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Das erkenntnisleitende Ziel von "Wie Rassismus aus Wörtern spricht" besteht darin, herauszuarbeiten, wie weiße Europäer*innen kolonialistisches und rassistisches Denken erschaffen und es in Wissensarchiven und ihren Begriffen konserviert haben, durch welche es bis heute wirkmächtig ist. Folgerichtig werden hier Kernbegriffe des weißen westlichen Wissenssystems diskutiert, um das Zusammenwirken von Rassismus, Wissen und Macht aufzuarbeiten. Diese Ausführungen werden grundiert durch theoretische Erörterungen zu Kolonialismus und Rassismus und ergänzt durch alternative widerständige Benennungswege. Es geht dabei nicht um eine administrativ betriebene oder geforderte staatliche Sprachpolitik, sondern um die analytische Offenlegung dessen, was ›unsere‹ Sprache an Tradierungen enthält, was sie beinhaltet und somit reproduziert – und dabei durch Verleugnungsstrategien schützt. Die gesellschaftspolitische Hoffnung besteht darin, durch die sprachliche Bewusstmachung auch Bewusstsein und dann die Sprachpraxis zu ändern.
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Seitenzahl: 1733
Veröffentlichungsjahr: 2022
Susan Arndt & Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.)
Wie Rassismus ausWörtern spricht
(K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche SpracheEin kritisches Nachschlagewerk
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
Susan Arndt & Nadja Ofuatey-Alazard (Hg.):
Wie Rassismus aus Wörtern spricht
4. Auflage, April 2021
eBook UNRAST Verlag, Dezember 2021
ISBN 978-3-95405-091-8
© UNRAST Verlag, Münster
www.unrast-verlag.de | [email protected]
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Umschlaggestaltung: Johannes Roskamm
Satz: UNRAST Verlag
Jedes Buch hat seine eigene Geschichte, und jeder Sammelband verdankt sich vor allem jenen, deren Ideen sich in ihm bündeln. Dazu gehören zum einen natürlich alle Autor_innen, die sich mit geduldigem Vertrauen an dem nicht immer geradlinigen Werdungsprozess des Buches beteiligten und das vorliegende kritische Nachschlagewerk mit ihrem wissenden Nachdenken über Rassismus in der deutschen Geschichte, Sprache und Gesellschaft bereicherten.
Mit gedanklicher Schärfe wurde das Buch durch die externe Lektoratsarbeit von Nicola Lauré al-Samarai beschenkt. Sie hat darüber hinaus, ebenso wie seit Jahren schon Willi Bischof, Peggy Piesche und Ursula Wachendorfer, das Buch bestärkend und kenntnisreich in seinem Werden und Wachsen begleitet.
Auch Julia Hunger, Hannah Strass und Sonja Hammes seien für ihre wertvolle Mitarbeit in der Editions- und Korrekturphase mit Dank erwähnt.
Für die Gestaltung des Buchcovers bedanken wir uns bei Johannes Roskamm von Movimientos in Freiburg.
Schließlich danken wir auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft für den gewährten Druckkostenzuschuss, ohne den das Buch hätte nicht erscheinen können.
Bücher benötigen mehr als Worte – und für dieses gewisse Etwas aus Liebe, Raum, Verständnis, Unterstützung und Kraft danken wir Ingrid Arndt, unseren Kindern Amélie, B’net, Camillo, Joshi & Max sowie unseren Ehemännern Antoine & Sascha.
Susan Arndt & Nadja Ofuatey-Alazard im Februar 2011
Lexikon. Ein Lexikon ist eine Schriftensammlung Unabänderlicher Universellgültiger Wahrheit™ und Wahrhaftigkeit, die von weisen Wahrerinnen und Wahrern der Absoluten Wahrheit™ zusammengetragen und verfasst wurde. | Auf keinen Fall und zu keiner Zeit haben Menschen, die Lexika schreiben, eine eigene Sozialisierung, einen eigenen gesellschaftlichen Kontext, gar eine Binnensicht™ oder irgendetwas nicht berücksichtigt!
Als weise Wahrerinnen und Wahrer der Absoluten Wahrheit™ sind sie folglich in ihrer vollumfassendgültigen-Sicht-auf-die-Dinge™ zu keiner Zeit und in keiner Weise beschränkt, sondern objektiv und zwar grundsätzlich und auch allein schon vom Ding her. | Was in einem deutschen Lexikon steht, stimmt auf jeden Fall zu einhundert Prozent. Noah Sow
Zum Geleit | Susan Arndt & Nadja Ofuatey-Alazard
Warum wir über Rassismus sprechen müssen, ohne es eigentlich zu wollen. Ein Gespräch zwischen Iman Attia & Philippa Ebéne & Esther Dischereit & Andrés Nader
Teil 1 Rassismus und Kolonialismus: Geschichte(n), Kontexte, Theorien
Rassismus | Noah Sow
Rassismus | Susan Arndt
Innocent Racism | Victoria B. Robinson
Rassismen | Birgit Rommelspacher
The Brainage | Philipp Khabo Köpsell
Antisemitismus | Benjamin Kryl
Antiziganismus | Jan Severin
Pennerrequiem für einen Wald | Nzingha Guy St. Louis
Kein Ausgang aus diesem Judentum | Esther Dischereit
Ins Herz | Deniz Utlu
Lehren der Sklaverei | Ngugi wa Thiong’o
Die europäische Versklavung afrikanischer Menschen | Nadja Ofuatey-Alazard
Kolonialismus | Anette Dietrich & Juliane Strohschein
Sprache, Kolonialismus und rassistische Wissensformationen | Susan Arndt
Ist deutscher Rassismus Geschichte? | Noah Sow
Koloniale Kontinuitäten in Deutschland | Nadja Ofuatey-Alazard
Migration | María do Castro Varela & Paul Mecheril
Postkolonialismus | Kien Nghi Ha
Racial Turn | Susan Arndt
weiß | Noah Sow
Weißsein | Peggy Piesche & Susan Arndt
Weißsein | Noah Sow
Teil 2 Wörter und Begriffe: Kernkonzepte und Artikulationsräume weißen Wissens
Afrika - und wie Sie darüber schreiben sollten | Binyavanga Wainaina
Afrika | Anna Weicker & Ingrid Jacobs
Afrikaexpertinnen | Noah Sow
Antike | Jobst Paul
Antirassismus | Fei Kaldrack & Ingmar Pech
Aufklärung | Sabine Broeck
Ausländer_in | Stefanie Hirsbrunner
authentisch | Noah Sow
Britische Soulmusik a.k.a. duffy | Noah Sow
Conscious | Noah Sow
Dialekt | Noah Sow
Diversity/Diversität | Maisha Maureen Eggers
Dokumentarfilmer | Noah Sow
Entdecken | Daniel Bendix & Chandra-Milena Danielzik
Entdecken | Noah Sow
Entwicklung | Daniel Bendix
Essay | Carsten Junker
Europa | Frank Schulze-Engler
Expat(riate) | Noah Sow
Feminismus | Franziska Reiniger & Rona Torenz
Flüchtling | Katharina Hübner
Fotografie | Noah Sow
Frieden | Aisha Diallo
Hautfarbe | Susan Arndt
hybrid/Hybridität | Kien Nghi Ha
Integration | Anna Böcker
Islam | Sibille Merz
Geschichte vom Kreis und vom Viereck | Sharon Dodua Otoo
Kinderbücher | Eske Wollrad
Kopftuch | Mariam Popal
Kopftuchmädchen | Noah Sow
Krankheit/Behinderung | Christiane Hutson
Kultur | Katrin Osterloh & Nele Westerholt
Kulturelle Aneignung | Noah Sow
Kunst | Sandrine Micossé-Aikins
Latein/Amerika | Julia Roth
Migrant | Noah Sow
Migrationshintergrund | Deniz Utlu
Miomis | Noah Sow
Nachrichten | Noah Sow
Nation | Alexander Weheliye
Naturschutz | Peter Clausing
nett | Noah Sow
normal | Noah Sow
Objektivität | Mariam Popal
Orient | Markus Schmitz
Political Correctness | Julia Brilling
Queer | Elisabeth Anschütz
Quellenangabe | Noah Sow
Sklave/Slavin | Nadja Ofuatey-Alazard
Straßennamen | Joshua Kwesi Aikins & Rosa Hoppe
Theater | Dirk Eilers
Tourismus | Anne Freese
Transkulturelle Adoption | Noah Sow
Volk | Noah Sow
Weltkarte | Julia Roth
Zeit | Dirk Wiemann
Ziegel | Noah Sow
Teil 3 Widerstand und Sprache: Begriffliche Interventionen und konzeptuelle Neuschreibungen von People of Color
Afrika: Dein Afrika und Albtraum | Philipp Khabo Köpsell
Afrodeutsch/Afrodeutsche_r | Mauren Maisha Eggers & Ekpenyong Ani
Andere Deutsche | Paul Mecheril
Das A-Wort | Philipp Khabo Köpsell
Cookie | Noah Sow
Diaspora | Kien Nghi Ha
Empowerment | Halil Can
gegen leberwurstgrau | May Ayim
Maafa | Nadja Ofuatey-Rahal
People of Colo(u)r | Jasmin Dean
PBV | Noah Sow
PoC-Eigeninteresse | Noah Sow
Schwarz für Weiße | Noah Sow
Schwarze Deutsche | Nicola Lauré al-Samarai
winterreim in berlin | May Ayim
Teil 4 Gewalt und Normierung: Die alltägliche Macht rassistischer Wörter
4.1 Stichproben: Exemplarische Analysen
›Aboriginies‹ | Franziska Reiniger
›Barbar_in‹/›barbarisch‹ | Susan Arndt
›Bastard‹ | Kien Nghi Ha & Susan Arndt
›Dunkelhäutig‹ | Noah Sow
›Eskimo‹ | Andrew/Andriana Boussoulas
›Ethnie‹ | Noah Sow
›Ethnie‹ | Susan Arndt
›Exotik‹ | Daniel Bendix & Chandra-Milena Danielzik
›Fetisch‹ | Jan Dunzendorfer
›Kanake‹ | Onur Suzan Kömürcü Nobrega
›Mischehe‹ | Anette Dietrich
›Mohr_in‹ | Susan Arndt & Ulrike Hamann
›Neger_in‹ | Susan Arndt
›Parallelgesellschaft‹ | Noah Sow
›Positiver Rassismus‹ | Anna Böcker
››Positiv‹rassismus‹ | Noah Sow
›Rasse‹ | Susan Arndt
›rassig‹ | Andrew/Andriana Boussoulas
›Schwarzafrika‹ | Noah Sow
›Stamm‹ | Susan Arndt
›Tropenmedizin‹ | Daniel Bendix
›Zigeuner_in‹ | Isidora Randjelovic
›Zivilisiert‹ | Noah Sow
›zivilisiert und wild‹ | Mariam Popal
›Zugewanderte‹ | Noah Sow
4.2. Stichproben: Exemplarische Kurzbetrachtungen
›Asi‹ | Noah Sow
›blauäugig‹ | Susan Arndt
›blaues Blut‹ | Susan Arndt
›braun‹ | Susan Arndt
›Deutsch-Südwest(afrika)‹ | Anne Freese
›Dritte Welt‹ | Sibille Merz
›Eingeborene_r‹ | Nadja Ofuatey-Alazard
›Fahrendes Volk‹ | Nadja Ofuatey-Alazard
›Farbig/e‹ | Noah Sow
›Fidschi‹ | Susan Arndt
›Gastarbeiter‹ | Noah Sow
›Ghettoblaster‹ | Noah Sow
›Häuptling‹ | Susan Arndt
›Halb-Schwarz‹ | Noah Sow
›Hellbraun‹ | Noah Sow
›Hottentotten‹ | Susan Arndt
›illegal‹ | Susan Arndt
›Indianer‹ | Noah Sow
›indigen‹ | Susan Arndt
›Kannibalismus‹ | Susan Arndt
›Kristallnacht‹ | Sibille Merz
›mauscheln‹ | Susan Arndt
›Mischling/Mulatte‹ | Noah Sow
›Mohammedaner‹ | Susan Arndt
›Naturreligion‹ | Nadja Ofuatey-Alazard
›Naturvolk‹ | Noah Sow
›Neue Welt‹ | Chandra Milena-Danielzik & Daniel Bendix
›Primitiv‹ | Noah Sow
›Schutzgebiet‹ | Anne Freese
›Stamm‹ | Noah Sow
›Verkafferung‹ | Sibille Merz
›Verschleppen‹ | Noah Sow
Angaben zu den Autorinnen und Autoren
Gesamtbibliographie
Alphabetisches Verzeichnis der Einträge
»Worte können sein wie winzige Arsendosen, sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.«
Victor Klemperer, LTI. Notizen eines Philologen
»Wer seine Sachen trocknen möchte, muss dahin zurückkehren, wo der Regen anfing, sie zu durchnässen.«
Igboisches Sprichwort
Wenn wir sprechen, verlassen wir uns zumeist auf Wörter, die andere vor uns erfanden, um ihr (zeitgenössisches) Wissen über die Welt verbal zu besiegeln und zu transportieren, um Blicken und Wahrnehmungen, Emotionen und Gedanken eine Form zu geben, um komplexe Gemengelagen zu zähmen und dadurch neu zu erfinden. Zugleich kreieren wir täglich neue Wörter, reformieren ihre Begriffsinhalte oder verabschieden uns von ihnen. Als Schauplatz der Artikulation zeugen sie nicht nur von einer beweglichen Kurzlebigkeit menschlichen Wissens, sondern dienen auch seiner Archivierung und verleihen ihm auf diese Weise eine nachhaltige Beständigkeit und (Wirk-)Macht. So gelesen, gehört, geschrieben und gesprochen sind Wörter ein unverzichtbares Lebenselixier des Rassismus.
Das vorliegende Buch Wie Rassismus aus Wörtern spricht hat es sich – als kritisches Nachschlagewerk – zur Aufgabe gemacht, der Frage nachzugehen, in welcher Weise sich Rassismus in ein herrschendes Wissensarchiv eingekerbt hat, das in und aus deutschen Wörtern spricht. Während die Geschichte dieser Wörter auf vielfältige und dennoch spezifische Entstehungskontexte unterschiedlicher Rassismen verweist und die nutznießerischen Urheber_innen in den Blick rückt, erhellt ihre Verwendung sowohl vergangene und gegenwärtige Wirkweisen, Wandlungen und Tarnungen als auch eine anpassungfähige flexible Durchsetzungskraft. In diachroner wie synchroner Perspektive zeigen die Beiträge dieses Buches auf, wie stark Sprache durch rassistische Diskurse und Wissensfelder geprägt ist und somit einen Rahmen dafür bietet, Rassismus weiterhin aktiv auszuüben. Zugleich verleiht es den marginalisierten Gegenerzählungen jener Menschen Ausdruck, die mit den Konsequenzen rassistischen Sprechens und Handelns konfrontiert sind und sich – sei es künstlerisch, politisch oder akademisch – seit jeher einer selbstbestimmten kritischen Aufarbeitung widmen.
Um dieser Werdensgeschichte von Wider-Sprache und Wider-Sprechen gerecht zu werden, haben wir uns dafür entschieden, dem vorliegenden Buch lediglich ein Geleitwort der Herausgeber_innen voranzustellen. Die eigentliche Diskussion eröffnet deshalb eine Gesprächsrunde dreier Frauen. Esther Dischereit, Philippa Ebéné und Iman Attia analysieren ihre jeweiligen Erfahrungen mit Antisemitismus, anti-Schwarzem und antiislamischem Rassismus und tauschen sich über Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen von Wider-Sprechen und Wider-Sprache aus. Ihre Reflexionen zeigen unter anderem, dass ebenso wenig wie der bloße Verzicht auf rassistische weiß-tradierte Begriffe, deren unreflektiertes Umdeuten gleichsam ›automatisch‹ zu einem ›Verschwinden‹ der durch sie (re)produzierten Ideen führt.
Es ist also unabdingbar, jedwede kritische Reflektion über Sprache historisch, theoretisch, kulturell und politisch zu kontextualisieren. Dies schließt nicht nur eine öffentliche Debatte über den Zusammenhang von Sprache, Ideologie und Macht ein, sondern verlangt nach einer analytischen Offenlegung dessen, was ›unsere‹ Sprache in ihren diversen Bedeutungsebenen an historisch gewordenen Wissensausformungen und Tradierungen enthält und ausdrückt. Eine solche Spurensuche führt unweigerlich in die – häufig als ›gegeben‹ angenommenen und deshalb herrschenden – Setzungen einer weißen europäischen Geistes- und Kulturgeschichte. Um deren Meisterzählungen, die aufs engste mit dem Projekt des Kolonialismus verbunden sind, kritisch beleuchten zu können, bedarf es bewusster erkenntnistheoretischer Rahmungen sowie einer Verknüpfung unterschiedlicher Stimmen und Perspektiven.
Da bei einer sinnbringenden Thematisierung von Rassismus immer die Notwendigkeit besteht, konkret darüber zu sprechen, wer wen vor dem Hintergrund welcher historischen Prozesse als ›Rasse‹ erfindet und rassistisch bewertet, führen die Beiträge dieses Kapitels in einem ersten Schritt unterschiedliche Geschichten und Beziehungsgefüge in polylogischer Weise zusammen. Erst die konsequente Herausarbeitung historischer Divergenzen und spezifischer Traditionslinien macht es möglich, eine tragende diskursive und strukturelle Schnittmenge zu sondieren: die multiple Machtbeziehung zwischen einem weißen christlichen, sich als überlegene Norm definierenden Selbst und den jeweils als ›anders‹ und ›Andere‹ konstruierten Menschen und Gesellschaften. Entscheidend ist hierbei, den Kolonialismus als katalysatorisches Moment der Geschichte und als konzeptuelle Meistererzählung wahr- und ernstzunehmen. Nicht nur die im Zuge dieser Tradition von Weißen ausgeübten Rassismen gegen per se als ›außer-europäisch‹ wahrgenommene People of Color, sondern auch Antisemitismus und Antiziganismus und antiislamischer Rassismus sind in ihrer Gleichzeitigkeit und in ihren Verwobenheiten erst dann zu ergründen, wenn die konzeptuellen Grundlagen des Kolonialismus in die Analyse mit einbezogen werden.
Rassismus ist eine weiße Ideologie, ein Denksystem, das in Europa erfunden wurde, um aus einer weißen Machtposition heraus Ansprüche auf Macht, Herrschaft und Privilegien zu grundieren und ihre gewaltvolle Durchsetzung zu legitimieren. Spuren und Grundlegungen davon und des dazu notwendigen Wissensapparates schlagen sich daher – so zeigen die Annäherungen des Kapitels 2 – in zentralen Begriffskonzepten der herrschenden europäischen Geistes- und Kulturgeschichtsschreibung nieder. Dem konventionellen, zumeist unkritischen Gebrauch von im eigentlichen wie im übertragenen Sinne selbst-verständlichen Schlüsselwörtern – von zeitlichen Konstrukten wie ›Antike‹ oder ›Aufklärung‹, von räumlichen und/oder kulturellen Konstrukten wie ›Europa‹, ›Afrika‹ und ›Latein/Amerika‹ oder ›Kultur‹ und ›Nation‹, von Paradigmen europäischen Wissens wie ›Kunst‹, ›Wahrheit‹ und ›Objektivität‹, von Genrekonzepten wie ›Essay‹ und ›Kinderbuch‹, von politischen, sich als widerständig verstehenden Selbstverständnissen wie ›queer‹, ›Naturschutz‹, ›Feminismus‹ und ›Antirassismus‹ – ist die Unsichtbarkeit einer herrschenden Norm(alität) von Weißsein eingeschrieben. Deshalb ist es unabdingbar, weiße und christliche Normierungsprozesse, die sich in eben diesem konventionellen Gebrauch von Begriffen artikulieren, dezidiert zu benennen und damit sichtbar zu machen.
Die konsequenten Lokalisierungen und Ausleuchtungen einer diskursiven Allgegenwärtigkeit des weißen christlichen Wissensarchivs verweisen ihrerseits auf die Notwendigkeit von Erinnerungsarbeit und Verantwortungsübernahme hinsichtlich weißer Privilegien und systemischer Macht; und sie vermögen auf lokaler wie globaler Ebene den Blick für rassistisch und/oder kolonialistisch geprägte politische, strukturelle und diskursive Prozesse der Gegenwart zu schärfen. Auf diese Weise ebnen sich Wege und eröffnen sich Räume für Gegenerzählungen und eigenständige Rahmensetzungen, die – gleichermaßen entwickelt wie getragen von People of Color und anderen rassistisch Diskriminierten – oftmals von einer diskursiven Neu(be)setzung von Wörtern samt des ihnen inhärenten archivierten Wissens begleitet sind.
Ein wichtiges Privileg, über das weiße und christlich sozialisierte Menschen verfügen, besteht in der freien Entscheidung darüber, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen oder auch nicht. Von Rassismen diskriminierte Menschen haben diese Wahl nicht, sondern werden, meist von klein auf, tagtäglich in die Situation gebracht, sich zu gesellschaftlich und zwischenmenschlich ausgeübtem Rassismus zu verhalten. Der damit verbundenen Traumatisierung steht seit vielen Jahrhunderten eine nachhaltige Empowerment-Praxis entgegen, die Sprache als Minenfeld bloßstellt und als Heimat einfordert. So sind die vielzähligen Diskussionen rassistischer Bezeichnungspraxen immer einhergegangen mit der Kreierung widerständiger Selbstbezeichnungen, denen emanzipatorische Konzepte und Wissenstransfers sowie das Bedürfnis nach selbst-bestimmter Sichtbarkeit zugrundeliegen.
Rassismus schafft Positionen und prägt Identitäten. Dieser Prozess war und ist ambivalent, uneindeutig und in stetigem Wandel befindlich, doch er stellt einen historischen Fakt dar – und damit eine wesentliche Grundlage, um multiperspektivisch über Rassismus zu sprechen anstatt diesen monologisch zu entnennen.[1] Dass in den letzten Jahrzehnten in Deutschland zahlreiche Neologismen wie ›Afrodeutsche‹, ›Schwarze Deutsche‹ oder ›People of Color‹ geschaffen bzw. in Anlehnung an andere Kontexte übernommen und ausformuliert worden sind, die rassistische Fremdbezeichnungen ablehnen und durch bewusste Eigenbezeichnungen ersetzen, ist ein Beispiel für die sprachliche Ambivalenz von rassistischer Markierung und dem Widerstand dagegen.[2] Widerständige Selbst-Benennungen und ihre Überführung in die Alltagssprache machen von Rassismen diskriminierte Menschen als ›communities‹ sichtbar – und damit als kollektive soziale Akteur_innen, die sich in einer von Machtasymmetrien getragenen Gesellschaft historisch und politisch verorten sowie ihre Erfahrungen benennen. Es ist notwendig, diesen Widerstand auch als Teil eines kolonialistischen Erbes zu lesen, denn er nimmt darauf, wenngleich in spezifischer Weise, oftmals Bezug.[3]
Kapitel 3 stellt einige dieser widerständigen Begriffe vor. Dabei zeigt sich, wie in und durch diese Begriffe das herrschende Wissensarchiv der deutschen Sprache um- und neu›sortiert‹ wird. Da diese Widerstandsbegriffe von People of Color entwickelt wurden, sind die entsprechenden Beiträge ausschließlich von Autor_innen of Color verfasst.
Das letzte Kapitel des vorliegenden Buches macht es sich zur Aufgabe, konventionelles herrschendes Sprechen zu verdeutlichen. Dabei wird eine Auswahl jener rassistischen Wörter ins kritische Visier genommen, die wie ›Arsendosen‹ ihre täglichen Giftdosen ins Sprechen streuen. Sowohl die Lemmata begleitenden Analysen im ersten als auch die jeweiligen Kurzkommentare im zweiten Kapitelteil sollen insofern eine argumentative Transparenz gewährleisten, als sie sich einerseits als Anleitung zum kritischen Widerlegen lesen lassen, andererseits als Handlungsanleitung dienen, ›alltäglich‹ auf der Ebene der Sprache zu intervenieren. Die Benennung der Begriffe, ihre etymologische Herleitung und die Beschreibung ihrer Inhalte sind mit dem unmissverständlichen Plädoyer verbunden, sie aufgrund der ihnen zugrunde liegenden ›rassen‹theoretischen Semantik entweder konsequent durch rassismuskritische Alternativen zu ersetzen oder ganz aus dem Wortgebrauch zu streichen. Da Wissen und Wörter von Menschen ge-macht sind, können sie auch ent-macht-et werden.
Die vorliegende Publikation Wie Rassismus aus Wörtern spricht möchte sich in eine Debatte über Rassismus einbringen, die in Deutschland seit einigen Jahrzehnten maßgeblich von jüdischen Wissenschaftler_innen, Aktivist_innen und Kulturschaffenden sowie von Wissenschaftler_innen, Aktivist_innen und Kulturschaffenden of Color getragen ist und seit Beginn dieses Jahrtausends zögerlich auch im weißen Zentrum Fuß zu fassen beginnt.
Ein spezifischer Fokus darauf, wie Rassismus in und durch Sprache wirkt, ist in vergleichbarer, allerdings weniger umfassender Form, bereits im 2003 erschienenen Sammelband Afrika und die deutsche Sprache[4] gerichtet worden. Das vorliegende Buch möchte an dieser Stelle einerseits ansetzen, andererseits jedoch konzeptuell neue Wege gehen, wobei es maßgeblich von grundlegenden Forschungen zu Rassismus in Deutschland[5] sowie von der Arbeit politisch-aktivistischer Organisationen profitiert, die – wie etwa die 2001 gegründete media-watch-Organisation der braune mob e.v.[6] – eine Verwendung rassistischer Sprache gleichermaßen kritisch wie öffentlichkeitswirksam und innovativ zur Disposition stellen. Darüber hinaus tritt es in eine konzeptuelle Dialogizität und Differenz mit der 2010 von Adibeli Ndukwa-Agwu und Antje Hornscheidt herausgegebenen Anthologie Rassismus auf gut deutsch,[7] mit der es durch eine parallele Entstehungsgeschichte verbunden ist, die neben Synergieeffekten auch inhaltliche Kontroversen beinhaltet.
Wie Rassismus aus Wörtern spricht setzt durch seinen Ansatz eigenständige und veränderte Akzente: Erstens richtet es einen dezidierten Fokus auf Konstruktionen von Weißsein im Kontext rassistischer Theorien und Praxen. Zweitens dient die Herausstellung von Interdependenzen zwischen den verschiedenen Traditionslinien und ›Versionen‹ des Rassismus sowie des historischen Gewordenseins aktueller (K)Erben des Kolonialismus einem vergleichenden Verständnis, das rassistische Diskriminierungsmuster nicht hierarchisiert. Drittens wird, ausgehend von dem Wissen, dass rassistische Wörter ihr Gewaltpotenzial beibehalten und verletzen, offensiv der Frage nachgegangen, wie über Rassismus gesprochen werden kann, ohne ihn zu reproduzieren und ihm so einen erneuten (Sprech)Raum zuzugestehen. Im Kontext des vorliegenden Buches wird deshalb auf rassistische Zitate im Haupttext verzichtet, sofern sie – und sei es aus einer rassismuskritischen Intention heraus – nicht der Analyse, sondern der bloßen ›Veranschaulichung‹ dienen. Darüber hinaus erfolgt bei der Analyse rassistischer Wörter, die für das vorliegende Buch einen zentralen Aspekt darstellt, eine lediglich einmalige Nennung als ›Schlagwort‹. Für die Dekonstruktion der entsprechenden Lemmata dienen stattdessen Abkürzungen, Umschreibungen oder gegebenenfalls Fußnoten, sodass die Wörter ›gefiltert‹ auftauchen und eine kritische Distanznahme sowohl zu den jeweiligen Begriffen selbst als auch zu den historischen Quellen optisch wie inhaltlich sichtbar bleibt.
Was den vorliegenden Band zudem ausmacht, ist die bewusste Komposition verschiedener Textformen. Wesentliche Anregungen für die Entscheidung, ein solches Genre- und Stimmenspektrum zusammenzuführen, das wissenschaftliche Analysen und Essays, Interview und Spoken Word Performance, satirische Texte und Kurzgeschichten vereint, verdanken die Herausgeber_innen der Autorin Noah Sow. Ihr 2008 erschienenes Sachbuch Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus[8] zeigt, dass satirischer Humor eine wirksame und entlarvende Waffe sein kann, um als Person of Color mit der Ignoranz hiesiger weißer ›Gegebenheiten‹ konstruktiv umzugehen. Ihre Texte und die Beiträge anderer Wortkünstler_innen of Color kreieren eine subversive, visuell herausgehobene Ebene, die das gesamte Buch durchzieht und auf besondere Weise in Kommunikation mit gemeinhin als ›wissenschaftlich‹ bezeichneten Textformen tritt.
Diese Stimmen-, Ausdrucks- und Formenvielfalt gründet in dem Verständnis, dass jedem Sprechen über Rassismus nicht nur verschiedene gesellschaftliche Diskurse, sondern auch individuelle Geschichten und Bezugnahmen inhärent sind, die mitkommuniziert werden. Da Weiße, wenn sie über Rassismus sprechen, in anderen Traditionen stehen als People of Color, gehört es zur kontextualisierenden Grundkonzeption des Buches, dass weiße Autor_innen sich in ihren Beiträgen zum beschriebenen Gegenstand positionieren. Schließlich ist jedes Sprechen – auch das akademisch-wissenschaftliche – immer subjektiv geprägt. Weißsein stellt also keine Währung dar, die sich einfach ›umtauschen‹ lässt, sondern eine soziale Position, die Individuen strukturell innehaben. Insofern muss die Beschäftigung und die Auseinandersetzung mit Rassismus auf einer kritischen Selbstreflexion basieren, die mit der Bereitschaft einhergeht, rassistisches Wissen zu erkennen und zu verlernen. Erst dann kann gemeinsam über Rassismus gesprochen werden, eine konstruktive Aufarbeitung des kolonialen Erbes erfolgen und ein Wissensarchiv entstehen, das den verschiedenen Geschichten und Positionen, Denktraditionen und postkolonialen Präsenzen angemessen und vor allem gleichberechtigt Rechnung trägt.
Susan Arndt und Nadja Ofuatey-Alazard
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1 Vgl. Lauré al-Samarai, Nicola: »Inspirited Topography: Über/Lebensräume, Heim-Suchungen und die Verortung der Erfahrung in Schwarzen deutschen Kultur- und Wissenstraditionen.« In: Maisha Maureen Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche & Susan Arndt (Hrsg.): Mythen, Masken und Subjekte. Studien zur Kritischen Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast, 2005, S. 118-134, hier S. 133, Anm. 7.
2 Auch wenn jedes Neuordnen von Wissen ein emanzipativer Prozess ist, stellt ›Emanzipation‹ in diesem Zusammenhang insofern einen irreführenden Begriff dar, als Rassismus eben jenes Erbe bleibt, dem sich diese Begriffe stellen müssen. Daher scheint das Konzept ›Widerstand‹ diese Dynamik treffender zu umreißen. Die Herausgeber_innen verdanken diesen Hinweis Chandra-Milena Danielzik.
3 Die Herausgeber_innen verdanken diesen Hinweis Nicola Lauré al-Samarai.
4 Arndt, Susan & Antje Hornscheidt (Hrsg.): Afrika und die deutsche Sprache. Münster: Unrast, 2003.
5 Oguntoye, Katharina, May Opitz & Dagmar Schultz (Hrsg.): Farbe bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1986; Hügel, Ika, Chris Lange, May Ayim et al. (Hrsg.): Entfernte Verbindungen. Rassismus, Antisemitismus, Klassenunterdrückung, Berlin: Orlanda Frauenverlag, 1993; Mecheril, Paul & Thomas Teo (Hrsg.): Andere Deutsche. Zur Lebenssituation von Menschen multiethnischer und multikultureller Herkunft. Berlin: Dietz, 1994; Attia, Iman, Monika Basqué, Ursula Kornfeld et al. (Hrsg.): Multikulturelle Gesellschaft. Monokulturelle Psychologie? Antisemitismus und Rassismus in der psycho-sozialen Arbeit. Tübingen: dgvt, 1995; Oguntoye, Katharina: Eine afro-deutsche Geschichte. Zur Lebenssituation von Afrikanern und Afro-Deutschen in Deutschland von 1884 bis 1950. Berlin: Hoho-Verlag, 1997; El-Tayeb, Fatima: Schwarze Deutsche. Der Diskurs um ›Rasse‹ und nationale Identität 1890-1933. Frankfurt am Main, New York: Campus, 2001; Gelbin, Cathy S., Kader Konuk & Peggy Piesche (Hrsg.): AufBrüche. Kulturelle Produktionen von Migrantinnen, Schwarzen und jüdischen Frauen. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag, 1999; Wollrad, Eske: Weißsein im Widerspruch. Feministische Perspektiven auf Rassismus, Kultur und Religion. Königstein/Taunus: Ulrike Helmer Verlag, 2005; Eggers, Maureen Maisha, Grada Kilomba, Peggy Piesche & Susan Arndt (Hrsg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast, 2005; Ha, Kien Nghi, Nicola Lauré al-Samarai & Sheila Mysorekar (Hrsg.): re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. Münster: Unrast, 2007; Kilomba, Grada. Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism. Münster: Unrast, 2008; Attia, Iman: Die ›westliche Kultur‹ und ihr Anderes. Zur Dekonstruktion von Orientalismus und antimuslimischen Rassismus. Bielefeld: Transcript, 2009; Melter, Claus & Paul Mecheril (Hrsg.): Rassismuskritik. Band I: Rassismustheorie und -forschung. Schwalbach: Wochenschau 2009; Broden, Anne & Paul Mecheril (Hrsg.): Rassismus bildet. Subjektivierung und Normalisierung in der Migrationsgesellschaft. Bielefeld: transcript 2010.
6http://www.derbraunemob.de
7 Lann Hornscheidt, Antje, & Adibeli Nduka-Agwu (Hrsg.): Rassismus auf gut Deutsch. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel, 2010.
8 Sow, Noah: Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus. München: C. Bertelsmann, 2008.
Esther Dischereit: Ich bin wahrscheinlich von Geburt an diskriminierungssensibel, sozusagen qua Zuschreibung: Ich bin jüdisch. Als Schriftstellerin beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit der Situation in der deutschen Mehrheitsgesellschaft nach 1945. Ich war mehrere Jahrzehnte in der Gewerkschaftsbewegung beschäftigt, und auch dort konnte ich verschiedene Rassismen studieren. Ich fühle mich betroffen, mit-betroffen, von den Debatten über Menschen türkischer und arabischer Herkunft, weil sie mich an Diskussionen über die Emanzipation der Juden im 18. Jahrhundert erinnern. Auch damals ging es um die vorherrschende Meinung, dass sich ›die Klientel‹ dringend verändern müsse. Sie hätte sich einzupassen, anzupassen, etwas abzulegen, anders zu sprechen, anders zu sein; bis hin zu der Beschränkung, die eigenen Kinder nicht bei sich haben zu dürfen. Ich empfinde die Situation in Deutschland als sehr aufgeladen und halte es für dringlich, mich dazu zu äußern – auch weil die jüdische Community, im Vergleich zu anderen Communities, in der Diskussion eine andere – arriviertere –, eine hervorgehobene Stellung und eine höhere Akzeptanz besitzt.
Philippa Ebéné: Anfang 2008 habe ich die Leitung der Werkstatt der Kulturen übernommen. Die Werkstatt ist die einzige Berliner Kultureinrichtung, die die Vielfalt transkultureller, migrantischer und minoritärer Kultur-, Kunst- und Aktionsformen abbildet. Neben großen Festivals, wie dem Karneval der Kulturen, dem Tanzfestival Bewegte Welten oder dem Global Music Wettbewerb creole präsentieren und/oder produzieren wir - in enger Kooperation mit Kuratorinnen und Kuratoren oder auch mit Vereinen aus den unterschiedlichsten kulturellen, ethnischen und künstlerischen Milieus der Stadt Musik-, Tanz-, Film- oder Wortveranstaltungen.
Was die derzeitige Integration-Migration-Debatte angeht – die Werkstatt wird vom Senatsbeauftragten für Integration und Migration finanziert, somit bin ich auch von Berufswegen sehr nah dran –, muss ich sagen, dass ich in den letzten Jahren Schwierigkeiten damit hatte, mich daran zu gewöhnen, plötzlich ›Migrantin‹ geworden zu sein bzw. einen ›Migrationshinter- oder -vordergrund‹ zu haben.
In Deutschland habe ich mich bislang als Deutsche mit ›Extra-Features‹ empfunden, aber als Deutsche. Vermutlich auch deshalb, weil in meiner Familie die jüngste deutsche Geschichte immer sehr präsent war. Das heißt, ich habe mich immer als eine derjenigen Deutschen empfunden, die aus einer der deutschen Familien kommt, die schon immer wusste, dass es ›unanständig‹ ist, den rechten Arm zu heben. Von daher hatte ich, und habe ich, gerade in jüngster Zeit besondere Schwierigkeiten mit der Debatte und den dazugehörigen defizitären Zuschreibungen. Wobei ich sagen muss: Auch Afro-Deutsche sind in dieser Debatte häufig in besonderer Weise hervorgehoben. Wir werden in der Regel nicht automatisch als ›fremd‹ markiert – zumindest dann nicht, wenn wir den Mund aufmachen – sondern eher als ›exotisch‹. Selbstverständlich ist man damit dennoch als Other markiert, mit damit einhergehenden Beschränkungen, aber ich denke, im Vergleich zu dem, was der türkisch- und der arabischstämmigen Minderheit im Augenblick passiert, sind wir geradezu privilegiert.
Iman Attia: Ich bin Professorin für Diversity Studies mit den Schwerpunkten Rassismus und Migration an der Alice-Salomon-Hochschule für Soziale Arbeit in Berlin. Als ich nach Deutschland kam, war ich 17 Jahre alt. Ich habe unterschiedliche kulturelle, nationale und religiöse Hintergründe, die natürlich eine Rolle spielen, über die ich aber sehr ungern in der Öffentlichkeit rede, weil ich dann schnell in die eine oder andere Ecke gestellt werde. Je nachdem, welche Geschichte ich erzähle – und es sind viele Geschichten und Variationen, die zu erzählen wären – werde ich entweder exotisiert oder vereinnahmt. Wenn ich eine der Variationen erzähle, bin ich – in ›gängigen‹ Wahrnehmungen – selten Migrantin, obwohl ich selbst eingewandert bin. Wenn ich hingegen nichts über mich erzähle, werde ich als solche angesprochen, als Tochter von ›Gastarbeiter_innen‹, die ich nicht bin.
Zu jener Zeit, als ich hier ankam, nahm ich erst einmal Kontakt zu verschiedenen politischen Gruppierungen auf: Friedensbewegung, Alternativbewegung, Antifa-Gruppen; Kontexte, in denen ich mich mit Anarchismus, Sozialismus, Kommunismus, Feminismus beschäftigte. Bezeichnenderweise begegneten mir in diesen politischen Zusammenhängen die gleichen Dinge wie ›draußen‹, in der Welt also, von der sich all diese Bewegungen abzugrenzen versuchten. Überall traf ich auf die gleichen Klischees, die gleiche Haltung, die arrogant war, von oben herab, belehrend, mitleidig. Deshalb ging ich letztendlich auf Distanz und suchte nach eigenen gesellschaftlichen und politischen Zugängen. Die fand ich vor allem über Studium und Berufsleben, nachdem ich angefangen hatte, mich mit kritischer Kriminologie zu beschäftigen. Damals wurde eine Reihe neuer Projekte gegründet, die strafmindernd oder entkriminalisierend wirken sollten, Jugendlichen of Color aber verschlossen blieben. Es hieß, ›die‹ könnten solche Maßnahmen ›wegen ihrer Kultur‹ nicht verstehen und würdigen, und wenn man pfleglicher mit ihnen umginge, würden sie dies ausnutzen. Da griff eine – für mich damals sehr merkwürdige – Form von Diskriminierung: Ich war immer zuständig für arabisch, jugoslawisch, tamilisch, türkisch markierte Jugendliche und Erwachsene, mit denen ich weder Geschichte, Schicksal oder Sprache noch Religion, Status oder sonst irgendwas teilte. So meinte ich zumindest. Aber diese Erfahrung, zuständig zu sein für alle, die als ›Andere‹ markiert wurden, und zugleich unlogische, unprofessionelle und diskriminierende Argumentationen zu hören, sollte sich in allen anderen beruflichen Kontexten in ganz ähnlicher Weise wiederholen. Die damit zusammenhängende Frage, wie eine Gesellschaft sich über das konstituiert, was sie als abweichend stigmatisiert und damit umgeht, führte mich zur Auseinandersetzung mit Rassismus.
Anfänglich arbeitete ich überwiegend zum Antisemitismus und war verblüfft, wie sehr sich linke, feministische, atheistische Personen in Abgrenzung zu Juden und Jüdinnen plötzlich als Christ_innen präsentierten. Da ich selbst oft mit dem Islam und dem Nahostkonflikt in Verbindung gebracht wurde, wollte ich wissen, welche Rolle das spielt. Wenn in Abgrenzung zu Juden und Jüdinnen eine so starke Definition über Religion stattfindet, wie ist das dann mit dem Islam? Ich habe also erst über die Forschungen zum Antisemitismus angefangen, mich mit der Abgrenzung zum Islam, mit dem Antiislamismus und seiner Funktion für Selbstwahrnehmungen und Selbstdarstellungen zu beschäftigen. Das eröffnet natürlich die Möglichkeit für vergleichende Betrachtungen, wenn über Rassismus gesprochen wird.
Philippa Ebéné: Ich habe Rassismus immer begriffen, als die Lehre von der Überlegenheit des weißen, christlichen Abendländers – und der ›große Rest‹ schlägt sich um die hinteren Plätze. Je nach Zeitgeist und Verortung liegen dann mal die einen vom großen Rest vorne und mal die anderen. Ab und zu gehören dann Juden in die we-group, Japaner werden – wie in Apartheid-Südafrika – zu so genannten ›Ehrenweißen‹ gemacht, ein Bundesbank-Vorstandsmitglied und SPDler empfindet Südostasiaten als intelligent genug um ›drin‹ sein zu dürfen – währenddem Türken und Araber draußen bleiben sollen, weil sie aus ›genetischen Gründen‹ bildungsfern, aggressiv und atavistisch seien. Und ab und an einmal – so habe ich das bei einer Auseinandersetzung um eine eindeutig kolonialistische Ausstellung erlebt – sind ganz plötzlich, ganz paternalistisch sogar Afrikaner mit dabei, also ›drin‹ – solange sie nicht etwa sich selbst oder gar ihre Geschichte selbst darstellen möchten – sondern in altbewährter Tradition als komplizenhafte native informants und/oder bedauernswerte, handlungsunfähige Opfer das Hintergrundrauschen liefern, um den Ausstellungsmacher als Entdecker und Aufklärer aufzuwerten.
Die einen sind ›drin‹, die anderen müssen leider draußen bleiben. Mal sind die einen – fast – ganz vorne mit dabei, mal jene. Manchmal dürfen sogar Angehörige ›böser‹ Gruppen ›rein‹ rutschen, vorausgesetzt sie distanzieren sich von ›ihren Leuten‹…
Für mich war es in diesem Zusammenhang immer nur interessant zu kucken: okay, wie kreiere ich künstlerische und kulturpolitische Räume, in denen man sich nicht permanent mit der Frage auseinandersetzen muss, wer derzeit Platz zwei, Platz fünf oder Platz sieben besetzt oder wer, wie, mit ihrem oder seinem Anliegen eine Chance haben könnte, nach ›oben‹ bzw. ›vorne‹ durchzuflutschen, obwohl das auf Platz vier der am ›besten‹ bzw. am ›schlechtesten Integrierten‹ eigentlich nicht möglich sein kann.
Wir können derzeit beobachten, wie aggressiv sich das Islam-Bashing in vielen gesellschaftlichen Bereichen bemerkbar macht. Gleichzeitig ist es aber so, dass in Deutschland Schwarze Menschen sehr viel häufiger Opfer von Rassismus sind als Andere. Afrikaner_innen und Menschen afrikanischer Herkunft werden auch häufiger tätlich – zuweilen mit Todesfolgen – attackiert als Angehörige anderer Minderheiten. Wir wissen, dass dies eine Folge der systematischen Entmenschlichung von Afrikaner_innen durch Europäer und ihrer Nachfahren auf dem afrikanischen Kontinent, in Europa, der Karibik und den Amerikas ist – sowohl während der Jahrhunderte der Maafa als auch während der Jahrzehnte des Kolonialismus – und mit der dennoch ganz selbstverständlich gepflegten kollektiven Amnesie zusammen hängt, die Deutschland in diesem Zusammenhang aufrecht erhält. Dies führt dazu, dass im öffentlichen Raum sehr selbstverständlich und regelmäßig auf die in diesem Zusammenhang kreierten, entwürdigenden rassistischen Bilder zurück gegriffen wird – egal ob in Fiction- und Dokumentarfilmen, in Dokumentar- und Kunstausstellungen, in der Werbung, der Literatur, im Theater, bei Hilfsorganisationen, in Publikationen etc.
Dennoch vermeide ich selbst Rassismusdiskussionen in der Öffentlichkeit – wenn möglich. Stattdessen habe ich mich in den letzten Jahren darum bemüht, Diskurs- und Kunst-Räume zu schaffen, die ein Sich-Äussern ermöglichen, jenseits der unmittelbaren Reaktion auf Ausgrenzung und Diskriminierung.
Esther Dischereit: Ich verstehe, was du sagst. Und doch sehe ich das anders. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht darin, zu hören und zu sehen und das Gehörte und Gesehene mitzuteilen. Was davon (an)genommen oder mit-gehört und -gesehen wird, weiß ich nicht. Diese Arbeit spiegelt auch meine eigenen Prozesse wieder.
Für mich war die Entdeckung der Tatsache, dass ich weiß bin, etwas Besonderes. Ich führe jetzt ein Beispiel dafür an, wie unterschiedlich allein schon diese Tatsache wahrgenommen werden kann: Neulich wollte mich eine Schwarze Freundin im Krankenhaus besuchen. Auf der Suche nach mir kam sie zunächst nicht weiter, bis schließlich irgendjemand auf dem Flur sagte: »Ach, Sie meinen die Ausländerin! Die ist da und da.« Meine Freundin war überrascht. Für sie war es völlig unerwartet, dass andere Leute mich als ›Ausländerin‹ bezeichnet hatten, und sie fand das empörend. Ich dagegen hatte als deutsche Jüdin diese Zuschreibung des Fremd-Seins schon als Kind erfahren. Weiß-Sein und Pass-Deutsch-Sein hatte daran nichts geändert. Ich lebte damit und die Geschichte der Juden in Deutschland hatte mich gelehrt, der Behauptung und Unterstellung, ich gehörte nicht zu den Deutschen, ein identifikatorisches Moment abzugewinnen. Ich würde niemals aus einer Empörung heraus sagen: »Also, ich bin doch deutsch, immer schon deutsch!«, obwohl es zutreffend ist. Meine Schwarze Freundin dagegen besteht entschlossen darauf, deutsch zu sein und einen deutschen Pass zu haben. Wir wunderten uns also, was das betrifft, übereinander. Ich möchte damit nur unterstreichen, dass es unterschiedliche Zugänge gibt, um Ausgrenzungsprozesse überhaupt wahrzunehmen und darauf zu reagieren.
Iman Attia: Die Diskussion über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen verschiedenen Rassismen, Diskriminierungs- und Othering-Formen bleibt häufig in Anfeindungen und Beschimpfungen stecken. Im Kern aber ist es sehr fruchtbar zu fragen: Wo gibt es bestimmte Parallelen, wo weisen bestimmte Diskursstränge, Praxen oder auch politische Aktionen darauf hin, dass es hier eher um das ›Eigene‹ geht, und wo wird das jeweils ›Andere‹ nur als Folie, als Gegenbild zu diesem ›Eigenen‹ genutzt? Wo liegen tatsächlich unterschiedliche, sowohl durch historische Prozesse als auch durch spezifische Fremdmarkierungen begründete Besonderheiten vor? Diese Komplexität macht es teilweise schwierig, Begriffe wie Rassismus oder Rassismen zu benutzen. Meist wird zwischen Antisemitismus und Rassismus unterschieden. Manche ergänzen ›Ausländerfeindlichkeit‹ oder ›Islamophobie‹ und grenzen diese Formen damit schon sprachlich vom Rassismus als koloniales Erbe ab. Antiziganismus wird oftmals völlig vergessen. Es kann jedoch hilfreich sein, von Rassismus – und noch nicht mal von Rassismen – zu sprechen, um bestimmte zugrunde liegende Strukturen offen zu legen, und auf dieser Basis dann die Unterschiede zu thematisieren. Wenn wir beispielsweise den Antiislamismus im Zusammenhang mit anderen Rassismusformen betrachten, dann fallen bestimmte Elemente auf, die solche Verknüpfungen nahe legen: etwa das Aufgreifen von Verschwörungstheorien als Verbindung zum Antisemitismus, die Paradigmen kultureller Herabsetzung als Verbindung zum kolonialen Rassismus oder die Diskurse über Patriarchat sowie familiale Geschlechter- und Generationsbeziehungen als Verbindung zum Antiziganismus. Doch auch die Unterschiede sind eklatant. Schließlich hat jede der hier genannten Rassismusformen ihre ganz eigene Geschichte.
Die des Antiislamismus verweist auf den Orientalismus, ist stark in kulturellen Diskursen verankert und fungiert seit dem Mittelalter als Gegenbild zum christlichen Abendland. Das Othering entlang von Religionen ist in Europa also kein neues Phänomen und folglich auch mit anderen Geschichten verwoben, aber sowohl das Judentum als auch der Islam dienten – als markierte ›Andere‹ – dem christlichen Abendland dazu, sich in bestimmter Weise zu präsentieren. Das Phänomen der europäischen Selbstpräsentation über das Gegenbild Islam ist seit ein paar Jahren besonders virulent geworden, konnte aber schon Anfang der 1990er Jahre in empirischen Untersuchungen nachgewiesen werden. ›Islam‹ war damals im Alltagsdiskurs sehr präsent, allerdings in politischen Debatten längst nicht so zentral wie heute. Im Zusammenhang mit den alltäglichen Anfeindungen und Abgrenzungen, die als muslimisch wahrgenommene Menschen in Deutschland erleben müssen, ist es geradezu fatal, die so genannte ›Islamophobie‹ als Reaktion auf islamistische Gewalt zu verorten. Antimuslimischer Rassismus war bereits lange vorher weit verbreitet, deshalb gilt es, bestimmte Fragen zu stellen: Wie kommt es, dass Religion, dass der ›Islam‹ oder ›Islamkritik‹, die Abgrenzung vom oder der Bezug auf den Islam eine solche Bedeutung gewinnt? Wofür steht er? Wie ist diese Gesellschaft strukturiert, dass plötzlich so etwas wie Moscheen und wie Millî Görüs wichtig werden können? Und zugleich: Welche Rolle spielen diverse christliche Einrichtungen im hiesigen gesellschaftlichen Leben? Wie kommt es, dass so viele soziale Bereiche christlich organisiert und geprägt sind? Ich denke, das sind Fragen, die zurückführen zu dem, was als ›deutsche‹ Gesellschaft definiert wird.
Esther Dischereit: Ich möchte an dieser Stelle die Auseinandersetzung zur Entscheidung über das Minarettverbot in der Schweiz zur Sprache bringen. Zum ersten Mal seit langer Zeit hat es einen so offensichtlichen Schulterschluss von Teilen der sich selbst als aufgeschlossen-links-aufklärerisch-progressiv bezeichnenden Szene, insbesondere auch von Feministinnen, mit rechten Populisten gegeben – dies zeichnet sich in Deutschland ebenfalls ab. Auch hier möchte ich einen Hinweis auf die Schwierigkeiten geben, mit denen in der Vergangenheit jüdische Gemeinschaften konfrontiert waren, wenn sie Gotteshäuser bauen wollten. Um Anfeindungen von vornherein zu entgehen, legten sie zu bestimmten Zeiten Wert darauf, christliche Architekten zu beauftragen. Im Zuge dessen kam es zu einer ›Orientalisierung‹, die beispielsweise in entsprechenden Kuppelbauten ihren Ausdruck fand, originär aber gar nicht religiös abgeleitet werden kann. Diese von außen zugeschriebene Sichtbarmachung hat jedoch zu Internalisierungen geführt. Das sind Prozesse, die weit über das eigentliche Ereignis hinaus bedeutsam wurden.
Die Frage des Geltungsbereichs von Grundrechten sehe ich in dieser Auseinandersetzung angesprochen, eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung. Wie wird die Bedeutung des Grundgesetzes oder der Menschenrechte als realer Bezugspunkt für politisches Handeln gesehen – und zwar nicht als ideologischer Rahmen, den man gelegentlich gegen die so genannten ›rückständigen‹ Länder benötigt, sondern als realer Raum für gegenwärtige Politikentscheidungen?
Sicher, ich vermag bestimmte Vorurteilsbildungen, Rassismen, Antisemitismen und so weiter gar nicht zu verhindern, und vielleicht ist es tatsächlich bis zu einem gewissen Grad zwecklos, sich damit zu befassen. Worum es aber eben gehen kann – und das stellt hier für mich den entscheidenden Punkt dar – ist das Bestehen auf einem bestimmten Rechtsraum. In dieser Frage geht es um Klarheit und Deutlichkeit: Wenn wir für die Universalität von Menschenrechten eintreten, muss dies dazu führen, dass sich die Sichtbarkeit so genannter ›Anderer‹ in Mehrheitsgesellschaften rechtmäßig ausdrückt. Das bedeutet beispielsweise, Minarette in der Schweiz und anderswo in Europa zu bauen. Alles andere würde diesen Anspruch auf Universalität grundsätzlich untergraben.
Die der Minorität zugehörenden Gruppen müssen einen Anspruch und ein Recht darauf haben, in der Gesellschaft existieren zu dürfen, sein zu dürfen. Das hat nichts damit zu tun, dass oder ob man einander ›fremd‹ ist. Deshalb finde ich auch diesen unbedingten Durchdringenswunsch obszön und manchmal geradezu ekelhaft. Ich muss nicht jede Community vollständig verstehen, und ich brauche mich auch nicht darüber zu beschweren, dass mich die türkische Nachbarin von oben noch nie zum Essen eingeladen hat. Was das in jüdischen Zusammenhängen bedeutet, möchte ich jetzt nicht ausführen. Es gibt einfach Zustände, die gehören wem anders, und die sollen bei dem Anderen bleiben dürfen. Was die rechtlichen Zustände betrifft, so muss es allerdings um eine prinzipielle Verteidigung von Gleichheitsansprüchen gehen. Und um Schutz vor Diskriminierung. Eine Diskriminierungssensibilität in dieser Gesellschaft kann sich allerdings nur dann entwickeln, wenn eine solche Fähigkeit angemessen verlangt und angemahnt werden könnte.
Iman Attia: Gegenwärtig wird Muslimen ein besonderer Antisemitismus vorgeworfen. Zugleich gibt es eine Art ›Gegenposition‹, die wiederum Israel und die Juden beschuldigt, im Hinblick auf die Palästinapolitik besonders gewalttätige Methoden anzuwenden, die mit denen der Nazis vergleichbar seien. Zugespitzt findet sich diese Diskussion innerhalb der extremen Linken – zwischen ›Anti-Imps‹ und ›Anti-Deutschen‹ – Linke in Anführungszeichen. Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht mehr, was da noch ›links‹ ist, oder ob in dieser Auseinandersetzung um Rassismen überhaupt von ›links‹ und ›rechts‹ zu sprechen ist. Die merkwürdigen Überschneidungen finden dort statt, wo die einen eher den Kolonialismus und Imperialismus für sich gepachtet haben und als Ursünde sehen, anhand dessen man die Gesellschaft, die Politik usw. zu begreifen habe, während die anderen dafür den Nationalsozialismus und Antisemitismus einsetzen. In beiden Fällen wird so getan, als hätten diese historischen Epochen nichts miteinander zu tun bzw. als müsste es so etwas wie einen Sündenfall, einen Hauptwiderspruch geben, eine zentrale Erzählung, die die Geburtsstunde allen Übels sei.
Diese Auseinandersetzungen verweisen auf die Bedeutung des Nahostkonflikts für das postkoloniale und postnationalsozialistische Deutschland. Darüber wird ›nationale Identität‹ definiert, die an – unterschiedlichen – Schnittstellen dreier Rassismen diskursiv hergestellt wird: Antisemitismus, kolonialer Rassismus und antimuslimischer Rassismus. Dabei werden rassifizierte Gruppen in diverse Beziehungen zueinander, gegeneinander, mit- und füreinander gebracht, und diejenigen, die dieses ganze Desaster eigentlich angerichtet haben, erheben sich auf eine Position als ›indifferente‹ Beobachter_innen und Schiedsrichter_innen und urteilen, wer böse und wer gut ist. Ich denke, dahinter verbirgt sich ein ganz bestimmtes Interesse. Warum sollte es innerhalb Schwarzer Communities keinen Antisemitismus geben? Warum sollte es bei Juden und Jüdinnen keinen Antiislamismus geben? Warum sollte es bei Muslim_innen keinen Anti-Schwarzen-Rassismus oder Antisemitismus geben? Wir alle leben in dieser Welt, und wir sind alle von diesen Diskursen und Geschichten auf unterschiedliche Weise geprägt. Aber diese Häme, die zutage tritt, wenn die ›Einen‹ konstatieren, dass insbesondere die ›Anderen‹ Böses tun, das sagt etwas aus.
Esther Dischereit: Ich glaube, dass es politisch interessant ist, über die Gemeinsamkeiten von Gruppen zu sprechen, die sich unterschiedlich herleitenden Rassismen ausgesetzt sehen, weil das zu Handlungsperspektiven führen könnte. Ich habe eingangs eine gewisse herausgehobene Stellung der jüdischen Community erwähnt. Sie genießt eine andere Förderung, gelegentlich sogar Zuwendung, auch wenn es immer wieder diese öffentlichen antisemitischen ›Ausrutscher‹ gibt, die zeigen, wie dünn das Eis ist, auf dem wir stehen. Auch über die tatsächliche Begrenztheit öffentlicher Förderungen will ich nicht sprechen. Ich denke, es ist sinnvoll, daran zu bauen, dass die unterschiedlich rassistisch markierten Gruppen zu gemeinsamen Handlungsformen finden. So habe ich es beispielsweise ganz außerordentlich gefunden, dass sich der Zentralrat der Juden in Deutschland sofort zu Thilo Sarrazins Aussagen, die schon im September 2009 in der Zeitschrift Lettre International erschienen waren, äußerte und eine klare Zuständigkeit fühlte, etwas zur Unterstützung der Angegriffenen und Beschimpften zu sagen. Vielleicht war es nicht viel, und vielleicht ist das Ganze etwas mager ausgefallen – auch innerhalb der jüdischen Community gibt es Diskriminierungsprobleme, etwa zwischen den Juden, die nach 1945 als in Deutschland Gebliebene die Gemeinden aufbauten und den russischen Einwanderern, die in den 1990er Jahren kamen –, da gibt es einiges zu tun, um das Verhältnis untereinander zu verbessern – aber es ist dem Zentralrat trotzdem ein Anliegen gewesen, sich zu den Diskriminierungen zu äußern, die im wesentlichen eine ›andere‹ Gruppe betrafen. Zum philosemitischen Gehalt jener Äußerungen gibt es natürlich auch einiges zu sagen – dennoch finde ich diese umstandslos erfolgte Parteinahme für die besonders geschmähten und verächtlich gemachten Minderheiten das Wichtigste an diesem Schritt.
Philippa Ebéné: Was mich störte, ist, dass niemand sagte, Sarrazins Aussagen sind antisemitisch. Dass die jüdische Gemeinde das nicht gesagt hat, konnte ich überhaupt nicht verstehen! Das ist eine Unverschämtheit, dieses ›genetische‹ Gerede von den 15% höheren IQ der osteuropäischen Juden. Das ist auch nicht mehr philosemitisch wie manche befinden – das sind eindeutig antisemitische Phantasien vom schlauen Juden! Auch die Zahlen, die er anführt, um von den Theaterdirektoren zu sprechen, die Berlin zum swingenden Berlin gemacht hätten. Das alles stammt letzten Endes aus dem reichen Fundes der Nazi-Propaganda. Für diese Behauptung gibt es meines Wissens überhaupt keine validen Zahlen, es sei denn, man bezeichnet Gestapo-Statistiken als seriöses Zahlenwerk. Diese ›genetischen‹ Aussagen von Sarrazin sind ganz eindeutig antisemitisch und niemand hat darauf reagiert. Auch die jüdische Gemeinde nicht. Ich fand es schön, dass Kramer klar sagte: Es ist rassistisch, wie sich Sarrazin über die türkisch- und arabischstämmigen Communities äußert. Ich hätte es noch schöner gefunden, wenn er gesagt hätte: Es ist rassistisch inklusive antisemitisch. Dass das ausgespart wurde, könnte auch ein Hinweis sein, darauf wie groß die Angst vor dem dünnen Eis ist, das du beschreibst.
Esther Dischereit: Für mich bedeutsam sind demonstrative Positionierungen im öffentlichen Raum, die unmissverständliche Äußerung: »Diese Art von Platzierung, dieses Othering the Other wird von uns nicht geteilt!« Damit es wenigstens teilweise durchbrochen werden kann. Es gibt auch andere Möglichkeiten des ›Aufbrechens‹. Ich denke da beispielsweise an die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus, deren Team im Hinblick auf Herkunft und Religionszugehörigkeit eine heterogene Zusammensetzung hat. Auch Leute, die einen islamischen Hintergrund haben, arbeiten hier. Ich glaube, dass das möglicherweise eine Chance ist, die wir hier in – Europa möchte ich gar nicht sagen, weil ich das nicht überblicken kann – aber doch in Deutschland haben. So etwas hätte wirklich Konsequenzen!
Ich wähle ein alltägliches Beispiel: Ich sitze in einem Wartezimmer im Krankenhaus und zwei Frauen kommen herein. Beide tragen ein Kopftuch und werden von einem Mann begleitet. Nun, das ist ein Wartesaal der armen Menschen, der kranken Menschen, und viele von ihnen mussten vielleicht gerade Schreckliches erfahren, erleiden oder erdulden. Ich finde, es ist gut, wenn diese Kranken nicht allein sind, und diese Erfahrung sollten eigentlich alle machen dürfen. Tatsächlich wurden die beiden eintretenden Frauen in dieser Situation noch beschimpft – weil sie von einem männlichen Mitglied der Familie begleitet werden, weil sie ein Kopftuch tragen, weil… – dann fühle ich mich selbst beschimpft. Ich habe bloß ein Privileg in diesem Augenblick: jenes, nicht sofort als ›Andere‹ erkannt zu werden.
Und doch fühle ich mich destruiert. Es ist im Grunde nur eine Frage der Zeit, wann weitere Gruppen von diesem Ausschließungsprozess erfasst werden – oder wann eine Umorientierung auf andere ›Andere‹ stattfindet, bis meine eigene Enttarnung als Unzugehörige beginnt.
Iman Attia: Das dünne Eis bricht an sehr vielen Stellen auf. Ich weiß daher nicht, wo ich von einer privilegierten Situation von Juden und Jüdinnen in Deutschland sprechen würde. Die Tabuisierung greift bei Juden und Jüdinnen sehr viel stärker als bei anderen Gruppen, etwa bei Sinti und Roma, hier scheint es keine Tabus zu geben, der Antiziganismus ist offen aggressiv …
Philippa Ebéné: … weil der trotz Auschwitz-Birkenau so ›unwichtig‹ ist.
Iman Attia: Ich habe den Eindruck, Antiziganismus ist so fest verwurzelt, dass viele nicht einmal auf die Idee kommen, er könnte etwas mit Rassismus zu tun haben. Sinti und Roma erfahren ganz ungebrochen Ablehnung, Diskriminierung und Gewalt. So gesehen frage ich mich, ob die Art des Umgangs mit Antisemitismus nach 1945 tatsächlich als Vorbild für die Auseinandersetzung mit anderen Rassismen dienen sollte. Ist es nicht vielmehr so, dass uns die heutige Situation einen Spiegel vorhält? Möglicherweise war es nicht so gut – diese Form der Tabuisierung, diese Leichenberge und Brillengestelle, über die die Kinder in der Schule etwas gelernt haben – den erhobenen Zeigefinger vor Augen. Das Problem ist, dass jede tatsächliche Auseinandersetzung dabei ausblieb.
Einerseits empfinde ich Tabuisierung durchaus als angenehm, ich denke oft, ich will gar nicht wissen, was ihr denkt, und es ist mir lieb, wenn ihr es nicht sagen dürft. Macht das in eurer Kneipe aus oder wo auch immer. Andererseits, und insbesondere, wenn ich mir den Antisemitismus und die in Deutschland offensichtlich nicht gelungene Auseinandersetzung damit anschaue, frage ich mich, ob Tabuisierung der richtige Weg ist. Es spricht einiges dafür, dass die Tabuisierung zu einer Verschiebung geführt hat. Einerseits ist der Antisemitismus in Alltagsdiskursen weit verbreitet, und gleichzeitig hat er ein neues Ventil gefunden. Etwa in den Verschwörungstheorien gegenüber Muslimen, die heute in einigen politischen Kreisen, in Alltagsdiskursen, in Internetforen oder bei den Antideutschen kursieren: Sie knüpfen an antisemitische Stereotype an. Das sind keine ›klassisch‹ orientalistischen Stereotype, sondern hier kehren antisemitische Stereotype, die nun auf Muslime übertragen werden, verschoben zurück. Die Verschwörungstheorien sind also nicht vom Tisch, aber sie werden auf eine andere Gruppe bezogen. Ihre Abkoppelung vom Antisemitismus (jedenfalls in offiziellen Reden) hat nicht dazu geführt, dass sie als solche verschwunden sind. Das heißt, die gesellschaftliche und politische Bedeutung von Verschwörungstheorien ist nach wie vor da.
Hängt das, was hierzulande aktuell passiert, nicht vielleicht auch damit zusammen, dass Deutschland angeblich keine Kolonien hatte und angeblich der Nationalsozialismus so großartig überwunden wurde, und man deswegen glaubt, sogar jüdischen Nachkommen der Überlebenden des Holocaust, die israelische oder neoliberale Politik kritisieren, Antisemitismus vorwerfen zu dürfen? Oder damit, dass ›die Deutschen‹ angeblich durch die Hölle gegangen, gereinigt und geläutert seien und nun auf alle anderen zeigen dürften? Ist nicht das, was man meint, gut gemacht zu haben, tatsächlich schlecht gelaufen und Teil der Situation, in der wir uns heute befinden?
Philippa Ebéné: Ich möchte in dem Zusammenhang noch einmal auf die weiße deutsche Linke zurückkommen: Bei den Diskursen, die dort derzeit stattfinden, geht es nach meinem Empfinden sehr oft darum, sich weiterhin im kolonialen Supermarkt zu bedienen und/oder den Herrenmenschen leben zu dürfen: Die einen wickeln sich in Palästinenser-Tücher, machen ›die Palästinenser‹ zu ihrer ›Lieblingsethnie‹ und verstecken ihren Antisemitismus hinter einer Israelkritik, die so plump daher kommt, dass es nicht einmal mehr verschleiert ist. Die anderen spielen sich als gründlich entnazifizierte Gegenseite auf und lassen hierfür ihren kolonial-rassistischen Phantasien über ›Araber‹ – und bei Bedarf auch über andere People of Color – freien Lauf. Für mich zeigt sich darin das offenbar dringende Bedürfnis, einen Überlegenheitskomplex auszuleben, der mittels Markierung, Maßregelung, ›Zivilisierung‹, Enteignung, Entmündigung und – bei Bedarf – Vernichtung über Jahrhunderte das ›Privileg‹ der Dominanz über die ›Anderen‹ ermöglicht und gesichert hat.
Philippa Ebéné: Mich interessieren Fragen, die mittelbar und unmittelbar mit Partizipation, und der Besetzung von Räumen verbunden sind, also: Wer spricht für wen – und warum? Wer darf wo und wie auftauchen? Wer darf sich selbst darstellen? Wer wird (wie) dargestellt?
Wenn wir beispielsweise einen Blick auf die derzeitige Integrations- und Migrationpolitik in Berlin werfen, dann sehen wir zunächst: es gibt im Augenblick in Berlin acht Migrationbeauftragte. Eine von ihnen hat selbst Migrationserfahrung, sie kam als Kind aus dem Iran nach Deutschland. Eine von ihnen hat meines Wissens einen türkischen Vater. Allen anderen würde ich weder nennenswerte außereuropäische Fremdsprachenkenntnisse noch Auslandserfahrung, Migrationserfahrung oder wenigstens den so oft bemühten ›Migrationshintergrund‹ unterstellen. Das wirft die Frage auf: Wer ›integriert‹ – was immer das heißen mag – hier eigentlich wen und warum? Inwieweit haben all diejenigen, um die es dabei geht, überhaupt die Möglichkeit, sich darzustellen? Warum dürfen weiße christliche Abendländer_innen für sich selbst sprechen, während ›andere‹ Einzelne dies gleich stellvertretend für eine ganze – meist fremd definierte – Gemeinschaft tun müssen? Wer wählt diese ›Vertreterinnen‹ und ›Vertreter‹ aus? Wer darf präsentieren, und wer darf repräsentieren? Wer legitimiert diese Präsentation bzw. Repräsentation? Diese Fragen betreffen nicht nur den politischen, sondern den gesamtgesellschaftlichen Raum, darunter auch so genannte ›Kulturräume‹, wie Theater, Museen, Konzerthäuser und so weiter, wo entsprechende Diskurse sichtbar/hörbar verhandelt werden. Ich möchte deswegen an der Stelle mal etwas weiter ausholen, um einige Beispiele zusammenzuführen, die in unterschiedlicher Weise damit zu tun haben.
Bevor ich die Leitung der Werkstatt der Kulturen übernahm, kannte ich das Haus über die Arbeit mit meinem Schauspielerensemble abok, das afrikanische Bühnenautoren deutschsprachig auf die Bühne brachte. Wir hatten hier einige Vorstellungen gegeben. Das Ensemble bestand aus Berufsschauspielern afrikanischer Herkunft. Also aus afro-deutschen, nigerianischen, irisch-jamaikanischen, britischen, ghanaisch-deutschen, marokkanisch-deutschen, guayanischen, usw. … Schauspielerinnnen und Schauspielern. Das Besondere an der Arbeit mit abok war der Umstand, dass die Ensemblemitglieder in Deutschland gewöhnlich nicht mit anderen Schauspielern afrikanischer Herkunft auf der Bühne standen und dass abok – vermutlich deswegen – ein Theaterpublikum anzog, das plötzlich zu mindestens 50 Prozent aus Menschen afrikanischer Herkunft bestand. Das ist in Deutschland ungewöhnlich. Theater werden von Schwarzen Menschen häufig nicht besucht, weil die Art und Weise, wie Schwarze dargestellt werden, oft so ist, dass sie auf Theater gern verzichten. In Kooperation mit der Botschaft Südafrikas machte die Werkstatt 2008 dann ein erstes Statement zu Antischwarzem Rassismus, indem wir uns mit einem dreitägigen Nelson-Mandela-Festival in die weltweiten Geburtstagsfeierlichkeiten für den ersten demokratisch gewählten Präsidenten Südafrikas einbrachten. Bei diesem Open-Air-Festival zeigten wir Filme über Mandela aus der Ära des struggles, es spielten die Bands Simphiwe Dana und Freshly Ground aus Südafrika sowie Three Kings und Griot Music Company aus Berlin, Denis Goldberg war als Ehrengast eingeladen, um über Mandela, seine Jahre beim ANC, den Riviona-Prozess 1964 und das neue Südafrika zu sprechen, abok performte Liebeslyrik und Kinder der Nelson-Mandela-Schule lasen Geburtstags-Briefe an Mandela vor. Wir hatten 6000 begeisterte Besucher/innen!
Im Herbst desselben Jahres partizipierten wir – diesmal mit einem zehntägigen Festival unter dem Titel 200-Jahre-später … – an den internationalen 200-Jahr-Gedenkfeierlichkeiten zum Beginn der Beendigung der Maafa. Alle Welt erwartete, dass wir uns auf die Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten dieser Jahrhunderte andauernden Massendeportationen und Massenmorde und ihre Täter fokussieren würden – mit all den schrecklichen Bildern der so genannten ›Sklavenschiffe‹ und den Photographien von durch Auspeitschungen vernarbten Rücken und der ›Lynchmorde‹ usw. usf. Stattdessen lag unser Fokus ausschließlich auf der Darstellung von Widerstandsprotagonisten und Widerstandstechniken gegen die Maafa.
Ich hatte mir damals überlegt, dass es sehr viel schöner wäre, eine Ausstellung mit großformatigen Leinwand-Porträts bekannter und weniger bekannter Widerstandsprotagonisten aus der Karibik, den USA, dem heutigen Nigeria oder Ghana etc. zu konzipieren. Einige dieser Personen sind bekannter, wie z.B. Nanny of the Maroons, die heute in Jamaica eine Volksheldin ist und die 500$ Note ziert, Olaudah Equiano, der bereits 1789 seine Bestseller-Autobiographie in Europa veröffentlichte, Gaspar Yanga, der um 1570 im heutige Mexiko einen Aufstand versklavter Afrikaner anführte und über 30 Jahre eine freie Kolonie mit 500 Menschen in den Bergen verteidigen konnte, Königin Nzingha, die bis Mitte des 17. Jahrhunderts die Portugiesen im heutigen Angola militärisch in Schach hielt oder Harriet Tubman, die Mitte des 19. Jahrhunderts der Sklaverei entfliehen konnte und anschließend Hunderten von Versklavten über die so genannte Underground Railroad ebenfalls zur Freiheit verhalf – andere sind weniger bekannt. Eine Hommage bot sich also an. Diese Ausstellung wurde begleitet von Präsentationen von – heute zum Teil kulturell überformten – Widerstandstechniken wie Capoira, Candomblé-Tänzen, Blues-Konzerten, senegalesischer Gitarrenmusik etc. und Vorträgen von Professoren, die an der Cheikh Anta Diop Universität in Dakar zur Maafa forschen. Wir haben auch einen Reader veröffentlicht mit unterschiedlichen Forschungstexten zum Widerstand gegen die Versklavung.[1]200-Jahre-später … wurde vom Publikum extrem gut aufgenommen! Wir wurden mehrfach gebeten, die Veranstaltung zu wiederholen. Die Menschen wollten sehen, dass die Geschichte ihrer Vorfahren nicht darin bestanden hatte, sich widerstandslos in die Versklavung abführen zu lassen wie Vieh – um dann irgendwann einmal von wohlmeinenden, aufgeklärten weißen Abolitionisten wieder ›befreit‹ worden zu sein, sondern im Gegenteil, dass es von Anbeginn an Menschen gab, die sich und Andere befreiten, um die eigene Befreiung kämpften. Dass wir das dargestellt haben, war vielen Afrikanern, US-Amerikanern, Südamerikanern und auch Afro-Europäern, die die Veranstaltungen besuchten, sehr wichtig. Diese Widerstandsgeschichte gibt es im öffentlichen deutschen und europäischen Erinnerungsraum praktisch nicht. Warum? Weil dann die gesamte deutsche und europäische Metaerzählung über den europäischen Kolonialismus wie ein Kartenhaus zusammenbrechen würde! Für die Veranstaltungsreihe 200-Jahre-später … wurde die Werkstatt der Kulturen vom Präsidenten des UNESCO-Exekutivrates Olabiyi Babalola Yai mit der Toussaint-L‘Ouverture-Medaille ausgezeichnet – für »besondere Beiträge im Kampf gegen Hegemonie, Rassismus und Intoleranz«.
Auch 2009 wir uns neben unseren Hauptthemen Transkulturalität, Diversity, Migration und interreligiöser Dialog mit einem kleinen Musik-Projekt künstlerisch zu Antischwarzem Rassismus geäußert. Diesmal, indem wir uns bei den 125-jährigen Gedenkfeierlichkeiten zur so genannten ›Kongo-Konferenz‹ engagierten, die 1884 in Berlin stattfand und letztlich die Aufteilung Afrikas in europäische Kolonien zur Folge hatte. Und auch dieses Mal haben wir versucht, an Widerstandstraditionen anzuknüpfen. Zusammen mit einer Gruppe von Berliner MusikerInnen afrikanischer Herkunft, produzieren wir derzeit eine CD unter dem Titel 1884, auf der sich die Musiker in unterschiedlichen Sprachen – auch musikalischen – zu 1884 äußern. Die Songs sind auf wolof, swaheli, zulu, pidgin, deutsch, lingala, französisch, arabisch, berber, englisch, twi und mandeng …
Ich bin nicht der Meinung, dass eine ernsthafte Rassismus-Diskussion in Deutschland nicht dringend notwendig wäre, aber ich befasse mich tatsächlich wesentlich lieber mit den unterschiedlichen Perspektiven marginalisierter und rassifizierter Akteur_innen auf gesellschaftliche, künstlerische und politische Themen, und auf ihre jeweiligen Bewältigungsstrategien, als mit lächerlichen, rassistischen Phantasien und den damit einher gehenden ›äußeren‹ Beschränkungen.
Esther Dischereit: Mit ›äußeren‹ Beschränkungen habe ich es im Rahmen des hiesigen Literaturbetriebs ebenfalls zu tun. Es gibt eine deutliche Exklusion. In den USA, wo ich mich häufig aufhalte, existiert dagegen eine andere Diversität, und meine Stimme ist hörbar, nicht, weil oder obwohl sie auch eine jüdische Stimme ist. Meine Stimme ist hörbar, eine literarische, eine politische, eine jüdische Stimme. Da ich diese Szene seit Jahren beobachte, würde ich mittlerweile tatsächlich von einem Ausschlussphänomen in Deutschland sprechen. Gleichzeitig findet eine geradezu ethnisch grundierte Zuschreibung statt. Ich sage gelegentlich: »Ich würde gern weiter über grünstichige Rosen schreiben«. Aber das ist nicht möglich. Ich bin auf ›jüdische‹ Rosen – Felder, Zustände, Vorkommnisse – festgeschrieben.
In meinem Buch Der Morgen, an dem der Zeitungsträger[2] geht es in der gleichnamigen Erzählung um eine Frau, die keine Geschichte vor sich und keine Geschichte hinter sich hat. Diese Frau trifft auf den ›Anderen‹, und in ihrem Blick auf eben den ›Anderen‹ wird deutlich, dass ihr Blick keineswegs ›geschichtslos‹, sondern ein weißer Blick ist. Schwarz-Sein / Weiß-Sein – koloniale oder postkoloniale Projektionen destruieren eine Beziehung, die noch nicht einmal bestanden hat, sondern nur hätte bestehen können. Das ist in der literarischen Debatte einerseits als Thema dermaßen abwesend, dass es noch nicht einmal erkannt werden kann. Andererseits geht es, fürchte ich, auch deswegen unter, weil ich seit Jahren unter der Rubrik Übungen jüdisch zu sein[3] – ich zitiere hier paradigmatisch den Titel meines ersten Essaybandes – firmiere, was offenbar das Sprechen und Denken über den Anderen auszuschließen scheint, mir dagegen nahe legt.
Insofern bin ich über den Diskurs in den USA erfreut, denn dort gibt es für diese Zusammenhänge ein anderes Verständnis. Das zeigt sich allein schon daran, dass die Ansiedlung meiner Literatur – wie erfreulicherweise auch in Großbritannien – in der Germanistik stattfindet. Ich werde dort in der deutschen Gegenwartsliteratur platziert, während ich mich hier unter ›marginalisierten‹ oder ›deutsch-jüdischen‹ Extras wiederfinde.
Philippa Ebéné: Ethnologie.
Esther Dischereit: Ja.
Philippa Ebéné: Genau deswegen ist ein Nachdenken über Wege und Möglichkeiten auch so wichtig. Die Grundlage für meine kulturpolitischen Arbeit im Kontext der Repräsentation von Menschen afrikanischer Herkunft waren und sind eigentlich immer die Fragen: In welcher Weise kann man als Mensch afrikanischer Herkunft im öffentlichen Kunstraum so vorkommen, wie man sich selbst sieht? Und: Wie viele Gegenbilder muss ich selbst entwerfen oder erschaffen, um diese seit Jahrhunderten bestehende Flut rassistischer Zerrbilder, die uns tagtäglich umgibt und uns immer wieder zu vereinnahmen droht, abzuwehren? Wie viele am Tag? Wie oft am Tag? Wie viel Aufwand muss ich betreiben, um neue Bilder zu kreieren, denen es gelingt, Millionen von Karikaturen zu überlagern? Und zwar nicht nur in mir. Denn um zu reüssieren, müssten diese Bilder die Kraft und Intensität haben, auch in meine Umgebung hinein zu reichen. Und daran knüpft sich die Frage an: Ist das überhaupt möglich?
Auch dazu ein, wie ich finde, bezeichnendes Beispiel: Gemeinsam mit der Organisation SFD – Schwarze Filmschaffende in Deutschland hatte ich 2007 die Gelegenheit, auf dem Berliner Filmfestival Berlinale die Kurzfilmreihe Neue Bilder zu präsentieren: sechs Arbeiten von in Deutschland lebenden Schwarzen Regisseur_innen. Bereits die Auswahl verlief schwerfällig, weil es eine lange Diskussion darüber gab, welche Filme ›geeignet‹ wären und deshalb gezeigt werden sollten und welche nicht. Letztendlich setzte sich innerhalb der Gruppe eine Mehrheit durch – zu der auch ich gehörte, von der ich allerdings nicht unbedingt behaupten würde, dass sie repräsentativ war (oder ist) –, die folgendes entschied: Wir zeigen nur Filme, die 1. keine Stereotypen bedienen (also nicht von Asylbewerbern, Abschiebeopfern, AIDS, Kindersoldaten, Drogendealern, Prostituierten etc. handeln) und die 2. nicht Antischwarzen Rassismus zum Thema haben. Daraufhin fielen prompt rund 80 Prozent der eingereichten Beiträge weg! Natürlich wurde ebenso heftig darüber gestritten, ob das nun in Ordnung sei oder nicht. Viele Schauspieler_innen sagten: »Was soll das?! Das sind nun mal die einzigen Rollen, die ich angeboten bekomme. Ich kriege keine anderen. Das ist meine Arbeit. Mit etwas anderem kann ich mich nicht vorstellen, und dafür soll ich jetzt auch noch von meinen eigenen Leuten bestraft werden!«
Das andere ›Problem‹ waren die Regisseur_innen, die zu den gleichen Förderbedingungen arbeiten wie alle anderen auch. Unter Umständen bedeutet das entweder, von vornherein keine Schwarzen Schauspieler_innen zu besetzen, um niemanden demütigen zu müssen, oder aber weiße Geschichten mit weißen Hauptprotagonist_innen zu erzählen, in denen Schwarze Figuren gar nicht vorkommen, um nicht in die Bredouille zu geraten. Ein dritte und, aus meiner Sicht, sehr problematische Variante: rassistische Drehbücher zu verfilmen und zu versuchen, dem jeweiligen Drogendealer, Abschiebeopfer, der Prostituierten, dem Rassismusopfer usw. eine ›Geschichte‹ und ein ›Gesicht‹ zu geben. Dabei werden trotzdem die immer gleichen Geschichten erzählt, aber durch die verstärkte Individualisierung eher noch glaubwürdiger gemacht, während das Feld, in dem Schwarze auftauchen dürfen, weiterhin klar abgesteckt bleibt. Angesichts dieser Gemengelage führten unsere Kriterien dazu, dass wir nur noch eine ganz kleine Zahl an Filmen zur Verfügung hatten, die überhaupt zu diskutieren war. Aus denen wählten wir dann die aus, die schließlich gezeigt wurden.
Für uns sehr überraschend waren alle drei Screenings von Neue Bilder bereits drei Tage vor der Berlinale