Wilbur und Charlotte - E.B. White - E-Book

Wilbur und Charlotte E-Book

E.B. White

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Beschreibung

Wie die kleine Fern das Schweinchen Wilbur mit der Flasche aufzieht. Das aufregende Leben mit den anderen Tieren und die wunderbare Freundschaft zwischen Wilbur und der klugen Spinne Charlotte, die sogar dafür sorgt, daß Wilbur im ganzen Land berühmt wird.

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E. B. White

Wilbur und Charlotte

Aus dem Amerikanischen von Anna Cramer-Klett

Mit Zeichnungen von Garth Williams

Diogenes

1Vor dem Frühstück

»Wohin geht Papa mit der Axt?«, fragte Fern, als sie mit ihrer Mutter den Tisch fürs Frühstück deckte.

»Zum Schweinestall raus«, antwortete Mrs. Arable. »Gestern Nacht sind Ferkel auf die Welt gekommen.«

»Ich versteh nicht, zu was er eine Axt braucht«, meinte Fern, die erst acht Jahre alt war.

»Ach«, sagte die Mutter, »eins von den Ferkeln ist ein Kümmerling. Es ist ganz klein und schwach und wird nie was Richtiges werden. Darum hat dein Vater beschlossen, es wegzutun.«

»Wegzutun?«, schrie Fern entsetzt. »Du meinst – umbringen? Nur weil es kleiner ist als die andern?«

Mrs. Arable stellte einen Krug mit Rahm auf den Tisch. »Schrei nicht so, Fern!«, sagte sie. »Dein Vater hat Recht. Wahrscheinlich würde das Ferkel sowieso eingehen.«

Fern stieß einen Stuhl aus dem Weg und rannte nach draußen. Das Gras war nass, und die Erde roch nach Frühling. Ferns Turnschuhe waren ganz durchweicht, als sie ihren Vater endlich einholte.

»Bitte bring es nicht um«, schluchzte sie. »Es ist gemein.«

Mr. Arable blieb stehen.

»Fern«, sagte er sanft. »Du musst dich beherrschen lernen.«

»Mich beherrschen?«, schrie Fern. Tränen rollten über ihre Wangen. »Hier geht’s um Leben und Tod, und du sagst, ich soll mich beherrschen!« Sie fasste die Axt mit beiden Händen und versuchte, sie ihrem Vater zu entwinden.

»Fern«, sagte Mr. Arable, »von Ferkelaufzucht versteh ich mehr als du. Glaub mir, ein Kümmerling macht nur Scherereien. Und jetzt lauf.«

»Aber es ist gemein!«, schrie Fern. »Das Schweinchen kann doch nichts dafür, dass es so klein auf die Welt gekommen ist. Hättet ihr mich umgebracht, wenn ich bei meiner Geburt ganz klein gewesen wäre?«

Mr. Arable lächelte. »Natürlich nicht«, sagte er und sah zärtlich auf seine Tochter hinunter. »Aber das ist auch was anderes. Zwischen einem kleinen Mädchen und einem zurückgebliebenen Ferkel besteht schließlich ein Unterschied.«

»Für mich nicht!«, meinte Fern und ließ die Axt nicht los. »Für mich ist es die schrecklichste Ungerechtigkeit von der ganzen Welt!«

Auf Mr. Arables Gesicht erschien ein sonderbarer Ausdruck. Es sah fast so aus, als wäre er selbst nah daran, zu weinen.

»Also gut«, sagte er. »Geh nach Haus, und ich bring das Schweinchen mit, wenn ich komme. Du kannst es mit der Flasche aufziehen, wie ein Baby. Dann wirst du schon sehen, was für Mühe so ein Ferkel macht.«

Als Mr. Arable eine halbe Stunde später heimkam, trug er einen Karton unterm Arm. Fern war oben und wechselte ihre Turnschuhe. Das Frühstück stand auf dem Küchentisch, und es roch nach Kaffee und Speck, nach feuchtem Verputz und Holzrauch vom Herd.

»Tu’s auf ihren Stuhl!«, sagte Mrs. Arable. Mr. Arable stellte den Karton auf Ferns Platz. Dann ging er zum Ausguss, wusch seine Hände und trocknete sie sich am Rollhandtuch ab.

Fern kam langsam die Treppe herunter. Ihre Augen waren rot vom Weinen. Als sie vor ihrem Stuhl stand, wackelte der Karton ein bisschen, und ein kratzendes Geräusch war zu hören. Fern sah zu ihrem Vater hinüber. Dann hob sie den Deckel des Kartons. Auf seinem Boden saß das neugeborene Ferkel und blickte zu ihr empor. Es war weiß. Das Morgenlicht schimmerte durch seine Ohren und färbte sie rosarot.

»Es gehört dir«, sagte Mr. Arable. »Vor frühem Tod bewahrt – der liebe Gott verzeih mir die Dummheit!«

Fern konnte ihre Augen nicht von dem winzigen Ferkel wenden. »Oh«, flüsterte sie, »oh, schaut doch bloß! Es ist wunderschön!«

Behutsam schloss sie den Karton. Zuerst bekam ihr Vater einen Kuss, dann bekam ihre Mutter einen Kuss. Dann machte sie den Deckel wieder auf, hob das Schweinchen heraus und bettete es an ihre Wange. In diesem Augenblick kam ihr Bruder Avery zur Tür herein. Avery war zehn. Er war schwer bewaffnet – in der einen Hand hatte er ein Luftgewehr, in der andern einen hölzernen Dolch.

»Was ist das?«, wollte er wissen. »Was hat Fern da?«

»Einen Frühstücksgast«, sagte Mrs. Arable. »Wasch dir das Gesicht und die Hände, Avery!«

»Zeig her!«, sagte Avery und legte sein Gewehr nieder. »Sag bloß, das mickrige Ding soll ein Schwein sein! Eine schöne Sorte Schwein ist das – nicht größer als ’ne weiße Ratte.«

»Wasch dich und iss dein Frühstück, Avery!«, sagte seine Mutter. »In einer halben Stunde ist der Schulbus da!«

»Krieg ich auch ein Schwein, Pa?«, fragte Avery.

»Nein, Schweine teil ich nur an Frühaufsteher aus«, sagte Mr. Arable. »Fern war schon in aller Herrgottsfrühe unterwegs und hat versucht, die Welt von Ungerechtigkeit zu befreien. Mit dem Erfolg, dass sie jetzt ein Schwein hat. Ein kleines, zugegeben, aber immerhin ein Schwein. Das zeigt nur, was einem alles passieren kann, wenn man prompt aus dem Bett steigt! Und jetzt wollen wir essen!«

Aber Fern konnte nicht essen, bevor ihr Ferkel seine Milch bekommen hatte. Mrs. Arable fand eine Babyflasche und einen Gummischnuller. Sie leerte warme Milch in die Flasche, stülpte den Schnuller darüber und reichte sie Fern. »Da, gib ihm sein Frühstück!«, sagte sie.

Und schon saß Fern auf dem Fußboden in der Küchenecke, hielt ihr Baby im Schoß und brachte ihm das Trinken aus der Flasche bei. Das Ferkel, so winzig es auch war, hatte einen guten Appetit und lernte schnell.

Von der Straße her hupte der Schulbus.

»Los!«, kommandierte Mrs. Arable, nahm Fern das Ferkel ab und drückte ihr einen Hefekrapfen in die Hand. Avery schnappte sich sein Gewehr und einen zweiten Krapfen.

Die Geschwister liefen zur Straße hinaus und kletterten in den Bus. Fern achtete nicht auf die anderen Kinder. Sie saß da und starrte aus dem Fenster und dachte nur, wie herrlich die Welt doch sei, und welches Glück sie doch hätte, dass sie ganz allein ein Ferkel aufziehen dürfte. Als der Bus vor der Schule hielt, hatte Fern auch schon einen Namen für ihren Liebling gefunden – den schönsten, den sie sich denken konnte.

»Es soll Wilbur heißen«, flüsterte sie vor sich hin.

Sie war mit ihren Gedanken noch immer bei dem Schweinchen, als der Lehrer fragte: »Fern, wie heißt die Hauptstadt von Pennsylvania?«

»Wilbur«, antwortete Fern verträumt. Die Klasse kicherte. Fern wurde rot.

2Wilbur

Fern liebte Wilbur über alles. Es gab nichts Schöneres für sie, als ihn zu streicheln, ihn zu füttern und ihn ins Bett zu bringen. Jeden Morgen, kaum war sie aufgestanden, wärmte sie seine Milch, band ihm sein Lätzchen um und gab ihm die Flasche. Jeden Nachmittag, wenn der Schulbus vor ihrem Haus anhielt, sprang sie heraus, lief in die Küche und machte ihm eine neue Flasche zurecht. Vor dem Abendessen fütterte sie ihn wieder und, kurz bevor sie ins Bett ging, noch einmal. Mittags, während Fern in der Schule war, wurde er von Mrs. Arable versorgt. Wilbur liebte seine Milch und war ganz selig, wenn Fern die Flasche für ihn wärmte. Dann stand er immer daneben und sah mit verklärten Augen zu ihr auf.

Die ersten Tage seines Lebens durfte Wilbur in einer Schachtel neben dem Küchenherd zubringen. Als Mrs. Arable sich dann beschwerte, wurde er in einer größeren Schachtel im Holzschuppen untergebracht, und als er zwei Wochen alt war, kam er ins Freie. Es war die Zeit der Apfelblüte, und die Tage wurden wärmer. Mr. Arable baute eigens für Wilbur eine kleine Koppel unter einem Apfelbaum und stellte ihm eine große Holzkiste mit Stroh hinein, in die ein Loch gesägt war, damit er ein und aus laufen konnte, wie er wollte.

»Wird er nachts nicht frieren?«, meinte Fern besorgt.

»Nein«, sagte ihr Vater. »Pass nur auf und schau, was er tut!«

Eine Milchflasche in der Hand, setzte sich Fern unter den Apfelbaum. Wilbur kam zu ihr gelaufen, und sie hielt ihm die Flasche, während er trank. Als er sie bis auf den letzten Tropfen geleert hatte, grunzte er und trollte sich schläfrig in seine Kiste. Fern lugte durch die Türöffnung. Wilbur wühlte mit seinem Rüssel im Stroh, und bald war ein Tunnel fertig. Er kroch in den Tunnel und verschwand tief unterm Stroh. Fern war entzückt. Sie wusste jetzt, dass ihr Baby immer gut zugedeckt sein würde und es schön warm hatte.

Jeden Morgen nach dem Frühstück wanderte Wilbur mit Fern zur Straße hinaus und wartete mit ihr auf den Schulbus. Sie winkte ihm zum Abschied, und er stand da und sah ihr nach, bis der Bus hinter einer Straßenbiegung verschwand. Während Fern in der Schule war, musste Wilbur in seiner Koppel bleiben. Aber sobald sie am Nachmittag heimkam, ließ sie ihn heraus, und er folgte ihr überallhin. Ging sie ins Haus, ging Wilbur mit. Ging sie die Treppe hinauf, wartete er an der untersten Stufe, bis sie wieder herunterkam. Fuhr sie ihre Puppe im Puppenwagen spazieren, spazierte Wilbur nebenher. Manchmal wurde er bei diesen Ausflügen müde, und dann hob Fern ihn auf und bettete ihn neben der Puppe in den Wagen. Das gefiel ihm. Und wenn er sehr, sehr müde war, dann machte er die Augen zu und schlief unter der Puppendecke ein. Mit geschlossenen Augen sah er drollig aus, weil seine Wimpern so lang waren. Auch die Puppe hielt ihre Augen geschlossen, und Fern schob den Wagen ganz langsam und sachte, damit ihre Kinder nicht aufwachten.

An einem warmen Nachmittag zogen Fern und Avery ihre Badesachen an und gingen zum Bach hinunter, um zu schwimmen. Wilbur folgte Fern auf den Fersen. Als sie in den Bach watete, watete er ihr nach. Er fand das Wasser recht kalt – zu kalt für seinen Geschmack. Und während die Kinder schwammen und spielten und sich mit Wasser voll spritzten, vergnügte er sich lieber am Bachrand im Schlamm, wo es warm und feucht war und herrlich zäh und glitschig.

Jeder Tag war ein glücklicher Tag, jede Nacht voller Frieden.

Wilbur war, was die Farmer ein Frühjahrsschwein nennen, was einfach hieß, dass er im Frühling geboren wurde. Mit fünf Wochen, meinte Mr. Arable, sei er jetzt groß genug, um verkauft zu werden. Fern brach in Tränen aus, aber ihr Vater blieb fest. Wilburs Appetit hatte zugenommen; neben seiner Milch begann er jetzt auch Abfälle zu fressen, und Mr. Arable war nicht gewillt, ihn länger durchzufüttern. Wilburs zehn Brüder und Schwestern hatte er schon verkauft.

»Es muss sein, Fern«, sagte er. »Du hast deinen Spaß mit deinem Schweinebaby gehabt, aber jetzt ist Wilbur kein Baby mehr und muss verkauft werden.«

»Ruf doch Zuckermans an«, schlug ihre Mutter vor. »Dein Onkel Homer hält sich manchmal ein Schwein. Wenn Wilbur zu ihm kommt, brauchst du nur über die Straße zu laufen und kannst ihn besuchen, sooft du willst.«

»Wie viel soll ich für ihn verlangen?«, wollte Fern wissen.

»Na ja«, meinte ihr Vater, »viel ist nicht an ihm dran. Sag deinem Onkel Homer, du hast ein Ferkel, das du für sechs Dollar verkaufen möchtest. Mal sehen, was er sagt.«

Die Sache war bald perfekt. Fern telefonierte und bekam ihre Tante Edith an den Apparat. Tante Edith schrie nach Onkel Homer, und Onkel Homer kam aus dem Stall und unterhielt sich mit Fern. Als er hörte, dass der Preis nur sechs Dollar war, sagte er, er würde das Ferkel nehmen. Am nächsten Tag wurde Wilbur aus seinem Heim unter dem Apfelbaum geholt und hauste von nun an auf dem Mist im Erdgeschoss von Zuckermans Viehstall.

3Der Ausreißer

Der Stall war sehr groß und sehr alt. Er roch nach Heu und nach Mist. Er roch nach dem Schweiß müder Pferde und dem wunderbar süßen Atem geduldiger Kühe. Oft hatte sein Geruch etwas richtig Friedliches – so als ob auf der Welt nie wieder etwas Böses geschehen könnte. Er roch nach Korn und Pferdegeschirren, nach Wagenschmiere, Gummistiefeln und neuen Seilen. Und wenn die Katze einen Fischkopf zum Fressen bekommen hatte, dann roch der Stall nach Fisch. Aber vor allem roch er nach Heu, denn es war immer Heu oben auf dem großen Boden. Und von diesem Heu wurde den Kühen, den Pferden und den Schafen immer ihr Teil hinuntergeworfen.

Im Winter, wenn die Tiere die meiste Zeit drinnen verbrachten, war der Stall angenehm war, und im Sommer, wenn die großen Tore weit offen standen und die Brise hereinließen, war er angenehm kühl. Im Hauptgeschoss hatte der Stall Boxen für die Arbeitspferde und Barren für die Kühe, unten hatte er eine Schafhürde für die Schafe und einen Schweinekoben für Wilbur.

Und natürlich war er voller Sachen, die man in Ställen so findet: Leitern, Schleifsteine, Mistgabeln, Schraubenschlüssel, Sensen, Rasenmäher, Schneeschaufeln, Axtstiele, Milcheimer, Wasserkübel, leere Kornsäcke und rostige Rattenfallen. Es war einer von den Ställen, in denen Schwalben gern ihre Nester bauen. Es war einer von den Ställen, in denen Kinder gern spielen. Und dieser ganze Stall gehörte Ferns Onkel, Mr. Homer L. Zuckerman.

Wilburs neues Zuhause befand sich im tiefer liegenden Teil des Stalls, direkt unter den Kühen. Mr. Zuckerman wusste, dass ein Misthaufen ein guter Platz für ein junges Schwein ist. Schweine brauchen Wärme, und warm und gemütlich war es da unten im Stall auf der Südseite.

Fern kam fast jeden Tag zu Besuch. Sie entdeckte einen alten, ausrangierten Milchschemel und stellte ihn in die Schafhürde neben Wilburs Koben. Ganze Nachmittage lang saß sie still da, dachte nach, lauschte und sah Wilbur zu. Die Schafe kannten sie bald und vertrauten ihr. Auch die Gänse, die mit den Schafen zusammenwohnten. Alle Tiere hatten Zutrauen zu ihr, weil sie so ruhig und freundlich war. Mr. Zuckerman erlaubte nicht, dass sie Wilbur herausließ, und er erlaubte nicht, dass sie in den Koben hineinging. Aber er sagte, Fern könne auf dem Schemel sitzen und Wilbur beobachten, so lange sie wollte. Es machte sie schon glücklich, wenn sie nur in der Nähe des Schweinchens war, und Wilbur machte es glücklich, wenn er wusste, dass sie dort draußen vor seinem Koben saß. Aber er hatte nie mehr irgendeinen Spaß – keine Ausflüge, keine Spazierfahrten, keine Schwimmexkursionen.

Eines Nachmittags im Juni, als Wilbur fast zwei Monate alt war, wanderte er in seinen kleinen Auslauf vor dem Stall hinaus. Fern war nicht zu ihrem üblichen Besuch erschienen. Wilbur stand in der Sonne, fühlte sich einsam und langweilte sich.

»Hier ist nie was los«, dachte er. Er ging langsam zu seinem Futtertrog und schnüffelte darin herum, um festzustellen, ob er beim Mittagessen etwas übersehen hatte. Er fand ein Stückchen Kartoffelschale und aß es auf. Sein Rücken juckte, und so lehnte er sich gegen den Zaun und scheuerte sich an den Brettern. Als er davon genug hatte, ging er in den Stall, stieg auf die Spitze des Misthaufens und setzte sich nieder. Er hatte keine Lust zu schlafen, er hatte keine Lust herumzubuddeln; er war es müde, zu stehen, und er war es müde, zu liegen. »Jetzt bin ich knapp zwei Monate alt und lebensmüde«, meinte er und ging wieder auf den Hof hinaus.

»Wenn ich hier draußen bin«, sagte er, »kann ich nirgends anderswo hingehen als rein. Und wenn ich drinnen bin, kann ich nirgends hingehen als in den Hof raus.«

»Irrtum-Irrtum-Irrtum, mein Freund«, sagte eine Stimme.

Wilbur lugte durch den Zaun und sah die Gans dort stehen.

»Du brauchst nicht in dem dreckigen-dreckigen-dreckigen kleinen Hof zu bleiben«, sagte die Gans, die ziemlich schnell redete. »Eins von den Brettern ist locker. Schieb’s weg, schieb-schieb-schieb’s weg und komm raus!«

»Wie bitte?«, sagte Wilbur. »Sprich langsamer.«

»Auf-auf-auf, auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen«, sagte die Gans, »schlag ich dir vor herauszukommen. Es ist herrlich hier draußen.«

»Hast du gesagt, ein Brett sei locker?«

»Hab ich, hab ich«, sagte die Gans.

Wilbur ging zum Zaun und sah, dass die Gans Recht hatte – eins der Bretter war locker. Er senkte den Kopf, kniff die Augen zu und rannte dagegen. Das Brett gab nach. Eine Minute später hatte er sich durch den Zaun gezwängt und stand draußen im hohen Gras. Die Gans gluckste erwartungsvoll.

»Wie kommt’s dir vor, frei zu sein?«, fragte sie.

»Es gefällt mir«, sagte Wilbur. »Das heißt, ich glaub, dass es mir gefällt.«

Eigentlich kam er sich etwas komisch vor, so außerhalb seines Zauns, mit nichts zwischen sich und der großen Welt.

»Was meinst du, wo ich hingehen soll?«

»Wohin du willst, wohin du willst«, sagte die Gans. »Geh in den Obstgarten, wühl den Rasen auf! Geh in den Gemüsegarten, grab Radieschen aus! Wühl alles auf! Iss Gras! Such dir Mais! Such dir Hafer! Lauf herum! Spring und hüpf und amüsier dich! Streif durch den Obstgarten und strolch durch die Wälder! Die Welt ist ein herrlicher Platz, wenn man jung ist!«

»Das merk ich«, sagte Wilbur. Er machte einen Luftsprung, wirbelte herum, rannte ein paar Schritte, blieb stehen, schaute sich um, zog schnuppernd die Nachmittagsdüfte ein und trabte dann los in Richtung Obstgarten. Im Schatten eines Apfelbaums machte er Halt, fuhr mit seinem kräftigen Rüssel in die Erde und fing zu stöbern, zu graben und zu wühlen an. Er fühlte sich sehr glücklich dabei und hatte ein beträchtliches Stück Boden umgepflügt, ehe er von irgendjemand bemerkt wurde. Mrs. Zuckerman sah ihn als Erste. Sie entdeckte ihn vom Küchenfenster aus und rief augenblicklich nach den Männern.

»Ho-mer!«, schrie sie. »Das Schwein ist los! Lurvy! Das Schwein ist los! Homer! Lurvy! Das Schwein ist los! Da unten, unterm Apfelbaum!«

»Jetzt gibt’s Krach«, dachte Wilbur. »Jetzt kann ich was erleben!«

Die Gans hörte das Geschrei und erhob nun ebenfalls ihre Stimme. »Renn-renn-renn bergab in den Wald, in den Wald!«, rief sie Wilbur zu. »Im Wald, da kriegen sie dich nie-dich nie-dich nie!«

Der Cockerspaniel hörte den Krawall und rannte aus dem Stall heraus, um sich an der Jagd zu beteiligen. Mr. Zuckerman hörte ihn und kam aus dem Werkzeugschuppen, wo er ein Gerät ausbesserte. Und Lurvy, der Knecht, hörte ihn und kam vom Spargelbeet herauf, wo er Unkraut jätete. Alle steuerten auf Wilbur zu, und Wilbur wusste nicht, was er tun sollte. Der Weg zum Wald schien ihm sehr weit, und überhaupt war er nie dort gewesen und gar nicht sicher, ob es ihm da unten gefallen würde.

»Geh ihn von hinten an, Lurvy«, sagte Mr. Zuckerman, »und treib ihn auf den Stall zu! Aber lass dir Zeit – hetz ihn nicht! Ich hol rasch einen Eimer Futtertrank!«

Die Nachricht von Wilburs Ausbruch verbreitete sich mit Windeseile unter den Tieren. Wenn auf Zuckermans Farm jemand ausbrach, war das immer ein großes Ereignis für die anderen. Die Gans rief der nächsten Kuh zu, dass Wilbur frei sei, und bald wussten es alle Kühe. Dann erzählte es eine Kuh dem nächsten Schaf, und bald wussten es alle Schafe. Die Lämmer erfuhren es von ihren Müttern. Die Pferde in ihren Boxen im Stall spitzten die Ohren, als sie die Gans schnattern hörten, und bald hatten auch die Pferde begriffen, was los war. »Wilbur ist ausgerissen«, sagten sie. Alle Tiere hoben die Köpfe und waren ganz aufgeregt, dass sich eins von ihnen befreit hatte und nicht mehr eingeschlossen oder festgebunden war.

Wilbur wusste nicht, was er tun oder wohin er laufen sollte. Es sah so aus, als sei jeder hinter ihm her. »Wenn das die Freiheit ist«, dachte er, »dann bin ich noch lieber eingesperrt!«