Wie unsichtbare Funken - Elle McNicoll - E-Book

Wie unsichtbare Funken E-Book

Elle McNicoll

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Beschreibung

Addie weiß genau, wer sie ist. Sie weiß, dass ihr Lieblingsbuch das Synonymlexikon ist, dass Haie cooler sind, als alle denken, und sie weiß, dass sie die Welt oft intensiver als andere Menschen wahrnimmt. Ob Licht, Geräusche oder Gefühle, Addie wird schnell alles zu viel. Dann fühlt es sich an, als würden unsichtbare Funken um ihren Körper kreisen. Als Addie in der Schule von der Hexenverfolgung in ihrem Heimatort Juniper erfährt, kann sie die Ungerechtigkeit kaum glauben. Vor Hunderten von Jahren wurden Mädchen fälschlicherweise als Hexen verurteilt, und das nur, weil sie anders waren als die anderen. Genau wie Addie. Doch Addie weiß, dass mehr hinter den Mädchen steckt, als in den Geschichtsbüchern steht. Sie fordert, ein Denkmal für sie zu errichten. Die Menschen in Juniper sind alles andere als begeistert, doch Addie ist fest entschlossen, zu kämpfen. Für die Mädchen von damals und für sich selbst.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 195

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Elle McNicoll

Wie unsichtbare Funken

AAus dem Englischen von Barbara König

© Atrium Verlag AG, Zürich, 2023

(Imprint Atrium Kinderbuch)

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel A Kind of Spark bei Knights Of, London.

Text © Helen Rutter, 2022

Coverillustration von Regina Kehn

Aus dem Englischen von Silke Jellinghaus

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-072-5

 

www.atrium-verlag.com

www.instagram.com/atrium_kinderbuch_verlag

 

 

 

Für Mum, Dad und Josh.

Und für all die Kinder mit glücklich flatternden Händen

Kapitel eins

»Deine Handschrift ist absolut erbärmlich.«

Ich höre die Worte, doch sie scheinen von weither zu kommen. Als würde jemand hinter einer Mauer stehen und herüberrufen. Ich starre auf das Blatt Papier vor mir. Ich kann alles lesen, jedes einzelne Wort, auch wenn Tränen meinen Blick verschleiern. Ich spüre, dass mich alle im Klassenzimmer beobachten. Meine beste Freundin. Ihre neue Freundin. Das neue Mädchen. Ein paar von den Jungs lachen.

Ich starre immer noch auf meine Handschrift. Plötzlich ist sie verschwunden.

Miss Murphy hat sich das Blatt Papier geschnappt und zerreißt es nun in Fetzen. Das Geräusch des reißenden Papiers ist überlaut. Genau in meinen Ohren. Die Gestalten in meiner Geschichte flehen sie an, damit aufzuhören, aber das tut sie nicht. Sie zerknüllt das Blatt Papier und zielt Richtung Papierkorb. Sie trifft nicht. Zerkrumpelt liegt meine Geschichte auf dem kratzigen Teppich.

»Schreib nie wieder so schlampig!«, brüllt sie. Oder vielleicht brüllt sie auch gar nicht, aber es kommt mir so vor. »Hörst du mich, Adeline?« Ich werde lieber Addie genannt. »Nie wieder. Ein Mädchen in deinem Alter sollte wissen, wie man anständig schreibt. Deine Handschrift sieht aus wie die von einem Kleinkind.«

Ich wünschte, meine Schwester wäre hier. Keedie erklärt immer alles, was ich nicht kontrollieren oder selbst nicht erklären kann. Sie gibt allem einen Sinn. Sie versteht.

»Hast du das verstanden?«

Das Brüllen ist so laut. Die Augenblicke danach sind so still. Ich nicke, zitternd. Obwohl ich sie nicht verstanden habe. Ich weiß nur, dass es das ist, was ich tun soll.

Sie sagt nichts mehr. Sie stellt sich wieder vorne vor die Klasse und beachtet mich nicht länger. Ich spüre, wie das neue Mädchen mich anguckt, und meine Freundin Jenna flüstert mit ihrer neuen Freundin Emily.

Eigentlich sollte uns dieses Jahr Mrs Bright unterrichten; wir haben sie vor den Sommerferien kurz kennengelernt. Sie hat eine kleine Sonne mit einem lächelnden Gesicht neben ihren Namen gemalt und alle, die nervös waren, hat sie an die Hand genommen. Aber dann wurde sie krank, und stattdessen hat Miss Murphy unsere Klasse übernommen.

Ich dachte, das neue Schuljahr würde besser werden. Ich dachte, ich würde besser werden.

Ich hole meinen Wortschatz raus – mein kleines Synonymwörterbuch. Keedie hat ihn mir zu Weihnachten geschenkt. Sie weiß, wie gern ich unterschiedliche Wörter verwende, und wir haben gelacht, weil das Wort »Synonym« wie eine Zahnpasta-Sorte klingt. Ich lese ein Wort nach dem anderen, weil mich das beruhigt, weil ich das Brüllen so verarbeite, das Reißen.

Ich finde eins, das mir gefällt. Dämpfen.

*

An Tagen wie diesen verbringe ich die Mittagspause in der Bibliothek. Ich spüre, wie die anderen mich beobachten, als wir das Klassenzimmer verlassen, während die Klingel viel zu schrill kreischt. Laute Geräusche lassen mich schwindeln, fühlen sich an, wie wenn ein Bohrer auf einen empfindsamen Nerv trifft. Ich gehe durch die Flure, mache meine Atemübungen und richte den Blick geradeaus. Die Leute reden immer so laut mit ihren Freunden, auch wenn sie direkt nebeneinanderstehen. Sie kommen einem zu nah, schubsen und schreien – das lässt meinen Nacken ganz heiß werden und mein Herz zu schnell schlagen.

Endlich erreiche ich die Bibliothek. Hier ist es still. Hier ist so viel Platz. Ein Fenster steht offen, so kommt ein wenig frische Luft herein. Laute Gespräche sind nicht erlaubt. Alle Bücher sind beschriftet und kategorisiert und an ihrem Platz.

Und Mr Allison sitzt an seinem Schreibtisch.

»Addie!«

Er hat lockiges schwarzes Haar, eine große Brille, und er ist groß und für einen Mann ziemlich mager. Er trägt immer alte Pullover. Wenn ich einen Ausdruck aus meinem Wortschatz wählen müsste, um Mr Allison zu beschreiben, dann würde ich mich für Güte entscheiden.

Aber so sage ich einfach, dass er nett ist. Denn das ist er. Meine Wahrnehmung ist sehr visuell. Ich denke in Bildern, und wenn jemand das Wort »nett« benutzt, dann sehe ich sofort Mr Allison vor mir, den Bibliothekar.

»Ich habe genau das Richtige für dich!«

Mir gefällt, dass er nie langweilige Fragen stellt. Er fragt nicht, wie meine Ferien waren oder wie es meinen Schwestern geht. Er kommt immer direkt zur Sache, zu den Büchern.

»Hier ist es.« Er geht zu einem der Lesetische und legt ein großes gebundenes Buch vor mich hin. Ich spüre, wie all die schrecklichen Gefühle von vorhin verschwinden.

»Haie!«

Ich schlage es sofort auf und streichele die erste glänzende Seite. Ich habe Mr Allison letztes Schuljahr erzählt, wie gerne ich Haie mag. Dass sie für mich das Interessanteste überhaupt sind, noch interessanter als die alten Ägypter und die Dinosaurier.

Er hat es nicht vergessen.

»Es ist eine Art Lexikon«, sagt er mir, während ich mich mit dem Buch hinsetze. »Ein Lexikon ist ein Buch, in dem ganz viel zu einem bestimmten Thema steht oder zu einer bestimmten Fachrichtung. In diesem hier geht es nur um Haie.«

Ich nicke, vor Aufregung etwas benommen.

»Aber ich glaube, du weißt schon über alles, was da drinsteht, Bescheid«, sagt er und lacht danach, damit ich weiß, dass er einen Witz macht.

»Haie haben keine Knochen«, erzähle ich und streichele das Foto, auf dem ich einen Blauhai erkenne. »Und sie haben sechs Sinne. Nicht fünf. Mit ihrem Spürsinn können sie irgendwie elektrische Energie wahrnehmen. Die Energie des Lebens! Sie können auch auf Kilometer entfernt Blut riechen.«

Ihre Sinne sind so scharf, dass das manchmal überwältigend sein kann. Dann ist alles zu laut, zu stark, zu viel von allem.

Ich blättere die Seite um: ein großes Foto von einem Grönlandhai, der einsam und allein im eiskalten Wasser schwimmt.

»Die Menschen verstehen sie nicht.« Ich berühre die Flosse des Hais. »Sie hassen sie sogar. Viele Menschen. Sie haben Angst vor ihnen. Deshalb tun sie ihnen weh.«

Mr Allison sagt eine Weile lang nichts, während ich die erste Seite lese.

»Nimm das ruhig mit nach Hause und behalte es, solange du willst, Addie.«

Ich sehe zu ihm auf. Er lächelt, aber seine Augen lächeln nicht mit.

»Danke schön!« Ich sorge dafür, so viel Freude wie möglich in meine Stimme zu legen, damit er weiß, dass ich es auch wirklich meine. Er geht zurück zu seinem Schreibtisch, und ich vertiefe mich in das Buch. Wenn ich aus einem überlauten und unfreundlichen Klassenzimmer komme, gibt es nichts, was mich mehr beruhigt, als zu lesen. Ich kann mir Zeit nehmen. Niemand hetzt mich, niemand herrscht mich an. Die Wörter halten sich an die Regeln. Die Bilder sind voller Licht und Leben. Aber sie überwältigen mich nicht.

Wenn ich abends versuche einzuschlafen, dann stelle ich mir gerne vor, wie ich in die kalten Wellen des Ozeans eintauche und mit einem Hai schwimme. Zusammen erkunden wir versunkene Schiffswracks, Unterwasserhöhlen und Korallenriffe. In all ihren Farben, aber in einem Raum von großer Weite. Keine Menschenmassen, kein Geschubse, kein Anfassen. Ich würde nicht nach seiner Rückenflosse greifen. Wir würden nebeneinanderschwimmen

Und wir müssten nicht ein einziges Wort sagen. Wir könnten einfach sein.

Kapitel zwei

Auf meine Schwester zu warten, ist die längste Zeit des Tages.

Als ich von der Schule nach Hause komme, steht Dad schon am Herd. Heute ist Montag, also wird es Nudeln zum Abendessen geben. Ich mag es ziemlich einfach. Zu viel Soße gibt meiner Zunge das Gefühl zu ertrinken, also macht Dad für mich eine einfache helle Soße und eine andere für den Rest der Familie: für Dad selbst und für meine zwei älteren Schwestern und für Mum, wenn sie nicht bei der Arbeit ist.

»Essen ist fast fertig, Addie.«

Dad weiß, dass er mir nicht gleich irgendwelche Fragen stellen kann. Ich brauche immer erst Zeit, um zur Ruhe zu kommen. So hat Keedie das genannt, erst hat sie es mir gesagt und dann auch Dad. Seitdem ist es einfacher.

Ich helfe den Tisch zu decken, und dann werfen wir Nudeln an die Decke, um zu sehen, ob sie kleben bleiben. Eine Nudel fällt runter, und Dad fängt sie mit dem Mund auf. Er lacht und isst sie, bevor er nach oben ruft, dass Nina aufhören soll, in ihre Kamera zu sprechen, und das Essen fertig ist. Er hört nicht das Scharren ihres Stuhls, das Surren ihrer Kameralinse, während sie einfährt, oder das schicksalsergebene Zuschnappen ihrer Zimmertür.

Aber ich.

Nina ist meine andere ältere Schwester. Sie ist immer da, und immer will sie was. Was genau, weiß ich eigentlich nicht. Ein anderes Haus, ein besseres Leben? Die Art von Leben, die sie in ihren Videos vorgibt zu leben. Ein Leben in Roségold, sauber und ordentlich.

Sie hat rötlich braunes Haar, das sie blond färbt, und nur vernünftige Piercings. Sie trägt karierte Röcke und Rollkragenpullis. In ihrem Zimmer stehen eine Kamera auf einem großen Stativ und Scheinwerfer, die wichtig aussehen. Durch ihre Kamera spricht sie mit Zehntausenden von Leuten über Klamotten und Schminke.

In ihren Videos lächelt sie auf eine Art, wie ich sie sonst nie lächeln sehe.

»Worum geht’s heute in deinem Video?«

Dad stellt immer wieder die gleichen Fragen. Das nennt er »sich Mühe geben«. Er sagt, das ist wichtig, damit die Menschen wissen, dass man an ihrem Leben interessiert ist. Wenn mich jemand interessiert, dann habe ich Hunderte von Fragen, und es sind immer ganz unterschiedliche.

»Bloß ein kurzes Q&A-Video«, antwortet Nina und tut sich eine kleine Portion Nudeln auf den Teller. Der Geruch der Soße, die sie sich übers Essen träufelt, sticht mir in die Nase. »Seit ich keine Haul-Videos mehr mache, geht meine Klickrate runter.«

Mum hat ihr gesagt, dass es Verschwendung ist, jeden Monat so viele neue Klamotten zu kaufen. Es gab einen großen Streit. Türen knallten, und mir haben die Hände gezittert.

Nina steht auf und geht zum Kühlschrank, reißt ihn auf, um sich eine Flasche Saft rauszuholen. »Wo bleibt sie denn?«

Mir ist klar geworden, dass Nina immer einen bestimmten Ton in der Stimme hat, wenn sie von Keedie spricht. Ich kann ihre Stimme sehen, sie hat zwei verschiedene Farben. Eine ist dunkel, und eine ist hell. Beide Farben sind für Keedie. Aber ich weiß nicht genau, was sie bedeuten.

Nina ist nicht die Schwester, auf die ich warte. Sondern Keedie.

Dad antwortet nicht, und ich weiß, dass Nina nicht mit mir geredet hat, denn mich hat sie nicht angeguckt. Ich wickle eine Nudel um meine Gabel. Das dauert eine Weile.

»Wie war’s in der Schule?« Ich kann spüren, wie sich Ninas Augen geradewegs in meine Schultern bohren, also zucke ich damit. Sie setzt sich wieder zu uns an den Tisch. »Ich hab dich was gefragt, Addie.«

»Nina.«

Dad weist sie sanft zurecht.

»Ich kann mich nicht erinnern.« Das ist nicht gelogen, auch wenn Nina mir das sofort vorwirft. Sobald ich das Schulgebäude verlasse, zerfällt mein Schultag irgendwie in lauter kleine Einzelteile. Erst in den folgenden paar Tagen setzt sich allmählich alles zu einer Erinnerung zusammen.

»Du hast ein hervorragendes Gedächtnis«, sagt Nina mir und kratzt auf eine Art mit ihrem Besteck über den Teller, von der mir schlecht wird. »Wenn sie uns sagt, dass sie sich nicht erinnern kann, dann stimmt was nicht.«

Jetzt redet sie wieder mit Dad.

»Magst du deine Lehrerin?«

Bilder von Miss Murphy zucken vor meinen Augen auf. Ihr einer richtig gelber Zahn. Ihre langen Fingernägel. »Sie ist genauso, wie Keedie gesagt hat.«

Mit einer scharfen Bewegung legt Nina ihr Besteck ab. »Sieh mal, Addie … dieser Meinung bist du nur, weil Keedie dir das gesagt hat. Es ist lang her, dass sie Keedie unterrichtet hat. Und die Schule hat gerade mal vor einer guten Woche angefangen, da kannst du noch gar nicht wissen, wie sie ist.«

»Warum hast du mich dann gefragt?«

Ich verstehe Nina nicht. Wenn wir miteinander sprechen, will sie etwas von mir, von dem ich nicht weiß, wie ich es ihr geben soll. Mit den Leuten, die sich ihre Videos angucken, spricht sie so, als würde sie die lieben. Manchmal gucke ich ihr dabei zu. Als ich meine Samstags-Therapie gemacht habe, hat der Mann immer Fotos vor mich hingelegt, Fotos von verschiedenen Männern mit verschiedenen Gesichtern. Gesichtsausdrücken, hat er mich verbessert. Aber es waren verschiedene Gesichter. Er hat mich dann immer gebeten, ihm zu sagen, wie sie sich fühlen, aber ich wusste nie, wie. Wie ich das erkennen sollte, wie ich das wissen sollte, was überhaupt los war.

Aber ich habe geübt und bin besser geworden. Ich habe Nina beobachtet. Sie hat in die Kamera geguckt und ganz breit gelächelt. Sie war glücklich; sie hat die Menschen geliebt, zu denen sie gesprochen hat. Aber sie waren, sind, nur Fremde. Gesichter, die sie nicht einmal sehen kann. Ich bin ihre Schwester. Trotzdem guckt sie mich mit einem Gesicht an, das ich nicht lesen kann.

Ich weiß nie, was Nina wirklich will.

Dann höre ich es. Ein sanftes Klopfen gegen das große Küchenfenster. Dad und Nina haben es noch gar nicht mitbekommen, da schieße ich schon von meinem Stuhl hoch, um es aufzureißen. Ich konnte hören, wie ihre Knöchel über das Glas geglitten sind, bevor das Klopfen überhaupt angefangen hat.

Keedie ist da.

Sie duckt sich und kraxelt durch das Fenster in die Küche. Ich umarme sie. Sie ist der einzige Mensch, den ich je umarme. Sie hält mich nie zu fest, sie ist nie angespannt. Sie trägt kein schweres Parfum, das mir in die Nase sticht, nur den Duft nach milder Seife, der nach Zuhause riecht.

»Hallo, Lieblingsmensch.« Ihre Stimme besteht nur aus einer einzigen Farbe, aus wunderschönem geschmolzenem Gold.

Ich lächele gegen ihre Rippen. Sie stellt mir keine Frage. Sie lässt los, als ich das tue.

»Nina, ich glaube, ich breche mein Studium ab und werde Influencerin wie du.« Keedie lässt sich auf den Stuhl neben meinem fallen und fängt an, die restlichen Nudeln aufzuessen. »Ich kann die Leute in meinen Kursen nicht ausstehen, und die Räume sind schrecklich.«

»Sehr lustig.« Nina meint das sarkastisch, aber sie lächelt ein wenig. »Was stimmt mit den Räumen da nicht?«

Keedie sieht mich an und grinst. Unwillkürlich grinse ich zurück. »Schlechte Beleuchtung.«

Ich nicke, voller Verständnis.

»Oh, ich sehe schon.« Nina trinkt von ihrem Saft. »Ihr beiden habt ein kleines Geheimnis.«

Schlechte Beleuchtung ist die Art von Licht, die so hell ist, dass man davon Kopfschmerzen bekommt. Das tut uns in den Augen weh – schlechtes Licht ist sehr laut, nur eben visuell.

Keedie ist Ninas Zwilling. Aber sie ist nicht wie Nina. Sie ist wie ich. Autistin wie ich.

*

Nach dem Abendessen machen Keedie und ich einen Spaziergang am Water of Leith entlang. Wir genießen den knirschenden Klang unserer Schritte auf dem Kiesweg, der zum matschigen Ufer des Flusses führt. Ich strecke die Hand aus, um ein Blatt an einem Baum zu berühren, ein Blatt, das bald eine andere Farbe annehmen und dann sterben wird. Als Mum mir das erste Mal von den Blättern an den Bäumen erzählt hat, musste ich heulen, aber sie hat mir erklärt, dass das gut ist und ganz normal. Dass es ihnen nicht weh tut zu sterben.

»Miss Murphy hat mich heute angeschrien.« Ich trete gegen einen Kieselstein, sodass er durch die Luft fliegt und im fließenden Wasser landet. »Weil meine Handschrift unordentlich war.«

Keedie bleibt stehen, um mir einen Blick zuzuwerfen. Ich weiß, dass es ihr schwerfallen wird, meinen Gesichtsausdruck zu lesen. Wir treten auf die Brücke, die über den Fluss führt. Ich habe ein paar Stöcke in der Hand, die ich gleich reinfallen lassen will.

»Das hätte sie nicht tun dürfen, Addie.«

»Sie hat gesagt, sie konnte kein Wort lesen.«

»Das ist wegen deiner Feinmotorik.« Keedie bleibt stehen und nimmt sanft meine Hände in ihre.

»Feinmotorik?«

»Unser Gehirn schickt Botschaften an unsere Hände. Es sagt ihnen, was sie tun sollen.« Mit ihrem Finger berührt sie meine Handfläche und dann meine Schläfe. »Wenn du … anders bist, ist die Verarbeitung ein bisschen ungewöhnlich. Dann haben die Hände ein Problem damit, genau das zu tun, was das Gehirn will. Sie sind so damit beschäftigt, die Wörter richtig hinzuschreiben, auch in der richtigen Reihenfolge, dass sie keine Zeit haben, um das in perfekter oder hübscher Handschrift zu machen.«

»Okay.« Ich verarbeite, was Keedie gesagt hat.

»Meine Handschrift ist genauso.« Sie stupst mich an und lacht. »Deswegen lässt mich Nina nie unsere gemeinsamen Weihnachtskarten unterschreiben.«

Ich lache, als eine Erinnerung an Nina in meinem Kopf aufsteigt: wie sie letzten Dezember vor dem Kamin gesessen hat, alle Weihnachtskarten vor sich ausgebreitet. Sie hat das Ganze sehr ernst genommen, auch das Einpacken der Geschenke.

»An der Uni benutze ich einen Laptop«, ergänzt Keedie. »Das ist viel einfacher für mich.«

Ich kaue auf meiner Unterlippe rum. »Ich glaube nicht, dass das Miss Murphy gefallen würde.«

»Nein.« Keedie seufzt. »Wenn ich mich recht erinnere, hasst sie alles, was einem wirklich hilft.«

»In meiner Klasse ist dieses Schuljahr ein neues Mädchen.« Ich wechsele das Thema; laut Mum ist es wichtig das zu tun, wenn man nichts Weiteres zu sagen hat. »Sie ist aus London.«

»Wie spannend.«

»Ich glaube nicht, dass sie schon Freunde hat.«

»Tja.« Mit einer Geste gibt mir Keedie zu verstehen, dass ich jetzt meine Stöcke über den Rand der Brücke fallen lassen kann. »Vielleicht solltest du dich mit ihr anfreunden.«

»Wenn sie die Bibliothek mag«, ich lasse den ersten Stock fallen und beobachte, wie er ins Wasser platscht, »dann geht das in Ordnung.«

»Was ist mit Jenna?«

»Sie sitzt jetzt neben Emily. Ich glaube, Emily mag mich nicht.«

Solche Sachen kann ich Keedie erzählen. Hätte ich es aber Mum oder Nina erzählt, dann hätten sie gesagt, ich soll nicht so albern sein und mich einfach beim Mittagessen zu ihnen setzen und mit beiden befreundet sein.

Sei einfach nett und freundlich. Natürlich will sie auch mit dir befreundet sein.

Keedie weiß, dass es nicht so einfach ist. Dass es fürchterlich ist, neue Menschen zu treffen. Dass es nicht so leicht ist, neue Freundschaften zu schließen. Ich kann sehen, wie sie flüstern, mich anstarren, wie sie kichern. Und ich weiß, das ist nichts Gutes.

»Dann solltest du dich wirklich mit diesem neuen Mädchen anfreunden«, sagt Keedie.

Ich nicke. Etwas hat sich in den letzten Jahren verändert. Früher war es so leicht, jemanden auf dem Spielplatz anzusprechen. Jetzt sitzen die Leute in engen kleinen Gruppen zusammen und reden lieber, anstatt zu spielen.

Mir fehlt das Spielen.

»Weißt du was?« Keedie schiebt sich das goldene Haar aus dem Gesicht. »Ich habe keinem an der Uni gesagt, dass ich Autistin bin.«

Ich starre zu ihr hoch. Sie ist so groß, mit Beinen, die länger zu sein scheinen als mein ganzer Körper. Immer schaue ich zu ihr auf. »Warum nicht?«

Keedie hat nie Angst, darüber zu sprechen, dass sie Autistin ist. Wie Dad immer sagt, ist sie »stark und stolz«. Genau wie ich hat sie irgendwann zwischen dem neunten und zehnten Lebensjahr ihre Diagnose bekommen. Mum hat gesagt, dass Nina immer alles so gemacht hat wie erwartet: Sie konnte früh laufen und sprechen, sie hat fast alles gegessen, sie ist in der Schule gut zurechtgekommen. Keedie hat nicht gesprochen, bis sie fünf Jahre alt war. Sie sagt immer scherzhaft, dass das so war, weil sie eben nichts zu sagen hatte. Mit anderen Kindern hat sie sich schwergetan, mit den Lehrern hat sie sich angelegt, und sie hatte Probleme, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Im Unterricht hat sie nur mitgemacht, wenn etwas sie fasziniert oder interessiert hat. Mum sagt, dass sie manchmal einen Anruf von der Schule bekommen hat, weil Keedie einfach die Mathestunde verlassen hatte.

Ich kann mir von Keedie alles erklären lassen. Warum meine Handschrift so schlecht ist, warum laute Geräusche und grelle Farben dafür sorgen, dass mein Gehirn in Flammen steht.

Sie hatte niemanden, der ihr das erklären konnte.

»Die meisten Menschen verstehen noch immer nicht, Addie.«

»Aber«, ich habe plötzlich das Verlangen nach Stimming, das Gespräch fühlt sich zu überladen an. »Dann bist du die ganze Zeit mit Masking beschäftigt, damit, dich zu verstellen. Macht es das nicht viel schwerer?«

Selbststimulierendes Verhalten, Stimming, ist etwas, was ich mache, wenn ich mich überreizt fühle. Meine Hände funkeln und flattern, meine Arme und Beine werden unruhig. Manchmal habe ich das Verlangen, mir auf den Hinterkopf zu klopfen. Es gibt gutes Stimming, und es gibt schlechtes Stimming, aber ganz oft muss ich es verbergen. Masking bedeutet, als neurotypischer Mensch durchzugehen, als jemand, der nicht wie wir ist. Das Bedürfnis nach Stimming, uns selbst zu beruhigen, müssen wir oft unterdrücken und stattdessen Augenkontakt suchen. Keedie hat mir gesagt, das ist, wie wenn Superhelden so tun müssen, als wären sie gewöhnliche Menschen.

»Ach, so langsam kann ich das richtig gut.« Keedie zwinkert mir zu, ihre großen grünen Augen leuchten, sind schwer für mich zu lesen.

Menschen sind keine Bücher. Ein vertrautes Buch ist immer gleich, immer tröstlich und voll mit denselben Wörtern und Bildern. Ein vertrauter Mensch kann immer wieder eine neue Herausforderung sein, egal wie oft du ihn zu lesen versuchst.

Auf dem Rückweg bleibt Keedie plötzlich stehen. »Wollen wir den Hügel runterrennen?«

»Ja!«, rufe ich.

Also rennen wir. Meine Hände flattern, frei und voller Freude, Stimming, ohne dass mir jemand sagt, dass ich das nicht tun soll. Keedie juchzt und singt. Wir erreichen den Fuß des Hügels, berauscht und außer Atem. Keedie umarmt mich ganz kurz von hinten, und dann gehen wir im schummrigen Septemberlicht nach Hause.

Kapitel drei

»Hi Jenna.«

Als wir vor dem Unterricht alle vor dem Klassenzimmer warten, gehe ich auf Jenna zu. Wir sind seit dem Kindergarten miteinander befreundet, und sie hat sogar schon bei mir übernachtet. Doch ich habe sie den ganzen Sommer lang nicht gesehen, und seit Beginn des Schuljahrs hat sie jede einzelne Minute mit Emily verbracht.

»Hi Addie.«

Sie vermeidet es, mich anzusehen. Mich stört das nicht, ich mag Menschen manchmal auch nicht angucken. Besonders dann, wenn ich etwas Wichtiges zu sagen habe. Aber Emily guckt mich an. Sie sorgt dafür, dass ich mitkriege, wie sie mich von Kopf bis Fuß mustert. Dann hakt sie sich bei Jenna ein.

»Können wir dir helfen?« Emily spricht laut und langsam, neigt ihren Kopf zur Seite wie ein Hund. Ich weiß nicht, warum sie immer so langsam mit mir spricht, tatsächlich mag ich schnelles Sprechen viel lieber.

»Wollen wir heute zusammen Mittagspause auf dem Rasen machen?«

Ich frage sie beide, obwohl ich Emily gar nicht richtig kenne.

Der Schulhof ist nicht sehr groß, und die Jungs brauchen viel Platz zum Fußballspielen, aber neben dem Fahrradschuppen ist ein Fleckchen Gras, wo es meist ruhiger und entspannter zugeht.

»Ähm.« Unruhig wirft Jenna Emily einen Blick zu und tritt von einem Bein aufs andere.

»Nein«, antwortet Emily für sie und lächelt gemein. »Will sie nicht. Sie will die Mittagspause nicht mir dir verbringen, Addie. Niemand will das.«

»Ich schon.«

Wir drehen uns alle drei um. Audrey, das neue Mädchen, steht ein paar Meter von uns entfernt und hat ganz offensichtlich das gesamte Gespräch mit angehört. Sie ist groß für unser Alter, darin erinnert sie mich an Keedie, und hat dunkles Haar und dunkle Augen.

»Tja.« Emily wendet sich an Audrey, aber sie wirkt nicht mehr so selbstbewusst wie noch vor ein paar Augenblicken. »Dich hat niemand gefragt. Niemand hat was zu dir gesagt.«