanzen bewegen kann, bekomme ich ein Rollbrett, auf dem ich bäuchlings durch die weiß gefliesten Klinikflure sause, mein unverzichtbares Tinky-Winky-Stofftier auf den Rücken geschnallt.

Weil wir kein Russisch und die Angestellten kein Englisch sprechen, verständigen wir uns im wahrsten Sinne des Wortes mit Händen und Füßen. Mit meiner Therapeutin lerne ich im Tandem: Sie bringt mir Russisch bei, ich ihr Deutsch – auf dem Level eines Dreijährigen. Als meine Mutter einmal kurz einen Kaffee holt, lauscht sie auf dem Flur einer unserer Einheiten: »Wie heißt deine Mutter«, fragt die Therapeutin. Ich antworte: »Das ist der Gabi.«

So schnell ich als Kind fließend Russisch lerne, so schnell verlerne ich es später leider wieder, heute kann ich höchstens noch bis zehn zählen. Woran ich mich noch recht gut erinnere: das katastrophale Essen. Weil ich alles verweigere, ernähre ich mich ausschließlich von Kakao – der auch noch viel schneller diese eklige Haut bekommt, die ich so sehr hasse. Igitt!

Sieben Monate in Moskau: bei einer Untersuchung durch Valentin Dikul, dem ehemaligen Zirkusartisten (links); mit Mutter und Bruder vor einer Lenin-Statue; auf dem Rollbrett mit Tinky-Winky, dem Lieblings-Stofftier, am Rücken.

Das Dikul’s ist alles andere als ein Kinderparadies, die Rehabilitation nicht gerade auf mein Alter ausgerichtet, die tägliche Therapie beinhart. Und trotzdem sind wir gern dort, weil die Therapeuten nett sind – und uns Hoffnung geben.

KLEIN-MOSKAU IN WIEN

Sosehr meine Eltern von der Therapie überzeugt sind – die erhoffte Wunderheilung bleibt aus. Wir verabschieden uns vom Dikul’s Center, nehmen aber einige Geräte mit: den Seilzug etwa, den meine Eltern in Moskau abbauen lassen, und der von da an zur Einrichtung des Kinderzimmers gehört. Er besteht aus zwei Standrohren, um das Gewicht am Boden zu fixieren, nach oben hin wird das Gerüst zu einer Art Torbogen aus schwarzem, rauem Eisen, als wäre es rostig. Oben sind wie an einer Art Flaschenzug die Gewichte an einem Seil befestigt, das ich mit meinen Händen ziehen muss. Manchmal legen mich meine Eltern auch auf den Boden, damit ich es mit den Beinen versuchen kann – ohne Erfolg. Ich bin mir ziemlich sicher, dass man so einen Seilzug auch in Österreich hätte kaufen können, aber wir fliegen lieber mit 140 Kilo Übergepäck zurück nach Wien.

Damit wir die Übungen selbst machen können, besucht meine Lieblingstherapeutin Irina uns zweimal in Wien und weist meine Eltern ein.

Jetzt haben wir also Moskau nach Wien geholt. Das bedeutet auch hier: kein Rollstuhl. Durch die Wohnung bewege ich mich fast wie eine Schlange, den Oberkörper stütze ich mit durchgestreckten Armen nach oben, ab der Hüfte liege ich am Boden, ziehe meinen Oberkörper nach vorn und die Beine schlaff hinter mir her. Meine Eltern sehen das nicht gern, sie bevorzugen die therapeutisch wertvollere, aber viel langsamere Variante, die ich später bei den Therapien lerne: eine Art geordnetes Krabbeln, bei dem ich durch Kontraktion meiner Bauchmuskulatur meine Hüfte und damit auch mein Knie nach vorn schwinge.

Will ich vom Boden auf den Sessel oder an den Tisch, muss ich klettern. Bis zur Keksdose schaffe ich es nicht – außer, mein Bruder hilft mir. Auch ans Waschbecken komme ich nicht heran, weil im Bad kein Hocker steht. Wird es Zeit fürs Zähneputzen, reicht mir meine Mutter eine kleine Schale, einen Becher und meine Zahnbürste: In die Schale kann ich spucken, dann nachtrinken aus dem Becher, ausspülen, wieder in die Schale spucken. Meine Mutter muss das Ganze dann ausleeren.

Unsere Wohnung und unser Leben werden nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, darauf ausgerichtet, dass ein Kind mit Behinderung darin klarkommt. Sondern darauf, dass dieses Kind wieder gehen kann. Meinen ersten Rollstuhl bekomme ich erst mit vier Jahren, mehr oder weniger durch einen Zufall. Ein Mädchen mit Querschnittslähmung, vielleicht ein Jahr älter als ich, kommt zu Besuch, weil sich ihre Eltern über eine Therapie austauschen