Wild im Herzen - Shanna Reis - E-Book
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Wild im Herzen E-Book

Shanna Reis

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Beschreibung

Eine junge Jägerin und Winzerin zeigt, wie Nachhaltigkeit, Achtsamkeit und ein verantwortungsvoller Umgang mit Mensch, Natur und Tier gelingt

Die 31-jährige Jägerin und Winzerin Shanna Reis weiß, dass ein naturnahes Landleben oft so idyllisch wie herausfordernd sein kann. Etwa, wenn sie es sich gemeinsam mit Dackeldame Henriette an einem kalten und noch dunklen Wintermorgen auf dem Hochsitz gemütlich macht. Wenn sie den Rehen folgt, die durch die Weinberge streifen und entscheidet, wann deren Bestand eingedämmt werden muss. Oder wenn zwischen ihrem Opa und ihr mal wieder die alte und junge Jägerschule aufeinandertreffen. Wichtig ist ihr dabei immer der Blick aufs große Ganze. Denn die Jagd steht heute für Shanna, die selbst lange Vegetarierin war, für gleich mehrere Grundüberzeugungen. Einerseits ist sie Ausdruck von Tier- und Naturschutz: Wenn der Bestand einer Art zu schnell wächst, schaden die Tiere nicht nur der Natur, sondern auch sich selbst, es kommt unweigerlich zu großer Konkurrenz und Wildunfällen. Die Jagd steht für Shanna aber auch für den verantwortungsbewussten Fleischkonsum abseits der Massentierhaltung und den Erhalt der Artenvielfalt. Ob Wild oder Wein: Shanna zeigt, dass Achtsamkeit und ein Bewusstsein für die Schönheit der Natur die beste Basis für Glück und Genuss sind. In ihrem Buch nimmt sie uns mit auf das Weingut ihrer Familie und auf die Pirsch, führt uns durch das Jahr des Weinbaus und der Jagd und erklärt, was das Jagen mit Nachhaltigkeit zu tun hat. Eine Liebeserklärung an das Leben in, mit und von der Natur.

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Shanna Reis war selbst über zehn Jahre Vegetarierin, bevor sie sich dazu entschloss, wieder Fleisch zu essen. Doch weil sie auch die Verantwortung dafür übernehmen wollte, was auf ihrem Teller landet, entschloss sie sich kurzerhand dazu, Jägerin zu werden und so die Tradition ihrer Familie fortzuführen. Denn als Winzer gehörte für ihre Eltern und Großeltern die Jagd seit jeher zum verantwortungsvollen Umgang mit der Natur und den Tieren, die in ihr leben. Heute leitet Shanna das Weingut ihrer Familie und ist als Vertreterin einer Generation, die das naturnahe Landleben wieder zunehmend schätzt, regelmäßig im TV zu sehen, so etwa in »Hallo Deutschland« und dem »Sat.1-Frühstücksfernsehen« oder als Gastgeberin der »Landfrauenküche«.

Eine junge Jägerin und Winzerin zeigt, wie Nachhaltigkeit, Achtsamkeit und ein verantwortungsvoller Umgang mit Mensch, Natur und Tier gelingt

Die 29-jährige Jägerin und Winzerin Shanna Reis weiß, dass ein naturnahes Landleben oft so idyllisch wie herausfordernd sein kann. Etwa, wenn sie es sich gemeinsam mit Dackeldame Henriette an einem kalten und noch dunklen Wintermorgen auf dem Hochsitz gemütlich macht. Wenn sie den Rehen folgt, die durch die Weinberge streifen, und entscheidet, wann deren Bestand eingedämmt werden muss. Oder wenn zwischen ihrem Opa und ihr mal wieder die alte und junge Jägerschule aufeinandertreffen. Wichtig ist ihr dabei immer der Blick aufs große Ganze. Denn die Jagd steht heute für Shanna, die selbst lange Vegetarierin war, für gleich mehrere Grundüberzeugungen. Einerseits ist sie Ausdruck von Tier- und Naturschutz: Wenn der Bestand einer Art zu schnell wächst, schaden die Tiere nicht nur der Natur, sondern auch sich selbst, es kommt unweigerlich zu großer Konkurrenz und Wildunfällen. Die Jagd steht für Shanna aber auch für den verantwortungsbewussten Fleischkonsum abseits der Massentierhaltung. Ob Wild oder Wein: Shanna zeigt, dass Achtsamkeit und ein Bewusstsein für die Schönheit der Natur die beste Basis für Glück und Genuss sind. In ihrem Buch nimmt sie uns mit auf das Weingut ihrer Familie und auf die Pirsch, führt uns durch das Jahr des Weinbaus und der Jagd und erklärt, was das Jagen mit Nachhaltigkeit zu tun hat. Eine Liebeserklärung an das Leben in, mit und von der Natur.

www.penguin-verlag.de

SHANNA REIS

Wild im Herzen

Wie ich als Jägerin und Winzerin im Einklang mit der Natur lebe

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Copyright © 2023 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Nina Schnackenbeck

Umschlaggestaltung: Favoritbuero, München

Umschlagabbildungen: © Lisa Ströher, © Wolfgang Stahr

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN978-3-641-30122-4V001

www.penguin-verlag.de

Inhalt

Vorwort

JanuarMorgenansitz

FebruarSchneeglöckchen

MärzVon Bambi und seinen Freunden

AprilWild im Herzen

MaiBockjagd

JuniVom Silberstrauch

JuliJunges Gemüse

AugustBlattjagd in der Oberpfalz

SeptemberHenriette vom Kanonenturm

OktoberNapoleon

NovemberDrückjagdsaison

DezemberAuf die inneren Werte kommt es an

Nachwort

Glossar

Bildteil

Für meine Eltern, Großeltern und Urgroßeltern. Danke für alle Türen, die ihr mir geöffnet habt.

Vorwort

Oktober 1999. Ich sitze im Wohnzimmer, im Leoparden-Sitzsack meiner Schwester, und schaue fern. Das rhythmische Gluckern unseres Fendt Frontladers dringt langsam durch bis in meinen Verstand, und ich erwache aus meiner kindlichen Fernsehstarre. Mit einem Satz springe ich auf, laufe durch die Küche und hinaus in den Flur und hüpfe die acht Stufen zur Haustür hinunter. Ich schnappe mir meinen Kinder-Küferkittel von der Garderobe und streife ihn mir über den Kopf. Ganz sauber ist das dunkelblaue Hemd mit den feinen senkrechten Streifen nicht mehr. Ein paar schmierige Fruchtreste an den Ärmeln und getrocknete Traubenschalen zeugen von den Einsätzen in den vergangenen Tagen. Ich öffne unsere schwere Holztür, schlüpfe in meine Gummistiefel und greife mir die kleine Schüssel mit Leitungswasser, die ich schon bereitgestellt habe. Fast zeitgleich gluckert der Traktor im Schritttempo auf den Hof, gefolgt von dem großen, massiven Maischewagen aus Edelstahl. Träge schwappen darin mehrere Tonnen der Riesling-Trauben aus unserem Weinberg hin und her. Das Gespann wird unter die überdachte Durchfahrt gesteuert, und einer unserer Saisonarbeitskräfte eilt bereits mit dem dicken roten Maischeschlauch herbei, um alles bereit zu machen für das Abladen der Trauben.

Als der Traktor endlich zum Stehen kommt, sprinte ich, so schnell ich kann, ohne das Wasser aus der Schüssel zu verschütten, die wenigen Meter über den Hof und schwinge mich mithilfe des kleinen Tritts auf das hintere Ende des Maischewagens. Dort ist eine schmale Plattform angebracht, um die Maische von oben begutachten zu können. Ich stelle die Schüssel ab und lehne mich dann vorsichtig über das von Saft klebende Geländer und lasse meinen Blick langsam über die goldgelb schimmernden Trauben wandern. Ein erster roter Fleck springt mir ins Auge. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, beuge mich vorsichtig noch weiter vor, strecke den Arm weit aus und lasse den gestrandeten Marienkäfer vorsichtig auf meine Fingerspitze krabbeln. Behutsam, um ihn ja nicht fallen zu lassen, gehe ich in die Hocke und tauche meinen Finger in die Schüssel. Der Marienkäfer beginnt zu schwimmen. Wieder blicke ich über das Geländer und halte Ausschau nach dem nächsten kleinen Krabbelkäfer. Ich muss mich beeilen, denn parallel zu meiner Rettungsaktion wird die Maische in den Keller gepumpt. Je mehr Marienkäfer ich herausgefischt bekomme, desto mehr überleben.

Nach rund fünfzehn Minuten ist mein Einsatz beendet, der Maischewagen leer und zurück auf den Weg in den Weinberg. Die geretteten Marienkäfer sammele ich behutsam aus ihrer Badewanne und verteile sie auf den Sträuchern am Hauseingang.

Dreizehn Jahre später ist die Situation eine andere und doch irgendwie gleich. Es ist wieder Oktober, jedoch sitze ich im Büro und nicht mehr vor dem Fernseher. Starre tippend auf meinen Bildschirm und beantworte verschiedene Anfragen. Die Beine meiner grünen Arbeitshose sind besprenkelt mit Mostresten, und die Ärmel kleben von Traubenschalen. Unseren Fendt Frontlader haben wir immer noch, und er schlängelt sich wie früher mit seiner tonnenschweren Last behäbig die Georg-Scheu-Straße nach oben. Sobald das Tuckern zu hören ist, beende ich meine Tipperei, gehe die Stufen zur Haustür hinunter und binde meine Arbeitsschuhe zu. Ich überquere den Hof und greife mir den schweren, dicken roten Schlauch, der in der Durchfahrt hängt. Das klebrige Ungetüm in beiden Händen haltend, bringe ich mich in Position und warte, bis mein Schwager Artur den Traktor in den Hof gefahren hat. Sorgsam winke ich ihn auf die passende Position, bis er mit meinem lauten Stopp-Ruf zum Stehen kommt. Mit dem linken Fuß schiebe ich die bereitstehende Bütte unter den Auslauf des Maischewagens und entferne den Verschluss. Ein kleiner Schwall aus Trauben und Most schwappt in das Gefäß. Diesen ersten Schluck schütte ich später zurück in den Maischewagen. Aber jetzt zerre ich erst mal schnell den roten Maischeschlauch in Position und schließe ihn an den Maischewagen an, sodass die Trauben ihre Reise durchs Weingut starten können.

Zwar rette ich heute keine Marienkäfer mehr, aber den Platz auf der Plattform mit Blick auf das Traubenmeer und den Fortgang des Abladens finde ich immer noch spannend. Mit einem Blick erfährt man so viel. Wie war das Wetter in diesem Jahr? Haben wir unseren Job gut gemacht? Hat der Pflanzenschutz funktioniert? Gibt es Wildschaden? Wenn ja, wie viel? All diese Fragen lassen sich mit einem Blick in den Maischewagen beantworten.

Ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich so auf die Träubchen blicke und an vergangene Tage denke. Zeiten, die unbeschwerter waren. Wo meine größte Sorge den kleinen Glückskäfern auf den Trauben galt. Auch heute gilt meine Sorge den kleinen Krabblern, aber aus einem anderen Grund: Sie fehlen.

Ich kann gar nicht mehr genau sagen, wann es gewesen ist, aber irgendwann habe ich es gemerkt. In unseren Trauben lebt nicht mehr viel, und das, obwohl wir seit Jahren keine Insektizide mehr verwenden. Wir achten insgesamt ziemlich genau darauf, was wir mit unseren Weinbergen veranstalten und auch mit der Natur drum herum. Zum Ausgleich unserer doch recht intensiven Landwirtschaft legen wir beispielsweise Wildäcker und Blühwiesen in der gesamten Gemarkung an. Plätze, die der »wilden« Natur einen Rückzugsort bieten.

Tatsächlich sehe ich die fehlenden Marienkäfer als ein Symptom unserer Zeit an. Einer Zeit, in der wir den Klimawandel direkt vor der Haustür haben und Themen wie Nachhaltigkeit und Regionalität unumgehbar sind. Aber auch einer Zeit, in der ich das Gefühl habe, dass die Welten innerhalb unseres Landes immer weiter auseinanderdriften. Die Lebensrealität auf dem Dorf, genauer: in der Landwirtschaft, entgegen den Alltagserwartungen in der Stadt. Lebensmittel, die wenig kosten, aber alles leisten sollen. Eine Landwirtschaft, geprägt vom ständigen Preisdruck und der eigenen träumerischen Erwartung, verträglich für Mensch und Umwelt zu agieren und zeitgleich davon leben zu können. Naturschutz, der am eigentlichen Ziel und der Lebensrealität vorbeigeht: Menschen, die gegen die Jagd auf die Straße gehen, während die Wurst aus dem Discounter hervorragend mundet. Organisationen, die mehr Spendengelder in Marketing als in den eigentlichen Zweck investieren. Zwischendrin ich, die das alles sieht, so viel verändern will und nicht weiß, wo sie anfangen soll und wie sie Gehör finden kann.

Ich hoffe, dieses Buch kann einen kleinen Beitrag leisten zum besseren Verständnis zwischen Stadt und Land sowie Produzierenden und Konsumierenden beitragen. Es soll keine Doktrin für das »richtige« Leben sein, sondern der Versuch, zu zeigen, dass das Mosaik, was unser Leben bedeutet, in einem größeren Zusammenhang steht, der wieder Teil eines Mosaiks ist. Ich habe nicht den Anspruch, jemanden zur Jagd zu bekehren oder vom industriellen Fleischkonsum abzubringen, möchte jedoch die Menschen zum Nachdenken anregen. In Sachen Nachhaltigkeit gibt es nicht nur Schwarz und Weiß, sondern viele Zwischenfarben. Die Rettung unserer Umwelt und Natur funktioniert mithilfe vieler kleiner, alltäglicher Taten, die jeder und jede von uns übernehmen kann.

Mit der Art und Weise, was und wie wir konsumieren, formen wir die heutige Welt – und noch viel wichtiger, die Zukunft, in der wir und unsere Kinder und Kindeskinder leben werden. Daher halte ich Achtsamkeit und den ganzheitlichen Blick für das Kleine und Große für wichtig, sodass unsere Enkel vielleicht auch wieder Marienkäfer retten können.

JanuarMorgenansitz

Mittwochmorgen, 4 Uhr 59. Mein Wecker klingelt, und ich wache desorientiert auf. Erst mal sortieren: Wie spät ist es? Warum habe ich mir den Wecker so früh gestellt? Ist Arbeit im Impfzentrum angesagt? Weingut oder Jagd? Moment … Wochenende ist schon mal nicht, das heißt keine Drückjagd. Ah, jetzt! Da war was: Ich wollte auf den Ansitz. Mit fünf Uhr war ich aber wohl etwas optimistisch. Ich werfe einen kurzen Blick links von mir aus dem Schlafzimmerfenster, es ist noch stockdunkel. Eine Viertelstunde dösen kann ich mir also problemlos erlauben.

5 Uhr 14. Mein Wecker klingelt erneut. Dieses Mal geht das gedankliche Sortieren etwas schneller, wenn die Motivation auch noch immer eher verhalten ist. Ich greife zu meinem Handy und knipse die Nachttischlampe an. Ein Weihnachtsgeschenk von meiner Schwester: ein kurzer, massiver Birkenstamm mit weißem Schirm mit dunkelbrauner Stickerei. Sie begleitet mich schon seit einigen Jahren oder, in Umzügen gerechnet, seit vier Wohnungen.

Ein erneuter kurzer Blick nach links: Das Stück Himmel, das ich sehe, ist immer noch rabenschwarz. Mein Freund Simon neben mir schläft weiterhin friedlich und lässt sich durch das Licht der Nachttischlampe gar nicht stören.

Nachdem ich meiner wenig gesunden Morgenroutine aus Instagram, WhatsApp, Facebook und Covid-Zahlen-Check nachgegangen bin, schaffe ich mich endlich aus dem Bett. Meine Dackeldame Henriette, kurz: Henri, und Simons Terrier Siggi wuseln mir um die Beine, als wüssten sie schon, wohin es geht. Ich greife nach frischer Unterwäsche und der braunen, leicht kratzigen Lodenhose, zu Pullover, Fleecejacke, Strumpfhose und Schal. Wir haben Januar, es verspricht also trotz rheinhessisch-mildem Winter ein kalter Morgen zu werden.

Ich schließe die Wohnungstür auf und schaue, ob die Luft rein ist. Wir alle wohnen gemeinsam auf dem Weingut. Meine Schwester, ihr Mann und ihre Kinder im Haus nebenan, meine Eltern im »richtigen« Haus, also im Erd- und Obergeschoss, und Simon und ich in der Anliegerwohnung, die sich im Keller befindet. Die geschlossene Wohnungstür ist hierbei enorm wichtig, da Terrier Siggi und die anderen Rüden des Hauses auf keinen Fall aufeinandertreffen sollten. So bleibt der schwarze Teufel auf der einen Seite der Tür, der Flur ist neutrales Grenzgebiet, und im Erdgeschoss treffe ich auf den Rest der Meute.

Sechzehn Stufen und drei freudige Stichelhaar später stehe ich in der Küche und drücke auf der Kaffeemaschine herum. Auch wenn ich es spätestens in dreißig Minuten bereuen werde, da die »Sanitärsituation« auf dem Hochsitz in der Regel mehr als dürftig ist – ein großer Kaffee aus meiner weiß-roten Tasse muss sein. Während ich den letzten Rest Sojamilch in meine Tasse kippe, wandere ich Richtung Büro, um die Sachen für den Ansitz zu packen. Mein Rucksack, gefüllt mit Gehörschutz, Fernglas, Handschuhen und allem, was man sonst eventuell für den Ansitz brauchen oder nicht brauchen kann, liegt wie immer unter den Schreibtischen des Büros. Eigentlich nur ein Werbegeschenk für Jungjäger, erweist er mir seit fünf Jahren treue Dienste bei jedem Ansitz, auch wenn langsam das Kunstleder an den Trägern abbröckelt und ich an manchen Tagen fluche, weil meine Vier-Zimmer-Küche-Bad-Ansitz-Ausrüstung einfach nicht hineinpassen will.

Als Nächstes schiebe ich die beiden Hundebetten mit dem Fuß zur Seite, um an den Gewehrschrank zu gelangen – dieses graue, schwere Ungetüm, das, solange ich denken kann, schon als Pinnwand missbraucht wird. Erst einmal auf die Zehenspitzen und einen Zahlencode eingeben, um an den Schlüssel zu kommen, der in einem kleinen Tresor auf dem Gewehrschrank verstaut ist.

Zwei nahezu identisch aussehende Waffen stehen nebeneinander. Eine ist die 9.3 (viel zu groß für das heutige Vorhaben) und die andere der Stutzen meines Vaters mit einem kleineren Kaliber von .270 Winchester. Ich lasse den Mittelfinger über die Lauföffnungen gleiten. Statt eine Lampe zu Hilfe zu nehmen, bin ich im Laufe der Zeit dazu übergegangen, lediglich mit dem Finger zu prüfen, welches die passende Waffe ist. Denn die Größe der Mündung variiert je nach Kaliber merklich.

Heute geht es für mich auf Rehwild, da ist der Stutzen meines Vaters die richtige Wahl. Ich greife also nach der Büchse: Angenehm kühl und geschmeidig liegt das dunkle Holz des Schaftes in meiner Hand. Der Gedanke, dass diese Waffe sowohl meinen Vater als auch mich schon auf so vielen Jagden begleitet hat und ein nahezu identisches Modell bei meinem Opa zu Hause steht, lässt ein wohliges, wenn auch nicht recht begründbares Gefühl der Zusammengehörigkeit in meiner Brust entstehen. Noch Magazin und Munition gegriffen und ich bin fertig ausgerüstet.

Schnell noch Jacke und Schuhe an und dann kann es endlich losgehen – denke ich. Letztendlich bedarf es noch etlicher bittender, flehender und drohender »Henriette!«-Rufe, bis sich die Dackeldame aus dem Haus in die Kälte bequemt. Temperaturen unter 35 °C sind nicht so ganz ihr Ding – das sei direkt zu Anfang gesagt. Wenn es nicht um eine Drückjagd, also eine große Gesellschaftsjagd im Winter, oder das Waidwerken auf Reineke Fuchs geht, auch bekannt als »Baujagd«, bedarf es schon einiger Worte mehr, um den »Hot Dog«, wie die braune Rauhaardackeldame familienintern genannt wird, aus dem Haus, raus in Kälte, in Regen oder Matsch zu bewegen.

Meine drei Stichelhaar muss ich wiederum nicht lange bitten. In der Regel reicht das Klappern der Gewehrschranktüren, um sie auf die Pfoten oder, jagdlicher ausgedrückt, auf die Läufe zu bringen, und wenn nicht, dann steht das Trio spätestens beim unverkennbaren Geräusch der Autotür fiepend bereit.

Nachdem alle Vierbeiner verladen sind, Henri auf dem flauschigen Lammfellsitz vorn – natürlich –, die drei Großen im Kofferraum, setze ich mich ins Auto und starte die Zündung. Wie gewohnt muss ich abwarten, bis das dunkelgelbe Symbol des Vorglühens erloschen ist, nach wenigen Sekunden ist der Motor dann bereit.

Eigentlich mache ich mir nicht viel aus Autos, aber den dunkelgrünen Galloper, ein Fabrikat aus dem Hause Hyundai, das ehemalige Sonntagsauto meines Opas, versuche ich schon pfleglich zu behandeln. Nachdem mein Opa mit fast achtzig Jahren eingesehen hatte, dass er nicht mehr unbedingt zwei Jagdautos benötigte, während zeitgleich unser Familiengelände- und Jagdauto für die Reparatur zu teuer wurde, ließ er sich erweichen und vermachte mir zu Weihnachten und Geburtstag, was in meinem Fall recht nah beieinanderliegt, seinen geliebten Wagen.

Stotternd startet der kalte Dieselmotor, und ich besinne mich erst einmal darauf, wo genau es jetzt hingehen wird. Welche Kanzel darf es heute Morgen für mich sein? Wähle ich Tor eins – den hohen Sitz mit Blick ins Nachbardorf, der mir garantiert einen schönen Sonnenaufgang beschert, aber möglicherweise auch Ärger mit einem unserer Mitjäger, der Sorge hat, ich könnte etwas in »seiner« Ecke des Reviers beunruhigen? Oder Tor zwei – bekannt unter dem Namen »Tiergarten«, wo ich in diesem Jagdjahr mein erstes Aspisheimer Wildschwein erlegen durfte? Leider gekoppelt an den Nachteil einer offenen Kanzel, die sich bei knapp null Grad als klirrend kalt erweisen könnte. Oder vielleicht Tor Nummer drei – ungemütlich-unruhig direkt an der Hauptstraße gelegen, dafür aber mit der Aussicht, ein Tier erlegen zu können, das sonst spätestens zur Umstellung der Uhr Ende März in einen Wildunfall verwickelt sein könnte? Während die Rehe nämlich ihr Leben lang immer dieselben Wege wählen, sogenannte Wechsel, die sogar von Generation zu Generation weiterkommuniziert werden, verändert sich oftmals die Umgebung drastisch. Auf einmal tauchen dann neue Straßen auf, und zudem nimmt von einem auf den anderen Tag der Berufsverkehr rapide zu in einer Zeit, in der es das Wild nicht gewohnt ist. So kommt es nicht selten vor, dass man an diesen Orten ein Reh an oder sogar auf der Straße sieht. Sei es, weil das Gras auf der anderen Straßenseite grüner scheint oder weil es vor einer Beunruhigung flieht oder auf dem Weg vom Reh-Wohnzimmer in die Schlafstube ist und dafür die altbekannte Route nimmt.

Während ich die Optionen in meinem Kopf durchgehe und gegeneinander abwäge, wird mir klar, was am sinnvollsten ist: Und so entscheide ich mich für den Lärmpegel des Berufsverkehrs in der Hoffnung, neben einem netten Stück Fleisch in meiner Tiefkühltruhe vielleicht auch ein Reh vor einem elendigen Tod zu bewahren.

Der Weg vom Weingut zum Ansitz ist nicht weit. Ein paar Hundert Meter und ich bin aus dem Dorf heraus, beim Weinlabor am Ortsausgang brennt sogar schon Licht. Nach zwei Serpentinen werde ich langsamer, um meinen Parkplatz nicht zu verpassen. Ich setze den Blinker und stelle mich rechts neben die Straße. Leise öffne ich die Autotür und trete auf den vermoosten, alten Asphalt. Die Kälte und Klarheit der gerade endenden Nacht schlagen mir unsanft in das noch etwas verschlafene Gesicht. Sachte schließe ich die Fahrertür und gehe um den Geländewagen herum, schnappe mir meinen Rucksack und die Büchse, die beide im Fußraum unter Henri bereitliegen. Möglichst leise schiebe ich die Patronen in das Magazin. Dreimal klackt Metall auf Metall. In der Umsicht, die ich zu Beginn eines Ansitzes walten lasse, ohrenbetäubender Lärm für mich. Aber ich bin noch einige Schritte vom Hochsitz entfernt und dürfte hoffentlich nicht alles Wild verscheucht haben.

Vorsichtig streife ich Henri die Pirschleine über den Kopf. Ein Geschenk von einer vergangenen Drückjagd in den steilen Hängen der Mosel, leider demoliert durch die rohe Gewalt von Terrier Siggi, aber immer noch ausgezeichnet, um sich mit meiner acht Kilo leichten Hündin möglichst geräuschlos Richtung Hochsitz zu bewegen.

Ich gehe die wenigen Schritte Richtung Hauptstraße und blicke nach rechts und links: Kein Scheinwerferkegel zu sehen, also schnell auf die andere Straßenseite. Und vorsichtig – nicht mit dem Gewehr an die Leitplanke knallen!

Für die verbleibenden Meter zur Leiter schalte ich meine Taschenlampe ein – und spüre dieses gewisse Maß an Nervenkitzel, der so typisch für einen Morgenansitz ist. Nicht etwa die Dunkelheit macht mir Angst oder ungewollten Besuch auf dem Weg zur Jagd zu bekommen, sondern schlicht und ergreifend, wie ein Nilpferd auszurutschen und mich hinzulegen oder im schlimmsten Fall von der Leiter zu fallen. Das stellt die wahre Herausforderung dar. Immerhin muss ich den steilen Straßengraben und anschließend die wackelige Leiter mit den groben Sprossen überstehen, ohne mich samt Gewehr, Rucksack und Dackel im nassen Gras auf den Hintern zu setzen. Egal wie gut oder schlecht ein Revier und seine jagdliche Einrichtung gepflegt ist, morgens in der Dunkelheit, im Januar, bei feucht-nassem Wetter, nahe dem Gefrierpunkt, kann das schon wirklich tricky sein.

Sicher am Fuße des glitschigen Holzgebildes aus etwa zwanzig Sprossen angekommen, sortiere ich mich noch einmal. Gewehr auf der linken Schulter, Dackel unter denselben Arm geklemmt und der Rucksack auf dem Rücken. Mit der rechten Hand greife ich nach der ersten Sprosse und klettere dann Stufe für Stufe empor und zwischen die Wipfel der abgestorbenen Fichten. Sie sind hier alt geworden, und die letzten trockenen Sommer haben ihnen den Rest gegeben.

»Jetzt bloß kein Geräusch!«, ermahne ich mich. Die Kombination aus (zu) viel Gepäck und einem recht langen Gewehrriemen, der auf die Körpermaße meines Vaters abgestimmt ist, hat schon mehr als einmal das unschöne Geräusch von Büchse-klappert-an-Hochsitz ergeben, was auch dem letzten schwerhörigen Reh meine Anwesenheit verrät.

Heute habe ich Glück – oder bin besonders geschickt. Nach über fünf Jahren Jagdschein stellt sich bei solchen jagdlichen Fettnäpfchen ein gewisser Automatismus ein.

Oben angekommen, taste ich vorsichtig nach dem Schloss der Kanzel. Wegen schlechter Erfahrungen vergangener Tage sind in unserem Revier eigentlich alle Hochsitze abgeschlossen. Und so stoße ich gleich auf die nächste Herausforderung in Sachen Lärmpegel. Egal, wie behutsam man handelt, das Knarren des Riegels in der Tür ist unvermeidbar, was mir schon den ein oder anderen Anblick versaut hat. Aber, wie mein Vater immer zu sagen pflegt, »Man muss mit den Mädchen tanzen, die man hat«.

Im Hochsitz schalte ich kurz meine Handylampe ein, um mich zu orientieren. Wie so oft entdecke ich die ein oder andere Hinterlassenschaft vom Siebenschläfer. Aber immerhin weder Wespennest noch Marienkäferplage, die ich auf diesem Sitz schon erleben durfte. Die üblichen Verdächtigen, wie die ein oder andere Motte oder unliebsame Achtbeiner, übersehe ich großzügig.

Ich entlasse Henri auf den Boden der Kanzel und lehne meine Büchse aus Gewohnheit an die Fensterbank in der linken Ecke. Aus meinem Rucksack zaubere ich Gehörschutz, Fernglas und ein Buch, in der Hoffnung, heute nicht nur zu dösen oder am Handy zu hängen.

Der Hochsitz hat drei Fenster, geradeaus, links und rechts: Metallrahmen im Querformat, die mit Fensterglas ausgestattet und an zwei Scharnieren aufgehängt sind. Als Verschluss dient ein kleiner Metallhaken. Möglichst geräuschlos drehe ich die Haken, klappe die drei Luken nacheinander auf und fixiere sie. Kaum ist das dritte Fenster offen, bläst mir die kalte Morgenluft unbarmherzig von rechts ins Gesicht. Meine einzig mögliche Abwehr: Ich ziehe den Schal noch etwas höher, die Mütze etwas tiefer und vergrabe, nach einem kurzen Abglasen der Umgebung mittels Fernglases, die Hände in meinen Jackentaschen.

Ich tendiere dazu, erst einmal Ruhe einkehren zu lassen, und verbringe das Warten auf die Morgendämmerung damit, ein wenig vor mich hin zu dösen. Momente wie diese sind ein Grund, weshalb das Jagen als entschleunigend empfunden wird. Oftmals kann man nichts anderes tun, als der Natur ihren Lauf zu lassen und der Dinge zu harren, die da hoffentlich mit dem herankriechenden Tageslicht kommen.

Man könnte es fast ein Privileg nennen in der heutigen Zeit der ständigen Erreich- und Verfügbarkeit, der schnellen Entscheidungen und des Konsums rund um die Uhr – egal, was wir glauben zu brauchen, wir können es direkt bestellen und bekommen es am nächsten Tag geliefert. Die Tatsache, etwas vollkommen aus der Hand zu geben und warten zu müssen, ungewiss des Ergebnisses, stellt für mein Gefühl einen erdenden Kontrast dazu dar.

Ich finde, da weisen Wein und Jagd gewisse Gemeinsamkeiten auf. Der Weinbau bedarf einer ähnlichen Form der Geduld wie das Jagen. Auch für einen guten Wein muss man manchmal die Dinge aus der Hand geben und der Zeit oder auch dem Lauf der Jahreszeiten die Reifung der Trauben und der Weine überlassen.

Henri hat es sich mittlerweile zu meinen Füßen bequem gemacht. Das bestätigt mir ihr grummeliges Seufzen, als ich versehentlich mit dem Schuh gegen sie stoße.

Ich lasse den Blick schweifen. Ich erkenne die Schneisen, die das Waldstück vor mir zerteilen. Wobei »Waldstück« sehr wohlwollend ist. Ich jage in einem Feldrevier. Hauptkennzeichen eines solchen ist, dass es hauptsächlich aus Ackerland beziehungsweise in meinem Fall aus Weinbergen besteht. Größere zusammenhängende Waldflächen gibt es gar nicht. Das »Waldstück«, in dem ich sitze, ist letztendlich aus Hecken am Straßenrand entstanden, eine bunte Mischung aus Schwarzdorn, Holunder und allerlei, die sich im Laufe der vergangenen Jahrzehnte selbstständig angesiedelt haben und nie zurückgeschnitten wurden. Darum wachsen sie relativ hoch. Man kann es, jagdlich gesprochen, auch als »Dickung« bezeichnen – es ist die Sorte von Gestrüpp, in das man ungern hineingeht, weil gefühlt alles aus Dornen besteht.

Langsam haben sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, zeitgleich naht langsam, aber stetig der Tag und damit Licht. Das ist der Vorteil des Morgenansitzes, im Gegenteil zum Abendansitz: Die Zeit arbeitet für einen. Mit jeder Minute werden Umrisse deutlicher und graue Klumpen verwandeln sich in Sträucher und Büsche oder idealerweise in ein Wildtier.

Ich suche die Schneisen aufmerksam nach diesen »Klumpen« ab in der Hoffnung, dass sie sich als Reh oder Fuchs entpuppen. Immer wieder erstaunt es mich, welche Streiche mir meine Augen dabei spielen. Plötzlich meine ich, im Augenwinkel etwas zu sehen, doch sobald ich es mit dem Fernglas untersuchen möchte, stelle ich enttäuscht fest: Da ist nichts oder maximal der Busch, den ich schon fünfmal fälschlicherweise für ein Tier gehalten habe.

Nach und nach kommt ein bisschen Leben in die Büsche um mich herum. Die Amseln, klar erkennbar an ihrer Stimme, kündigen den herannahenden Tag an. Ich frage mich, ob es »früher« mehr Vögel gegeben hat, die den Morgen begrüßt haben. Die Singvogelpopulation hat sich in den vergangenen Jahren sehr verkleinert. Höre und sehe ich die Auswirkungen davon bei meinen Ansitzen bereits?

Parallel dazu steigert sich die Taktung der Fahrzeuge, die hinter meinem Rücken die Serpentinen hinunter Richtung Dorf rauschen. Apropos: Im linken Augenwinkel funkelt etwas, langsam, leicht schwankend, näher kommend. Ich stutze. In Sachen Berufsverkehr ist das definitiv die falsche Richtung. Ich nehme den Lichtkegel zuerst in der Spiegelung der Fensterscheiben des Hochsitzes wahr, bevor ich es tatsächlich richtig erkennen kann. Langsam dämmert es mir: Ein zäher Einzelkämpfer schafft sich gerade mit seinem Fahrrad, ganz ohne E-Bike-Bonus, die Serpentinen hoch. Langsam und stetig bewegt sich das einsame Licht seines Fahrrads lautlos hangaufwärts. Eine Mischung aus Hochachtung und Verständnislosigkeit huscht mir durch den Kopf. Ich fahre ebenfalls gern Fahrrad, am liebsten Rennrad, aber mich risikofreudig morgens im Zwielicht zwischen Dunkel und Tag durch den Berufsverkehr zu quälen, liegt fernab meines Überlebenswillens.

Langsam fährt der Radler hinter mir entlang – als die Ruhe seines Tuns durch ein jähes Krachen von brechendem Holz direkt neben mir unterbrochen wird. Erschreckt schaue ich in die Schneise zu meiner Rechten und traue kaum meinen Augen: Wie aus dem Nichts steht neben meinem Sitz ein Reh. Ich weiß, mir bleibt nicht viel Zeit, um mir das Tier anzuschauen, das sogenannte Ansprechen des Wildes, um zu entscheiden, womit ich es genau zu tun habe. Auf den ersten Blick erkenne ich weder einen Pinsel an der unteren Bauchseite (also das männliche Geschlechtsorgan) noch den Ansatz eines Gehörns. (Dazu muss ich erklären, dass sich das Geweih oder Gehörn der Böcke im Januar immer erst im Wachstum befindet, nachdem sie es zum Ende des vergangenen Jahres abgeworfen haben. Je nach Alter eines Bockes lässt sich zu dieser Jahreszeit bereits wieder ein Gehörn im Bast – also unter Haut und Fell verdeckt – oder zumindest die Ansätze davon sehen.) »Mein« Reh ist also eine Dame. Es knackt und rumpelt noch einmal, und zwei weitere Rehe tauchen auf.

Jetzt ist mir klar: Hier steht eine Geiß beziehungsweise Ricke mit ihren beiden Nachkömmlingen vor mir. Das schließe ich aus dem Größenunterschied und der Reihenfolge ihres Auftrittes. Auch die Körperhaltung und der Gesichtsausdruck der Tiere lässt Rückschlüsse auf ihr Alter zu. Junge Rehe entsprechen schon ein bisschen dem sogenannten Kindchenschema: große runde Augen, auch »Lichter« genannt. Für mehr bleibt mir allerdings keine Zeit. Das Trio sichert kurz die Umgebung und springt dann hangaufwärts zurück in die Hecken. Ich sehe noch die weißen Spiegel (die langen weißen Haare) an ihren Hinterteilen, die sie »aufstellen«, wenn sie Gefahr wittern. Schnell greife ich zum Fernglas, um die drei vielleicht noch einmal erspähen zu können. Wenige Sekunden später sehe ich tatsächlich, wie sie weiterhin hochflüchtig Richtung Weinberge ziehen.

Auf dem Kamm des Hanges angekommen, verweilen die Rehe einen kurzen Moment, und ich habe Zeit, die beiden Kitze genauer zu betrachten. Und weil die beiden mir ihr Hinterteil präsentieren, erkenne ich anhand der »Schürze« (ein Fellbüschel am Hintern), dass auch sie Weibchen sind.

Meine Gedanken schweifen ab: Ich empfinde es immer wieder als unglaublich, woran sich die Tiere gewöhnen und was sie dann letztendlich aus der Fassung bringt. Hunderte von Autos am Morgen stellen kein Problem dar, aber ein Fahrradfahrer, der nicht den üblichen Bewegungsmustern und Geräuschen entspricht, bringt die kleine Familie so in Aufruhr, dass sie ihr Versteck direkt neben dem Hochsitz aufgeben und die Flucht ergreifen.

Okay, sammle ich mich und fasse gedanklich zusammen, Ricke mit zwei weiblichen Kitzen. Würden sie noch näher bei mir stehen, könnte ich gegebenenfalls auch darüber nachdenken, ob und, wenn ja, welches der beiden Kitze ich erlegen sollte. Die Jagdzeit für Rehe endet in Rheinland-Pfalz mit dem 31. Januar. Das heißt, bis dahin habe ich als Jägerin noch die Möglichkeit, regulierend in den Bestand einzugreifen. Und das ist ein notwendiges und hilfreiches Mittel, den Nachwuchs für das kommende Jahr zu vermindern und damit die Zahl potenzieller Verkehrsopfer im Berufsverkehr, ebenso wie den möglichen Wildschaden beim Austreiben der Weinberge. Aber um diese Zusammenhänge wird es an späterer Stelle noch einmal genauer gehen.

Die Sonne kriecht nach und nach die Felder entlang und taucht die Hügel in sanftes Gold. Langsam werden auch die letzten Winkel beleuchtet und zeigen mir die morgendliche Realität: kein Rehwild da. Mein Trio hat sich mittlerweile zurück in die Hecken verzogen. Nach dieser kurzen Aufregung kehrt also wieder Ruhe ein, und ich bemerke jetzt erst, wie eiskalt meine Finger sind. Ich hauche mir in die Handhöhle und verfrachte die beiden Eisklumpen erst mal zurück in meine Jackentaschen.

Einen kleinen Funken Hoffnung habe ich noch, dass ich vielleicht ein zweites Mal Glück habe und sich in meiner direkten Umgebung Rehwild zeigt. Aber mit dem Fortschreiten der Zeit erwacht auch die Gemarkung nach und nach zum Leben. Der weiße SUV der Pferdebesitzerin ist bereits röhrend über den Schotterweg gegenüber gefahren, und in weiter Entfernung kann ich die Frühaufsteher-Gassirunden des Tages verfolgen. Und damit meine schwindende Hoffnung.

Wenige Minuten später laufen die ersten Nordic-Walking-Damen den Feldweg entlang, und ich beschließe, für heute genug gefroren zu haben. Auch Henri scheint über diese Entscheidung und die Aussicht auf ein geheiztes Haus recht zufrieden zu sein.

Langsam sammele ich meine Ansitzutensilien zusammen und lasse dabei die letzten beiden Stunden Revue passieren. Auch wenn ich nichts erlegt habe, weiß ich doch jetzt, dass in unmittelbarer Nähe passende »Stücke«1 sind, die ich mir bei nächster Gelegenheit noch einmal genauer anschauen werde, um dann zu entscheiden, ob vielleicht eines von ihnen erlegt werden sollte. Mit dem Gedanken »Nicht geschossen ist auch gejagt«, baume ich vom Hochsitz ab und starte zufrieden in einen neuen Arbeitstag im Weingut.

1 In der Jäger*innensprache steht »Stück« für ein Wildtier. Die Weidmannssprache ist eine über Jahrhunderte gewachsene, sehr bildliche Sprache, die das ausdrückt, was die Natur uns zeigt. Zudem wird die Jagd durchaus als Handwerk gesehen, wozu das Vokabular dann auch gut passt. »Stück« ist in jedem Fall keineswegs abwertend, sondern lediglich feststellend gemeint.

Was ist der Unterschied zwischen Jäger*in und Förster*in?

Jäger*innen haben eine Jagdscheinprüfung abgelegt und einen gültigen Jagdschein gelöst. Sie gehen in ihrer freien Zeit zur Jagd. Revierjäger*innen haben zusätzlich eine dreijährige Berufsausbildung absolviert und gehen der Jagd als Beruf nach.

Förster*innen gehen dieser Tätigkeit (meist) als Beruf nach. Sie haben eine dreijährige Berufsausbildung absolviert und/oder ein Studium.