Wie Sammy zum Blechmonster wurde - Carina Senger - E-Book

Wie Sammy zum Blechmonster wurde E-Book

Carina Senger

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Beschreibung

Sammy sieht aus, wie eine Mischung aus Murmeltier und überdimensionalem Streifenhörnchen und lebt in einem Baumhaus im Park. Ein abendliches Zusammentreffen mit dem 14-jährigen Arzah stellt sein Leben jedoch von einem Moment auf den Anderen auf den Kopf. Anstatt die Tage damit zu verbringen mit seinen beiden besten Freunden Sim und Franz Fußball zu spielen, verwandelt Sammy sich unaufhaltsam in ein Blechmonster. Plötzlich ist er nicht mehr niedlich, sondern furchteinflößend und seine Freunde wenden sich nach und nach von ihm ab. Als auch noch sein geliebtes Zuhause zerstört wird, scheint alles verloren. Sammy bleibt nur eine Chance seine Verwandlung in ein Blechmonster rückgängig zu machen. Aber dazu muss er sich seiner größten Angst stellen.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 301

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Für meinen fabelhaften, einzigartigen und brillanten Neffen Joel, der mir als Sechsjähriger schon erklären konnte, wie das mit der Plattentektonik funktioniert.

Inhalt

Kapitel 1 Sammy

Kapitel 2 Sammys Freunde

Kapitel 3 Die Garage

Kapitel 4 Veränderungen

Kapitel 5 Wiedersehen

Kapitel 6 Beste Freunde?

Kapitel 7 Die anderen Jungs

Kapitel 8 Verflucht?

Kapitel 9 Im Park

Kapitel 10 Streit

Kapitel 11 Alleine

Kapitel 12 Zuhause

Kapitel 13 Der nächste Morgen

Kapitel 14 Begegnung im Park

Kapitel 15 Blemo

Kapitel 16 Verlorenes Zuhause

Kapitel 17 Notunterkunft

Kapitel 18 Fehlalarm

Kapitel 19 Neues Zuhause?

Kapitel 20 Frühstück

Kapitel 21 Zusammenstoß

Kapitel 22 Besuch

Kapitel 23 Ortswechsel

Kapitel 24 Die Tierärztin

Kapitel 25 Unerwartetes Wiedersehen

Kapitel 26 Rückweg

Kapitel 27 Pizza

Kapitel 28 Hugos Cousine

Kapitel 29 Wiedersehen

Kapitel 30 Abrupter Abschied

Kapitel 31 Nachtruhe

Kapitel 32 Connys Mann

Kapitel 33 Der Traum

Kapitel 34 Familienfrühstück

Kapitel 35 Die Diagnose

Kapitel 36 Sammy allein Zuhaus

Kapitel 37 Besuch

Kapitel 38 Tapetenwechsel

Kapitel 39 Geistesblitz

Kapitel 40 Enttäuschte Hoffnung

Kapitel 41 Fragen über Fragen

Kapitel 42 Bedürftig?

Kapitel 43 Die Verbindung

Kapitel 44 Pausenbrot

Kapitel 45 Zusammentreffen

Kapitel 46 Abschied

Kapitel 47 Und täglich grüßt…

Kapitel 48 Veränderung

Kapitel 49 Paukenschlag

Kapitel 50 Epilog

Danksagung

Die Autorin

KAPITEL 1 SAMMY

Sammy war so in Gedanken versunken, dass er den Maulwurfshügel übersah und stolperte. Wild ruderte er mit den Armen und konnte sich im letzten Moment abfangen. Leise atmete er auf und ließ seinen Blick misstrauisch über den ausgestorben vor ihm liegenden Park wandern. Er entdeckte keine weiteren Stolperfallen, aber die unheilverkündenden Schatten der kahlen Äste und der leise durch die Zweige säuselnde Wind, ließen ihn schaudern.

„Wenn doch Sim und Franz hier wären“, dachte er wehmütig. In den letzten Wochen hatten die beiden Jungen keine Zeit gehabt, um mit ihm zu spielen. Als Sammy sich deswegen bei ihnen beschwerte, erklärte Franz mit wichtiger Miene, dass er jetzt auf dem Gymnasium sei und da bekäme er nun mal mehr Hausaufgaben als in der Grundschule.

„Und ich will nächstes Jahr auch aufs Gymnasium! Deshalb brauche ich dieses Jahr ein gutes Zeugnis“, erklärte Sim eifrig. Sammy hatte nicht verstanden, was sie damit meinten. Warum gingen sie in die Schule, wenn sie stattdessen den ganzen Tag Fußball spielen könnten? Sim bemerkte Sammys Skepsis und kitzelte ihn so lange, bis Sammy sich vor Lachen auf dem Boden rollte. Als er sich wieder beruhigte, hatte seine Enttäuschung sich in Luft aufgelöst. In seiner aktuellen Situation erschien ihm die gute Laune jenes Nachmittags jedoch wie eine Erinnerung aus einem anderen Leben. Anstatt fröhlich mit seinen Freunden herumzutollen, schlotterte er trotz seines dichten Fells vor Kälte und sein Magen beschwerte sich lautstark über die ausbleibende Nahrung. Besonders mürrisch stimmte Sammy die Tatsache, dass er seit Tagen keine Süßigkeiten mehr gegessen hatte. Dabei hatten bereits das triste Wetter und die Einsamkeit der letzten Tage, seine sonst unerschütterlich gute Laune getrübt. Wie ein endloses, eisiges Band war der Schneeregen vom Himmel gefallen und ertränkte Sammys Fröhlichkeit. Anstatt durch die Tropfen und die vereinzelt aufblitzenden Schneeflocken zu springen, rollte er sich in seinem Baumhaus neben dem Fenster zusammen.

„Ich warte, bis der Regen nachlässt und gehe dann raus“, beschloss er, aber die Zeit verstrich, ohne dass sich das Wetter besserte. Stattdessen quälten ihn düstere Gedanken und Erinnerungen aus der Zeit seiner Gefangenschaft im Zoo. Sammy erinnerte sich nicht an seine Kindheit, aber so lange er zurückdenken konnte, waren ihm Menschen jeder Altersklasse freundlich gesinnt gewesen. Das hatte sich schlagartig geändert, als er eines Tages in den Zoo gelockt und dort eingesperrt wurde. Die Besucher strömten in Scharen an den Zaun seines Geheges, um ihn, eine ein Meter große, aufrecht gehende und sprechende Mischung aus einem Streifenhörnchen und einem Murmeltier, zu bestaunen. Zu Beginn hatte ihn das nicht gestört und er hatte sich begeistert mit den Leuten unterhalten. Doch nach einigen Tagen erkannte er, dass sie ihn nicht als Freund betrachteten, nicht einmal als Lebewesen, sondern als Attraktion, von der sie Anderen erzählen konnten. Vergeblich versuchte er, diese unerwünschten Bilder aus seinem Kopf zu verscheuchen und schaufelte schließlich wahllos Schokolade, Gummibärchen und Lakritze in sich hinein, um seinen Schmerz und seine Einsamkeit zu betäuben. Als er bedröppelt bemerkte, dass er seinen gesamten Vorrat an Süßigkeiten verschlungen hatte, tröstete er sich damit, dass seine Freunde bald aus dem Urlaub zurückkommen würden. Außerdem war er früher auch ohne Schokolade satt geworden, auch wenn er Nüsse und Beeren nicht annähernd so köstlich fand.

„Verhungern werde ich auf jeden Fall nicht“, versuchte er sich die Situation schön zu reden. Der Park war eine einzige Futterquelle und wenn er sich hungrig auf die Suche machte, wurde er in der Regel rasch fündig. Hier das halbaufgegessene Sandwich, das ein Spaziergänger achtlos ins Gebüsch geworfen hatte, dort ein Müsliriegel, der einem Jogger aus der Jackentasche gefallen war. Ihm drohte zwar nicht der Hungertod, aber er musste auf seine heiß geliebte Kinderschokolade verzichten, von der er mühelos eine Familienpackung verschlingen konnte. Zartbitterschokolade mochte er hingegen nicht besonders und aß sie nur, wenn die Alternative Gemüse war. Viel zu oft gaben die Eltern ihren Kindern Tupperdosen mit Gurken-, Paprika- oder Karottenstückchen mit, was Sammy mit einer angewiderten Grimasse kommentierte. Gerade war er allerdings so ausgehungert, dass er selbst die sonst stets verschmähten Mini-Karotten begeistert verputzt hätte.

Als er am Vormittag aufgewacht war, tastete er schlaftrunken nach seiner großen Essensdose, um sich vor der Nahrungssuche mit ein paar Nüssen zu stärken. Die gähnende Leere ließ ihn schlagartig wach werden und er erinnerte sich an den ungebetenen Besuch eines vorwitzigen Eichhörnchens am Vortag. Dieses hatte nicht nur Sammys Nüsse geklaut, sondern auch noch die Beeren mit so viel Karacho auf den Boden gepfeffert, dass sie wie aufgeplatzte Blutstropfen an den Holzbrettern klebten. Da er nichts mehr zu essen besaß, war Sammy gezwungen gewesen, mit knurrendem Magen den Baum hinunterzuklettern. In der Hoffnung, dass ein glücklicher Zufall für etwas Essbares in unmittelbarer Umgebung des Baumhauses gesorgt hatte, ließ er den Blick über den Kiesweg und das angrenzende Unterholz schweifen. Doch die einzigen menschlichen Hinterlassenschaften waren Zigarettenstummel im Gras. Leise murrend drehte er eine Runde durch den Park und klapperte dabei sämtliche Spielplätze und Sitzbänke ab. Auch in die Mülleimer schaute er, aber außer an den Wänden klebenden Kaugummis, bargen diese nichts Essbares. Einmal stieg Sammy ein köstlicher Duft nach Curry in die Nase, aber als er die Quelle erreichte, handelte es sich nur um eine, in Soße getränkte Serviette. Probeweise leckte Sammy daran, die Papierfussel schmeckten ihm jedoch nicht und er spukte sie wieder aus. Am späten Nachmittag war er so ausgehungert, dass er sich zum Kino schlich und die Umgebung nach Popcorn absuchte. Normalerweise mied er Plätze, an denen er Erwachsenen begegnen konnte, denn die Zeit im Zoo hatte sein Vertrauen in Erwachsene nachhaltig erschüttert. Zwar hatte er sich mit Ashley, einer der Tierpflegerinnen, angefreundet und sie hatte ihm schließlich geholfen zu entkommen. Aber diese positive Erfahrung konnte den Schmerz, den ihm andere Erwachsene zugefügt hatten, nicht wettmachen. Seither war die Angst vor einer Entdeckung, sein ständiger Begleiter und auch beim Aufsammeln der, am Boden liegenden Popcorn, drehte er sich alle paar Sekunden panisch um. Seine Ausbeute war so gering, dass er am liebsten geweint hätte. Wer sollte denn von zwei Popcorn satt werden? Gegessen hatte er sie natürlich trotzdem, allerdings stillte diese karge Mahlzeit seinen Hunger nicht. Vielmehr waren die Popcorn wie ein unerfülltes Versprechen, das dafür sorgte, dass sein Magen noch wütender nach Nahrung verlangte. Es dämmerte bereits, aber da er nicht völlig ausgehungert zurück in sein Baumhaus klettern wollte, blieb ihm keine andere Wahl, als seine Suche fortzusetzen.

„Vielleicht sollte ich in der Wohnsiedlung suchen, in der Sim und Franz wohnen“, überlegte Sammy, verwarf den Gedanken aber sofort wieder. Die Einfamilienhäuser mit ihren gepflegten Vorgärten und den gut beleuchteten Gehwegen boten ihm keinen ausreichenden Schutz. Ratlos blieb er mitten auf dem Weg stehen, als er sich nähernde Stimmen hörte. Alarmiert stellte er die Ohren auf. Handelte es sich um Kinobesucher, die nach einem gemütlichen Abend den Heimweg einschlugen? In diesem Fall standen die Chancen gut, dass sie Essensreste in die Mülleimer oder die Büsche warfen. Nachdenklich betrachtete er, wie sein Atem in kleinen Wölkchen zum Nachthimmel aufstieg. Kurzerhand beschloss er, sein warnendes Bauchgefühl zu ignorieren und sich nicht wie sonst hinter den Bäumen zu verbergen, bis die Personen außer Sichtweite waren. Sein feines Gehör hatte ihm längst verraten, dass es sich um Jugendliche handelte, was die Sache allerdings nur unwesentlich erleichterte. Seine Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass er sich vor Erwachsenen in Acht nehmen musste, wohingegen Kinder seine Verbündeten waren. Jugendliche waren hingegen weder das Eine noch das Andere, aber durch ihre seltsamen Marotten waren sie ihm sehr suspekt. Zum einen benutzten sie seltsame Wörter und besaßen andere Begrüßungsrituale als der Rest der Menschheit. Außerdem sah man sie praktisch nie ohne ihre Smartphones, auf deren Display sie völlig versunken starrten.

Als die beiden Jungen in Sichtweite kamen, verbarg Sammy sich im Halbdunkel der herabhängenden Zweige am Wegrand. Der eine Jugendliche war klein und wirkte mit seiner kompakten Figur wie ein menschlicher Bulldozer. Gleichzeitig ließ sein kugelrundes Gesicht ihn gutmütig wirken. Als er sich leicht nach vorne beugte, fiel das Licht der Laterne auf ihn und Sammy bemerkte, dass ein großes B auf der rechten Seite seiner Jacke prangte.

„Von ihm droht mir keine Gefahr“, dachte Sammy erleichtert und ließ seinen Blick zu dem anderen Jugendlichen wandern. Dieser war deutlich größer und besaß den federnden Gang einer Raubkatze. Seine Augen konnte Sammy nicht erkennen, weil die schräg sitzende rote Cap des Jugendlichen einen Schatten auf dessen Gesicht warf.

„Gib mir mal was zu essen, Bo“, verlangte er in dem Moment und blieb stehen. Sein scharfer Tonfall ließ Sammy zurückschrecken und als er den harten Zug um den Mund des Capträgers bemerkte, wich er instinktiv noch ein Stück zurück. Der als Bo angesprochene blieb ebenfalls stehen und begann, seine Hosentaschen abzuklopfen. Während Sammy mit angehaltenem Atem darauf wartete, dass die Jungen weitergingen, überlegte er, ob er es dem Eichhörnchen heimzahlen und dessen geheime Nussvorräte plündern sollte. Doch dann zog Bo einen Schokoriegel aus seiner Hosentasche und hielt ihn in die Höhe.

„Halbe-halbe?“, schlug er vor. Der Andere nickte. Sammy starrte ihn wie hypnotisiert an und presste beide Pfoten auf seinen leeren Magen. Die Vorstellung, dass jemand vor seinen Augen diese Köstlichkeit verspeiste, war unerträglich und trieb ihn zu etwas, das ihm normalerweise nicht im Traum eingefallen wäre: Er sprang aus dem Unterholz und fletschte die Zähne in dem Versuch furchteinflößend auszusehen. Als die Jugendlichen ihn eher verwirrt als verängstigt anstarrten, schob er ein verspätetes „Buh!“ hinterher. Einige Sekunden herrschte Schweigen, dann brachen die Beiden in grölendes Gelächter aus.

„Versucht das überdimensionale Streifenhörnchen etwa uns zu erschrecken?“, lachte Bo und steckte seinen Schokoriegel zurück in die Hosentasche. Sein Kumpel betrachtete Sammy mit zusammengekniffenen Augen, sagte aber kein Wort.

„Arzah?“ Bo lachte nervös, als sein Kumpel langsam auf Sammy zulief. Sammy bekam es mit der Angst zu tun und wich zurück. Doch er stolperte über seinen Schwanz, verlor das Gleichgewicht und überschlug sich mehrmals, bevor er unsanft von einem Laternenmast gestoppt wurde. Arzah lachte gehässig - ein so hartes und freudloses Geräusch, dass Sammys Fell sich aufstellte. Zu allem Überfluss knurrte sein Magen in dem Moment laut.

„Ach, hast du Hunger, Kleiner? Hier hast du was zu beißen“, rief Arzah gönnerhaft und warf ihm eine leere Getränkedose vor die Hinterpfoten. Für eine Sekunde hoffte Sammy, dass zumindest ein kleiner Rest drin sein könnte, aber als er das hämische Glitzern in Arzahs Augen bemerkte, erstarb diese Hoffnung.

„Sollen wir ihm nicht was geben? Der Arme hat vielleicht seit Tagen nichts mehr gegessen…“, wandte Bo vorsichtig ein.

„Bist du bekloppt?!“, fuhr Arzah ihn an.

„War ja nur eine Idee.“ Bo hob beschwichtigend die Hände.

„So einem Freak geben wir nichts. Besonders nicht, wenn wir selbst noch nichts gegessen haben.“ Arzah sah Sammy finster an und wandte sich ab. Bo warf Sammy hingegen einen mitleidigen Blick zu, traute sich aber offensichtlich nicht, die Anweisung seines Freundes zu ignorieren, und folgte Arzah schweigend. Sammy starrte ihnen hilflos hinterher, unfähig sich zu rühren. Die Demütigung lastete so schwer auf ihm, dass sie ihn wie einen Felsbrocken zu Boden drückte. Am liebsten hätte er sich zu einer Kugel zusammengerollt und in der Erde eingegraben. Aber als er einen unsicheren Schritt nach vorne machte, trat er auf die leere Dose und zuckte zurück.

„Ich werde nicht zulassen, dass mich je wieder jemand so behandelt“, schwor er sich und wischte sich die Tränen aus den Augen. Was bildete dieser Arzah sich eigentlich ein, so mit ihm zu sprechen? Kampfeslustig hob Sammy die längliche Dose auf und holte aus, um sie den Jugendlichen an den Kopf zu werfen, diese waren jedoch bereits in der Dunkelheit verschwunden. Frustriert zerdrückte er die Dose, die an einer Stelle aufplatzte. Die scharfe Kante schnitt durch sein dünnes Fell in die Pfote, aber Sammy spürte keinen Schmerz, als er beobachtete, wie mehrere Blutstropfen aus der Wunde auf den Boden tropften. Seine Wut konzentrierte sich mit einem Mal auf die Dose, die Wurzel allen Übels. Einem Impuls folgend biss er herzhaft hinein, in der Hoffnung, sich danach besser zu fühlen. Doch anstatt zu verdampfen, wurde seine Wut nur angefacht und Sammy verschlang die schwarze Dose, als wäre sie Zuckerwatte. Danach blickte er fassungslos auf seine leere Pfote, so verstört, dass er seinen Hunger vergaß. Wie von Sinnen, raste er zurück in sein Baumhaus, rollte sich in einer Ecke zusammen und versuchte vergeblich zu schlafen. Er fühlte sich, als würden an jedem Quadratzentimeter seines Körpers tonnenschwere Gewichte hängen. Immer wieder bekam er Panik, weil er glaubte zu ersticken. Und so starrte er schlaflos und verängstigt in die Dunkelheit, anstatt zu versuchen, das Treffen mit Arzah und Bo in seinen Träumen zu verarbeiten. Um sich abzulenken, begann er alle seine Lieblingssüßigkeiten durchzugehen, aber seine Gedanken wanderten immer wieder zu der Dose. Wie war es möglich, dass er sie essen konnte, ohne sich schwere innere Verletzungen zuzuziehen, obwohl er sich an der scharfen Kante die Pfote aufgekratzt hatte? Probeweise strich er sich über den Bauch. Von einem leisen Grummeln abgesehen, schien dieser mit der Verarbeitung des ungewohnten Abendessens jedoch keine Probleme zu haben. Seltsam. Sammy versuchte, sich zur Seite zu drehen, aber seine tonnenschweren Glieder verweigerten ihm den Dienst. Nur mit allergrößter Mühe gelang es ihm, seinen Kopf so weit zu drehen, dass er die rechteckige Luke im Boden betrachten konnte, durch die er sein Baumhaus immer verließ. So spät am Abend war es still, nur aus der Ferne schwappten einzelne Gesprächsfetzen zu ihm hoch.

„Hoffentlich kommen die Anderen bald zurück“, dachte Sammy trübsinnig. Bald würde ein neuer Tag anbrechen und falls er nicht wieder hungrig ins Bett gehen wollte, musste er wohl oder übel etwas zu Essen finden.

„Also wieder Mülleimer durchwühlen“, dachte er resigniert und schloss die Augen. Obwohl seine Gedanken durcheinander kreiselten, wie wild gewordene Jojos, schlief er ein und träumte, dass der Park sich in ein Schlaraffenland verwandelt hatte, dessen Bäume riesige, mit Süßigkeiten bedeckte Lebkuchenhäuser waren.

KAPITEL 2 SAMMYS FREUNDE

Das durchdringende Geräusch einer Sirene riss Sammy am nächsten Morgen aus dem Halbschlaf. Panisch riss er die Augen auf und versuchte, Arme und Beine zu heben. Sein Körper protestierte zwar gegen so viel Aktionismus direkt nach dem Aufwachen, aber Sammy konnte sich problemlos aufrichten und mit den Armen schlenkern. Geräuschvoll atmete er aus und ließ sich zurück auf sein Kopfkissen sinken. Kurz horchte er in seinen Körper hinein, aber abgesehen von einem leichten Pochen in seiner Pfote, tat ihm nichts weh. Dafür fühlte er sich seltsam aufgedunsen und es juckte ihn überall.

„Vielleicht war die Dose ja vergiftet“, dachte Sammy und kratzte sich am Arm. Sein Fell fühlte sich ungewohnt glatt und kühl an und er kniff die Augen zusammen. Sekundenlang starrte er auf seinen Arm, ehe sein Blick über seinen Oberkörper und bis zu seinen Hinterpfoten wanderte. Immer wieder strich er über seinen Bauch und seine Oberschenkel, doch anstelle flauschigen Fells spürte er nur glatte Haut. Sammys Fell mit den charakteristischen Streifen an Armen, Rücken, Beinen und Schwanz war über Nacht komplett ausgefallen und seine Haut glitzerte silbrig.

„Das muss ein Traum sein“, dachte Sammy benommen und die Vorstellung war so beruhigend, dass er leise lachte. Probeweise schloss er die Augen, kniff sie fest zusammen, streckte sich und öffnete die Augen wieder. Doch sein Fell war immer noch verschwunden. Zu allem Überfluss war er mittlerweile so hungrig, dass ihm ganz schummrig wurde. Mit einem dicken Kloß im Hals kletterte Sammy den Baumstamm hinunter. Normalerweise überwand er die Strecke bis zum Boden innerhalb weniger Sekunden - selbst das Eichhörnchen war kein so meisterhafter Kletterer wie Sammy. Heute wanderte sein Blick beim Klettern jedoch immer wieder seinen ungewohnt kahlen Körper hinunter und der Anblick seiner silbrig glänzenden Haut versetzte ihm einen Stich. Er rutschte mehrmals ab, aber es gelang ihm jedes Mal, sich in letzter Sekunde an der Rinde festkrallen. Schweißüberströmt und außer Atem kam er schließlich am Boden an und duckte sich hinter den nächsten Busch, damit die anderen Parkbesucher ihn nicht entdeckten. Doch so früh am Morgen waren weder Jogger noch Mütter mit Kinderwagen unterwegs. Nach Luft ringend verharrte Sammy hinter dem Busch und richtete sich erst auf, als sich sein Atem beruhigt hatte. Kurz bewunderte er den orange gefärbten Himmel und die Nebelschwaden am Boden, welche die Grashalme mit Tautropfen bedeckten. Nachdem er seit dem Vorabend nichts mehr getrunken hatte, beugte er sich zum Boden und leckte die Halme begierig ab. Normalerweise ging er morgens und abends zum Trinken zu dem kleinen See am anderen Ende des Parks, aber nach den Ereignissen vom Vorabend hatte er es vergessen. Nachdem er seinen Durst an den Tautropfen gestillt hatte, meldete sich sein Magen mit einem unzufriedenen Knurren. Kurz überlegte Sammy, ob er sich am Gras sattfressen sollte. Er fand es geschmacklich extrem fad, aber nachdem viele Leute ihre Hunde im Park Gassi führten, passierte es regelmäßig, dass man ein Büschel erwischte, auf dem ein Hund seine Duftmarke hinterlassen hatte. Sammys feine Nase warnte ihn vor, ehe er das kontaminierte Grün in den Mund schob. Aber allein die Vorstellung, wie viele Menschen mit ihren dreckigen Schuhen über die Wiese gelaufen waren, verdarb ihm in der Regel den Appetit. Selbst wenn er sich dazu hinreißen ließ, sich ein paar Büschel Gras in den Mund zu schieben, war er stets enttäuscht, weil er sich beim Essen fühlte, als würde er auf weichen Zahnstochern herumkauen. Einzig die Tatsache, dass es ihn einigermaßen sättigte, sprach für Gras.

„Und heute bleiben die meisten Leute wahrscheinlich zuhause“, dachte er und betrachtete abwägend die sich am Horizont auftürmenden Wolken.

„Ich versuche, bis heute Mittag etwas Besseres zu finden, sonst gibt’s heute Gras“, entschied er und trottete los. Zuerst lenkte er seine Schritte zum Spielplatz, Vor- und Nachmittagstreffpunkt für Mütter mit ihren kleinen Kindern, während sich abends die Jugendlichen hier einfanden. Bisher war weder die eine noch die andere Gruppe da, sodass Sammy in aller Ruhe nach Essensresten suchen konnte. Zu seiner Überraschung wurde er sofort fündig. Auf einer der Parkbänke lag eine halb volle Packung Nachos mit Soße. Definitiv nicht sein Lieblingsessen, aber um Welten besser als Gras. Heißhungrig verschlang er die Nachos und leckte die Plastikverpackung sauber, ehe er sie in den Mülleimer warf. Natürlich erst nachdem er sich versichert hatte, dass dort nicht die nächste Köstlichkeit auf ihn wartete. Als sein Blick an einer Bank hängen blieb, machte er einen Schritt darauf zu.

„Ich mach nur eine kleine Pause und such dann weiter“, beschloss er, setzte sich auf sie Bank und starrte in den Sandkasten. Während er dem leisen Gluckern seines Bauches lauschte, wanderten seine Gedanken zu dem Zusammentreffen vom Vorabend und sein Magen zog sich zusammen.

„Warum waren die Beiden so gemein zu mir? Sie haben doch gemerkt, dass ich nur Hunger hatte“, dachte er traurig und stand auf. Als ihm die Tränen in die Augen stiegen, wischte er sich verärgert mit der Pfote über die Augen.

„Hoffentlich kommen Sim und Franz bald aus dem Urlaub zurück“, dachte er sehnsüchtig. Als er sich daran erinnerte, wie er die beiden Jungs kennengelernt hatte, musste er unwillkürlich lächeln. Damals lebte er erst seit wenigen Wochen im Park und die Angst, dass einer der Wärter ihn aufstöberte und in den Zoo zurückbrachte, war sein ständiger Begleiter. Doch als er Sim und Franz unbekümmert über die Wiese tollen sah, konnte er sich nicht losreißen. Wie es sich wohl anfühlte, einen besten Freund zu haben, mit dem man den ganzen Tag spielen konnte? Er war so in diesen Anblick vertieft, dass er vergaß, sich hinter das Gebüsch zu ducken, sodass sein Kopf gut sichtbar hinter dem Haselnussstrauch hervorragte. Plötzlich hielt Sim inne, streckte die Hand aus und deutete auf Sammy. Sein Bruder wandte sich ebenfalls um und Sammy tauchte panisch ab, bevor Franz ihn entdeckte. Mit rasendem Herzschlag und hin und her zuckenden Ohren lauschte er, ob sich Schritte näherten, aber es blieb ruhig. Zu ruhig. Misstrauisch spähte er durch die Zweige, aber die Jungen waren verschwunden. Er wollte sich schon abwenden und einen Baum suchen, auf dem er die Nacht verbringen konnte, als er einen bunten Fleck auf dem Gras bemerkte. Als er sich der Stelle näherte, sah er, dass die Jungen einen Schokoriegel auf den Boden gelegt hatten. Die Verpackung hatten sie bereits aufgerissen, so als hätten sie ihm eine Mahlzeit zubereiten wollen. Sammy betrachtete den Schokoriegel etwas ratlos. Was war das nur? Konnte man es essen oder war es ein Spielzeug? Es ähnelte weder den Beeren noch den Nüssen, die er sonst aß, aber der schwache Geruch, der dem eckigen Ding entströmte, war köstlich. Beherzt griff Sammy danach und biss hinein. Der Moment der Geschmacksexplosion auf seiner Zunge, war der Anfang seiner Leidenschaft für Süßigkeiten. Er war so versunken in den unbekannten Geschmack, dass er gar nicht bemerkte, wie Sim und Franz sich ihm näherten.

„Bist du ein Streifenhörnchen?“, wollte Franz mit gerunzelter Stirn wissen. Sammy bekam einen solchen Schreck, dass er mit aufgerichtetem Schwanz senkrecht in die Luft sprang. Die Jungen wichen wieder ein Stück zurück.

„Keine Angst, wir tun dir nichts.“ Sim hob beruhigend die Hände, doch Sammys Kopf zuckte weiter zur Seite, auf der Suche nach Fluchtmöglichkeiten.

„Ich heiße Simon, aber alle nennen mich nur Sim“, stellte der Junge sich vor und lächelte schüchtern.

„Ich bin Franz“, meldete sein Bruder sich zu Wort und sah Sammy so erwartungsvoll an, als würde dieser sich in den nächsten Sekunden in ein Einhorn verwandeln. Nachdem die beiden Jungen keine Anstalten machten, Sammy zu packen oder festzuhalten, legte sich seine Angst etwas und er betrachtete sie genauer. Beide hatten dunkelblaue Augen, dunkelblonde, kurze Haare, die in alle Himmelsrichtungen abstanden und waren etwa gleich groß. Zuerst dachte Sammy, dass sie Zwillinge wären, doch dann erkannte er, dass Sims Haare sich lockten, während die seines Bruders einfach ungekämmt waren. Außerdem waren Sims Gesichtszüge deutlich kindlicher, als die von Franz.

„Ich bin Sammy“, stellte er sich vor und die Augen der Jungen weiteten sich.

„Du kannst ja sprechen!“, riefen sie begeistert.

„Ich weiß“, entgegnete Sammy und kräuselte die Nase. Sim und Franz tauschten einen verwirrten Blick, dann lachten sie laut auf.

„Du bist lustig. Magst du mit uns spielen? Wir haben auch noch ganz viele Süßigkeiten in unserem Rucksack“, erzählte Sim strahlend.

„Was sind Süßigkeiten?“, fragte Sammy argwöhnisch.

Sim und Franz starrten ihn irritiert an.

„Ich esse sonst nur Nüsse und Beeren“, erklärte Sammy entschuldigend.

„Du hast noch nie Süßigkeiten gegessen?“, rief Sim fassungslos. Sammy schüttelte den Kopf.

„Schokolade ist zum Beispiel eine Süßigkeit. Wie der Schokoriegel, den du gerade gegessen hast“, meldete Franz sich zu Wort.

„Au ja, der war lecker“, rief Sammy begeistert und seine Furcht verschwand. Von diesen Beiden drohte ihm keine Gefahr.

„Dann komm mit“, rief Franz und rannte zu einem der Bäume am Rand der Wiese, an dessen Stamm ein knallroter Rucksack lehnte. Sammy folgte ihm zögernd, während Sim aufgeregt um ihn herumhüpfte.

„Mama hat uns ganz viel gesundes Zeug mitgegeben, Gurken und Karotten und so. Aber wir haben beim Kiosk um die Ecke von unserem Taschengeld Schokoriegel und Gummibärchen gekauft“, vertraute Sim Sammy an und reichte ihm eine Handvoll Gummibärchen. Mit schief gelegtem Kopf starrte Sammy auf Sims Hand, ehe er zögernd ein gelbes Bärchen heraus pickte.

„Mmmh!“, entfuhr es ihm und bevor Sim ein Wort sagen konnte, hatte Sammy alle Gummibärchen in seinen Mund geschaufelt.

„Du hast ja Hunger“, lachte Franz, woraufhin Sammy beschämt den Kopf senkte.

„Ist schon in Ordnung. Mama sagt auch immer, dass wir einen extra Magen für Süßigkeiten hätten“, erzählte Sim. Sammy nickte verständnisvoll, doch ehe er etwas darauf erwidern konnte, näherte sich eine Joggerin und er schoss den nächsten Baum hinauf. Sim und Franz wechselten einen verdutzten Blick, dann zuckten sie mit den Achseln und kletterten ebenfalls auf den Baum.

Das ferne Geräusch von klapperndem Geschirr und startenden Motoren riss Sammy aus seinen Erinnerungen - die Menschen wachten auf, höchste Zeit weiterzugehen. Sonst würde er noch von der Welle Kinderwagen schiebender, mit Wickeltaschen bewaffneter Mütter überrollt. Als er auf den Boden sprang, bemerkte er aus den Augenwinkeln ein Glitzern und drehte sich neugierig um. Doch es war nur eine Schraube, die sich aus der Bank gelöst und auf den Boden gefallen war.

„Die passt bestimmt gut in meine Sammlung nützlicher Dinge“, befand er und hob sie auf. Neben Süßigkeiten, Nüssen und Beeren, sammelte Sammy Gegenstände, mit denen er spielen konnte, wenn es dunkel war oder regnete und die ihm auf die eine oder andere Art nützlich erschienen. So hatte er in seinem Baumhaus eine bunte Sammlung verschiedenster Dinge zusammengetragen. Ein alter Buchdeckel war ebenso darunter, wie ein angerosteter Topf und ein Suppenlöffel, auch einige Schrauben, die ihm besonders wertvoll erschienen, weil sie sein Baumhaus zusammenhielten. Doch nach wenigen Sekunden begann die Innenseite seiner Pfote, mit der er die Schraube umschlossen hielt, unerträglich zu jucken. Hastig warf er die Schraube ins Gebüsch und sofort ließ das Jucken nach.

„Was war das denn?“, fragte er sich verwirrt. Zwar fühlte er sich seit dem Aufwachen, als würden tausende Ameisen über seinen Körper krabbeln, aber er hatte das Gefühl auf sein ausgefallenes Fell geschoben. Er konnte sich die heftige körperliche Reaktion auf die Schraube nicht erklären und zu allem Überfluss schien er die Nachos nicht zu vertragen. Als er das Gefühl hatte, sich übergeben zu müssen, beschloss er, eine Runde zu schlafen, um seinem rebellierenden Magen eine Pause zu gönnen. Er verkroch sich ins Unterholz, rollte sich zu einem haarlosen Fellknäuel zusammen und schloss die Augen. Der Würgereiz verschwand und Sammy nickte ein. Obwohl er schlief, zuckten seine Ohren beim kleinsten Geräusch und als ein Baby in einem vorbeifahrenden Kinderwagen ihn entdeckte und aufgeregt „DADADADADADA“ schrie, sprang er schlaftrunken auf und ergriff die Flucht. Instinktiv lenkte er seine Schritte zu seinem Baumhaus, aber da die Wege von Müttern und krabbelnden Kleinkindern bevölkert waren, erschien ihm die Gefahr entdeckt zu werden zu groß. Normalerweise genügte der Schutz des Unterholzes, um ihn vor den Blicken der Erwachsenen zu verbergen, doch mit seiner silbrig glänzenden Haut war er sowohl im Gras als auch zwischen den kahlen Bäumen kaum zu übersehen. Unschlüssig blieb er stehen. Wo sollte er hingehen, wenn er nicht nach Hause gehen konnte? Nach kurzem Zögern entschied er sich zu dem Haus zu laufen, in dem Sim und Franz mit ihren Eltern wohnten. Vielleicht hatte er ja Glück und die Jungs waren zurück.

„Seit wir uns kennen, haben sie mir fast jeden Tag Süßigkeiten gebracht“, erinnerte Sammy sich, als er wenig später auf den Baum vor Sims Zimmer kletterte. Die Zweige reichten zwar nicht bis an das Fenster heran, aber immerhin brachten sie ihn auf eine Höhe mit diesem, sodass er hineinschauen und Sim zuwinken konnte. Doch dieses Mal wurde seine Hoffnung enttäuscht: Weder brannte in Sims Zimmer Licht, noch lag er schlafend in seinem Bett. Unzufrieden kletterte Sammy wieder hinunter und wollte zurück in den Park laufen, als sein Blick an der Garage hängen blieb. Vielleicht fand er ja dort etwas zu essen? Sich vorsichtig nach allen Seiten umschauend, näherte er sich der Garage und drückte die Türklinke langsam herunter.

KAPITEL 3 DIE GARAGE

Mit einem leisen Quietschen schwang die Tür nach außen auf und muffiger Geruch strömte aus der Garage. Sammy verzog das Gesicht. Da drinnen roch es ja schlimmer als in Sims Sporttasche! Doch letztlich siegte seine Neugier und nachdem er sich ein letztes Mal prüfend umgedreht hatte, huschte er ins Innere. Als seine Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten und er die verschiedenen Umrisse erkannte, weiteten sich seine Augen vor Überraschung. Vor ihm türmten sich kaputte Möbel, Gartengeräte, Säcke mit Erde, Farbeimer, eingetrocknete Pinsel, alte Spielsachen von Sim und Franz, die offenbar aus dem Kinderzimmer verbannt worden waren und dutzende anderer Gegenstände, die er noch nie gesehen hatte. Neben einem verrosteten Spaten machte er einen Eimer voller Nägel, Schrauben und Muttern aus, an den ein zusammengerollter, dick mit Staub belegter Teppich angelehnt war. Komplementiert wurde das wilde Durcheinander durch zahllose Stöcke und Steine verschiedenster Größe, die Sammy von gemeinsamen Nachmittagen im Park wiedererkannte.

„Ich glaube ja nicht, dass es hier Süßigkeiten gibt, aber wer weiß…“, dachte Sammy und begann über einen, in der Mitte durchgebrochenen, Holztisch zu klettern. Als er völlig verschwitzt am anderen Ende der Garage ankam, musste er sich eingestehen, dass die Garage eine süßigkeitenfreie Zone war. Hier gab es nur Sperrmüll und teilweise bis zur Unkenntlichkeit verrostete Gegenstände, bei deren Anblick sich das unterschwellige Jucken auf Sammys Haut sofort verstärkte. Hastig wandte er den Blick ab und hangelte sich weiter durch die Garage. Als er nach Luft ringend seine Pfote an der Wand abstützte, bröckelte der Putz ab und ein glänzender Nagel plumpste auf seine Schulter. Verwundert hob Sammy den Nagel auf und betrachtete ihn fasziniert. In dieser Umgebung, in der selbst die Plastikstühle mit Rost überzogen zu sein schienen, stach der silbrige Gegenstand heraus, wie ein Lipizzaner aus einer Horde Esel. Während er den Nagel betrachtete, bemerkte er, dass dieser genau die gleiche Farbe besaß, wie seine Haut.

„Was hat das zu bedeuten?“, rätselte Sammy. Kurz überlegte er, ob er diesen wunderbar glänzenden Gegenstand nicht mit in sein Baumhaus nehmen könnte. Als er hörte, dass sich das Auto von Sims Eltern näherte, ließ er den Nagel fallen, schlängelte sich so schnell er konnte zwischen alten Spielzeugautos und kaputten Tretrollern hindurch und stürmte aus der Garage. Ohne einen Blick auf das verlassen daliegende Haus zu werfen, rannte er auf die andere Straßenseite und verbarg sich hinter einem Baum. Aus der Sicherheit seines Verstecks beobachtete er, wie das vollgepackte Auto schwungvoll in die Einfahrt fuhr. Sekunden später wurden die hinteren Autotüren aufgerissen und Franz und Sim stürzten ins Freie. Als er seine beiden besten Freunde sah, machte Sammys Herz einen Sprung und sogar der allgegenwärtige Juckreiz schien nachzulassen. Als Sim sich suchend umsah, hob Sammy die Pfote und winkte ihm zu.

„Hat er mich nicht gesehen?“, fragte sich Sammy enttäuscht, als Sim nicht zurückwinkte. Doch dann fiel ihm ein, dass sein Freund vermutlich Ausschau nach Sammys charakteristischen schwarzen Streifen gehalten hatte.

„Was mache ich, wenn Sim und Franz nicht mehr mit mir befreundet sein wollen, wenn ich so komisch aussehe?“, schoss es ihm durch den Kopf und der Gedanke machte ihm eine solche Angst, dass er zu Boden sank.

„Ich kann sie nicht auch noch verlieren. Nicht nachdem ich Ashley…“ Sammy konnte den Gedanken nicht zu Ende führen und musste schlucken. Seine Übelkeit war glücklicherweise verschwunden, Hunger verspürte er allerdings keinen. Er beschloss, auf dem Heimweg die Augen offen zu halten und seine Vorräte aufzustocken. Da die Menschen so achtlos mit Essen umgingen, lag die Nahrung im Park buchstäblich auf der Straße. Die Augen fest auf den Boden geheftet, trottete er abseits der großen Wege zurück zu seinem Baumhaus. Unterwegs fand er zwei Äpfel und einen halbaufgegessenen Müsliriegel und sammelte alles auf. Die Sonne stand mittlerweile hoch am Himmel und vereinzelte Jogger mit Mütze und Handschuhen trabten die Wege entlang. Allerdings waren sie so auf ihren Atem und die, aus ihren Kopfhörern dringende, Musik konzentriert, dass sie den nur wenige Meter entfernten Sammy nicht bemerkten.

„Hoffentlich klappt das jetzt besser, als heute früh“, dachte Sammy, als er bei seinem Baumhaus ankam. Er holte tief Luft, umschlang seine Fundstücke fest mit seinem Schwanz, damit er beide Pfoten freihatte, und machte sich an den Aufstieg. Wieder brauchte er deutlich länger als normal, um den Stamm hochzuklettern, aber immerhin rutschte er dieses Mal nicht ab. Im Baumhaus angekommen, ließ Sammy sich erschöpft auf den Boden fallen. Unglücklich betrachtete er seinen nackten Körper. Wieso nur war sein Fell plötzlich ausgefallen?

„Vielleicht bin ich ja krank“, überlegte Sammy. Im Zoo hatte er einmal eine Infektion gehabt und damals war er auch zu schwach gewesen, um seinen Lieblingsbaum hinaufzuklettern. Sein Fell war damals struppig und matt gewesen, ausgefallen war es ihm allerdings nicht.

„Vielleicht haben Sim und Franz ja eine Idee, was mit mir los ist“, dachte Sammy müde und stand auf, um die beiden Äpfel und den angefressenen Müsliriegel in seinen leeren Vorratskorb zu legen. Normalerweise befanden sich darin seine Süßigkeiten und sein Nüsse- und-Beeren-Vorrat. In den letzten Tagen hatte er seine eiserne Reserve aufgebraucht und nun besaß er nur noch sein Sammelsurium kurioser Gegenständen, mit denen er sich zwar gut die Zeit vertreiben konnte, die ihn aber nicht satt machen würden. Fröstelnd tastete er nach der löchrigen Wolldecke, auf der er normalerweise schlief und kuschelte sich darunter. Während die Sonne am Himmel ihren Zenit überschritt, döste er ein und wurde erst von den laut gurrenden Tauben geweckt, die sich am Fuß seines Baumes zusammenrotteten, als ein Rentner begann, Brotkrümel auf den Boden zu werfen.

KAPITEL 4 VERÄNDERUNGEN

Mürrisch hob Sammy den Kopf. Als er den Schlapphut des Rentners erkannte, schob er die Decke zur Seite und horchte in seinen Körper. Ihm war immer noch etwas flau im Magen, aber seine Übelkeit war verschwunden. Seine Haut kribbelte allerdings nach wie vor. Mit einem leisen Seufzen wollte er sich aufrichten, doch sein Oberkörper war so schwer, dass es ihm nicht gelang. Sekundenlang verharrte Sammy reglos, dann versuchte er es erneut. Dieses Mal gelang es ihm, allerdings war es eine enorme Kraftanstrengung.

„Ich kann doch seit gestern nicht so viel schwerer sein!“, dachte er ratlos, klopfte mit der flachen Pfote auf seinen Arm und erstarrte. Während seine Haut wenige Stunden zuvor lediglich aussah, als wäre sie mit silberner Farbe bemalt worden, sah er jetzt aus, als würde er eine Rüstung tragen. Entsetzt starrte Sammy auf die klobigen Metallplatten an seinem Körper. Wie konnte das sein? Prüfend strich er über seinen Arm, doch die kühle, glatte Oberfläche ließ ihn zurückzucken.

„Das ist nicht mehr meine Haut! Was passiert mit mir?“, fragte er sich verängstigt, unfähig den Blick von seinem Oberarm zu lösen. Was würden Arzah und Bo wohl sagen, wenn sie ihn so sehen könnten? Ihre Häme würde vermutlich keine Grenzen kennen.

„Andererseits können sie mir auch nicht mehr wehtun“, dachte Sammy trotzig und die Vorstellung, dass Arzah bei einem erneuten Zusammentreffen Angst vor ihm haben könnte, bereitete ihm tiefe Genugtuung. Sammy würde die erlittene Demütigung zwar nicht vergessen, aber vielleicht würde sie nicht wie eine klaffende Wunde ständig schmerzen, sondern im Laufe der Zeit zu einer Narbe verblassen. Das Gurren unter ihm wurde immer lauter und Sammy wandte seinen Blick dem Rentner und den hektisch herumflatternden Tauben zu. Zu gerne wäre er zu der großen Wiese gegangen, wo er sich immer mit Franz und Sim traf. Aber wenn er jetzt den Stamm hinunterkletterte, konnte der Rentner ihn gar nicht übersehen.

„Runter würde ich schon kommen, aber was, wenn ich nicht mehr hochklettern kann?“, schoss es Sammy durch den Kopf und er erstarrte. Langsam richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und begann, hin und her zu laufen. Es fühlte sich ungewohnt an, als würden überall an seinem Körper kleine Gewichte hängen, aber zu seiner Überraschung beeinträchtigten die Metallplatten ihn nach wenigen Minuten kaum noch. Er konnte sich blitzartig auf den Boden legen, in die Luft springen oder die Arme in die Höhe werfen. Er war so erleichtert, dass