Wilderland – Der Wald - Gina Mayer - E-Book

Wilderland – Der Wald E-Book

Gina Mayer

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Beschreibung

Fantasy, Spannung und Action meets Coming-of-Age
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Das Experiment: Der vierzehnjährige Calum hat seine Eltern nie kennengelernt - und er spürt, dass er nicht nur deswegen anders ist als alle Jugendlichen, die er so kennt. Sein Leben ändert sich schlagartig, als er in seiner neuen Wohngruppe Jasleen, Skye und Miro begegnet. Was ist los mit diesen dreien – warum lehnen sie ihn ab, was verbergen sie vor ihm? Und warum fühlt er sich trotzdem von ihnen angezogen, besonders von der faszinierenden Skye und ihrem wilden Raben? Als die Jugendlichen zufällig feststellen, dass sie rund um die Uhr beobachtet werden, entdeckt Calum ihr Geheimnis: Sie alle sind das Ergebnis eines skrupellosen wissenschaftlichen Experimentes, sie sind Hybride aus Mensch und Tier – und sie werden ganz offensichtlich gejagt! So beginnt eine dramatische Flucht und für sie alle die Reise zu ihrem wahren Selbst ...

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Seitenzahl: 246

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Gina Mayer

Wilderland

Der Wald

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© 2025 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Carolin Liepins

Cover- und Innenillustration: Carolin Liepins

ck . Herstellung: AJ

Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-33732-2V003

www.cbj-verlag.de

Personen

Teil 1 — Die Stadt —

1

Macadamia Street 88.

Das Haus war blau verputzt, die Fassade war erst vor Kurzem gestrichen worden. Kleine Erker und Stuckornamente verzierten die Front. Die Fensterrahmen waren weiß lackiert.

Ein schönes Haus in einer schönen Straße – das war neu. Seit Calum sich erinnern konnte, hatte er immer in hässlichen Sozialbauten gewohnt, und zwar in den billigsten Vierteln der Stadt.

Mrs Drew fuhr noch ein Stück weiter, bis sie am Straßenrand einen Parkplatz fand.

Calum stieg aus und sog die Luft durch die Nasenlöcher. Es roch nach den ersten Veilchen, die im Vorgarten des Nachbarhauses blühten, nach warmem Sauerteigbrot und gedämpftem Knoblauch, irgendjemand in der Nachbarschaft kochte gerade.

Mrs Drew hängte ihre Handtasche über die Schulter, öffnete den Kofferraum und hievte Calums Rollkoffer auf die Straße. Sein ganzer Besitz steckte darin.

»Dann wollen wir mal«, sagte Mrs Drew. Die Rollen rumpelten laut, als sie den Koffer in Richtung Nummer 88 zog.

Calum schwang sich seinen Rucksack auf den Rücken und folgte ihr zum Eingang.

Es gab kein Graffiti auf der Fassade und die Klingelschilder waren allesamt ordentlich beschriftet. Auch das war neu. In seinem früheren Haus hatten die Mieter ihre Namen einfach auf ein Stück Kreppband gekritzelt und auf die Kunststofffelder geklebt.

Mrs Drew drückte die oberste Klingel. WG 3 stand auf dem Schild daneben. WG 3 war die Abkürzung für Wohngruppe 3, das wusste Calum, er hatte schließlich sein ganzes Leben in staatlicher Obhut verbracht. Zuletzt hatte er in einer Gruppe mit drei Mädchen gelebt. Seine Mitbewohnerinnen waren neun, Calum war vierzehn. Er war nicht allzu traurig gewesen, als Mrs Drew ihm mitgeteilt hatte, dass er umziehen musste.

Aber als sie ihm gesagt hatte, dass sein neuer Wohnort in Zukunft Newville, Maine, wäre, hatte ihn das ziemlich aus den Socken gehauen. Eine Kleinstadt in einem ganz anderen Bundesstaat der USA – damit hatte er nicht gerechnet.

Zwischen Chicago und Newville lagen laut Google Maps 706 Meilen. Bloß gut, dass er nicht so viele Freunde in Chicago hatte. Keinen einzigen, um genau zu sein.

»Wir haben wirklich alles versucht, um in Chicago eine neue Wohngruppe zu finden«, hatte Mrs Drew ihm erklärt. »Oder wenigstens in Illinois. Aber es war aussichtslos. Und in Maine hatten sie noch genug Plätze.«

Mrs Drew war die Sachbearbeiterin im Sozialamt, die für Calum zuständig war. Eine hochgewachsene, kräftige Frau mit kurz geschnittenen, dunkelbraunen Haaren, buschigen Augenbrauen und einer großen Warze am Kinn. Calum fragte sich immer, warum Mrs Drew ausgerechnet im Sozialamt arbeitete und nicht Gefängnisaufseherin oder Kampfhundezüchterin geworden war. Sie konnte überhaupt nicht mit Menschen umgehen und Calum hatte sie auch noch nie lächeln sehen.

Zu seiner Überraschung hatte sie darauf bestanden, Calum persönlich nach Newville zu bringen. Sie waren am Morgen in aller Frühe in Chicago losgeflogen. In Newville gab es keinen Flughafen, deshalb waren sie nach Augusta geflogen und den Rest der Strecke mit dem Mietwagen gefahren. Eine Stunde Flug, vier Stunden Autofahrt und während der ganzen Zeit hatten sie vielleicht fünf Sätze miteinander gewechselt. Calum war es recht, Small Talk lag ihm genauso wenig wie Mrs Drew.

Die Tür öffnete sich summend, ohne dass jemand über die Gegensprechanlage nachfragte, was sie wollten.

Im Treppenhaus roch es nach geschmorten Zwiebeln, Putzmittel und Parfüm. Vor nicht allzu langer Zeit war ein langhaariger Hund hier durchgelaufen, auch das roch Calum. Und es gab wohl ein paar Mäuse im Keller.

Ein Mann mit Schirmmütze und ausgebeulten Jeans stopfte gerade bunte Reklamezettel in die Briefkästen, die in einer Reihe an der Wand hingen. Sein Geruch wehte zu Calum herüber – bitterer, verbrannter Kaffee, verbrämt mit einer süßen Vanillenote.

Mrs Drew blickte sich um und zog missbilligend ihre buschigen Brauen hoch.

»Kein Aufzug«, sagte sie.

»Ich kann den Koffer nehmen«, bot Calum an, aber die Sozialarbeiterin hatte das schwere Gepäckstück schon angehoben und machte sich an den Aufstieg. Sie trug den Koffer so mühelos die Treppen hoch, als wäre er leer.

Als sie oben im vierten Stock ankamen, keuchten sie allerdings beide vor Anstrengung. Mrs Drew streckte gerade die Hand nach der Klingel aus, als die Wohnungstür geöffnet wurde. Vor ihnen stand ein sehr großer, athletischer junger Mann mit schwarzen Dreadlocks, die er oben auf dem Kopf zu einem zerzausten Dutt zusammengebunden hatte.

»Hey!«, sagte er und hob grüßend die Hand. »Da seid ihr ja endlich.«

»Guten Tag«, sagte Mrs Drew. »Ich bin …«

»Mildred«, sagte der Typ und streckte ihr seine große Pranke hin. Calum schnappte hörbar nach Luft. Mildred, das war Mrs Drews Vorname, aber niemand, wirklich NIEMAND nannte sie so. »Ich bin Kasim«, stellte sich der Mann vor. »Wir haben telefoniert.«

»Mrs Drew, bitte«, sagte Mrs Drew steif, während sie seine Hand schüttelte. Kasim grinste, als wäre das ein Witz, dann boxte er Calum spielerisch gegen die Schulter. »Du bist Calum, oder?« Er zwinkerte ihm zu.

»Ja.« Calum trat hinter Mrs Drew in die Wohnung. Der Geruch im Flur überwältigte ihn. Es waren so viele unterschiedliche Aromen auf einmal. Es roch nach Essen – asiatisch und ziemlich scharf –, nach Menschen, nasser Wäsche und Zitronenputzmittel. Das alles war normal für eine WG. Aber da schwang noch etwas anderes mit. Calum ließ seine Augenlider sinken, um sich ganz darauf zu konzentrieren.

»Gibt es hier Tiere?«, fragte er.

Kasim lachte. »Kellerasseln, Silberfischchen und einige Mäuse«, sagte er. »Aber die meisten Bewohner sind Menschen. Wieso fragst du?«

Calum zuckte mit den Schultern. Er redete niemals über seinen hervorragenden Geruchssinn. In der ersten Klasse hatte er mal damit geprahlt, dass er riechen konnte, was die anderen auf ihren Pausenbroten hatten, ohne dass sie ihre Vesperdosen rausholten. Danach hatten sie ihn monatelang nur noch Schnuffelnäschen genannt. Er hatte daraus gelernt, seitdem hielt er den Mund.

Es war faszinierend, was man alles riechen konnte. Nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit. Menschen, Hunde, Katzen, Vögel, Streifenhörnchen, Waschbären, Insekten, Autos und Maschinen hinterließen Geruchsspuren, die auch Stunden oder sogar Tage, nachdem sie einen Ort verlassen hatten, noch wahrnehmbar waren.

Manchmal roch Calum sogar die Gefühle von Menschen. Ob jemand Angst oder Stress hatte zum Beispiel. Auf Kasim traf beides schon mal nicht zu. Er war total relaxt. Auch wenn ihm vorhin beim Essenmachen etwas angebrannt war, der Geruch hing noch in der Luft.

»Ich zeig dir erst mal die Wohnung und dein Zimmer«, sagte Kasim. »Und stell dir deine Mitbewohner vor.« Er griff nach dem Koffer, den Mrs Drew in den Flur gezogen hatte, und ging mit einem theatralischen Ächzen in die Knie. »Das ist ja ein Klopper. Was hast du denn da drin? Steine und Beton?«

»Bücher«, sagte Mrs Drew. »Nehm ich mal an. Calum liest gerne.«

Calum warf der Sozialamtsfrau einen überraschten Blick zu. Woher wusste sie von seiner Leseleidenschaft? Er hatte ihr nie etwas davon erzählt.

»Mir nach!« Kasim stellte den Koffer vor einer Zimmertür auf der rechten Seite des Ganges ab. Er klopfte kurz an und lauschte. Als keine Antwort kam, öffnete er die Tür behutsam. »Das ist unser Wohnzimmer. Gerade niemand da.« Er trat ein Stück zur Seite und eröffnete den Blick in einen überraschend gemütlichen Raum mit zwei großen Sofas, gut bestückten Bücherregalen, einer Spielkonsole und einem großen Fernseher. Bunte Sitzkissen waren locker über den Boden verteilt.

Calum war beeindruckt. In den Wohngruppen, in denen er bisher gelebt hatte, war das Mobiliar uralt gewesen. Im Gemeinschaftsraum standen meist ein schrottiges Sofa und ein Fernseher aus dem letzten Jahrhundert. Falls es überhaupt Bücher gab, waren sie ebenfalls in einem miserablen Zustand. Oft fehlten die letzten Seiten, oder irgendein Spaßvogel hatte sie so zugeschmiert, dass man sie nicht mehr lesen konnte.

Deshalb hütete Calum seine Bücher wie einen Schatz. Er hielt sie immer unter Verschluss und verlieh sie nur an Leute, denen er absolut vertraute – also an niemanden.

Kasim hatte seinen Koffer inzwischen zur nächsten Tür geschleppt. Wieder klopfte er kurz an, aber auch in diesem Raum war niemand.

Das Zimmer sah aus, als ob hier gerade etwas explodiert wäre. Es gab zwei Betten, das auf der linken Seite war mit einem riesigen Haufen Kleider bedeckt. Obenauf thronte ein Paar gelbe Sportschuhe. Der Schrank daneben stand auf, in den Fächern herrschte das totale Chaos.

Auf den beiden Schreibtischen, die sich am Fenster gegenüberstanden, türmten sich Papier, Bücher, Hefte, Stifte, schmutzige Gläser und anderer Kram. Das Heftigste waren jedoch die Wände: jeder Zentimeter der Raufasertapete war überklebt mit Postern, Plakaten und Fotos. Und eigentlich zeigten alle Bilder dasselbe: Urwald. Manchmal mit Tieren, manchmal ohne.

Calum starrte auf ein Bild, auf dem ein Puma zu sehen war. Das passte ziemlich gut zu dem wilden Geruch, der den Raum durchdrang. Obwohl … er schnupperte möglichst unauffällig. Puma traf es nicht ganz, stellte er fest. Dieser Duft hier war deutlich milder und irgendwie runder.

»Das kann echt nicht wahr sein.« Kasim stemmte die Hände in die Hüften und schob das Kinn nach vorn. Er wirkte auf einmal überhaupt nicht mehr relaxt, sondern supersauer.

»Miro!«, brüllte er so laut, dass Calum und Mrs Drew gleichzeitig zusammenfuhren.

Sekunden später öffnete sich die gegenüberliegende Tür. Ein Junge streckte seinen Kopf in den Flur und sah Calum mit einer Mischung aus Zerknirschung und Trotz an.

Er hatte eine echt krasse Frisur. An den Schläfen waren die Haare abrasiert, oben auf dem Kopf raspelkurz geschnitten und mit schwarzen Punkten überzogen wie ein Leopardenfell. Von der Mitte der Stirn bis zum Nacken ragte ein knallroter Irokesen-Streifen in die Höhe.

Der Junge verströmte den Katzengeruch, der auch in dem vollgestopften Zimmer hing. Er passte zu ihm, dachte Calum.

»Was ist denn?«, fragte der Typ.

»Ich hab dir gesagt, dass du hier aufräumen sollst«, sagte Kasim mit einer schroffen Kopfbewegung nach hinten. »Verdammt, Miro, du weißt seit einer Woche, dass Calum heute ankommt. Was ist das denn für eine Begrüßung? In so einem Saustall …«

»Bist du der Neue?« Miro starrte Calum unverhohlen an. Seine hellen Augen waren mit Kajal schwarz umrandet, das gab seinem Blick etwas Dramatisches.

Calum nickte. »Calum.« Er streckte seine Hand aus.

Der Junge grinste ihn schief an. Wenn er lächelte, bildeten sich niedliche Grübchen in den Wangen, das passte überhaupt nicht zu seinem punkigen Styling. »Ich bin Miro.« Er ergriff Calums Hand und schüttelte sie. Seine Fingernägel waren schwarz lackiert und er hatte silberne Piercings in den Augenbrauen und der Nase. »Wir teilen uns das Zimmer. Tut mir echt leid für dich. Ich bin der totale Chaot.«

Mir tut es auch leid, dachte Calum. Nicht wegen Miro, der schien eigentlich ganz nett zu sein. Aber in der alten WG hatte er zumindest ein Einzelzimmer gehabt – mit einem der kleinen Mädchen hatten sie ihn ja wohl kaum zusammenstecken können. Jetzt musste er sich also wieder mit einem Mitbewohner rumschlagen.

»Wo kommst du her?«, fragte Miro.

»Chicago«, sagte Calum.

Miro nickte. Er wartete darauf, dass Calum weiterredete, doch das passierte nicht. Auch das war eine der Erfahrungen, die Calum in den vierzehn Jahren seines Lebens gemacht hatte – je weniger die anderen über einen erfuhren, desto eher verloren sie das Interesse. Desto einfacher wurde alles.

»Ich führ Calum jetzt hier rum und danach essen wir«, erklärte Kasim, der nicht mehr ganz so sauer wirkte. »In der Zwischenzeit räumst du auf. Ist das klar?«

»Mir ist das egal«, sagte Calum.

»Hast du gehört?«, rief Miro triumphierend. »Calum findet es cool, wie es ist.« Obwohl er das nun wirklich nicht gesagt hatte.

Kasim wies schweigend mit dem Kopf ins Zimmer. Miro seufzte übertrieben laut, dann verzog er sich in den Chaosraum und knallte die Tür hinter sich zu.

»Wo ist Miro hin?«, fragte eine Stimme genau neben Calum. Er fuhr herum und prallte dabei fast mit Mrs Drew zusammen, die ein Stück zur Seite gewichen war.

Ein zierliches Mädchen war in den Flur getreten, ohne dass sie es mitbekommen hatten.

Normalerweise roch Calum die anderen, lange bevor er sie sah. Und er hörte sie auch – seine Ohren waren nicht ganz so gut wie seine Nase, aber ebenfalls überdurchschnittlich.

»Jasleen!« Kasim verdrehte die Augen. Auch er hatte sich erschreckt, obwohl er mit dem Gesicht zu der Tür stand, durch die das Mädchen hereingekommen war. »Musst du dich immer so anschleichen?«

»Sorry.« Das Mädchen lächelte entschuldigend. Sie verströmte einen sandig-erdigen Geruch. Und sie hatte wunderschöne mandelförmige Augen, grün und heller als ihre Haut, das war ungewöhnlich. Ihre langen, dunkelbraunen Haare waren zu einem Zopf geflochten, die weite rote Pumphose war mit silbernen Blumen bestickt.

»Wir brauchen Miro«, sagte sie. »Wir sind mitten in einem Spiel.«

»Der ist aber erst mal beschäftigt«, erwiderte Kasim. »Das ist Calum, euer neuer Mitbewohner. Calum, das ist Jasleen.«

»Hi.« Jasleen strahlte Calum an. Sie war fast einen halben Kopf kleiner als er. Jasleen trug ein ärmelloses Halter-Top und auf ihrem linken Oberarm prangte ein ziemlich großes Tattoo: eine grün schillernde Schlange, die sich vom Ellenbogen bis zur Schulter wand. Das Maul war geöffnet, die Schlange zeigte ihre Giftzähne und die gespaltene Zunge. »Willst du mitspielen?«

»Jetzt lass ihn doch erst mal ankommen. Außerdem essen wir gleich.« Kasim klopfte kurz an die offene Tür und schob sie dann noch weiter auf. »Hallo, Skye! Ich muss mal kurz stören.«

2

Die Mittagssonne strahlte durch das große Fenster ins Zimmer und blendete Calum. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen an das helle Licht gewöhnt hatten. Sein Blick wanderte über die beiden Betten an der Wand, die mit farbenfrohen Patchwork-Quilts bedeckt waren. Die Schreibtische standen hier nebeneinander am Fenster. Auf einem bunten Flickenteppich hockte ein Mädchen.

Skye war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, auch ihre glänzenden kinnlangen Haare waren pechschwarz. Das Mädchen passte überhaupt nicht in den sonnigen, bunten Raum. Und in ihrem Gesicht passte irgendwie auch nichts zusammen: Die Augen waren viel zu dunkel für die blasse Haut, die Wangenknochen zu hoch, die leicht gebogene Nase war zu groß und der Mund zu breit. Und doch – oder gerade deswegen – sah sie fantastisch aus.

»Was gibt’s?«, fragte Skye, ohne zu lächeln.

»Das ist Calum«, stellte Kasim ihn erneut vor. »Skye, die Letzte im Bunde, sozusagen«, wandte er sich dann an Calum.

Calum sog den Geruch des Mädchens ein. Er hätte gerne die Augen geschlossen, um sich ganz darauf zu konzentrieren, aber das wäre zu auffällig gewesen. Skye verströmte einen luftigen, leichten, blumigen Duft. Noch etwas, das überhaupt nicht zum Rest ihrer Erscheinung passte.

»Hallo«, sagte sie, immer noch ohne eine Miene zu verziehen. »Willkommen in der Macadamia Street.«

»Von mir auch«, erklärte Jasleen, die plötzlich mitten im Zimmer stand. Sie musste sich an Calum vorbeigeschlängelt haben, ohne dass er es gemerkt hatte. Unglaublich.

»Ihr beiden könnt euch schon mal die Hände waschen«, sagte Kasim. »Wir essen gleich.«

Kasim zeigte Calum und Mrs Drew noch den Rest der Wohnung – ein großes Bad und eine Gästetoilette und ein Schlafzimmer mit Schreibtisch, das von den Betreuern zum Übernachten und für Büroarbeiten benutzt wurde. Danach gingen sie in die Küche, die dem Wohnzimmer gegenüberlag. Der große Esstisch, der vor dem bodentiefen Fenster stand, war bereits gedeckt. Jasleen stellte soeben zwei dampfende Töpfe auf den Tisch, Skye schenkte Wasser in die Gläser. Miro wusch sich die Hände am Spülbecken, offensichtlich war er schon fertig mit Aufräumen.

»Es gibt Curry«, sagte Kasim zu Calum und Mrs Drew. »Vegetarisch. Ich hoffe, ihr mögt beide scharfes Essen.«

»Sonst wirst du hier leider verhungern«, ergänzte Jasleen, an Calum gewandt. »Kasim kocht nämlich immer total scharf.«

»Für mich bitte nur eine Kleinigkeit«, sagte Mrs Drew, während sie sich neben Kasim auf die Küchenbank setzte. »Ich muss gleich los.«

»Ist ja auch eine ordentliche Strecke nach Chicago«, sagte Kasim. »Ich find’s total nett, dass du Calum hergebracht hast, Mildred.«

Mrs Drew zuckte auch jetzt wieder merklich zusammen, als er sie beim Vornamen nannte.

»Wer sind denn die anderen Betreuer?« Mrs Drew breitete ihre Serviette über die taubenblaue Anzughose. »Und wie sehen Ihre Schichten aus?«

»Also, ich bin sozusagen der Hauptansprechpartner für die Kids«, erklärte Kasim. »Am Wochenende und in den Ferien bin ich von zehn Uhr morgens bis abends um sieben hier, wenn Schule ist, komm ich später. Ich hab zwei freie Tage in der Woche, aber die variieren. Nach meiner Schicht kommt Jackie, die auch hier pennt und das Frühstück macht. Sie übernimmt, wenn ich freihabe, dann macht Yan den Nachtdienst. Die Junior High ist übrigens ganz in der Nähe, zwei Stationen mit dem Bus oder eine Viertelstunde Fußweg. Am Montag geht’s wieder los.«

»Nur nicht daran denken«, sagte Miro.

»Apropos – nicht dran denken«, sagte Kasim. »Wie sieht das Zimmer aus?«

»Alles picobello.«

»Wirklich?«, knurrte der Betreuer. »Ich werde das gleich mal checken.«

»Die Jugendlichen werden also die ganze Zeit betreut?« Mrs Drew ließ den vollen Löffel wieder sinken, den sie gerade zum Mund hatte führen wollen. »Rund um die Uhr?«

»Nee, also das wäre ja wohl übertrieben. Die sind schließlich keine Kleinkinder. Oder Schwerverbrecher, die man bewachen muss. Aber grundsätzlich ist immer jemand hier und wir sind auch immer ansprechbar.« Kasim grinste, doch Mrs Drew verzog keine Miene.

Calum nahm einen Bissen Curry und stellte fest, dass das Essen wirklich scharf und richtig lecker war. Eine echte Verbesserung. In der früheren WG waren die Mahlzeiten geliefert worden, das Essen war meist kalt und schmeckte immer abscheulich.

»Wieso bist du aus Chicago weg?«, fragte Miro mit vollem Mund. »Darf man das wissen?«

Calum hob seine Schultern und ließ sie wieder fallen.

»Es gibt ein Betreuungsproblem in Illinois«, erklärte Mrs Drew an seiner Stelle. »Calum war für seine Wohngruppe zu alt und wir haben in keiner Einrichtung einen Platz für ihn gefunden. Deshalb mussten wir auf Maine ausweichen.«

»Heißt das, dass du nur übergangsweise hier bist und dann wieder nach Chicago zurückgehst?« Jasleens schmale Augen richteten sich auf Calum.

»Wir werden alles tun, um das zu verhindern«, sagte Kasim, bevor Calum antworten konnte. »Ich hab das Gefühl, Calum passt hier super rein.«

Die anderen schienen da nicht so sicher zu sein, jedenfalls sagte keiner am Tisch was dazu.

Mrs Drew griff zu der Serviette auf ihrem Schoß und tupfte sich damit den Mund ab.

»Ich muss mich nun leider auf den Weg machen.« Sie hatte kaum etwas gegessen. Vielleicht mochte sie kein Curry. »Bitte, bleiben Sie sitzen!«, wehrte sie ab, aber Kasim war bereits aufgestanden.

»Gute Reise, Mildred.« Er reichte ihr die Hand. »Und noch mal Danke für deine Mühe.«

Sie nickte kurz, dann trat sie zu Calum, der sich ebenfalls erhoben hatte. In ihrem geradlinigen, strengen Geruch, den Calum so gut kannte, schwang etwas Fremdes mit. Mrs Drew roch, als ob man sie bei etwas Verbotenem ertappt hätte. Schuldbewusst. Und beunruhigt.

Warum war sie beunruhigt?

»Bringst du mich noch zur Tür, Calum?«, fragte sie.

Ungewöhnlich. Mrs Drew war die unsentimentalste Person, die man sich vorstellen konnte. Verabschiedungen hielt sie immer so kurz und knapp wie möglich.

»Klar«, sagte Calum.

Im Treppenhaus blickte sich Mrs Drew erst mal misstrauisch um. Niemand da, die WG war die einzige Wohnung im vierten Stock. Dann streckte sie Calum endlich ihre Hand hin.

»Alles Gute für dich. Ich hoffe, dass du dich schnell hier einlebst.«

»Wird schon werden«, sagte Calum. »Gute Rückreise. Und danke fürs Begleiten.«

»Nichts zu danken.« Mrs Drews Stimme klang seltsam belegt. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas zu sagen.

»Also dann …« Calum warf unwillkürlich einen Blick über die Schulter. Er hätte sich nicht gewundert, wenn Jasleen wieder hinter ihm gestanden hätte, aber der Flur war leer.

Mrs Drew fasste ihn am Ellenbogen und zog ihn hinaus ins Treppenhaus. »Wenn irgendwas ist«, raunte sie ihm leise zu, »dann meldest du dich bei mir, hörst du?« Sie öffnete ihre Handtasche, kramte darin herum und holte schließlich eine Visitenkarte und einen Kugelschreiber heraus. Sie legte die Karte gegen die Wand und kritzelte eine Nummer darauf. »Bei mir persönlich«, flüsterte sie und gab ihm die Karte.

»Okay.« Er ließ die Karte in seiner Hosentasche verschwinden. »Was soll denn sein?«

Doch Mrs Drew hatte sich bereits abgewandt. Ohne den Kopf zu ihm zu wenden, hob sie die rechte Hand, winkte ihm zu und verschwand auf der Treppe.

3

Nach dem Essen räumten sie gemeinsam die Küche auf, danach spielten sie im Wohnzimmer Monopoly. Kasim zog sie alle fürchterlich ab, nach kurzer Zeit gehörten ihm alle roten und orangen Straßen, auf die er immer mehr Häuser und Hotels baute. Jedes Mal, wenn man darauf landete, musste man eine saftige Gebühr zahlen.

»Was bist du noch mal von Beruf?«, fragte Miro, der als Erster pleite war. »Sozialarbeiter? Du hättest Banker werden sollen.«

»Im richtigen Leben bin ich nicht so gut mit Geld.« Kasim bündelte ein paar Tausender und legte den Stapel vor sich. »Leider.«

Kurze Zeit später ging auch Jasleen in Konkurs. Sie erklärten Kasim zum Sieger und beendeten das Spiel. Miro ließ sich aufs Sofa fallen und griff nach der Fernbedienung der Spielkonsole. »Jemand Lust auf eine Runde Sniper Force?«, fragte er.

»Ich muss noch ein bisschen an den Schreibtisch.« Kasim verzog sein Gesicht. »Abrechnungen.«

Jasleen hatte ihr Smartphone aus der Tasche geholt und schrieb eine Textnachricht. Skye schnappte sich ihr Buch und verzog sich damit auf einen Sessel. Calum schielte verstohlen auf den Titel.

Hacking & Security. Handbuch für die Praxis.

Meine Güte, wer las denn so was?

»Vielleicht hat Calum ja Lust zu spielen?«, fragte Kasim.

Calum fuhr zusammen. »Ich? Nee, sorry, bin total alle.«

Er hob entschuldigend die Hand und beeilte sich, aus dem Raum zu kommen. Er hasste Ballerspiele. Außerdem musste er es ausnützen, dass Miro erst mal beschäftigt war. Das mit dem Zweierzimmer würde ihn noch ganz schön stressen, da war er sich sicher.

Miro hatte wirklich aufgeräumt, stellte Calum fest, als er das Zimmer betrat. Der Kleiderstapel auf seinem Bett war verschwunden und die Schreibtische waren ebenfalls leer. Wie es im Schrank und in den Schreibtischfächern aussah, wollte er lieber nicht wissen.

Kasim hatte Calums Koffer und den Rucksack ins Zimmer gestellt, eigentlich hätte er jetzt seine Sachen auspacken können. Stattdessen ließ er sich auf sein Bett fallen, verschränkte die Hände im Nacken und starrte an die Zimmerdecke.

Er musste wieder an Mrs Drew denken, an die seltsamen Worte zum Abschied. Wenn irgendwas ist, dann meldest du dich bei mir. Und dieser Geruch von Schuldbewusstsein und Besorgnis, den sie verströmt hatte.

Vielleicht ist sie einfach nur einsam, dachte Calum. Und erkennt in mir den Sohn, den sie gerne gehabt hätte. Er schauderte. Mrs Drew als Mutter, das musste nun wirklich nicht sein.

Er drehte sich auf den Bauch, angelte nach seinem Rucksack und zog ein Buch heraus – einen dicken Fantasyroman, den er gestern begonnen und leider fast schon ausgelesen hatte. Er musste hier in Newville als Allererstes eine Bibliothek finden, um an neuen Lesestoff zu kommen.

Er hatte gerade angefangen zu lesen, als an die Tür geklopft wurde.

»Ja?«

»Hi.« Es war Skye. Sie streckte ihren Kopf ins Zimmer und sah ihn an, ohne dabei zu lächeln. »Stör ich?«

»Nee, komm rein.« Er klappte das Buch zu und setzte sich hin. Sie schnappte sich einen der Schreibtischstühle, ließ sich rittlings darauf nieder und musterte ihn. Ihre Iris war so dunkel, dass die Pupillen darin verschwanden. Schwarze Löcher, dachte Calum.

Er spürte, wie etwas in seiner Brust zu flattern begann, wie ein Schmetterling, der versucht, durch ein geschlossenes Fenster nach draußen zu kommen. Was ging denn hier ab?

»Stimmt das, was deine Sozialtante gesagt hat?«, fragte Skye. »Bist du wirklich nur hier, weil sie in Chicago keinen Platz für dich gefunden haben? Oder hast du was ausgefressen und musstest zur Strafe die Stadt verlassen?«

Calum lachte. »Nee, bestimmt nicht.«

»Was ist mit deinen Eltern?«, erkundigte sich Skye. »Gibt’s die noch?«

Was war das hier – ein Verhör? Auf jeden Fall kam Skye direkt zur Sache. Normalerweise drucksten die Leute erst eine Weile herum, bevor sie fragten, was sie alle am meisten interessierte: Warum Calum nicht bei seiner eigenen Familie wohnte. Vermutlich hatte Skye dieses Rumgeeiere genauso satt wie Calum, sie hatte es ja wohl genauso oft erlebt.

»Beide tot«, sagte er knapp. »Autounfall vor fünf Jahren.«

»Echt?« Skye sah ihn mit schief gelegtem Kopf an. Ihr Gesicht verriet keine Regung, aber sie roch irgendwie – enttäuscht. Als hätte sie lieber eine andere Geschichte gehört.

Dabei war es eine glatte Lüge, er hatte seine Eltern nie kennengelernt und auch keine Ahnung, wer sie waren. Aber wenn er erzählte, dass sie erst vor einigen Jahren gestorben waren, hörten die Fragen sofort auf.

In Wirklichkeit war Calum in einer Babyklappe gefunden und danach an Pflegeeltern vermittelt worden. Eigentlich hatten Laura und Nick ihn auch adoptieren wollen, aber dazu war es nie gekommen. Die Chemie zwischen ihnen hatte einfach nicht gestimmt – so hatte Laura es jedenfalls ausgedrückt.

Mit acht war Calum in seine erste Wohngruppe gekommen – eine echte Chaotentruppe. Fünf Jungen in unterschiedlichem Alter. Calum war der Einzige, der nicht ständig die Schule schwänzte. Er schrieb gute Noten, nahm keine Drogen, baute keinen Mist. Die anderen Jungen fanden ihn bescheuert, und seine Betreuer mochten ihn ebenfalls nicht besonders, das spürte er genau. Seine Verschlossenheit und sein absolutes Desinteresse an anderen Leuten standen ihm im Weg. Mit so was machte man sich keine Freunde. Wollte er ja auch gar nicht.

Vier Jahre später war er dann in die nächste Gruppe gekommen, die mit den kleinen Mädchen. Und jetzt war er hier. Fest entschlossen, die anderen auf Abstand zu halten.

»Und du?«, fragte er, weil er sie von sich ablenken wollte. Skye war anders als die anderen, das war ihm inzwischen klar, sie würde so schnell nicht aufhören zu bohren.

Sie überhörte seine Frage einfach.

»Hast du keine Großeltern?« Sie blinzelte ein paarmal mit ihren langen schwarzen Wimpern.

»Die sind schon im Pflegeheim«, schoss er zurück.

»Wart ihr euch ähnlich, deine Eltern und du?«

Hallo? Was waren das eigentlich für seltsame Fragen?

»Wie – ähnlich?«, fragte er zurück.

»Siehst du einem von ihnen ähnlich?«, präzisierte sie.

»Willst du auf irgendwas Bestimmtes raus?« So langsam wurde er misstrauisch.

»Nee.« Sie lächelte, zum ersten Mal, seit sie sich kannten. »Ich bin nur neugierig.«

Er starrte sie schweigend an. Das war seine wirkungsvollste Waffe, das brachte wirklich jeden dazu, den Rückzug anzutreten. Calum hatte leuchtend goldbraune Augen. Stechende Augen, wie seine Pflegemutter Laura einmal gesagt hatte. Wenn der einen anguckt, wird einem ganz anders.

Das hatte sie natürlich nicht zu Calum gesagt, sondern zu ihrer besten Freundin Lizanne. Calum hätte das Ganze gar nicht hören sollen, er war aber zufällig gerade in den Raum gekommen.

Falls Skye seinen Blick ebenfalls als stechend empfand, ließ sie sich davon nicht beeindrucken. Sie starrte genauso ungeniert zurück. Calum hatte das unangenehme Gefühl, dass ihn ihre schwarzen Augen anzogen wie zwei Abgründe. Er wandte als Erster den Blick ab.

»Reicht das?« Sein Ton war unfreundlicher, als er es beabsichtigt hatte.

Skye nickte und stand auf. Sie ging zur Tür und verließ den Raum, ohne sich zu verabschieden. Im ersten Moment dachte Calum, dass sie sauer war, weil er sie so abgefertigt hatte. Doch das hätte er gerochen. Skye ging, weil sie erfahren hatte, was sie wissen wollte. Sie war fertig mit ihm.

Calum nahm sein Buch wieder auf. Aber irgendwie hatte er jetzt auch keine Lust mehr zu lesen.

In Maine waren gerade Frühlingsferien, am Montag würde die Schule wieder beginnen. Calum hatte noch in Chicago die Kurse ausgewählt, die er in der neuen Schule belegen würde. Kasim ging mit ihm in die Stadt, damit er die Hefte und Bücher besorgen konnte, die er dafür brauchte.

Newville war noch kleiner, als Calum gedacht hatte. Die Fußgängerzone umfasste gerade mal drei Straßen, man hatte sie in ein paar Minuten durchquert.

Es war eine reiche Stadt, auch das sah man auf den ersten Blick. Die Läden, die Cafés, das Eis – alles war hier viel teurer als in Chicago. Die armen Leute wohnten in einem Viertel weiter draußen, erzählte Kasim. Allzu viele gab es von ihnen wohl nicht.

Die Wohngruppe war eine klare Verbesserung zu früher. Beide Betreuer fand Calum total nett. Mit Jackie, die die Nachtschicht hatte und morgens das Frühstück machte, hatte Calum nicht so viel zu tun wie mit Kasim; sie kam ja immer erst nach dem Abendessen. Auch sie ließ den Jugendlichen eine Menge Freiheit, wenn es jedoch zu laut oder zu chaotisch wurde, griff sie energisch durch, das fand Calum gut.

Selbst das mit dem Zweibettzimmer klappte überraschend gut. Calum hatte den Raum nämlich die meiste Zeit für sich allein. Miro hing eigentlich die ganze Zeit mit den Mädchen ab. Manchmal hockten sie im Wohnzimmer, aber viel öfter hielten sie sich im Zimmer der Mädchen auf. Calum hatte keine Ahnung, was sie da drin machten. Er wollte es auch nicht wissen.

Obwohl er kaum da war, schaffte Miro es innerhalb kürzester Zeit, sein Bett und seinen Schreibtisch wieder in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Doch Calums Zimmerhälfte ließ er in Ruhe, das war die Hauptsache.

Die ersten Tage in einer neuen Schule waren die schwierigsten. Calum hielt sich an sein bewährtes Erfolgsrezept – so wenig wie möglich reden, keine Fragen stellen, bloß nicht auffallen – und er stellte befriedigt fest, dass ein Großteil seiner Mitschüler ihn schon am dritten Tag nicht mehr richtig beachtete. Bei den Lehrern dauerte der Prozess erfahrungsgemäß immer ein bisschen länger, aber auch die würden ihn bald übersehen.