Wilde Theorien - Pola Oloixarac - E-Book

Wilde Theorien E-Book

Pola Oloixarac

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Beschreibung

Eine Studentin bedrängt ihren Professor auf den Gängen der Fakultät, zwei superschlaue Trolle finden in ihrem Hass zueinander, und eine vergessene Theorie kann alles erklären. Eine philosophische Komödie über Macht, Verführung und die Schönheit der Niedertracht – barock, brillant-verrückt, erbarmungslos. Sie möchten sich von einem Roman verzaubern lassen? Literarische Figuren kennenlernen, mit denen Sie sich identifizieren können, die zu guten Freunden werden? In Wilde Theorien gibt es nichts davon – nur Intellektuelle mit empathiefreiem Weltzugang, Lust an der Provokation und dem unstillbaren Wunsch, zu dominieren. Die wunderschöne Erzählerin, eine Philosophiestudentin, trägt stets eine dreisprachige Aristoteles-Ausgabe bei sich, umkreist einen Ex-Guerillakämpfer und ist überzeugt, die Theorie ihres überforderten Professors endlich vervollständigt zu haben. Dann sind da die kleine Kamtchowsky und ihr Freund Pabst, so überhebliche wie hässliche Außenseiter, die in die Subkultur von Buenos Aires eintauchen, moralische Videospiele entwerfen und in ihrer Bilderstürmerei vor kaum einer Geschmacklosigkeit zurückschrecken. Und zuletzt gibt es einen niederländischen Anthropologen, der erklärt, wie die Bestie Mensch zum Menschen wird – bevor er im Urwald verschwindet … Ein überbordender, wilder Roman über das Irrlichtern großer Geister und eine jahrtausendealte, immer wieder hervorbrechende Gewalt.

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Aus dem argentinischen Spanisch von Matthias Strobel

Die argentinische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Las teorías salvajes bei Editorial Entropía in Buenos Aires, 2010 bei Editorial Alpha Decay in Barcelona und 2016 in überarbeiteter Form bei Penguin Random House in Buenos Aires.

Die Veröffentlichung wurde unterstützt vom Übersetzungsförderungsprogramm »Sur« des Außen- und Bildungsministeriums der Republik Argentinien.

Obra editada en el marco del Programa »Sur« de Apoyo a las Traducciones del Ministerio de Relaciones Exteriores y Culto de la República Argentina.

E-Book-Ausgabe 2021

© 2010 Pola Oloixarac, published in arrangement with Casanovas & Lynch Literary Agency S. L., Barcelona

© 2021 für die deutsche Ausgabe: Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

Covergestaltung: Julie August.

Datenkonvertierung bei Zeilenwert, Rudolstadt.

Alle Rechte vorbehalten. Jede Vervielfältigung und Verwertung der Texte, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für das Herstellen und Verbreiten von Kopien auf Papier, Datenträgern oder im Internet sowie Übersetzungen.

ISBN: 9783803143068

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3331 1

www.wagenbach.de

Für Maxie und EK

Ich widme diese deutschsprachige Ausgabe

Jorge E. Dotti, Professor und Muse,

der mir half, die Schönheiten der

deutschen politischen Philosophie zu entdecken,

in memoriam.

Alles Mitmachen, alle Menschlichkeit

von Umgang und Teilhabe ist bloße Maske

fürs stillschweigende Akzeptieren des Unmenschlichen.

Minima Moralia, 5

This thing of darkness I acknowledge mine.

The Tempest (V, I, 275)

1

Die Orokaiva auf Neuguinea praktizieren einen Übergangsritus, bei dem die Kinder, die initiiert werden sollen, Jungen wie Mädchen, zunächst von Erwachsenen bedroht werden, die hinter Büschen lauern. Die Verfolger, die Geister darstellen sollen, rennen hinter den Kindern her und schreien: »Du gehörst mir, mir, mir«; sie treiben sie auf ein Podest zu, wie es zum Töten von Schweinen benutzt wird. Den schrecklich verängstigten Kindern wird eine Kapuze übergezogen, sodass sie nichts mehr sehen; dann werden sie in eine abgelegene Hütte im Wald gebracht, wo sie zu Zeugen von geheimen Gottesurteilen und Martyrien werden, in denen die Geschichte des Stammes verschlüsselt ist. Wie von Anthropologen berichtet wird, kommt es nicht selten vor, dass einige der Kinder im Zuge dieser Zeremonien sterben. Die Kinder, die überleben, kehren irgendwann in das Dorf zurück, mit Masken und Federn ausstaffiert wie die Geister, von denen sie zu Beginn bedroht wurden, und nehmen an der Schweinejagd teil. Nicht als Beutetiere also kehren sie zurück, sondern als Raubtiere, und sie rufen genau die Formel, die sie vorher aus dem Feindesmund gehört haben: »Du gehörst mir, mir, mir.« Bei den Nuu-chah-nulth, Kwakiutl und Quileute im nordwestlichen Pazifik werden die kleinen Einzuweihenden von Wölfen – Männern mit Wolfsmasken – bedroht, die sie mit Lanzen vor sich hertreiben, hinein ins Zentrum der Angstrituale; erst wenn die Kinder diese esoterischen Torturen durchlebt haben, werden sie in die Geheimnisse des »Wolfskults« eingeführt. Das Leben der kleinen Kamtchowsky nahm seinen Anfang in der Stadt Buenos Aires während der »bleiernen Jahre«; ihr Zutritt zum Bewusstsein fiel in die Zeit des »alfonsinischen Frühlings«. Ihr Vater, Rodolfo Kamtchowsky, entstammte einer polnischen Familie, die sich in den Dreißigerjahren in Rosario niedergelassen hatte. Er war der einzige Mann im Haus; der frühe Tod der Mutter hatte dazu geführt, dass er bei seinen Tanten aufgewachsen war. Schon in der ersten Grundschulklasse legte er ein außergewöhnliches Talent für abstraktes Denken an den Tag; in der vierten Klasse äußerte sich seine Mathematiklehrerin, die an der Universität studiert hatte, lobend über seine formale Erfindungsgabe. Der kleine Rodolfo erzählte es seinen Tanten, die sich ein wenig erschraken und beschlossen, ihn bei Vollendung seines dreizehnten Lebensjahres zum Studium nach Buenos Aires zu schicken. Rodolfo war ein fröhliches, wenn auch sehr schüchternes Kind; er sprach nur wenig und schien manchmal nicht zu erfassen, was man zu ihm sagte. Als der Tag gekommen war, zog Rodolfo zu einer anderen Tante, gleich gegenüber vom Parque Lezama. Er ging auf die Otto-Krause-Technikerschule und schloss sie in Rekordzeit mit einem Ingenieursdiplom ab.

Seine Berufswahl und sein zurückhaltendes Naturell begünstigten den Umgang mit Mädchen nicht gerade: An der Fakultät hatte er lediglich zwei kennengelernt, und er hätte nicht einmal die Hand dafür ins Feuer legen können, ob sie überhaupt genügend Nachweise erbracht hatten, um als Mädchen gelten zu dürfen; ihre Bauart war eher rundlich-amorph, ein Merkmal, das auch seine Tochter einmal erben würde. Bald schon würde offenkundig, dass das Schicksal und das Votum für die Intellektualität aus Rodolfo ein zu Treue, Monogamie und Heterosexualität verdammtes Element geformt hatten. Da war es nur natürlich, dass er sich, kaum hatte die Vorsehung eine Frau in seine Nähe geführt (eine Angehörige der Einheit »Mädchen«), an sie klammerte wie gewisse Weichtiere, die so lange im Ozean herumschwimmen, bis sie ihren Muskelfortsatz ins Sediment rammen können wie eine Axt, und deren Schale oder Mantel die Fähigkeit besitzt, Kalkschichten abzusondern, die sich um den sie befeuchtenden Schleimfilm herumlegen; nach einiger Zeit bricht diese Kalkschicht auf, und das Weichtier übereignet sich wieder der Drift, also: dem Ozean oder dem Tod.

Er sah sie die Avenida Corrientes entlanggehen. Sie war etwas klein geraten, hatte dunkle Haare und trug einen engen Rollkragenpullover; die Augen waren schwarz ummalt wie eine Maske. Rodolfo hatte zwar schon Kenntnis ähnlicher empirischer Daten, deren einzige herausragende Qualität in der Fähigkeit bestand, absolut gewöhnlich und verallgemeinerbar zu sein, doch etwas in dieser Flut von Details – in den sich alternierend bildenden Falten unter den Pobacken, in dem aus ihrer hinteren Hosentasche ragenden Busticket – stellte sich ihm als übernatürlich dar. Etwas deutete auf einen Überschuss dessen hin, was Rodolfo sich von der Welt erhoffte. Diese Verbindung zwischen der Gesamtmenge der Umgebungsdaten und seiner persönlichen, nicht übertragbaren Eigenschaft als Augenzeuge, synthetisiert in »ihr«, ermöglichte Rodolfo die Erfahrung von Entschlossenheit. Er folgte ihr, als würde er sie beschatten; er konnte beobachten, dass auch andere ihr nachsahen. Während er in den spähenden Blicken der anderen die Existenz des sich im Entstehen befindenden Elements bestätigt fand (und in gewisser Weise dessen Wert), gelangte er zu dem Schluss, dass sie unmöglich nicht bemerkt haben konnte, dass er ihr seit mindestens zehn Querstraßen folgte; doch dieser Gedanke war für die gegenwärtige Etappe von keinerlei Bedeutung (er ahnte bereits, wie programmatisch dieser Vorgang war), und er beschloss, das Denken einzustellen.

Da geschah das Wunder: Es begann zu regnen, und Rodolfo hatte einen Schirm dabei. Der junge Ingenieur beschleunigte seine Schritte; aufgeregt sah er zu, wie sie lachend und ein wenig zerstreut seinen Schutz gegen die Elemente annahm. Sie betraten das Café La Giralda, um sich aufzuwärmen und abzutrocknen: Rodolfo war praktisch nicht nass geworden, weshalb er nur Ersteres tat; er wurde ein bisschen rot, was sie jedoch nicht zu bemerken schien. Sie zog ihren Rollkragenpullover aus, wodurch er einen Blick auf ihren fleischfarbenen BH erhaschte; Rodolfo verbarg seine Erektion, indem er sich so rasch wie möglich setzte. Sie bestellten heiße Schokolade, sie mampfte einige Medialunas dazu. An jenem Nachmittag erzählte ihr Rodolfo, beeindruckt von seiner Redseligkeit und auch von der ihren, aber auch entzückt von seiner offenbar angeborenen Fähigkeit, gleichzeitig zu sprechen und sie sich nackt vorstellen zu können, seine Tante aus Buenos Aires habe zu ihm gesagt, dass seine Tanten aus Rosario wohl als Prostituierte hätten arbeiten müssen, um seinen Unterhalt bestreiten zu können. Seine junge Gesprächspartnerin studierte im zweiten Jahr Psychologie; nonchalant entgegnete sie, in Wirklichkeit glaube er bloß, dass seine eigene Mutter diesem Gewerbe nachgehe. Nachdem sie diesen Satz beendet hatte, betrachtete sie ihr Spiegelbild im Fenster und lauschte mit der »gleichschwebenden Aufmerksamkeit« der Psychoanalyse; dann erforschte sie seine Reaktion. Rodolfos Mutter war an Krebs gestorben und hatte ihre letzten Jahre im Bett zubringen müssen; erstaunt biss Rodolfo Kamtchowsky in den schokoladengetränkten Churro, den er in der Hand hielt, und dachte nach.

Am nächsten Tag holte er sie von der Uni ab. Die Fakultät für Psychologie war als Teil des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften in dessen Hauptgebäude untergebracht, in der Avenida Independencia; der Fachbereich war unterteilt in die Bereiche »Psychosoziales« und »Humanistisches«. Wie Rodolfo gehörte auch die Mutter der kleinen Kamtchowsky zur ersten Generation der Mittelschicht, die sich mehr oder weniger massenhaft auf den Markt der Hochschulausbildung gestürzt hatte. 1968 hatte sich die Zahl der Absolventen im Studiengang Psychologie verdoppelt; von da an ließ sich ein explosives Wachstum verzeichnen, mit Ausschlägen nach oben von über vierhundert Absolventen zwischen 1973 und 1975. Der peronistische Aufstieg zur Macht hatte zur Folge, dass sich die Studienprogramme der Fakultäten von Grund auf änderten und die eigentlichen Inhalte zu Wahlfächern innerhalb eines Studienplans wurden, der der marxistischen Doktrin in all ihren Spielarten zugeneigt war. 1973 führte die Anpassung des Studienplans im Fach Psychologie zu einer stärkeren Betonung des Sozialen, was wiederum das Studienfach insgesamt auf gemeinschaftsorientierte Bereiche und Feldforschung ausrichtete. Zum Nachteil einer Berufsausbildung, die sich auf die jeweiligen Fächer und den zu erfüllenden Studienplan konzentrierte, legte der marxistisch gefärbte, epistemologische Ansatz das Augenmerk in erster Linie auf den Klassenkampf und interessierte sich erst im zweiten Schritt für den spezifischen Forschergeist der Wissensfelder, die nicht dem Partei-Imperativ unterlagen. Die Immatrikulationsstatistik brachte überraschende Zahlen zum Vorschein: Von allen Frauen, die ein Universitätsstudium aufnahmen, wählten über 45 Prozent das Studienfach Psychologie; an der Fakultät führte dies zu einem weiblichen Überhang von acht zu eins.

Für einen Akademiker war die Wahrscheinlichkeit, in Akt oder Potenz eine Beziehung zu einer Psychologin einzugehen, sehr hoch; bis dato jedoch hatte Rodolfo keine Einzige kennengelernt. Bis dato hatte er auch noch nie diesen Blick wissenschaftlicher Herablassung auf sich gespürt, der den tiefen Beziehungen zwischen unwissenschaftlichen Postulaten und der Welt auf den Grund gehen will. Damals gestattete es der psychoanalytische Jargon achtbaren und um Achtbarkeit bemühten Fachleuten, die gleichen genitalen Begriffe im Munde zu führen, für die im unverhohlen populären Milieu wie etwa dem Revuetheater noch vergeblich gestritten wurde. Die Vedettesshows konnten auf behördliche Anordnung geschlossen, bestimmte Filme verboten werden, aber der Psychoanalyse und ihrem begrifflichen Gefolge gelang es, in die feuchten Fugen der Mittelschicht einzusickern; sie wurde als eine Art linguistische Avantgarde wahrgenommen, die mit der »Freiheit des Denkens« verschwägert war, und der Schlüssel dafür lag zweifelsohne in ihrem medizinischen Ursprung, ihrer Daseinsberechtigung als Leidlinderungsmethode. Rodolfo erschien die Konstellation der Wörter, die seelenruhig um die analen und vaginalen Öffnungen kreisten, unfassbar gewagt, erwachsen, anders als alles, was er kannte (und gerade deswegen der Liebe ähnlich), und brachte ihn in der Folge an den Rand des Priapismus. Wenn sie sprach, ließ sie die Lider fallen, streute hie und da ein bedeutungsschwangeres Schweigen ein; sie wirkte intelligent, aber sicher konnte sich Rodolfo da nicht sein. Als sie ihm vom Ödipusmythos, der Vagina dentata des kleinen Hans und Melanie Kleins Mama-Auto erzählte, tat er sein Möglichstes, um seine Verblüffung zu überspielen; er musterte sie und versuchte unter der Wimperntusche und dem Lidschatten den erlesenen Ausbund an Bildung zu erahnen, der diese Albernheiten tatsächlich ernst nahm. Freilich fand er es verständlich, dass ihr zwischen Beziehung und militantem Engagement keine Zeit blieb, um etwas Ernsthaftes zu studieren. Als sie vom revolutionären Kampf sprach, davon, die Basis von ganz unten zu mobilisieren und ein für alle Mal die Schale des Individuums aufzubrechen, erlebte Rodolfo genügend Erektionen, um all den entrechteten Holzfällern aus dem Chaco den Mund mit Proteinen und fetthaltigen Fasern made in Kamtchowsky zu füllen. In einer dieser Phasen zeugten sie die kleine K.

2

Zeitgleich mit den sexuellen Rangeleien, die zur Geburt der kleinen Kamtchowsky führten, erhielt ein anderer junger Argentinier, damals noch ein kleiner Assistent an der Philosophischen Fakultät, in der Colonia Montes de Oca eine Stelle ad honorem als Pfleger von Jugendlichen mit Mikrozephalie. Er war so ungepflegt, plump im Umgang und anmaßend in seiner Prosa, dass seine Zukunft als bahnbrechender Theoretiker noch ungewiss war; streng genommen war sie überhaupt nicht absehbar. In jenen Jahren war das intellektuelle Habitat von Augusto García Roxler der Schatten. Da er sich stets in den schauerlich verwinkelten Bibliotheken der Medizinischen Fakultät herumtrieb und nur auf seine eigenen Ideen fixiert war (und auf die ungeheuren Zeichen, die sie zu bestätigen schienen), verlief seine Existenz abseits des majestätischen und blutgetränkten Korridors, auf dem sich die bedeutenden Ereignisse seiner Zeit abspielten.

Weil er zu schüchtern war, um besserwisserisch aufzutreten, und zu gewöhnlich, um rätselhaft zu wirken, sollte das Licht seines Genies erst Jahrzehnte später nach außen dringen. Tatsächlich würde es nur schimmern, in Dichte und Verhalten ähnlich den knochigen Fingern eines Blinden, der sich so gut er kann durchs Dunkel tastet; noch wichtiger jedoch ist, dass es nur ein einziges Bewusstsein berühren würde. Ein einziges Bewusstsein (das geeignete, das perfekte) würde über das Schicksal dieses Lichts entscheiden; es würde seine geschundenen Korpuskeln nähren, sie wieder zusammenfügen, würde wie ein Geist das grausame Antlitz der Tatsachen überfliegen. Vorher jedoch, weit vorher, als der junge Augusto sich als Student der Psychiatrie ausgab und seine Stunden damit zubrachte, mikrozephale Schädel zu vermessen und Schwachsinnige und Katatoniker für seine Experimente zu entkleiden, war da ein Buch und dank ihm ein mehrfaches Schaudern – eine Nacht –, in dem die Theorie zum ersten Mal an der Kruste der Welt schnupperte. Er war dreißig, vielleicht auch etwas älter, als er den ersten Entwurf dessen fertigstellte, woraus er später die Theorie der Egoischen Übertragungen entwickeln würde.

1917 schilderte der holländische Anthropologe Johan Van Vliet in einem Artikel in der Zeitschrift Nature Humanexperimente, die als eine Art Keimzelle der Egoischen Übertragungen gelten könnten. Professor Van Vliet, ein erklärter Bewunderer Jean-Jacques Rousseaus und manischer Reisender, sah nicht ein, dass sich ein Forschungsfeld allein auf betuchte Abendländer oder Proletarier aus verborgenen Regionen Europas beschränken sollte; um eine wahre Theorie der menschlichen Psychologie zu formulieren, eine Theorie, mit der sich die Verhaltensweisen des Menschen aufs Tiefste erfassen ließen, war es nötig, mit Elementen zu arbeiten, die nichts zu tun hatten mit dem Prozess der Anpassungschoreografie namens Kultur.

Für sein Experiment Ad intra res cogitans (so der Titel seines Tagebuchs) stellte Johan Van Vliet eine kleine Expedition nach Dahomey, dem heutigen Benin, Westafrika, zusammen. Dahomey war, dank seiner Vorgeschichte als Produzent von Palmöl und Sklaven während der über zwei Jahrhunderte anhaltenden Handelsbeziehung mit dem weißen Mann, ein relativ gut zugänglicher Ort für einen europäischen Reisenden. Einige Jahre vor seinem Besuch war die letzte schwarze Herrscherdynastie von Frankreich gestürzt worden; der diensthabende Konsul (der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Voltaire aufwies) zeigte den Franzosen, wie man zum Lager der Fon gelangte, das auf dem Weg zum nördlichen Dschungel errichtet war. In der medizinischen Abteilung des Konsulats erhielten die Doktoren Fodder und Fischer, in ihrer Eigenschaft als Schüler Van Vliets aus England angereist, jeweils eine Dosis Chinin gegen die Malaria. In ungeduldiger Erwartung, endlich den Dschungel zu betreten, blätterte Van Vliet bedächtig in einer alten Ausgabe des Figaro.

Die Fon bereiteten ihnen einen ziemlich freundlichen Empfang; sie überließen ihnen eines ihrer Zelte mit Blick zum Wald, gaben ihnen Rauchwaren. Die Fon glauben nicht an einen einzelnen allmächtigen Gott; für sie ist die Welt der Geister, die auf Erden leben, viel unbeständiger und komplexer. Kurz nach seiner Ankunft im Lager begann Professor Van Vliet – ein wahrer Pionier auf dem Gebiet des psychologischen Experiments – nur mit einem Lendenschutz bekleidet die Gegend zu durchstreifen. Er schmierte sich Schlamm auf seinen vielsitzenden Akademikerleib, damit er sich, »ohne gesehen zu werden«, im Dunkeln bewegen konnte. Er ging barfuß und blieb stundenlang stehen, um den Mond zu betrachten, der um einiges größer und heller war als der Mond, den er auf seinen Expeditionen ans Nordmeer kennengelernt hatte, als er Konflikthypothesen anhand von Polarspinnen erforschte. Manchmal schlief er auf dem porösen Boden ein, das Notizbuch in der Hand. Seine Beobachtungen schrieb er mit Tinte nieder, die aus Harz, Palmholz und verbrannten Knochen hergestellt war; beim Mischen dieser Tinte freundete er sich mit einem kleinen, schlitzäugigen Affenweibchen an. Getrieben von seinem Wunsch, die Sprache der Menschen zu sprechen, lernte er nebenbei die der Vögel, richtete sich mit seinen Notizbüchern im gestutzten Wipfel eines Baums ein, in dem zuvor Faulaffen gehaust hatten, und machte daraus ein provisorisches Studierzimmer.

In jenen Jahren erlebten psychologische Theorien ein veritables Hoch. 1917 vollendete Alfred Adler sein zweiundfünfzigseitiges Werk über die Homosexualität (in dem er nachwies, dass sie das Ergebnis eines Minderwertigkeitsgefühls gegenüber dem eigenen Geschlechtsorgan sei); 1920 veröffentlichte Sigmund Freund Jenseits des Lustprinzips; drei Jahre zuvor hatte Basilides, in einer kleinen Auflage für Freunde, seine Sieben Belehrungen der Toten drucken lassen (die Septem Sermones ad Mortuos, übertragen von Carl Gustav Jung); und 1926 gelangte Burrhus Frederic Skinner zu der Erkenntnis, dass es ihm völlig an literarischem Talent und relevanten Erfahrungen mangelte, legte daher seinen Schriftstellertraum ad acta und begann stattdessen mit einer Promotion in Psychologie. Angeregt von Bertrand Russells Notizen zur Theorie von John B. Watson, ließ er seinen ersten Experimenten mit Tauben (Superstition in the Pigeon, 1947) subtile maschinelle Modelle folgen, die auf Menschen und später (wenn auch nur in der Theorie) auf Megagruppen von Menschen angewendet wurden, und einen ähnlich gearteten Abstecher ins literarische Genre der Utopie, inklusive Schilderungen, wie Gemeinschaften von Kindern nach dem Credo der operativen Konditionierung und anderer Technologien der Verhaltenssteuerung erzogen werden.

Im Umfeld dieses Aufruhrs in der Psychologie ist es nicht verwunderlich, dass solch außerordentlich originelle Arbeiten wie die Johan Van Vliets, der keiner der vorgenannten Schulen angehörte, so leicht von der Zeit verschluckt wurden, so ohne Widerstand. Dieser Appetit der Zeit im Verbund mit den verworrenen Umständen des Verschwindens von Van Vliet im Dschungel sollte die neue Theorie schon bald führungslos werden lassen. Van Vliets Schüler Manfred Fodder, verantwortlich für die Publikation des afrikanischen sojourn in Nature, wurde schließlich von Burrhus’ Anhängern absorbiert; der andere, Marvin Fischer, lehrte die Theorie des Meisters noch in dem einen oder anderen Seminar, bis er irgendwann in die Fänge der Gruppe um Otto Rank geriet – der seinerseits vom Vater der Psychoanalyse der »antiödipalen Ketzerei« beschuldigt und exkommuniziert wurde. Keiner der Männer, die mit dem Genie Van Vliets in Berührung gekommen waren, wusste sich an den breiten Eichentischen der Universität zu dessen Medium aufzuschwingen. Keiner wusste die Lebenden in Spannung zu halten mit dem Konzepttheater des Holländers, den alle tot wähnten, keiner das Geraune einer Ausnahmetheorie im sublunaren Idiom der gewöhnlichen Akademiker zu beschwören. Ein Mensch mit einer Theorie hat etwas, das er rausschreien kann; aber ein Geist mit einer Theorie ist nicht viel mehr als ein halbgekautes Stück Brot, das im Mund seines Mediums umherschwimmt, sich gemeinsam gegen die Zähne wehrt, in Erwartung, phagozytiert, zerkleinert und ausgespuckt zu werden. Noch während sie die Kehlen verließen, klangen die akademischen Darstellungen Fodders und Fischers wie das Meckern zweier Ziegen, die in den Bergen umherstreunen, ohne dass ihnen jemand zuhört. Trotz Übersetzungen ins Englische und Deutsche blieben sie aufgrund des sie umgebenden Ohrensystems ein merkwürdiges, unverständliches Plärren; im besten Fall waren sie von anderen Theorien nicht zu unterscheiden. Im folgenden Jahr veröffentlichte Fischer Zerebrale Antworten und Egoische Übertragungen. Eine Einführung; und er traf sich mit Otto Rank, um in regelmäßigen Abständen seine Ideen zu erörtern. Doch bald darauf starb Fischer, ohne theoretische Nachkommen zu hinterlassen.

Die Colonia Montes de Oca (gegründet im Jahre 1915 als »Gemischte Heim-Kolonie für Geistig Zurückgebliebene«) ist ein zweihundertvierunddreißig Hektar großes Gelände in der Nähe der rund achtzig Kilometer von Buenos Aires entfernten Stadt Luján. Die Kranken wohnen in Pavillons mit viel Grün dazwischen – Pappeln, Akazien, Zypressen, Kasuarinen, Eukalyptus –, und weite Ebenen verlieren sich am Horizont; an den Rändern dieses Grüns bilden sich natürliche Sümpfe und schlammige Gruben, wo die Patienten manchmal ausrutschen und sterben; Tage oder Wochen können vergehen, bis Aasvögel sich zusammenrotten und den Ort des Ablebens anzeigen. Manchmal knabbern auch die Hunde des Anwesens an Kleidungsstücken oder menschlichen Knochen herum, und dann wird eine Karteikarte angelegt, die das Verschwinden dokumentiert. An jenem Ort geschah es in einer Gewitternacht, dass der junge Augusto – während er in seinem Zimmerchen in der Casa Médica auf seiner Pritsche lag und las, bäuchlings und im Pyjama – urplötzlich begriff, was es mit der Theorie Van Vliets auf sich hatte.

Aufgeregt und viel zu elektrisiert, um weiterhin ruhig dazuliegen, warf Augusto sich einen von seiner Mutter gestrickten Schal um und trat hinaus auf die baufällige Veranda der Casa Médica. Der Regen sickerte durch das hölzerne Dach; Tropfen fielen ihm, mit Splittern vermischt, ins Gesicht. Er dachte an das Antlitz Van Vliets, an dessen spitze, an den Flügeln sich ausbeulende Nase, ein Antlitz, das dem Porträt von Hobbes näherkam, als es sein eigener genetischer corpus jemals gekonnt hätte; dachte an seinen Schatten, der ihm aus dem Zentrum der Nacht entgegensah, den Mund und den Wolf. Er war auf eine unverstandene, praktisch unbekannte Theorie gestoßen; und was noch wichtiger war: Sie sprach mit der Stimme des Vorläufers seiner Fantasien. Die Tropfen fielen weiterhin, er streckte die Zunge heraus, um sie aufzulecken. Was er da in den Händen hielt, war das fetale Gewebe der Anschauung; jetzt musste er es nur noch gegen die Kehle seines Glaubenssystems pressen, alle Stimmen besiegen: abtauchen, die Welt unterdrücken, bis seine Mission erfüllt war! Ein Blitz entflammte den Himmel: In alle Richtungen war der Regen ein dichter Vorhang. Augusto trocknete sich das Gesicht ab und stieß einen Schrei aus. Auf dem Kiesweg näherte sich ein Gespenst.

Die Casa Médica liegt ein gutes Stück entfernt von den anderen Pavillons (Enuretiker, Schwachsinnige, Gewalttätige, Katatoniker, der für Gerontologie, Krüppel, Frauen); die Ausgangssperre gilt gleichermaßen strikt für Patienten und Personal, das die Casa Médica nachts nicht ohne besonderen Schutz verlassen darf. Ein Blitz verbrannte ihm die Netzhaut; das Denken transportierte ihn in Selbstgesprächen durch den Raum. Entsetzt stellte Augusto fest, dass ihn mehrere Meter von der Casa Médica trennten. Er sah die schwächlichen Beine, den spitzen Schädel eines männlichen, bis auf die Knochen durchnässten N. N., der weiß schimmernd auf ihn zukam. Dessen Gehirn mochte um die vierhundert Gramm wiegen, so viel etwa wie das Gehirn von Prévost, beschrieben von Paul Broca in seiner Studie über guillotinierte Mörder (»Le cerveau de l’assassin Prévost«, 1880, Bulletin de la Société d’anthropologie de Paris, S. 233 –244). Augusto öffnete den Mund und sagte nichts. Sein Schal rutschte ihm über die rechte Schulter, und er streckte die Hand aus, als könnte er ihn geistig berühren, ihn telekinetisch kontrollieren. Es war Titín, einer seiner Mikrozephalier. Der Regen tränkte seine Lumpen, die dreckverklebten Haare glitten ihm schlaff über die Wangen. Titín ließ seine Augen aufflammen. Ein Blitz des Entsetzens erhellte Augustos Gesicht, und Titín stieß einen Schrei aus, während er sich in Pawlowscher Manier seiner Kleider entledigte. Augusto schlüpfte augenblicklich zur Tür hinein, schob den Riegel vor und vergewisserte sich, bevor er sich niederlegte, dass alle Fensterläden gut verschlossen waren. Draußen tobte der Sturm über Feldern und Gräben, zuckten Blitze herab, erschauderten die Bäume.

Die Ideen, die aus der Kreuzung der drei aller Theorie zugrundeliegenden Agenten hervorgegangen waren (dem Vorläufer, dem Theoretiker, dem Opfer), verblieben über weite Teile des 20. Jahrhunderts in komatösem Zustand, bis, ohne dass eine auf den ersten Blick ersichtliche Verbindung dies bewirkt hätte, die von den Agenten eröffneten Möglichkeiten wie die Geister der Fon den genau richtigen Körper fanden, um in Erscheinung zu treten.

3

Seit ihrem elften Lebensjahr nahm Kamtchowsky an Gesprächsrunden teil, während derer Lehrerinnen sich bei ihren Schülern erkundigten, wie sie es mit der Masturbation hielten und ob bei den Jungs schon ein bisschen weißer Saft rauskomme; die Klassen waren gemischt, alle amüsierten sich köstlich. Die Lehrerinnen, um die dreißig, taten betont seriös; irgendeine kosmische Weisheit des Lehrplans sorgte dafür, dass der Unterricht in Biologie und der in Sexual- und Bürgerkunde häufig nacheinander stattfanden. Indem sich so die Idee von »Körper« mit der von »Kommunikation« verknüpfte, beabsichtigte man, mit dem Motto »Stellt ruhig alle Fragen, die ihr dazu habt« ein Bündnis zwischen Glück und Wissen zu beleuchten, aus dem sich dann die höhere Idee der »Sexualität« ergab. Die abstrakte Vorstellung von Lust erschien dadurch als jener Bereich des Denkens, der seine Entsprechung in der Wirkungsweise von Östrogen und Testosteron im Körper hatte, die sich wiederum in der Ansammlung von Fett an Pobacken und Brust bei den Mädchen und der Füllung der Hodensäckchen bei den Jungs manifestierte. Irgendwann (alle wussten, dass es kurz bevorstand) würde das nervöse Kichern übergehen in verstohlene Blicke zu einem Klassenkameraden oder einer Klassenkameradin, der oder die zustimmend nicken würde; dann wäre alles nur noch eine Frage von »sich gehen lassen«, vor allem bei den Mädchen, wofür es jedoch keine Anweisungen mehr gab.

Es war nur natürlich, dass sich in den Klassen eine gewisse Unruhe breitmachte. Dieser Befund gestattete es den Lehrerinnen, die Unanständigkeiten der Kleinen kaum zu beachten oder wenn, nur milde zu beschneiden; im Allgemeinen runzelten sie nur ein wenig die Stirn und kombinierten diese negative Botschaft schnell mit einer Dosis Zuneigung und wissendem Verständnis. Die Figur der Strafe hatte etwas programmatisch Flüchtiges; wie bei einem unheimlichen Gas, das den Sauerstoffaustausch über die Lungenbläschen blockiert, war es gerade ihre Abwesenheit, die im Unterricht allen das Atmen erlaubte. Die Ausbrüche von Gewalt und Chaos ließen sich zwar voraussagen, aber nicht vermeiden. Nötigenfalls wurden die Problemherde nach vorne gebeten; dann konzentrierten sich die Lehrerinnen darauf, sie sanft als Dummerchen darzustellen; so konnten sie das Zepter wieder in die Hand nehmen, ohne sich selbst als Unterdrückerinnen zu fühlen. Eine der Lehrerinnen beging einmal den Fehler, einen Jungen zu provozieren: »Wenn du so gern über deinen Pimmel sprichst, dann komm doch mal nach vorne und zeig ihn uns.« Der Junge nutzte die Gelegenheit, um einer Klassenkameradin in Gesicht zu pinkeln, deren anfängliches Kichern sich schnell zum Ausdruck des Entsetzens wandelte. Beim Elternabend zeigte sich manch einer konsterniert; zur Sprache kam schnell ein ähnlicher Fall, bei dem eine posttraumatische Belastungsstörung dazu geführt hatte, dass so etwas wie Apfelsaft für das Kind praktisch untrinkbar geworden war. Eines Tages ging Kamtchowsky in der Pause auf die Toilette und entdeckte, dass ihr Höschen mit Blut verschmiert war. Das Blut war dunkel, zähflüssig, schwer auszuwaschen. Als sie wieder zu Hause war, ließ sie mehrere Stunden verstreichen, bis sie es ihrer Mutter mitteilte.

Bei Einbruch der Nacht erklärte ihre Mutter ihr, sie habe sie nur deshalb nicht Carolina genannt, weil sie fürchtete, ihre Schulfreunde könnten Kacka zu ihr sagen: Die kleine Kamtchowsky war tatsächlich recht braun, aber das sei nicht der Grund gewesen, bemühte sich die Mutter hinzuzufügen. Die ominös leeren Vorhallen im Bewusstsein der kleinen Kamtchowsky begannen sich mit Gedanken zu füllen; sie boten Platz für die düstere Ahnung, dass da etwas Abstoßendes war, etwas wirklich Abstoßendes, das sie mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln verbergen musste, und plötzlich begriff sie, dass sie es schon von klein auf gewusst hatte, weil es schlicht und ergreifend keine Möglichkeit gab, es nicht zu wissen, wobei sie nicht mit Sicherheit hätte sagen können, um was es eigentlich ging.

Als die kleine Kamtchowsky alt genug gewesen war (elf), hatte ihre Mutter sie gebeten, die Notizhefte ihrer Tante Vivi abzutippen; sie spielte mit dem Gedanken, sie einem Verlag zur Veröffentlichung anzubieten. Sie ging davon aus, dass die fundamentale Wahrheit des Manuskripts, abgesehen von seiner unbestreitbaren historischen Bedeutung, auf der Verwendung des Präsens, den Schlampigkeiten der raschen Niederschrift und einer gewissen strukturellen Unordnung basierte; die Kleine sollte daher nur die Rechtschreibfehler korrigieren. Kamtchowsky schlug eine Taschengelderhöhung vor, allerdings erfolglos.

Kurz nach der Hochzeit von Ks Mutter war deren jüngere Schwester entführt worden, als sie in einer Fabrik in Avellaneda Flugblätter verteilte. Rodolfo Kamtchowsky half seiner frisch Angetrauten bei den entsprechenden Nachforschungen, aber viel konnten sie nicht tun. Vivi tauchte nie wieder auf; es gab das Gerücht, sie sei in der Mansión Seré gesehen worden, einer geheimen Haftanstalt im Vorstadtbezirk Morón. Vivi hinterließ einige geblümte Kleider, einen kaputten Winco-Plattenspieler und ein Tagebuch, abgefasst in der ersten und zweiten Person, in dem sie von den Ereignissen erzählte, die ihr Leben bis eine Woche vor der Entführung begleitet hatten. Die meisten Einträge in ihrem Tagebuch, das sie ab ihrem siebzehnten Lebensjahr führte, waren Briefe an Mao Tse-tung, den chinesischen Führer der Roten Armee; zur Tarnung war ein Buchstabe des Namens geändert.

Es handelte sich um Notizbücher mit festem Einband, Großformat. Sie hatte sie in einem kleinen Keller vergraben, wo es von der Decke tropfte, sie rochen ziemlich übel.

Lieber Moo:

Es liegt irgendsowas wie Zittern, Aufruhr, Wahnsinn und Zukunft in der Luft. Leben, muss man vielleicht sagen. Sie werden uns nicht zum Schweigen bringen, diese H… söhne! Wir erleben beschissene Tage, Moo, schwarze Tage. Persönlich wie politisch. Zwischen mir und L. läuft es nicht besonders gut, es fällt uns immer schwerer, einander nahezukommen. Außerdem glaube ich, dass er eine andere hat. Wir führen eine freie, offene Beziehung, ich weiß, aber ich komme mir vor wie eine Heuchlerin. Schließlich habe ich nie von ihm verlangt, dass wir wie diese bürgerlichen Pärchen werden – ganz im Gegenteil. Ich habe ihn immer unterstützt in seinem Kampf gegen die verrotteten Werte der Gesellschaft. Beide lehnen wir die Unterdrückung durch die Bourgeoisie ab und haben uns für einen neuen, leuchtenden, kompromisslosen Weg entschieden, auch wenn er voller Dornen ist. Wenn ich es nicht aushalte, tschüss, dann muss ich Platz machen, dann muss ich die Sache beenden, das weiß ich. Aber ich kann’s nicht, Moo. Denn ich liebe ihn wirklich, und deshalb tut es mir weh, wie die Dinge im Moment stehen. Mir ist bewusst, dass ich wenig tun kann, um etwas zu ändern, und wenn ich wirklich mit ihm zusammenbleiben will, dann sollte ich vielleicht besser meine Sicht auf die Dinge ändern.

Nur ein Beispiel: Neulich war er bei mir, wir waren richtig gut drauf, haben Mate getrunken und geredet, vor allem über ihn. Er hat erzählt, dass die Gesinnungsgenossen in seiner Revolutionären Basiseinheit sich neu organisiert haben, dass alle schrecklich aufgeregt sind. Plötzlich habe ich bemerkt, dass er irgendwie komisch ist, als wollte er mir etwas sagen, würde sich aber nicht trauen. Da habe ich zu ihm gesagt, dass er mir vertrauen kann, dass ich immer an seiner Seite sein werde (das war vielleicht ein bisschen kitschig, aber so habe ich es eben gesagt). Daraufhin hat er einen zerknitterten Zettel aus der Hosentasche gezogen und ihn vorgelesen:

Aber in welchem Argentinien leben wir denn?

Das Volk ging auf die Straße, um die Regierung zu verteidigen, die es sich ausgesucht hatte,

und die Polizei beschimpfte das Volk, vertrieb es mit Tränengas, überrollte es mit Motorrädern und Autos.

Das hätte sich nicht mal Lanusse erträumt.

Die wunderbare Jugend ging auf die Straße,

um kundzutun, dass vergossenes Blut nicht verhandelbar ist,

dass die treuesten Peronisten nicht in Haft sein dürfen,

dass man das siegreiche Volk vom 11. März und 23. September nicht verarschen darf,

indem man diejenigen zu Polizeichefs macht,

die es 18 Jahre lang unterdrückt haben,

dass man es nicht behandeln darf, als wäre es der Feind.

Die Leute formierten sich neu und schritten weiter voran.

Die Tatsachen sprechen für sich.

Als L. zu Ende gelesen hatte, stand ihm ins Gesicht geschrieben, wie aufgewühlt er war. Ich habe ganz sanft mit ihm gesprochen, habe gesagt, dass ich mich auch so ohnmächtig fühle wie er. Vor einigen Tagen waren sie von der Plaza Once vertrieben worden, ich war nicht dabei, weil ich meine Tage hatte, aber L. ist hin. Da hat er mich unterbrochen und gesagt: »Nein, Schätzchen, das ist ein Gedicht, ein Gedicht, das Silvina geschrieben hat. Puh, ich sollte dir solche Sachen nicht zeigen. Das ist was sehr Intimes.« Ich spürte, dass ich vor Wut rot anlief, ich schwör’s dir, Moo, am liebsten hätte ich ihm einen Tritt verpasst in seine, du weißt schon (wenn es so was Intimes ist, warum zeigst du mir’s dann?). Dann sagte er: »Dass sie Silvina heißt, habe ich nur zufällig erfahren. Das dürfte ich eigentlich gar nicht wissen, also sag bitte nichts zu niemandem.« Mir brannte das Gesicht, als hätte ich eine ganze Tüte Chilischoten gegessen, während er in aller Ruhe den Zettel wieder eingesteckt hat. Aber ich habe meine Wut runtergeschluckt, sie überspielt, indem ich so schnell geplappert habe wie nur irgend möglich:

»Ach ja? Und warum dürftest du das eigentlich gar nicht wissen?«

»Wegen unseres Kampfes, Vivi, weshalb denn sonst?«, sagte er bierernst. Dann wurde er ungeduldig, und nach einer Weile ist er gegangen. Entschuldige, Moo, aber das war doch kein Gedicht. Ja gut, sie hat es geschrieben, geschenkt, vielleicht hat’s ja nicht mal Rechtschreibfehler. Wäre ja schon mal was, wo die doch manchmal das V der Peronisten mit einem F machen, aber was bitteschön soll denn daran ein Gedicht sein? Ist ja gut, ich weiß, du wirst mir gleich vorwerfen, dass ich Vorurteile habe, dass ich das mit der Freiheit der Kunst nicht begriffen habe, das mit der Form ohne Form, sprich: dass ich mit der typischen Blindheit der Bourgeoisie geschlagen bin. Ich gebe ja zu, dass es durchaus etwas Gutes an sich haben kann, wenn es nicht wie ein Gedicht wirkt, so wie bei der Musik von Stockhausen (die, sagen wir, nicht sehr musikalisch ist). Plötzlich habe ich alles angezweifelt. Wenn L. noch ein Weilchen geblieben wäre, hätte ich ihn vermutlich ausdruckslos angestarrt.

Ich war dermaßen schlecht gelaunt, dass ich nicht einschlafen konnte, nicht denken, gar nichts konnte ich. So deprimiert war ich, dass ich sogar die Ausgabe von Siete Días durchgeblättert habe, die noch bei mir herumlag. Was für eine grottenschlechte Zeitschrift! Aber wenn das eben ein Gedicht war, dann ist diese Jeanswerbung auch ein Gedicht. (Auf dem Foto sind zwei Männer und eine Frau zu sehen, weite Schlaghosen, Schminke à la Nosferatu.)

Die Aufgetauchten

Sie sahen sie auftauchen wie leuchtende Geister

im Dämmerlicht der werdenden Nacht.

Sie waren jung und lachten über die Kälte.

Denn sie spürten das Streicheln ihrer Levi’s.

Sanft wie das klare Licht der Sterne.

Und warm wie der Schimmer eines Lagerfeuers,

die Aufgetauchten waren besessen

von der magischen Freude des Lebens.

Jetzt besaßen sie Levi’s.

Und sie sangen.

Aber die grauen Menschen – die Menschen, die glauben, dass die Freude nicht von dieser Welt ist – konnten sie nicht verstehen.

»Gespenster«, murmelten die Grauen.

Und sie versperrten die Türen und schoben die Kette vor.

Die Aufgetauchten sahen sie nicht.

Denn sie waren bereits singend

in die Nacht verschwunden.

Warm gehüllt in den Zauber ihrer Levi’s.

Ich bin keine von den Grauen. Ich bin es nicht und werde es auch nie sein. Ich setze mich nur für das ein, was wirklich wichtig ist. Ich glaube an meine innere Welt und bekämpfe die verschlossenen Herzen der Bourgeoisie. Mir geht’s nicht um eine individuelle Lösung. Mir geht’s um die Sache an sich, um das, was die Dritte Welt betrifft, und die Teile der Bevölkerung, die Tag für Tag Widerstand leisten. Ich verharre nicht reglos am Wegesrand, wie Benedetti schreibt, ich fülle mich nicht mit Ruhe an … Ach, Moo, ich versuche mich ja an die Vorstellung zu gewöhnen, ehrlich, ich versuche zu akzeptieren, dass unsere Beziehung auf Freiheit beruht, aber es ist so schwer. Alles zwischen uns ist frei, ja, sicher, aber es macht mich fertig, ich komme damit nicht zurecht. Neulich habe ich in der Basiseinheit vorbeigeschaut, nicht in der von L., weil ich genau wusste, was losgewesen wäre, hätte ich’s getan. Jedenfalls sollte ich mich setzen und warten, und während ich so dasaß, kam ein sauhübscher Kerl rein, dunkler Teint, lange lockige Haare, Riesenschnauzer. Was war ich froh, dass ich saß, weil nämlich mein Hintern ein bisschen flach ist (habe ich dir ja erzählt), und so fiel’s nicht auf. Er heiße Fernando, hat er gesagt – ob das wohl sein richtiger Name ist oder nur sein Deckname? »Hallo, Fernando, ich bin Vivi«, habe ich gesagt. Jedenfalls kam es mir nach zehn Minuten vor, als würden wir uns schon ein Leben lang kennen. Was ich gespürt habe, war so was von seltsam, Moo, als würden die Logik meiner Schritte und die Zahl meiner Tage (die Zeichen in meinen Träumen) mich dorthin führen, zu diesem Schreibtisch, ein und für alle Mal. Vielleicht übertreibe ich auch, weil ich gerade Borges gelesen hatte und diese Art, über Geschehnisse nachzudenken, sich irgendwie auf mich übertragen hat. Später habe ich es dann L. erzählt, am Telefon, und er hat aufgelegt. Hat mir nicht geglaubt.

Aber egal, ich bin nicht nachtragend, deshalb habe ich ihn besucht und ihm Album für Manuel geschenkt, weil wir beide Cortázar immer gut fanden und, tja, weil er für uns so eine Art Talisman ist. Ich weiß noch ganz genau, wie wir mal bei Pippo essen waren und L. mich »Maguita« nannte, wegen der Maga aus Rayuela, und wir dann zu ihm in die Wohnung sind und miteinander geschlafen haben und ich mich wie im siebten Himmel gefühlt habe, geliebt, so wie ich bin, von ihm liebkost. Moo. Nur um dir den Unterschied zu verdeutlichen, Moo: Jetzt hat er die Verpackung aufgerissen, das Buch kurz angeguckt und gemeint, das sei nur Mist. So ein Buch schade der Politik, aber noch mehr schade es der Literatur. Oder umgekehrt, je nachdem, was einem wichtiger ist. Woher willst du denn das wissen, wo du es doch gar nicht gelesen hast?, habe ich gefragt. L. besitzt eine gute Intuition, aber er ist kein Hellseher. »Na, weil ich neulich bei Pelado Flores war und er mir einige Stellen gezeigt hat … uff, ziemlicher Schund«, hat er sich aus den Fingern gesogen, der Idiot. Mir war gleich klar, dass er die Reportage über Cortázar in Crisis gelesen hatte und einfach die Provokationen des Interviewers nachgeplappert hat, den ganzen Nachmittag hat er gegen Cortázar gepöbelt, ihn mit Schimpfworten überzogen, als wäre er allein der Hüter der revolutionären Sache.

L. findet das Motto der Hippies dämlich. Make Love Not War: Wieso nicht beides? »Krieg ist ein Aphrodisiakum, Krieg törnt an. So wie die Liebe. Außerdem ist Sommer!« Wenn L. mich nach diesen Sprüchen geküsst hätte, dann hätte ich ganz allein den Volksaufstand organisiert, die Fünfte Internationale Pro-China und Pro-Vietcong, ich schwör’s. Und weißt du was? Anschließend würde ich alles verstaatlichen, dann wär’s das mit den Peroninskis, dann würden der Arbeiteraufstand und die Volksregierung das von alleine regeln. Ach, Moo, was gäbe ich dafür, ihn noch mal zwischen meinen Beinen zu haben und es ganz langsam zu machen, ihn ganz auf seine Kosten kommen zu lassen und dann gleich noch mal von vorne!

Damals ebbte in Kamtchowskys Leben die brasilianische Welle mit Gal Costa, Maria Bethânia und Toquinho ab, mit »Eu preciso te falar«, den Hits »Amanhã talvez« und »Lança perfume« von Rita Lee. Laut einer umfassenden Marketingstudie erklärte sich der kommerzielle Erfolg dieser Songs mit einer bestimmten klanglichen Ebene beim Abmischen der hohen Töne; offenbar hatten es sich die Toningenieure zum Ziel gesetzt, dieselben Glücksregionen im Gehirn anzuregen, die auch von Kokain stimuliert werden. Gegen jede vernünftige Erwartung kam auch das Lied »Conociéndote« von César »Banana« Pueyrredón wieder in Mode, und ebenso sein Nachfolger »No quiero ser más tu amigo«. Ihr Vater brach nach Chile auf, um den Bau einer Fabrik zu leiten; Kamtchowsky hörte einfach auf, ihn zu sehen.

Fünfzehn Jahre waren vergangen zwischen jenem ersten Blutvergießen und dem Beginn dieser Geschichte, fünfzehn Jahre, die für Kamtchowsky alles andere als einfach waren. Sie hatte längst zur Kenntnis genommen, dass sie auf andere körperlich nicht anziehend wirkte, dass ihre Mutter sie vermutlich am liebsten umbringen würde und dass sie sich nicht »gehen lassen« konnte. Sie hatte es an Mati überprüft, einem kleinen Klassenkameraden, der wie sie ziemlich hässlich war. Kamtchowsky versuchte sich dem Rhythmus anzupassen, lasziv den Mund zu öffnen und den Kopf nach hinten zu werfen. Einige der »sinnlichen« Momente lösten in ihr eher Unbehagen aus, sie tat aber dennoch ihr Möglichstes, um zu gefallen.