Zeig uns, wer du bist - Elle McNicoll - E-Book

Zeig uns, wer du bist E-Book

Elle McNicoll

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der perfekte Mensch ist eine Illusion, wahre Freundschaft nicht! Cora fällt es schwer, neue Freundschaften zu schließen. Bis sie Adrien kennenlernt. Adrien hat ADHS und ist anders als andere, doch ihm scheint das nichts auszumachen. Zum ersten Mal in ihrem Leben erfährt Cora, was es bedeutet, richtig Spaß zu haben. Dabei erhält sie Einblicke in die Firma von Adriens Vater, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, mithilfe von künstlicher Intelligenz verstorbene Menschen als Hologramme nachzubilden. Als Adrien nach einem tragischen Unfall vorübergehend ins Koma fällt, bekommt Cora die Chance, ihren besten Freund als Hologramm wiederzusehen. Doch das ist nicht der Adrien, den sie kennt! Cora merkt, was wirklich hinter den Plänen des Unternehmens steckt, und muss all ihren Mut zusammennehmen, um das Richtige zu tun.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 278

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Elle McNicoll

Wie unsichtbare Funken

Aus dem Englischen übersetzt von Barbara König

Deutsche Erstausgabe

© Atrium Verlag AG, Zürich, 2024

(Imprint Atrium Kinderbuch)

Alle Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Show us who you are bei Knights Of, London.

Text © Elle McNicoll, 2021

Coverillustration © Marie Demme, 2024

Aus dem Englischen von Barbara König

Lektorat: Sibylle Klöcker

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

ISBN978-3-03792-238-5

 

www.atrium-verlag.com

www.instagram.com/atrium_kinderbuch_verlag

 

 

 

Für geliebte abwesende Freunde

»Weißt du, inwiefern du dich von anderen unterscheidest, Cora? Kannst du uns das sagen?«

Die Frage hallt zwischen den weißen Wänden wider. Ich antworte nicht sofort. Stattdessen sehe ich mich um. Der klinisch saubere Raum erinnert an das Innere einer Badewanne. Rechts von mir hängt ein großer Spiegel. Adrien hat mich gewarnt, dass hier alles nur Schall und Rauch ist. Was immer das auch heißen soll.

»Cora?«

Ich gucke wieder in ihre Richtung, aber nehme keinen Blickkontakt auf. Dr. Gold ist anders. Nicht wie die Wissenschaftler, die sonst hier arbeiten. Sie lacht mit dem ganzen Körper, leuchtet geradezu.

Sie lächelt mich an und wartet auf meine Antwort.

Die sind alle total intelligent, aber niemand kann sich mit allem gut auskennen.

Adrien hat mir von ihnen erzählt. Mich vorbereitet. Sein Dad leitet diese Einrichtung, und Adrien hat auch auf genau diesem Stuhl gesessen. Genau hier, wo ich gerade nervös herumrutsche. Er hat die Fragen beantwortet.

Dann kann ich das auch.

Adrien. Adrien ist mein bester Freund.

Und ich mache das hier alles nur für ihn.

Kapitel eins

Die gefürchtete Party in Knightsbridge

Ein paar Monate zuvor

»Ich verstehe nicht, warum ich mit euch beiden dahin muss«, sage ich und werfe meinem großen Bruder Gregor und meinem Dad böse Blicke zu, als sie mich aus dem Haus und in unser klappriges altes Auto scheuchen.

»Da gibt es so etwas, das nennt sich das Gesetz, Cora«, sagt Dad heiter und schiebt mich auf den Rücksitz, während Gregor hektisch sein Spiegelbild im Rückspiegel checkt. »Mir ist es nicht gestattet, dich allein zu Hause zu lassen. Besonders nicht nach der Geschichte mit dem Toaster.«

»Der Typ von der Feuerwehr hat gesagt, so was passiert dauernd. Und abgesehen davon lässt du mich doch sowieso den ganzen Sommer lang allein durch London herumlaufen«, wende ich ein.

Der Motor springt an, wir setzen zurück auf die Straße und machen uns auf den Weg in den noblen Teil der Stadt. »Das ist viel gefährlicher als bei uns zu Hause, die Leute fahren heutzutage alle wie die Irren.«

»Was du nicht sagst«, murmelt Gregor, als Dad über eine Bodenschwelle heizt, sodass mein Bruder und ich uns verzweifelt an unsere Sitze klammern.

Die abendlichen Lichter der Stadt sind mir viel zu grell, besonders nach einem so grauenhaften Schultag wie heute. Ich schließe die Augen, schnipse mir die Anspannung aus den Fingern. Ich bin nicht in der Stimmung, für die anderen eine Maske aufzusetzen und so zu tun, als würden mich all die langweiligen Dinge interessieren, die die Erwachsenen von sich geben.

Bald dreizehn. Meine Güte, schon ein richtig großes Mädchen. Tut mir so leid mit deiner Mutter, wir haben davon gehört.

Nein danke.

Schon bald streiten Dad und Gregor darüber, wo wir parken sollen, und mir wird klar, dass wir fast da sind. Als wir die Eingangstreppe eines unglaublich hohen, aber sehr schmalen Hauses erreichen, legt Gregor mir ein hastig verpacktes Geschenk in die Hände. An den Türknauf sind ein paar Luftballons gebunden.

»Wer hat denn Geburtstag?«, zische ich, als Gregor auf die Klingel drückt.

»Der Sohn meines Chefs. Er ist in deinem Alter. Gib das Geschenk einfach dem Dienstmädchen.«

»Dem Dienstmädchen?«

Mit einem Ruck geht die schwarze Eingangstür auf, und vor uns steht … ein Dienstmädchen wie aus dem Bilderbuch. Aber sie sieht erschöpft und alles andere als begeistert aus. Hinter ihr sind Musik und Gespräche zu hören, überall sind Menschen. Ich halte ihr das Geburtstagsgeschenk hin. Mit einem Seufzer nimmt sie es entgegen und fügt es einer riesigen Pyramide von aufwendig verpackten Kartons hinzu.

Wir folgen ihr nach drinnen, und sie nimmt uns die Mäntel ab. Dad und Gregor tragen beide Anzüge. Sie sehen darin aus wie zwei sehr nervöse Pinguine.

»Gregory!«

Dass dies nicht sein Name ist, scheint meinen Bruder nicht zu stören, er hetzt davon und lässt mich und Dad in der Eingangshalle zurück. Unruhigfährt sichDad mit den Händen über die Jackenaufschläge, während ich das unfassbar vornehme Haus in Augenschein nehme.

Ich habe Angst, irgendetwas zu berühren; es ist wie in einem Museum.

»Und wer magst du sein?«

Ich sehe zu einer großen, gertenschlanken Frau auf, mit langen eisblonden Haaren, die anmutig die Treppe hinunterschreitet. Mit einem breiten Lächeln streckt sie mir die Hand entgegen.

Das sind so Augenblicke, in denen ich keine Ahnung habe, was die Leute von mir erwarten: Will sie, dass ich ihre Hand halte? Oder soll ich sie schütteln?

Vorsichtig strecke ich ihr meine Hand entgegen, und ihre Armbänder klimpern, als sie danach greift, sie drückt.

»Bist du eine Freundin von Adrien?«, fragt sie gespannt.

»Nein. Ich bin Cora Byers. Mein Bruder arbeitet für Mr Hawkins.«

»Und Mr Hawkins war äußerst unhöflich dir und deinem Vater gegenüber, wenn er deinen Bruder einfach so entführt hat. Schließlich kennt ihr hier ja keine Menschenseele«, sagt sie und schenkt Dad ein strahlendes Lächeln.

Sie hält immer noch meine Hand.

»Ja«, bestätige ich unverblümt.

Sie lacht.

»Dann komm mal mit mir mit, Liebes«, sagt sie und führt mich durch das Gewimmel von Menschen, die uns gar nicht beachten. »Leider ist unter den Gästen kaum jemand in deinem Alter.«

»Oh.« Ich sage ihr nicht, dass es mir in Wahrheit gar nichts ausmacht, für mich zu sein.

Wir erreichen, was wohl die Hintertür sein muss, und sie lässt endlich meine Hand los.

»Dann guck mal, ob du das Geburtstagskind findest«, sagt sie und nimmt einen großen, golden glänzenden Schlüssel von einem Haken an der Wand, den sie mir reicht. Verwirrt blicke ich darauf runter und schaue dann wieder zu ihr hoch, aber sie ist schon verschwunden.

Die Hintertür steht offen, also weiß ich nicht, wozu ich den Schlüssel brauche, bis ich nach draußen trete.

Als ich die Steinstufen hinuntergehe, taucht er vor mir auf: Hinter einem hohen schmiedeeisernen Tor, über das die Baumwipfel ragen, liegt ein riesiger verborgener Garten. Langsam bewege ich mich darauf zu, sehne mich nach dem Alleinsein und der Stille dort. Ich kann diese Menschenmassen nicht ausstehen, den Lärm, die vielen Reize.

Was für ein Luxus so ein Garten ist! Ich wünschte, wir hätten auch einen.

Mit dem Schlüssel habe ich das Tor schnell aufgeschlossen und bin drin, behütet von den Bäumen um mich herum.

Gerade fange ich an, mich zu entspannen, als ich ein Kribbeln spüre.

Jemand verfolgt mich.

Weil ich regelmäßig Stress kriege, wenn ich in den Schulfluren unterwegs bin, habe ich einen sechsten Sinn entwickelt. Wenn mich jemand beobachtet oder über mich spricht, weiß ich das. Ich kann die ungewollte Aufmerksamkeit im Nacken spüren.

Ich gehe weiter, umklammere den Schlüssel, presse ihn gegen meinen Bauch. Vielleicht liegt es an dem schrecklichen Schultag, aber Wut schießt in mir hoch.

Ich habe es satt, ständig als Sensation betrachtet zu werden.

Hinter mir höre ich ein leises Knirschen. Ich wirbele herum, stoße mit dem Arm gegen eine verschwommene Gestalt und schubse sie.

Die Gestalt fällt zu Boden, zieht mich mit sich. Der Schlüssel landet neben dem Kiesweg im Gras.

»Hey!«

Mein Arm drückt gegen das Schlüsselbein eines Jungen. Er ist in meinem Alter oder vielleicht ein bisschen älter. Erst prustet er und fängt dann lauthals an zu lachen.

»Warum schleichst du mir nach?«, schnauze ich ihn an.

»Warum bist du so stark?«, entgegnet er und kann nicht aufhören zu lachen.

»Du spionierst mir nach!«

»Ja, genau«, schnaubt er, als ich ihn loslasse. Er setzt sich auf, lacht immer noch. »Du bist vom Tor den Weg entlanggegangen, echt aufregend.«

»Wer bist du?«

»Du bist in meinem Garten, also solltest du mir sagen, wer du bist.«

Ich sehe ihn mir gründlich an: groß, aber nicht schlaksig und eindeutig in meinem Alter. Dunkle Locken und eine Nase, die etwas zu groß für sein Gesicht ist. Seine Augen strahlen geradezu vor Lachen, und das ist verdächtig. Die Jungs in der Schule haben angefangen, richtig gemein zu gucken. Sein Blick ist ganz anders.

Ich funkle ihn an. »Du bist Adrien Hawkins.«

Er zeigt mit dem Finger direkt auf mich. »Messerscharf kombiniert.«

Ich schiebe seinen Finger weg. »Na gut. Herzlichen Glückwunsch. Dein Geschenk ist im Haus.«

»Du hast mir ein Geschenk mitgebracht?«

»Na klar.«

»Ausgesprochen nett von dir, einem völlig Fremden etwas zu schenken.«

Er redet nicht wie die anderen Jugendlichen in unserem Alter. Und auch nicht wie die Erwachsenen, die ich kenne. All meine eingeübten und vorbereiteten Floskeln passen nicht zu dem, was er sagt, also hebe ich einfach den Schlüssel auf und gehe ans andere Ende des geheimen Gartens, auf etwas zu, das aussieht wie Tennisplätze.

Er hält mit mir Schritt. »Gehst du zur Schule?«, will er wissen.

»Natürlich gehe ich zur Schule«, murmele ich.

»Ich nicht.«

»Ja, das passt«, antworte ich und mustere ihn von oben bis unten.

»Warum?«

»Ich weiß auch nicht.« Ich puste mir die Haare aus den Augen. »Du bist jedenfalls nicht … kaputt.«

Er lacht in sich hinein. »Ja. Mum hat mich rausgeholt, bevor das passieren konnte. Zu Hause kann ich besser lernen.«

Vielleicht ist sein Verhalten deswegen so anders.

»Hast du einen Namen?«

»Ja«, antworte ich ungerührt.

»Kannst du ihn mir sagen?«

»Warum bist du nicht bei deiner eigenen Geburtstagsparty?«

»Das ist nicht wirklich meine Party«, sagt er ausdruckslos. »Das ist Dads Party. Für all seine wichtigen Freunde und die Leute von der Arbeit.«

»Dein Dad ist der Chef von meinem Bruder.«

»Dein Bruder arbeitet bei Pomegranate?«

Pomegranate Tech ist die Firma von Magnus Hawkins. Ich weiß immer noch nicht so ganz genau, was sie da eigentlich machen. Immer wenn Gregor anfängt, darüber zu reden, wechselt Dad sofort das Thema.

»Ja«, sage ich, mir ist es lieber, über Gregor zu reden als über mich selbst.

»Dann muss mein Dad ihn ja ganz brauchbar finden, wenn er euch alle eingeladen hat.«

Wieder so eine komische Bemerkung. Ich ignoriere sie.

»Es ist in Ordnung, wenn du mir nicht deinen Namen sagen willst.«

»Gut.«

»Dann rate ich einfach.«

Ich schließe die Augen. Geht er jetzt jeden weiblichen Vornamen durch, den er kennt?

»Angela.«

Ja, das tut er.

»Bryony?«

In alphabetischer Reihenfolge.

»Ich heiße Cora.« Ich seufze. »C wie Cora.«

Er grinst. »Cool. Gefällt mir.«

Ich warte darauf, dass er jetzt noch was Gemeines sagt. Das würden die Leute in meiner Klasse machen: Auf Freundlichkeit folgt garantiert Fiesheit. Aber das tut er nicht.

Stattdessen wendet er sich plötzlich ab und pfeift, laut und schrill. Ich zucke zusammen, das Geräusch ist zu laut für meine Sinne.

Etwas kommt auf uns zugesprungen.

»Cerby, das ist Cora. Cora, das ist mein Hund.«

Ein großer Hund mit wuscheligen Ohren sieht zu mir auf und wedelt dabei wie wild mit dem Schwanz.

»Na, Kumpel, und wo warst du, als sie mich niedergestreckt hat?«, sagt Adrien scherzhaft und krault den Hund am Hals. »He? Wo warst du?«

Ich kämpfe gegen ein Lächeln an und verliere. Der Hund ist süß, und die beiden passen gut zusammen.

»So, alter Kumpel, jetzt will ich mir unbedingt dieses Geschenk angucken, das Cora extra für mich ausgesucht hat«, frotzelt Adrien. Er macht sich auf den Weg zum Haus, Cerby folgt ihm eifrig auf dem Fuß.

Ich werfe ihm einen finsteren Blick zu. Er kann sich doch denken, dass ich mit seinem Geschenk wenig zu tun hatte, wieso muss er jetzt darauf herumreiten?

Ich folge den beiden aus dem Garten heraus und die Steinstufen zum Hintereingang hinauf. Der Berg von Geschenken steht unberührt neben der Treppe.

Adrien bewegt sich darauf zu und wirft mir dann einen Blick zu. »Na? Welches ist von dir?«

Ich verziehe das Gesicht, versuche mich zu erinnern. Dann entdecke ich es – anscheinend das einzige Geschenk, das nicht professionell in einem Geschäft eingepackt wurde. »Das da.«

Mit einer geschickten Bewegung zieht er es heraus, die Pyramide wackelt nicht einmal. Fast bin ich beeindruckt.

»Also, was ist es?«

Er sieht mir geradewegs in die Augen, seine Lippen zucken. Zornig starre ich ihn an. Ich werde dieses nervige Spiel nicht verlieren.

»Es ist …« Ich versuche zu überlegen, was mein großer Bruder wohl besorgt und eingepackt haben könnte, etwas Langweiliges, aber gleichzeitig Nützliches, »… ein Wecker.«

»Ein Wecker?« Langsam zieht er das Geschenkband auf, sein Blick weicht nicht von mir, sein entschlossenes kleines Lächeln verschwindet nicht. »Ach, wirklich?«

Ich lächele zurück, von oben herab. »Wirklich.«

Adrien packt weiter das Geschenk aus, blickt mich immer noch an. Plötzlich möchte ich losprusten.

Er bringt mich zum Lachen.

Wir senken beide den Blick, um überrascht festzustellen, dass er ein Modellflugzeug ausgepackt hat. Eins, das man selbst zusammenbauen muss. Ich sehe zu ihm auf, erwarte Schadenfreude, weil er unseren seltsamen kleinen Wettkampf gewonnen hat. Aber der verspielte Ausdruck auf seinem Gesicht ist plötzlich verschwunden.

»Tut mir leid«, sage ich scherzhaft. »Doch kein Wecker.«

»Nein, das hier ist viel besser«, sagt er leise. »Ich liebe Flugzeuge.«

Ich sehe zu Cerby runter, der an den anderen Geschenken schnüffelt. »Na … das ist ja schön.«

»Ich will später mal Pilot werden«, erzählt er mir mit einem breiten Lächeln.

»Wow.« Ich will Reporterin werden, aber das würde ich niemals laut aussprechen.

Er legt den Kasten vorsichtig zurück auf den Geschenkestapel und strahlt mich an.

»Danke, Cora. Ich freue mich sehr über dein Geschenk.«

Ich schnaube, denn ich weiß genau, dass er weiß: Das Geschenk kam nicht von mir. Aber ich spiele gern mit, also bekommt er von mir ein liebenswürdiges Lächeln. »Gern geschehen, Adrien.«

»Du hast ihn gefunden!«

Wir drehen uns beide um und erblicken die superelegante Frau von vorhin. Sie kommt zu uns rüber, ein Glas Champagner in der Hand.

»Komm her!«

Adrien tut so, als ob er ihr entwischen will, aber sie fängt ihn ein und gibt ihm einen schmatzenden Kuss auf die Stirn. Ihr dunkelroter Lippenstift hinterlässt einen deutlichen Abdruck auf seiner Haut, und er lacht.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Schatz.« Sie lässt einen Arm um seine Schultern liegen und schenkt mir ein warmes Lächeln. »Cora! Hat dir der Garten gefallen?«

»Ja«, sage ich etwas schüchtern. »Ja, es war schön dort.«

»Und? Habt ihr zwei euch denn ein wenig angefreundet?«, fragt sie fröhlich und sieht Adrien an.

Bestimmt ist ihm das jetzt peinlich, und er macht sich von ihr los, aber stattdessen strahlt er übers ganze Gesicht. »Jup.«

Ich bin zu überrascht, um zu widersprechen.

»Wie schön!«, ruft seine Mutter mit unmissverständlicher Begeisterung. »Im Sommer ist Adrien manchmal etwas einsam, Cora. Komm vorbei, wann immer du willst.«

Ich denke an meine eigenen langen und einsamen Sommer und spüre einen seltsamen Stich.

»Ich werde es mir überlegen, Mrs Hawkins.«

Und komischerweise habe ich das tatsächlich vor.

Kapitel zwei

Pomegranate Tech

Es ist Samstag, der Tag nach der Party. Ich sitze am Frühstückstisch, und Gregor hat mir einen Teller mit Buttertoast und zwei Spiegeleiern hingestellt. Dad starrt aus dem Fenster, Gregor liest die Zeitung.

»Was macht ihr eigentlich bei Pomegranate Tech?«

Dad wirft mir einen nervösen Blick zu, als ich meinem Bruder die Frage stelle.

»Das ist nicht so einfach zu erklären«, sagt Gregor vorsichtig und legt die Zeitung beiseite. »Sie setzen künstliche Intelligenz dafür ein, um eine Dienstleistung anzubieten.«

»So was wie Roboter?«

»Nein, keine Roboter. Eher so was wie Hologramme.«

»Gregor.« In Dads Stimme schwingt eine Warnung mit.

»Was denn für Hologramme?«, frage ich Gregor, ohne Dad zu beachten.

»Nun, es sind Hologramme von Leuten«, sagt Gregor. »Von echten Menschen.«

Verwirrt runzle ich die Stirn. »Verstehe ich nicht.«

»Wenn das alles erst mal richtig läuft«, Gregor rutscht mit seinem Stuhl ein wenig näher an mich ran und widmet mir seine ganze Aufmerksamkeit, »werden wir für den Publikumsverkehr öffnen. Die Leute bezahlen dann dafür, dass sie Zeit mit den Hologrammen verbringen können.«

»Aber warum sollten sie das wollen?«

»Na ja, weil manche von ihnen Doppelgänger von berühmten Persönlichkeiten sein werden. Dann bezahlen die Leute dafür, dass sie sich mit ihrer Lieblingsschauspielerin oder ihrem Lieblingsmusiker unterhalten können. Als würden sie die Person wirklich treffen.«

»Aber wieso ist das dann genauso, wie den wirklichen Menschen kennenzulernen?«

»Nun, da kommt das Team Gold ins Spiel. Sie sorgen dafür, dass jedes Holo – so nennen wir die Hologramme – so menschlich und lebensecht wie möglich ist. Sie studieren das Subjekt, das sie nachbilden, unheimlich lange und gründlich und aktivieren es erst, wenn es identisch ist. Der Verstand und die Seelen dieser Menschen werden sozusagen in einen Computer hochgeladen und dann projiziert!«

Gregor ist so stolz darauf, für Pomegranate zu arbeiten. Ich kann sehen, wie begeistert er ist, dass ich ihm endlich mal Fragen stelle.

»Das klingt interessant«, sage ich.

»Das ist aber noch nicht alles. Die wirkliche Arbeit wird sein …«

»Das reicht!«, schnauzt Dad, kommt auf die Beine und räumt seinen Teller weg. »Du hast ihr gesagt, was das für ein Unternehmen ist, jetzt reden wir mal über was anderes.«

»Was ist denn die wirkliche Arbeit?«, will ich wissen. Ich hasse es, wenn sie mir Dinge vorenthalten. Gregor ist viel älter als ich, er ist schon sechsundzwanzig und ich erst zwölf, also waren sie mir schon immer zahlenmäßig überlegen mit ihrem nervigen Erwachsenen-Benehmen.

»Nun, wir befragen echte Menschen und studieren sie, damit wir ein Hologramm von ihnen herstellen und sie dann ewig leben können. Virtuell. Eine virtuelle Unsterblichkeit sozusagen. Dann können diejenigen, die ihnen nahegestanden haben, sie besuchen, nachdem sie gestorben sind.«

Ich starre Gregor an. Verarbeite, was er da gerade gesagt hat.

»Also …« Ich spüre, wie all meine Gedanken dazu wild durcheinanderrasen. »Wenn ihr Mum dort befragt und sie studiert hättet, da hätten sie von ihr ein Abbild machen können, das ewig leben würde?«

Dad gibt einen Laut von sich, für den ich keinen Ausdruck habe, und stürmt aus der Küche, doch Gregor lächelt schwach. »Genau, Cora.«

Die Vorstellung ist so seltsam, dass sie mir ein wenig Angst macht.

»Wo wir schon bei Pomegranate sind, ich wollte sowieso mit dir über etwas sprechen«, sagt Gregor und wirft einen Blick zur Tür, als würde er erwarten, dass Dad wieder reingestürmt kommt.

»Was denn?«

»Also, Magnus … du weißt schon, der Typ, bei dem wir gestern Abend waren.«

Adriens Vater. »Ja?«

»Er würde dich sehr gerne für das Team Gold befragen.«

Ich zucke zusammen. »Was? Warum?«

»Na ja, sie sind wirklich gut darin, neurotypische Menschen nachzubilden, aber er würde zu gerne ein realistisches autistisches Holo haben.«

Ich erstarre. Wir sprechen nie darüber, dass ich autistisch bin. Ich weiß nicht warum, da ist ja nichts falsch dran. Bevor Mum gestorben ist, haben sie mich zu einem Psychiater geschickt, der schließlich die Diagnose gestellt hat. Das ist jetzt schon eine Weile her, und Dad und Gregor haben es seitdem nicht wieder zur Sprache gebracht. Ich frage mich manchmal, ob sie es vergessen haben.

»Verstehe ich nicht.«

»Weißt du, sie wollen, dass die Hologramme so naturgetreu und lebensecht wie möglich sind«, erklärt Gregor. »Und da es viel weniger autistische Menschen als neurotypische Menschen gibt, haben sie noch nicht gelernt, wie sie so ein Gehirn nachbilden können.«

»Ich …« Wenn ich darüber rede, bekomme ich immer so ein Gefühl, als stünde ich nackig da. »Sie würden mich nur ein paarmal befragen?«

»Es spielt keine Rolle.« Dad kommt plötzlich rein, im Mantel und mit wütenden Augen. »Weil du das nicht tun wirst. Verstanden, Gregor? Sie wird das nicht machen.«

»Dad.« Gregors Stimme ist hart wie Stahl, während sie ein geheimes Gespräch mit Blicken führen. »Magnus würde einen Haufen Geld dafür bezahlen, wenn sie mitmacht.«

»Das ist mir egal. Das wird nicht passieren. Sag deinem Chef, der sich nicht mal deinen Namen merken kann, dass deine kleine Schwester nicht eins seiner Versuchskaninchen ist.«

»Dad, hier geht es um eine wirklich große Sache! So viel wichtiger, als du im Moment begreifen kannst. Menschen werden endlich richtig trauern können. Verdammt, sie werden gar nicht trauern müssen! Sie müssen sich nie verabschieden, nur wenn sie wollen. Das ist doch einfach grandios.«

»Tja, da kannst du warten, bis du schwarz wirst, mein Sohn, aber Cora macht da nicht mit. Nicht für alles Geld in der Welt. Sie ist kein Experiment.«

Dad verlässt das Haus, und Gregor stürmt nach oben in sein Zimmer. Während zwei Türen zuknallen, esse ich langsam meinen Teller leer. Ich frage mich, wie das wohl sein muss: zu sehen, wie jemand als Hologramm wieder zum Leben erweckt wird.

Ich kann Dads Reaktion nicht verstehen. Das ist doch wohl die wunderbarste Idee aller Zeiten.

Sich nie von jemandem verabschieden zu müssen.

Kapitel drei

Wenn man nicht reinpasst

Normalerweise bin ich in der Schule immer sehr abgelenkt. Dort zu sein, finde ich alles andere als einfach. Besonders seit meine beste Freundin Zoe nach Australien gezogen ist. Wir versuchen uns so oft es geht über Video anzurufen, aber der Zeitunterschied ist riesig, und Zoe war noch nie gut darin, Termine einzuhalten.

Heute aber bin ich ganz aufmerksam. Weil es nur noch ein paar Wochen bis zu den Sommerferien sind, wird Mr Ramsey bekannt geben, wer nächstes Schuljahr in der Redaktion der Schülerzeitung mitmachen darf. Seit ich erfahren habe, dass das ein richtiger Beruf ist, will ich Enthüllungsjournalistin werden. In den letzten Wochen habe ich mich auf nichts anderes konzentriert. Ich habe Probeartikel geschrieben, Recherche betrieben, Korrektur gelesen und das Layout für eine Titelseite erstellt, um meine Pläne und Ideen darzustellen.

»Also, noch eine Sache, bevor ihr euch alle davonmacht.« Mr Ramsey setzt seine Brille auf und greift nach einem Zettel. Ich lehne mich vor, jetzt ist es endlich so weit. »Es geht um die Schülerzeitung im nächsten Schuljahr. An alle, die sich beworben haben: Danke für eure Beiträge und eure Interviews. Miss Mabuse und ich waren äußerst beeindruckt von der Qualität eurer Arbeit.«

Ich werfe unserer Lehrerassistentin Miss Mabuse einen Blick zu, die mich freundlich anlächelt.

»Dennoch kann es nicht jeder schaffen. Es gibt Stellen für zwei Redakteure und drei Reporter, und das werden sein …«

Ich halte die Luft an. Ich sage mir im Stillen, dass ich keine Redakteurin sein muss, es reicht, wenn ich es überhaupt ins Team schaffe.

»Redakteure: Jack und Michael. Und Reporter … Gemma, Kate und Paul.«

Die meisten springen auf, sobald er fertig ist, um den Klassenraum zu verlassen, aber ich sitze wie erstarrt an meinem Platz, völlig fassungslos.

Ich spüre eine Berührung an meinem Ellbogen und zucke zusammen.

Es ist Miss Mabuse.

»Cora, ich wollte dir nur sagen, dass ich alles gelesen habe, was du eingereicht hast, und deine Arbeit ist ausgezeichnet.«

Sie lächelt mich traurig an. Ich stoße einen Seufzer aus. »Danke, Miss Mabuse.«

»Ich habe vorgeschlagen, dich ins Team aufzunehmen.«

Sie sagt es so leise. Als wäre das ein Geheimnis.

Ich gehe zu Mr Ramseys Pult.

»Mr Ramsey?«

»Ja, Cora?«

»Ähm …« Ich warte, bis alle Schülerinnen und Schüler den Klassenraum verlassen haben. »Warum habe ich es nicht ins Team geschafft?«

Er seufzt und sieht mich an, verzieht das Gesicht zu einer mitleidigen Grimasse. »Cora … Ich weiß deinen Einsatz wirklich zu schätzen, aber für das Zeitungsteam musste ich die aussuchen, die am kompetentesten sind.«

»Aber ich habe mich ganz besonders angestrengt«, beharre ich und fühle eine eigenartige Mischung aus Scham und Empörung in mir brodeln. »Und tut mir ja leid, aber Michael und Paul haben ihre Artikel aus dem Internet kopiert.«

Eigentlich bin ich keine Petze, aber jetzt kocht die Wut in mir hoch.

»Cora, hör mal. Du hast im Moment genug um die Ohren, ich glaube nicht, dass es gut für dich wäre, bei der Schülerzeitung mitzumachen.«

»Mr Ramsey«, meine Stimme zittert ein wenig. »Wenn ich davon ausgegangen wäre, dass das zu viel für mich wäre, dann hätte ich mich nicht beworben. Außerdem waren fast alle Kandidatinnen Mädchen, aber Sie haben alle Jungs aufgenommen, die mitmachen wollten. Wie kann es sein, dass die Mitarbeiter einer Zeitung zu 60 Prozent männlich sind, wenn 80 Prozent der Bewerberinnen weiblich waren?«

Ich kann sehen, wie er versucht, das im Kopf nachzurechnen. Er gibt auf und reibt sich den Nacken. »Die Jungs, die sich beworben haben, nehmen ihre Arbeit in der Schule im Moment nicht besonders ernst. Jetzt haben sie die Gelegenheit, sich mal richtig einzubringen. Das wird ihnen guttun. Ich war begeistert, dass sie sich überhaupt beworben haben.«

»Dann sagen Sie das doch einfach, Mr Ramsey«, sage ich mit rauer Stimme, hasse mich gleichzeitig selbst dafür, dass ich mich so darüber aufrege. »Sagen Sie einfach, dass die Jungs das mehr brauchen. Oder dass Sie die Jungs mehr mögen. Sagen Sie aber nicht, dass sie das mehr verdient haben, besonders wenn Sie das nicht beweisen können.«

»Cora.« Seine Stimme ist scharf, und das kann ich ihm nicht wirklich vorwerfen. »Es reicht. Es geht bei der Schülerzeitung nicht einfach nur darum, sich anzustrengen, gute Arbeit zu leisten, und das weißt du auch. Es geht auch um Teamwork, um die Zusammenarbeit in der Gruppe. Und das gilt auch für das richtige Leben: Leute werden eingestellt, weil man gut mit ihnen auskommt und das den Arbeitstag angenehmer macht, verstehst du?«

Ich blicke auf meine Hand runter, die sich um das Lehrerpult krallt, meine Knöchel treten hervor. »Also spielt es keine Rolle, wie sehr man sich anstrengt. Es geht nicht um die Fähigkeiten.«

»Na, na.« Er lächelt mich sanft an, und ich wette, dass er sich jetzt bestimmt für total verständnisvoll hält. »Kein Grund, sich aufzuregen. Es wird bestimmt andere Gelegenheiten geben.«

»Ich habe mir solche Mühe gegeben, Mr Ramsey. Damit will ich nicht sagen, dass ich ein Anrecht auf irgendwas hätte, aber ich weiß, dass das einfach nicht fair ist.«

Ich komme mir so blöd vor. Ich weiß ja, Tatsachen haben nichts mit Gefühlen zu tun, aber ich kann einfach spüren, dass das hier nicht richtig ist. Am Sporttag hatte ich nicht das Gefühl, eine Medaille zu verdienen. Ich weiß ja, wie schlecht ich werfe und fange. Ich habe auch nicht verlangt, in den Schulchor aufgenommen zu werden. Ich weiß, wie grauenvoll ich singe.

Das alles habe ich akzeptiert, weil ich wusste, dass ich nicht gut genug bin. Aber ich weiß, dass ich eine gute Journalistin bin. Das weiß ich einfach.

»Warum glauben Sie, dass ich nicht dazu in der Lage wäre, mit der Gruppe zusammenzuarbeiten, Mr Ramsey?«

»Oh, Cora.« Wieder lächelt er mich auf diese mitleidige Art an, was mich rasend macht. »Das weißt du doch. Deine Voraussetzungen … also … Ich glaube einfach, dass du da nicht gut reinpassen würdest.«

Ich spüre kalten Schweiß auf meinem Rücken. Mein Zorn verschlägt mir die Sprache. Ihm in die Augen zu gucken, ist völlig undenkbar.

Er greift nach seiner Kaffeetasse und drückt mir die Schulter, bevor er den Klassenraum verlässt. Bei der Berührung zucke ich zurück, bin nicht in der Stimmung, sie zu ertragen.

Ich höre seine Schritte auf dem Flur verhallen, sie mischen sich mit den Geräuschen eines Schulalltags, der ohne mich weitergeht.

»Alles in Ordnung?«

Ruckartig sehe ich auf. Miss Mabuse steht in der Tür, ein Sandwich und eine Wasserflasche in den Händen.

»Alles gut«, lüge ich.

Ich will einfach nur gehört werden. Einen Weg finden, mich verständlich zu machen. Ich habe den Eindruck, dass die Leute mich ständig falsch verstehen. Wenn ich die Möglichkeit hätte, meine Gedanken aufzuschreiben und in die Welt hinauszuschicken, dann würden sie mich endlich richtig verstehen.

»Ach, komm schon.« Miss Mabuse tritt die Tür mit dem Fuß zu und zieht sich einen Stuhl ran, um sich hinzusetzen. »An deiner Stelle wäre ich stinkwütend.«

Ich lächele sie schnell an und werfe mir die Schultasche über die Schulter. »Ist nicht so schlimm.«

»Cora, wenn du über irgendetwas reden willst, bin ich immer für dich da.«

»Danke.« Ich mache mich auf den Weg zur Tür, lasse mir das lange Haar wie einen Vorhang ins Gesicht fallen. »Aber es ist wirklich alles gut.«

Ich weiß nie, wie ich etwas erklären soll. Das, was ich fühle, kann ich durch mein Schreiben zum Ausdruck bringen, aber nie durch meine Stimme.

Während ich nach Hause laufe, lässt mich das Ganze immer noch nicht los, und ich bin komplett in Gedanken versunken.

»CORA!«

Ich blicke auf. Auf der anderen Straßenseite steht er. Adrien. Der Junge von der Party.

Er winkt mir begeistert zu, ein breites Grinsen im Gesicht. Dann überquert er die Straße und wird fast von einem Auto angefahren. Der Fahrer lässt sein Fenster runter und brüllt irgendwas, aber Adrien bekommt überhaupt nichts mit. Er joggt auf mich zu, während ich nur dastehen kann und ihn anstarren.

Ich mag keine Veränderungen in meinem Tagesablauf. Das heute war schon anstrengend genug. Ich frage mich, ob ich vielleicht einfach abhauen sollte.

»Hau nicht ab.« Das überrascht mich. Normalerweise können Menschen meine Gedanken nicht lesen.

»Hey.« Ich werfe ihm einen Blick zu, der hoffentlich richtig böse ist. »Lass mich in Ruhe, ich hatte einen furchtbaren Tag.«

»Schultage sind immer furchtbar. Du solltest zu mir kommen, dann können wir zusammen bei mir zu Hause unterrichtet werden.«

»Nein danke.« Ich gehe wieder los, laufe auf meine Straße zu.

»Also, was machst du hier überhaupt?«, frage ich, und mich tröstet der Gedanke, dass mein Zuhause gleich um die Ecke ist. »Du bist ja ganz schön weit weg von Snob Hill.«

Jetzt ist er bestimmt beleidigt, aber er lacht schon wieder. Sehr irritierend.

»Snob Hill? Gefällt dir Knightsbridge nicht?«

»Dir etwa?«

Er scheint ernsthaft über die Frage nachzudenken. »Schon. Ganz gut eigentlich.«

»Wirklich? Wo die Leute ihre Gärten abschließen und ihre Dienstmädchen ignorieren?«

»Sie heißt Bella, und ich ignoriere sie nicht.«

Ich erreiche meine Straße und gehe schneller. »Schön für dich.«

»Hey, kann ich dich was fragen?«

Ich verdrehe die Augen und wühle in meiner Schultasche nach meinem Schlüssel. »Was?«

»Meine Mutter gibt dieses Wochenende eine Gartenparty und hat mir erlaubt, jemanden einzuladen.«

Ich starre ihn an. »Und?«

»Und ich lade dich ein.«

»Okay.« Ich stecke meinen Schlüssel ins Schloss und drehe mich zu ihm um, um ihm meine volle Aufmerksamkeit zu widmen. »Soll das ein Witz sein?«

»Nein.«

»Wir kennen uns doch gar nicht.«

»Cora, das ist sehr verletzend. Du hast mir diesen tollen Baukasten mit dem Modellflugzeug geschenkt.«

Ich gucke ihn böse an. »Wir sind nicht befreundet. Was stimmt nicht mit dir?«

Etwas huscht über sein Gesicht, etwas Trauriges, aber schon ist es wieder verschwunden. »Ich wäre gerne mit dir befreundet.«

»Du kannst nicht einfach irgendwelchen Menschen nachlaufen und sie zwingen, sich mit dir anzufreunden.«

»Warum nicht?«

»Darum.« Ich kämpfe gegen den Chor von Stimmen in meinem Kopf an, die alle sagen, dass er recht hat. »Das ist nicht normal.«

»Und dir ist es wichtig, dass alles immer normal ist?«

Nein.

»Ja«, schnauze ich ihn an. Die Art, wie Mr Ramsey vorhin mit mir umgegangen ist, schmerzt immer noch. »Das ist es. Ich habe beschlossen, dass mir das wirklich wichtig ist.«

»Sollte es aber nicht«, sagt er und grinst. »Das habe ich alles versucht, deswegen werde ich jetzt zu Hause unterrichtet.«

Mir fällt plötzlich ein schwarzes Auto auf, das an uns vorbeifährt und am Ende unserer Sackgasse parkt. Ich kneife die Augen zusammen und versuche, den Fahrer zu erkennen. Adrien entgeht das nicht.

»Das ist unser Chauffeur«, erklärt er. »Wenn ich Leute verfolge, folgt er mir immer.«

»Tja, ich bin mir nicht sicher, ob ich im Moment neue Freundschaften schließen will. Vor allem nicht mit so verwöhnten und reichen Typen.«

Er sieht mich einen Augenblick lang an, dann geht sein Blick zu unserem Haus. Sofort sträuben sich mir die Nackenhaare, ich bin bereit, unser kleines, bescheidenes Zuhause mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.

»Mir gefällt dein Haus.«

Das sagt er so aufrichtig, dass ich all die angehaltene Luft ausatme.

»Kann ich reinkommen?«

Ich schaue zu seinem Chauffeur hinüber. »Wird James nichts dagegen haben?«

»Nö. Und er heißt Lloyd. Solange ich vor Dad zu Hause bin, ist alles gut. Und in der Woche ist er nie vor neun zu Hause.«

Ich denke kurz nach und atme dann aus. »Okay. Komm rein.«

Glücklich stellt er sich neben mich, und wir gehen rein. Er gibt sich keine Mühe, seine Neugierde zu verbergen. Er guckt sich all unsere Fotos an den Wänden an. Wirft einen Blick ins Wohnzimmer. Und folgt mir dann in die Küche.

Ich lasse meine Schultasche auf die Küchentheke fallen, öffne den Kühlschrank und hole eine Flasche Wasser raus.

»Dein Haus gefällt mir wirklich.«

»Danke.«

»Wo sind denn alle?«, fragt er nach einer Pause.

»Mein Bruder arbeitet auch immer lange bei Pomegranate«, erkläre ich. »Und Dad macht um diese Zeit immer einen Abstecher in den Pub an der Ecke. Ich bin früher zu Hause als sonst.«

Dad hat endlich einen Schlussstrich unter die Geschichte mit dem Toaster gezogen, und ich darf wieder allein zu Hause sein.

»Und deine Mum?«

Meine Hand rutscht ab, als ich versuche, die Wasserflasche zu öffnen. »Sie ist tot.«

Wenn ich das sage, herrscht normalerweise peinliches Schweigen. Das ist total unangenehm. Als hätte ich die Leute irgendwie in die Enge getrieben, weil ihnen bei dem Gedanken, dass jemand aus meiner Familie gestorben ist, unbehaglich zumute ist.

»Das ist ja furchtbar.«

Ich sehe zu ihm auf. Er sieht wirklich so aus, als würde ihm das leidtun, und er wirkt weder verlegen noch verunsichert.

»Danke. Es ist schon über ein Jahr her.«

»Trotzdem furchtbar.«

Jetzt bin ich ein bisschen verlegen. Zwischenmenschliche Begegnungen sind nicht so meins. Es fühlt sich oft so an, als hätten alle anderen schon wochenlang ihren Text geprobt, während ich gerade auf die Bühne stolpere, mein Bestes versuche und mich dabei alle anstarren, als würde ich sie hängen lassen.