WilderReich (Band 1) - Eine schicksalhafte Prüfung - Amanda Foody - E-Book

WilderReich (Band 1) - Eine schicksalhafte Prüfung E-Book

Amanda Foody

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Beschreibung

Wilde Kreaturen und ungezähmte Magie … Barclay hasst Abenteuer. Viel lieber möchte er sein Leben als gewöhnlicher Pilzsammler in Biederford verbringen. Bis er eines Tages versehentlich die oberste Regel des Dorfes bricht: Gehe nie zu tief in den Wald, denn dort lauern gefährliche Kreaturen! Prompt wird Barclay von einem solchen Geschöpf angegriffen. Von nun an trägt er ein goldenes Mal auf seiner Haut und besitzt außergewöhnliche Kräfte. Jetzt gilt Barclay als Wilderweise - als einer jener Menschen, die ihr Leben den wilden Biestern verschrieben haben und die in Biederford geächtet werden … Der mitreißende Auftakt einer fesselnden Fantasyreihe! Der Auftakt einer mitreißenden Fantasyreihe für Kinder ab 10 Jahren, die Abenteuer, Spannung und Wildnis miteinander verbindet. Freundschaft und Identität treffen auf Wald und Tiere – die packend erzählte Geschichte sorgt mit kreativen Wortfindungen für spannende Unterhaltung. Fantasyfans von Woodwalkers, Animox und Endling werden großen Spaß am Lesen haben! Der Titel ist bei Antolin gelistet.

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Für Jelly Bean – mein Nickerchen, Bauchkraulen und Zoomies liebendes wildes Biest

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Barclay, Viola und …

Kapitel 2 – Auch wenn Biederford …

Kapitel 3 – Barclay wachte inmitten …

Kapitel 4 – In Biederford war …

Kapitel 5 – Als Barclay hinte …

Kapitel 6 – G…gehen?«, stammelte Barclay …

Kapitel 7 – Je tiefer die …

Kapitel 8 – In den Bibliotheksbüchern …

Kapitel 9 – Nach drei weiteren …

Kapitel 10 – Je weiter Barclay …

Kapitel 11 – Barclay fand Viola …

Kapitel 12 – Draußen hatte es …

Kapitel 13 – Die schriftliche Prüfung …

Kapitel 14 – Am nächsten Morgen …

Kapitel 15 – Barclay erzählte den …

Kapitel 16 – Am Vortragstag, dem …

Kapitel 17 – Am Morgen der …

Kapitel 18 – Gefällt dir diese …

Kapitel 19 – Trotz seiner Verletzung …

Kapitel 20 – Da die dritte …

Kapitel 21 – Ich versteh’s nicht …

Kapitel 22 – Sie waren es …

Kapitel 23 – Die Mitte des …

Kapitel 24 – Die Waldwege fielen …

Kapitel 25 – Barclay, Viola und …

Ein Reisetagbuch gefährlicher Wilderbiester

Barclay Torn wusste so gut wie alles, was es über Pilze zu wissen gab, und das war viel.

Er wusste, dass die giftigen nie auf Bäumen wuchsen. Er wusste, dass die roten mit weißen Punkten Warzen zwischen den Zehen verursachten, die weißen mit roten Punkten hingegen Furunkel, Schwellungen und alle möglichen Arten von Pusteln heilten. Er wusste, welche Pilze einen schläfrig oder wahnsinnig machten oder gar völlig außer Gefecht setzen konnten, wenn man nicht vorsichtig war.

»Du sollst doch Notizen machen«, fauchte Barclay Selby an. Beide Jungen waren bei dem äußerst angesehenen Pilzbauern der Stadt, Meister Fungus, in der Lehre, und weil Barclay älter und klüger war, hatte er das Sagen. Er nahm seine Rolle sehr ernst.

»Ich k…kann nicht gleichzeitig schreiben und gehen«, jammerte Selby, der seinen Federkiel mit der Faust umklammerte. Selby war ein sehr rosiger Junge. Er hatte eine rosige Nase und rosige Wangen, was ihn wie ein gerupftes Huhn aussehen ließ, und sein kurz geschorenes Haar und der stämmige Körperbau verstärkten diese Ähnlichkeit nur noch.

Barclay war in fast jeder Hinsicht das genaue Gegenteil. Obwohl er drei Jahre älter war, war er so klein und dürr, dass Selby vermutlich noch vor dem nächsten Frühjahr einen Kopf größer sein würde. Seine dunklen Augen hoben sich wie Tintenkleckse von seiner pergamentweißen Haut ab und sein schulterlanges schwarzes Haar war zu beiden Seiten des Scheitels streng gekämmt. Es triefte vor Öl, damit es flach am Kopf anlag.

Was daran so schwer sein sollte, im Gehen zu schreiben, war ihm unbegreiflich. Es konnte kaum schwerer sein, als im Gehen zu lesen, und Barclay war selten ohne ein offenes Buch in der Hand unterwegs.

Den beiden Lehrlingen war der äußerst wichtige Auftrag erteilt worden, einen seltenen Pilz namens Trauermorchel zu finden, und zu diesem Zweck hatten sie sich ganz an den Rand des Düsteren Waldes gewagt.

Der Düstere Wald war kein gewöhnlicher Wald. Er war so riesig, dass er auf keine Karte passte, und so gefährlich, dass kein Abenteurer es wagte, ihn zu erkunden. Wie ein großer Schatten ragte er bedrohlich im Westen ihrer Stadt auf.

Die Bäume entlang des Waldrands waren grau und unheimlich, ihre Stämme gezwirbelt, als hätte sie jemand ausgewrungen, und ihre Äste streckten sich wie Krallen zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. Außer dem Rascheln des verwelkten Laubs und dem Knacken und Knirschen brüchiger Zweige unter ihren Stiefeln war es völlig still. Es war die einzige Zeit des Jahres, in der man die Trauermorchel finden konnte: die düstere Übergangszeit, nachdem die Bäume all ihre Blätter abgeworfen hatten, aber der erste Schnee noch auf sich warten ließ.

Selby stolperte über eine Baumwurzel und stieß mit Barclays Rücken zusammen.

»Es wäre leichter, im Gehen zu schreiben, wenn du nicht ständig über deine Schulter blicken würdest«, murrte Barclay.

»Aber wir sind so nah am Düsteren Wald! Du weißt, was Meister Fungus über den Wald gesagt hat …«

»Wir sind nicht reingegangen. Und die Stadt ist gleich da drüben.« Barclay zeigte hinter sich auf Biederford. Ihre kleine Stadt lag auf einem höckerartigen Hügel und war von einer Steinmauer umgeben, aus der Speere ragten – wie ein riesiger Dornenstrauch. Auch die Bewohner waren nicht viel freundlicher als Dornensträucher. Sie konnten Faulheit nicht ausstehen, Nickerchen waren ausdrücklich verboten und Besucher waren ihnen zuwider – ganz gleich, ob es sich um Steuereintreiber, Zirkusdarstellerinnen oder, noch schlimmer, Wilderweisen handelte.

Vorschriften waren das Einzige, was die Einwohner von Biederford liebten. Aber für den Düsteren Wald hatten sie nur eine einzige Regel.

Gehe nie und nimmer hinein.

Denn wenn man nicht aufpasste, geriet man so tief hinein, dass man den Weg zurück nicht mehr fand.

Und tief im Düsteren Wald lauerten die Wilderbiester.

Doch als pflichtbewusster Lehrling wäre es Barclay im Traum nicht eingefallen, gegen Biederfords wichtigste Regel zu verstoßen – vor allem, weil er ständig Ärger dafür bekam, dass er versehentlich viele unwichtigere Regeln brach. Er würde genau das tun, wofür er hierhergekommen war: die Trauermorchel finden. Mit oder ohne Selbys Hilfe.

Barclay verstand nicht, warum Meister Fungus darauf bestanden hatte, dass Selby ihn begleitete. Oder warum er überhaupt einen zweiten Lehrling eingestellt hatte. Biederford brauchte nicht zwei Pilzbauern. Und wenn Meister Fungus in Rente ging, würde Barclay – nicht Selby – den Hof von ihm übernehmen.

Schließlich gab sich Barclay größte Mühe, der perfekte Lehrling zu sein. Seine Notizen waren ausführlich und in ordentlicher Schreibschrift geschrieben. Er hatte jede Pilzart im Filosophen-Feldführer zum Auffinden von Fungi Band eins bis neun auswendig gelernt. Meister Fungus hatte höchstpersönlich erklärt, dass Barclay der fleißigste Junge sei, den Biederford je gesehen hatte.

Und genau das war auch der Grund, warum Barclay sich weigerte, mit leeren Händen nach Hause zu gehen. Er musste Meister Fungus beweisen, dass er nur einen Lehrling brauchte.

»Ich gehe nicht. Noch nicht«, erklärte Barclay und marschierte weiter am Waldrand entlang.

Selby folgte ihm, hörte aber nicht auf zu jammern.

Als der ältere Lehrling war es Barclays Verantwortung, Selby zu trösten – und nicht einfach nur, ihm Dinge beizubringen. Selby war noch nie in der Nähe des Düsteren Waldes gewesen, und obwohl Barclay der erfahrenere von beiden war, fand sogar er die knorrigen Bäume noch immer Furcht einflößend.

Aber Barclay fiel es sehr schwer, nett zu Selby zu sein. Zu Hause hatte der jüngere Lehrling viele Brüder und Schwestern, die ihn gernhatten. Eltern, die ihn umsorgten. Ein eigenes Zimmer. Barclay besaß nichts von alldem. Er hatte zwar ein eigenes Zimmer gehabt, aber nur, bis Meister Fungus Selby bei sich aufnahm.

In Biederford gab es kein Waisenhaus. Wenn man Abendbrot und ein Bett für die Nacht wollte, musste man dafür arbeiten. Und so hatte Barclay seit seiner frühesten Kindheit verschiedene Aufgaben übernommen. In der Bibliothek hatte er Bücher aufgestapelt, neue Regeln für den Stadtrat notiert und den Wachposten Speere gebracht. Doch obwohl Barclay stets sein Bestes gegeben und alle seine Aufgaben ausgezeichnet ausgeführt hatte, hatte ihm niemand in Biederford eine Stellung angeboten, als es an der Zeit war, sich für eine Lehre zu entscheiden. Alle waren zu sehr um die Zukunft ihrer eigenen Kinder besorgt und wollten sich nicht auch noch um einen rauflustigen, regelbrechenden Waisenjungen kümmern.

Und so hatte Barclay an der Tür des alten Meister Fungus geklopft und um die Lehrstelle, die sonst niemand bei ihm wollte, gebettelt. Meister Fungus hatte ihn immer wieder und wieder weggeschickt. Aber Barclay ließ nicht locker, bis der Pilzbauer schließlich zustimmte.

Zwei Jahre lang war alles wunderbar gelaufen, bis zu dem Tag, als Selby aufkreuzte. Obwohl er nach wie vor weinte und bei jeder Gelegenheit nach Hause flüchtete, hatte Meister Fungus ihn nicht weggeschickt. Kein einziges Mal.

»Es wird bald dunkel«, jammerte Selby Barclay die Ohren voll.

»Bis dahin sind es noch Stunden«, gab Barclay zurück.

»Es ist eiskalt.«

»Es ist Winter. Was hast du erwartet?«

»Ich habe Hunger.«

»Hast du dein Mittagessen nicht gegessen?«

»Ich hab’s an Gustav verfüttert.«

Gustav war Meister Fungus’ Hausschwein, das im Boden verborgene, wertvolle Trüffel erschnüffelte. Normalerweise begleitete Gustav die Jungen bei allen Suchen wie dieser, doch das Schwein hatte im vergangenen Jahr unerklärlicherweise stark zugenommen und das sogar so sehr, dass selbst Watscheln es ermüdete. Es verbrachte den ganzen Tag damit, neben der Feuerstelle zu dösen.

»Du hast Gustav die ganze Zeit gefüttert?« Barclay vergrub das Gesicht in den Händen. Das Rätsel der Schweinemast war gelöst und wieder einmal erwies sich, dass Barclays Probleme Selbys Schuld waren.

»Ich mag keine Pilze!«, beschwerte sich Selby. »Sie sind schleimig und schmecken nach Erde!«

Barclay wollte seinen Ohren nicht trauen. »Warum bist du dann hier?«, schrie er. Genau diese Frage hatte ihn schon seit Ewigkeiten geplagt. Auch empfand er es als persönliche Beleidigung – ihm schmeckten Pilze sehr.

Selbys rosiges Gesicht lief mehrere Schattierungen rosiger an und er brach in Tränen aus. »Meine Mama hat gesagt, es wäre eine gute Zukunft für mich.«

Das erschien Barclay als ein bisschen zu viel Druck für einen Achtjährigen und er bekam ein schlechtes Gewissen.

Aber Barclay durfte sich nicht ablenken lassen. Wenn er seine Lehrstelle behalten wollte, hatte er keine Zeit, für irgendjemand anderen als sich selbst Mitleid zu haben. Nur diese Arbeit stellte sicher, dass Barclay in Biederford wirklich dazugehörte. Und Biederford, ganz gleich, wie klein, ländlich und regelbesessen es auch sein mochte, war Barclays Zuhause. Er würde es nie verlassen.

Als Barclay sehr klein gewesen war, noch vor dem Tod seiner Eltern, hatte er immer von Abenteuern geträumt. Er verbrachte Stunden damit, sich die Welt außerhalb von Biederfords dornigen Mauern vorzustellen, andere Orte, Städte und Königreiche in weit entfernten Gefilden jenseits des Düsteren Waldes.

Doch seine Eltern hatten Biederford geliebt – ein Leben voller Ungewissheit und Gefahren hätten sie sich nicht für ihr einziges Kind gewünscht. Und Barclay wollte ihre Wünsche respektieren. Er bemühte sich, sein Verlangen nach Abenteuern zu vergessen und fokussierte sich stattdessen darauf, wie er dazugehören könnte.

Barclay konzentrierte sich wieder auf die Suche nach der Trauermorchel und mehrere Minuten lang war außer Selbys klappernden Zähnen, seiner schniefenden Nase und seinem knurrenden Magen nichts zu hören.

Als Barclay sich hinkniete, um einen vielversprechenden Pilz zu begutachten, klopfte ihm Selby auf die Schulter. »Guck! Guck!«

Barclay schlug seine Hand weg und holte sein Sammler-Notizbuch heraus, um die Zeichnung mit dem Exemplar vor ihm zu vergleichen. Er runzelte die Stirn. Der Hut der Trauermorchel musste scharlachrot sein, aber der hier war eindeutig purpurn. Pilze sammeln war eine sehr genaue Wissenschaft.

Er grub ihn trotzdem aus und legte ihn in seinen Korb.

Nicht schon wieder, tadelte Barclay sich selbst, als er den Dreck unter seinen Fingernägeln betrachtete. Meister Fungus mochte es überhaupt nicht, wie schmutzig Barclay immer wurde und wie zerzaust sein Haar nur wenige Stunden, nachdem er es gekämmt hatte, aussah. Sprich mir nach, sagte Meister Fungus jedes Mal, wenn er Biederfords Gesetzbuch zitierte. Dreck ist verboten – kein Unrat, kein Geruch, kein schmutziges Mundwerk. Sauberkeit ist Ordnung.

»Barclay!«, kreischte Selby, woraufhin Barclay endlich aufstand und sich umdrehte.

Das Gras zwischen ihnen und Biederford war zum Leben erwacht, Dutzende – nein, Hunderte – winziger leuchtend weißer Augen starrten sie aus den Wildkräutern an.

Unter den Stiefeln der Jungen erschauderten und erbebten die Laubhaufen, weil kleine Gestalten in ihnen herumwuselten. Selby hüpfte hin und her, als würde er barfuß auf heißen Kohlen stehen.

»Barclayyyyyyy«, jaulte er.

Aber Barclay war wie erstarrt und hatte den Blick fest auf eine Kreatur gerichtet, die auf einem Felsen hockte. Sie sah aus wie eine Maus, nur ohne Schwanz und mit sechs eingerollten Stacheln auf dem Rücken.

Barclay hatte schon einmal Wilderbiester gesehen. An windigen Herbsttagen trugen starke Böen manchmal glänzende Insekten aus dem Düsteren Wald in die Stadt. Ihre Stiche ließen die Haut grün anschwellen. Er hatte Biester in Keilformation durch die Luft fliegen sehen. Sie waren unterwegs, um den Winter in wärmeren Gefilden zu verbringen, und hinterließen dabei eine glitzernde Rauchspur. Gelegentlich schlichen sich bösartigere Biester zu einem Nachtmahl in Hühnerhäuser und Ziegenställe.

Als Barclay vier Jahre alt gewesen war, hatte das Legendäre Biest Gravaldor, das im Düsteren Wald hauste, Biederford am Tag der Sommersonnenwende zerstört. Obwohl Barclay Gravaldors Kopf nicht gesehen hatte, erinnerte er sich noch daran, wie sein Brüllen die Stadtmauern hatte einstürzen lassen. Gravaldor hatte mit seinem Kiefer Dächer von Häusern gerissen und seine Fangzähne in Steine versenkt, als wären sie aus Butter. Seine Magie hatte die Erde aufgerissen und dafür gesorgt, dass ihre einstmals ebene Stadt nun sehr hügelig war.

Barclay hatte es Gravaldor zu verdanken, dass er ein Waisenkind war.

Seitdem war das Wissen um die Wilderbiester in Biederford verboten. Gasthäuser wiesen Reisende ab, die über sie sprachen, für den Fall, dass sie Wilderweisen waren – verachtungswürdige Menschen, die sich mit Biestern verbanden und deren ungezähmte Magie teilten. Kinder, die zu nah am Düsteren Wald spielten, wurden bestraft. Sogar die Bibliotheksbücher über Wilderbiester waren verbrannt worden, weshalb das ganze Thema in Biederford nun ein Mysterium war.

»Ich dachte, die W…Wilderbiester bleiben im Düsteren Wald«, wimmerte Selby.

»Normalerweise ist das auch so.«

Barclay hatte schon oft entlang des Waldrands Pilze gesammelt, ohne jemals auf ein Biest zu treffen.

Doch bis zur Wintersonnenwende waren es nur noch ein paar Wochen und dieser Feiertag war, genau wie die Sommersonnenwende, dafür bekannt, dass Wilderbiester sich dann merkwürdig verhielten.

Barclay wich vorsichtig einen Schritt vor der mausähnlichen Kreatur zurück. Er überlegte, nach dem Anti-Biest-Amulett in seiner Tasche zu greifen. Aber dafür war es bereits zu spät.

»Keine Panik«, sagte er zu Selby. »Sie versperren uns den Weg zurück zur Stadt. Aber wenn wir uns einfach etwas überl…«

Doch Selby hörte nicht zu. Er warf Notizbuch und Federkiel von sich, machte auf dem Absatz kehrt und stürmte davon.

In den Düsteren Wald.

Die unzähligen Augen im Gras schienen alle auf einmal zu blinzeln. Barclay blickte auf Biederford in der Ferne und schlotterte am ganzen Leib. Selby war verschwunden. Im Düsteren Wald. Wenn es Barclay gelang, die schrecklichen Kreaturen zu umgehen, könnte er die Wachen warnen, die Biederford vor den Wilderbiestern schützten. Immerhin hatte Selby Eltern und eine Familie. Die Stadtbevölkerung würde sich ihre Mistgabeln schnappen und ihm hinterhergehen.

Doch noch bevor Barclay sich davonmachen konnte, sprang eine der Mäuse aus dem dichten Farn und landete auf seinem Stiefel.

Sie quiekte.

Barclay schrie.

Er schüttelte sie ab und sprintete Selby hinterher. Sobald Barclay den Düsteren Wald betrat, wurde das Tageslicht schwächer und von den knorrigen Ästen über ihm verschluckt. Die kalte Luft wurde noch kälter und ein feiner, eisiger Dunst prickelte auf seiner Haut.

Für einen Elfjährigen war Barclay recht klein, was ihn zu einem leichten Ziel für ältere Kinder machte, die nach Ärger suchten. Sie rissen Seiten aus seinen Bibliotheksbüchern oder stahlen die Münzen, die er für Apfeltaschen sparte.

Wenn sie ihn erwischen konnten.

Denn wenn Barclay rannte, konnten sogar die Hirtenhunde kaum mithalten. Und so stürmte er den Waldhügel hinunter und hatte Selby, der zwischen den grauen Bäumen abgetaucht war, schon kurz darauf eingeholt.

Der Wind blies und wirbelte Blätter tief in den Düsteren Wald hinein. Die Bäume beugten sich hinunter, als würden sie Selby immer tiefer und tiefer in den Wald lotsen.

»Selby!«, schrie Barclay.

Sein langes Haar peitschte ihm beim Rennen ins Gesicht und zerzauste sich in Sekundenschnelle. Es kam ihm so vor, als würde der Wind ihn vorwärtsschieben und versuchen, ihn ebenfalls davonzutragen.

»Selby, bleib stehen!«

Barclay hatte den Waldrand aus dem Blick verloren. In allen Richtungen waren nur noch Bäume und Nebel zu sehen.

Wir haben die Regeln gebrochen und jetzt werden wir sterben, dachte er panisch. Auch wenn es ihnen gelang, dem Düsteren Wald zu entkommen, ohne von einem Biest gefressen zu werden, was sollten sie den anderen erzählen? Selby und Barclay waren beide schreckliche Lügner.

Auf einmal blieb Selby stehen. Barclay prallte mit ihm zusammen, woraufhin beide Jungen umgeworfen wurden und einen mit Dornen bedeckten Hügel hinunterpurzelten. In einem Wirrwarr aus Blättern, Beinen und Zweigen kullerten sie immer weiter, während Pilze aus ihren Körben flogen und ihnen hinterherhüpften. Sie kreischten beide, bis sie gegen den Fuß eines umgefallenen Baumes knallten.

»Was hast du dir dabei gedacht?«, schrie Barclay und schubste Selby von sich. »Wir hätten uns den Hals brechen können! Und …«

Selby stieß einen erstickten Laut aus und hetzte den Hügel wieder hinauf.

»Was …?« Barclay wirbelte herum, um zu sehen, was Selby Angst eingejagt hatte. Er erstarrte.

Auf dem umgestürzten Stamm eines gewaltigen Baumes stand ein Mädchen.

Und auf ihrer Schulter saß ein Drache.

Auch wenn Biederford jedes einzelne Buch über Wilderbiester verbrannt hatte, kannte sogar Barclay Drachengeschichten. Sie warfen ihre schreienden Opfer in Vulkankrater. Oder begruben sie bei lebendigem Leib unter ihren Goldschätzen. Oder setzten sie in Brand und verfütterten ihre verkohlten Überreste an ihre Schlüpflinge.

Weil Barclay weder von Lava noch von Schätzen noch von Baby-Biestern verschlungen werden wollte, tat er, was jeder kluge Lehrling im Angesicht großer Gefahr tun würde – er schnappte sich einen heruntergefallenen Pilz und warf ihn dem Mädchen an den Kopf.

Er verfehlte sie – Barclay war ein schrecklicher Werfer. Schlimmer noch, das Mädchen fing den Pilz mit einer Hand und zerquetschte ihn in seiner Faust.

Er schluckte.

»Hmpf. Ich wollte dich gerade fragen, ob es dir gut geht«, blaffte es ihn an, »aber das schenke ich mir jetzt.«

Das Mädchen schien ungefähr so alt wie Barclay zu sein, mit hellbrauner Haut, durchdringenden dunklen Augen und sehr gelocktem braunem Haar, das auf beiden Seiten ihres Kopfs zu kleinen Knoten gedreht war. Obwohl die meisten Völker in der Nähe des Düsteren Waldes hellhäutig waren, gab es auch in Biederford unterschiedlichste Hautfarben. Aber Barclay hatte noch nie jemanden gesehen, der so viel Gold trug. Ihr Mantel war mit so vielen Broschen und Anstecknadeln bedeckt, dass man den Stoff kaum sehen konnte. Der Drache des Mädchens spielte mit einer Klaue an der glänzenden Schnalle ihrer Umhängetasche.

Bei genauerem Hinsehen war sich Barclay nicht mehr sicher, ob das Geschöpf auf ihrer Schulter tatsächlich ein Drache war. Es war kaum größer als ein Rabe, mit silbernen Schuppen und einem spärlich gefederten Schwanz. Und er hatte noch nie von Drachen gehört, die im Düsteren Wald lebten.

Aber Drache oder nicht, es war trotz allem ein Wilderbiest. Wenn Barclay nicht aufpasste, würde es vermutlich herabstoßen und ihm die Hand abbeißen.

Barclay kroch rückwärts durch die Blätter. Er zog sein Anti-Biest-Amulett aus der Tasche und wedelte damit herum. Es bestand aus einem Strick, der mit besonderen Kräutern und Zweigen verwoben war und furchtbar grässlich roch.

»Lass mich in Ruhe, Drache!«

»Drache!« Das Mädchen gluckste vergnügt und kraulte das Biest unterm Kinn. »So wild ist Mitzi noch lange nicht. Sie ist nur ein Welpe – ein Babydrache –, aber wir fühlen uns sehr geschmeichelt.«

Barclay gab einen angewiderten Laut von sich. Das Biest hatte einen Namen? Es war eine mörderische Kreatur, kein Haustier!

Dann ging ihm auf, was sie und das Biest waren.

»Du bist eine Wilderweise«, stieß er hervor, während er mit wackeligen Beinen aufstand. »Du benutzt Wilderbiester für Magie. Du freundest dich mit ihnen an.«

Jedes Wort hinterließ einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge. Schließlich flüsterten sich die Bewohner der Stadt nicht nur Geschichten über Drachen zu. Auch wenn Wilderweisen glaubten, ihre Biester unter Kontrolle zu haben, waren Wilderbiester unzähmbar – ihr ganzes Wesen bestand aus reiner Wildheit. Bei der Hälfte der Gerüchte, die Barclay gehört hatte, kamen Wilderweisen durch den Verrat ihrer eigenen Biester ums Leben. Und sobald ihre sogenannten Freunde nicht mehr da waren, hinderte die Wilderbiester nichts mehr daran, ihre zerstörerische Magie auf die unschuldigen Menschen um sie herum loszulassen.

Das erzählte man sich jedenfalls, als das Große Feuer von Düsterfeld sieben Leben gefordert hatte. Oder als der arme Bürgermeister von Dusseltal zu Stein verwandelt worden war. Oder als die einst als Tristington bekannte Stadt regelrecht von der Landkarte gefegt wurde.

Das Mädchen verdrehte die Augen. »Ihr Stadtleute seid alle wie Forellen, die eine Lawine im Winter verwünschen.«

»Das ergibt überhaupt keinen Sinn«, erwiderte Barclay rundheraus.

»Oh, na ja, in meiner Muttersprache schon.« Das überraschte Barclay, denn das Mädchen hatte keinerlei Akzent. »Es bedeutet, dass ihr alle undankbar seid. Wer, glaubst du, beschützt eure Königreiche vor den Biestern? Welche Wilderkraft, glaubst du, sorgt dafür, dass sie im Düsteren Wald bleiben?«

Barclay traute Wilderkraft nicht über den Weg und war sich sicher, dass ganz Biederford darüber entsetzt wäre, dass Magie dieser Art direkt vor ihren Stadtmauern existierte.

Mit einem verärgerten Schnauben wandte sich das Mädchen von ihm ab und beugte sich über eine Sammlung von Gläsern, die sie entlang des umgestürzten Baumes aufgestellt hatte. Darin befanden sich merkwürdige Dinge: Stechpalmenzweige mit kristallähnlichen Beeren, mit Metall umrandete Federn, tote Insekten so groß wie Barclays Faust, ein in Bernstein eingeschlossenes geflecktes Ei und grünlicher Glibber, der sogar in der Winterkälte Blasen warf.

Das letzte Gefäß war leer. Das Mädchen kramte in seiner Umhängetasche.

Da Barclay mit Magie nichts zu tun haben wollte, wirbelte er herum und stieg den Hügel wieder hinauf. Dort wartete Selby zusammengekauert hinter einem Baum auf ihn.

»Sie hat einen Drachen«, sagte Selby mit einer Mischung aus Angst und Ehrfurcht.

»Dieser Drache wird sie wahrscheinlich irgendwann mal fressen«, knurrte Barclay.

»Mitzi würde mich nie fressen!«, schrie das Mädchen. »Sie ist Vegetarierin!«

Barclay bezweifelte das ernsthaft. Er packte Selby am Handgelenk und zerrte ihn mit sich, doch als er einen Blick über seine Schulter warf, bemerkte er etwas. Das Mädchen hatte einen Pilz aus seiner Tasche genommen und legte ihn in das letzte Glas. Er war stämmig und gekrümmt und hatte einen roten Hut.

Eine Trauermorchel.

Vermutlich kannte eine Wilderweise wie sie nicht einmal den Wert dieses Pilzes. Sie verdiente ihn nicht. Seine Angst wich sofort Entschlossenheit und er stürmte den Hügel wieder hinunter.

»Weißt du, was das ist?«, wollte Barclay von ihr wissen.

Das Mädchen hielt inne und sah auf.

»Das ist eine Trauermorchel«, antwortete sie mit einem Anflug von Stolz.

»Ja. Wir suchen schon den ganzen Tag lang danach. Wenn du sie mir gibst, verrate ich in Biederford niemandem, dass eine Wilderweise im Düsteren Wald umherschleicht.« Barclay streckte mit puterrotem Gesicht die Hand aus. Er lief immer rot an, wenn er log. Denn ganz gleich, ob sie ihm den Pilz gab oder nicht, er würde den Stadtbewohnern natürlich von ihr erzählen. Und dann würden sie sich ihre Mistgabeln schnappen und sie und ihr Biest vertreiben.

»Als ob sie sich trauen würden, in den Düsteren Wald zu kommen und mich zu suchen«, entgegnete das Mädchen.

Barclay streckte die Hand aus, um das Glas zu packen, aber sie zog es blitzschnell weg.

»Gib sie mir.«

»Auf keinen Fall. Ich hab sie gefunden!«

»Du benutzt sie nicht mal!«

»Und ob! Ich stelle eine Falle.«

Barclay prustete. Sie hatte lediglich eine Reihe Gefäße. Was versuchte sie zu fangen? Glühwürmchen? »Eine Falle wofür?«, fragte er.

»Eine Falle für Gravaldor.«

Barclays Magen füllte sich mit einem Grauen, das noch kälter war als der eisige Dunst um sie herum. Wenn das Mädchen Gravaldor irgendwie herbeirief, könnte sich die Tragödie von vor sieben Jahren in Biederford wiederholen. Barclay hatte wegen Gravaldor schon zu viel verloren und würde nicht zulassen, dass das Biest sein Zuhause ein zweites Mal zerstörte.

Er kletterte auf den umgestürzten Baumstamm. Sogar als er direkt neben dem Mädchen stand, war es größer als er, aber das galt für fast alle. Als er einen Schritt näher kam, entblößte ihr Drache – oder Mitzi, wie sie ihn nannte – seine Fangzähne und fauchte Barclay wie eine Schlange an.

»Das kannst du nicht machen«, sagte er zu dem Mädchen.

»Und ob ich das kann. Ich werde mich mit Gravaldor verbinden, so wie ich mit Mitzi verbunden bin.« Sie krempelte einen Ärmel hoch und zeigte ihm eine seltsame Tätowierung auf ihrem Unterarm, die golden glänzte. Die Zeichnung sah genau wie der kleine Drache aus.

»Gravaldor ist das Legendäre Biest des Düsteren Waldes. Und wenn ich mich mit ihm verbinde, werde ich …«

»Du willst dich mit ihm verbinden?«, wiederholte Barclay mit schriller, angstverzerrter Stimme. Allein bei dem Gedanken an Gravaldor sah er seine Eltern vor sich – die sanfte Art, wie seine Mutter die Bücher behandelt hatte, die sie als Lehrerin ihren Schülern vorlas. Das leckere Apfelgebäck, das sein Vater immer für Barclay backte, wenn er gelernt hatte, eine neue Regel zu befolgen. Wäre Gravaldor nicht gewesen, hätte er noch eine Familie.

Barclay war sein ganzes Leben lang auf den Spuren seiner Eltern gewandelt. Denn tief in seinem Innern glaubte er, dass er, wenn er hart arbeitete und sich an die Regeln hielt, ihren Vorstellungen gerecht werden würde. Dass er sich dann in Biederford das Leben verdienen könnte, das seine Eltern sich für ihn gewünscht hatten.

Die Gefahr kümmerte ihn nicht mehr. Oder die Trauermorchel. Oder der Dreck unter seinen Fingernägeln.

Er musste das Mädchen aufhalten.

»Du wirst alle umbringen«, wandte er wütend ein. »Gravaldor ist nicht wie dein Drache …«

»Ich hab dir doch gesagt, sie ist noch ein Welpe …«

»Er ist riesig! Er ist höher als ein Baum, mit Fangzähnen so lang wie du und ich. Er ist mächtiger als irgendein anderes Biest im Düsteren Wald und wird dich auffressen, bevor du es auch nur bedauern kannst.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Woher willst du das wissen? Du bist bloß ein Bauer von …« Sie atmete laut aus, während sie nachdachte. »Wie heißen diese Dinger noch mal in deiner Sprache? Sie sind schwabbelig. Ein … ein …«

»Pilz?«, beendete er ungeduldig ihren Satz.

»Ja! Du bist bloß ein Pilzbauer.«

»Ich weiß es, weil Gravaldor einmal unsere ganze Stadt zerstört hat.« Von seinen Eltern erzählte er ihr nichts, weil er Fremden so etwas nicht anvertraute. Alle in Biederford hatten recht. Wilderweisen waren selbstsüchtig und brachten nur Verderben.

Auch wenn die Miene des Mädchens weicher wurde, gab sie nicht klein bei. Sie ging ein paar Schritte auf Barclay zu und bohrte ihm einen Finger in die Brust. Er schwankte kurz, fiel aber nicht um.

»Ich muss das machen und du kannst mich nicht aufhalten.« Mitzi schnaubte zustimmend. Das Mädchen ging weiter und schubste ihn nach hinten, bis er ganz am Ende des umgestürzten Stamms stand. »Diese Sachen sind im Düsteren Wald am schwierigsten zu finden und ich habe sie alle gesammelt.« Sie wedelte vor seinem Gesicht mit dem Gefäß herum, in dem die Trauermorchel lag. »Damit werde ich Gravaldor rufen und ihn in die Falle locken. Es ist perfekt.«

Barclay riss die Augen weit auf, als er den Pilz in dem Gefäß musterte. Von Nahem betrachtet stellte er fest, dass sein scharlachroter Hut eigentlich purpurfarben war.

»Warte!«, sagte er. Aber das Mädchen stieß ihn ein letztes Mal und er fiel vom Stamm herunter. Er landete schmerzhaft mitten auf der Lichtung und zerquetschte einen Tannenzapfen unter sich.

»Warte!«, stammelte er noch einmal. »Das ist keine …«

Doch das Mädchen hatte bereits das Gefäß abgesetzt und ihre perfekte Aufreihung fertiggestellt.

Auf einmal war aus den Tiefen des Düsteren Waldes hinter ihm ein Heulen zu hören.

Barclay rappelte sich auf. Zu seiner Rechten erbebten die Bäume. Dann eilten zu seiner Linken Schritte durch die Schatten. Eine Gestalt sauste so schnell an ihm vorbei, dass er nur einen verschwommenen Klecks sah.

»Barclayyyyyyyy«, heulte Selby oben auf dem Hügel.

Barclay bedeutete ihm still zu sein. Hinter sich hörte er etwas atmen. Dann ein tiefes, kehliges Knurren.

Sein Herz klopfte wie wild und er umklammerte verzweifelt sein Amulett. Für gewöhnlich beruhigte ihn das in gefährlichen Situationen, sogar in denen ohne Biester. Es half ihm, sich einen Ausweg zu überlegen, wenn er in der Klemme saß.

Doch dann erschien zwischen den Bäumen ein leuchtendes Paar Augen.

Aus dieser Klemme konnte er sich keinen Ausweg überlegen.

Das Mädchen sprang vom Stamm neben ihn. »Sobald Gravaldor näher an den Gefäßen dran ist«, flüsterte sie, »wird die Wilderkraft ihn einfangen. Dann kann ich mich mit ihm verbin–«

»Ich glaube nicht, dass das …«, setzte Barclay an.

Ein weiteres Knurren war zu hören und sie legte einen Finger an die Lippen, damit er verstummte. Aber Barclay wusste, dass er recht hatte. Gravaldor war gigantisch und konnte unmöglich verborgen bleiben. Und der Pilz, den sie benutzt hatte, war keine Trauermorchel.

Doch das spielte keine Rolle. Auch wenn es nicht Gravaldor war, hatte sie etwas gerufen und sie alle würden sterben.

Das Mädchen streckte die Arme aus, als könnte das um sie herumschleichende Biest – was auch immer es war – wie ein Hündchen gezähmt werden. »Mitzi, hilf mir.«

Der Babydrache gab ein tiefes Schnauben von sich.

»Mitzi, wir haben darüber gesprochen!«, fauchte das Mädchen. »Wenn ich eines Tages die Groß-Wilderweise werden möchte, kannst du nicht mein einziges Wilderbiest sein.« Als sich Mitzi weiterhin nicht fügte, schob sie hinterher: »Aber du wirst immer mein Lieblingsbiest sein!«

Das beruhigte Mitzi offenbar. Sie kauerte sich tiefer auf der Schulter des Mädchens hin und bereitete sich darauf vor, die unbekannte Kreatur anzugreifen. Das Mädchen sah zu Barclay hinunter. »Mach keinen Piep. Keine plötzlichen Bewegungen. Wir wollen es nicht warnen …«

»Barclayyyyyy«, schrie Selby noch einmal.

Dann schien alles auf einmal zu passieren.

Etwas brach mit erhobenen Klauen durch die Bäume.

Aus Mitzis Maul schoss ein so grelles Licht, dass Barclay die Augen zukneifen musste.

Er erkannte das Knurren, das er vorhin schon gehört hatte. Es war tief und gefährlich. Die Art von Geräusch, welche die brutalen Fieslinge immer machten, nachdem sie Barclay in eine Sackgasse gedrängt hatten. Es war der Klang des Sieges. Es bedeutete, dass das Raubtier seine Beute gefunden hatte.

Heißer Atem blies gegen Barclays Hals.

Er rannte los. Er rannte so schnell er konnte.

Eigentlich war er zu klug, um zu flüchten. Viele wilde Tiere griffen erst dann an, wenn die Beute floh. Im Grunde forderte Barclay das Biest dazu heraus, ihn zu fressen. Aber so klug Barclay auch sein mochte, er hatte zu große Angst, um ruhig bleiben zu können.

Er hörte Schritte, die ihn verfolgten. Ohne weiter darauf zu achten, legte er noch einen Gang zu. Er rannte schneller als jemals zuvor in seinem Leben. Die knorrigen Bäume rauschten verschwommen an ihm vorbei und die Luft, die ihm sonst ins Gesicht schlug und seine Haare verknotete, war wie erstarrt. Barclay hätte schwören können, dass er sich schneller bewegte als der Wind.

Und das Augenpaar, stellte er fest, war nicht hinter ihm. Es war neben ihm.

Das Wilderbiest rannte ihm nicht hinterher. Es rannte mit ihm.

Der Gedanke erstaunte ihn so sehr, dass er strauchelte und der Länge nach hinfiel. Als er sich stöhnend umdrehte, war das Letzte, was er sah, ein Maul voller spitzer Zähne.

Barclay wachte inmitten eines Laubhaufens auf, während Selby und das Mädchen keuchend über ihm standen.

»Er ist tot!«, heulte Selby.

Es dauerte einen kurzen Moment, bis Barclay sich daran erinnerte, wie er hier auf dem Boden gelandet war. Mit schmerzenden Gliedern und nur mit Selby und einem fremden Mädchen. Als er mit zusammengekniffenen Augen zu den knorrigen Ästen über ihm aufblickte, fiel ihm wieder ein, wo er war – an dem einzigen Ort, an dem es ihm verboten war zu sein. Dem Düsteren Wald.

Barclay setzte sich auf. Ein schrecklicher Schmerz schoss ihm durch den Arm. Als er hinsah, stellte er fest, dass sein Ärmel zerfetzt war und sich eine hässlich klaffende rote Wunde über seinen Oberarm zog. Darunter schimmerte es leicht golden.

»Wo ist es? Wo ist das Biest hin verschwunden?« fragte Barclay panisch. Er sah sich um, was dazu führte, dass sich die Welt drehte, als würde er einen weiteren Hügel hinunterpurzeln.

Das Mädchen blähte die Nasenflügel. »Das Biest ist da drin.« Sie bohrte einen Finger in seine Wunde.

»Au! Wofür war das denn?«

»Du hast ein Mal. Wie meines.«

Sie krempelte noch einmal den Ärmel hoch und zeigte ihm ihre goldene Tätowierung, die wie Mitzi aussah. Nur bewegte sich das Mal jetzt. Es trottete über ihre Haut, rollte sich zusammen und gähnte, als wollte es sich schlafen legen.

Barclay bemerkte, dass Mitzi nicht mehr auf der Schulter des Mädchens saß. Der Drache steckte in der Tätowierung. Bei so viel Magie wollte Barclay sich die Augen reiben und sich vergewissern, dass das, was er da sah, auch real war.

»Es sollte mein Mal sein«, fuhr das Mädchen fort. »Ich habe zwar die Falle vermasselt, aber wenn du nicht da gewesen wärst, hätte ich mich mit dem Lufthund verbunden …«

»Verbunden? Verbunden wie ein Wilderweise?« Barclay zuckte zusammen, als er sich etwas Blut vom Arm wischte, und versuchte, das Mal genauer zu betrachten. Er hatte das Biest, das ihn gejagt hatte, nicht richtig gesehen, doch die Tätowierung ähnelte einem Wolf. Die Kreatur bewegte sich, schlich mit bedrohlich gefletschten Zähnen von seinem Oberarm auf die Schulter.

»Ja. Genau wie ein Wilderweise«, schnaubte sie. »Ein Wilderbiest lebt in einem Mal, wenn es nicht draußen in der Welt ist.«

Während sie sprach, schlug das Biest auf Barclays Haut mit seinen Pranken um sich und schnappte mit dem Kiefer.

Selby starrte es mit heruntergeklappter Kinnlade an. »Ist Barclay jetzt ein Wilderweise?«

»Nein«, fauchte Barclay. Ein Wilderweise würde er nie werden. Wilderbiester waren keine Gefährten – sie waren Monster. Auch wenn er Biederfords wichtigste Regel gebrochen hatte, war es nicht seine Schuld gewesen. Er hatte sich das nicht ausgesucht.

Auf einmal wurde ihm schlecht. Er rappelte sich schwerfällig auf, nur um sich sofort auf den Waldboden zu übergeben.

Danach drehte er dem Mädchen seinen Oberarm hin, der schmerzhaft pochte.

»Befrei mich davon«, befahl er.

»Warum sollte ich dir helfen?«, fauchte das Mädchen ihn an. »Du hast mir damit gedroht, deine Stadt auf mich zu hetzen! Du hast versucht, den Pilz aus meiner Falle zu stehlen. Und jetzt hast du dich mit dem Biest verbunden, mit dem ich mich hätte verbinden sollen.«

»Ich habe mich nicht mit ihm verbunden! Es hat sich mit mir verbunden!«

»Aber so funktioniert das nicht. Hast du es berührt? Oder einen Funken oder ein Zwicken gespürt? Du musst …«

»Hab ich nicht«, beharrte er. Er konnte sich nur noch an die Zähne erinnern, bevor er ohnmächtig wurde.

»Ist es Gravaldor?«, quiekte Selby.

»Nein, Gravaldor sieht wie ein Bär aus«, erwiderte das Mädchen und verdrehte die Augen. »Sein Biest ist …«

»Ich will nicht wissen, was es ist«, blaffte Barclay sie an. »Entfern nur dieses Ding von mir!«

Das Mädchen verschränkte die Arme. »Ich weiß nicht, wie man ein Mal entfernt. Die meisten wollen das gar nicht! Die meisten wollen …«

Barclay glaubte, dass er sich gleich wieder übergeben würde, wenn er sich das alles noch länger anhören musste. Er packte Selby an der Schulter. »Komm. Wir gehen zurück.«

Selby fuhr zusammen, als Barclay ihn berührte. Barclay schluckte schwer und nahm die Hand herunter.

»Und wenn das Biest rauskommt?«, murmelte Selby.

»Ich …« Barclays Mund wurde trocken. Dann würde er, Barclay Torn, Biederfords fleißigster, aber lästigster Lehrling, ein weiteres abschreckendes Beispiel werden. Ein weiterer Wilderweise, der Zerstörung mit sich brachte.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Wilderbiester können nur aus ihrem Mal herauskommen, wenn sie gerufen werden. Oder wenn sie ihre Verbindung auflösen. Aber das ist sehr selten! Wenn das passiert, wirst du es merken. Dann wird das Mal schwarz.«

Wenn Barclay sehen würde, dass sich die Farbe der Tätowierung änderte, würde er in den Düsteren Wald rennen und sich von den Bäumen verschlingen lassen. Er wäre dann weit entfernt und Biederford vor ihm in Sicherheit.

Aber er wäre auch allein im Düsteren Wald, nur mit einem gefährlichen Wilderbiest.

Barclay machte es nichts aus, Verantwortung zu übernehmen. Eigentlich freute er sich darauf, wenn Meister Fungus ihm in jedem neuen Lehrjahr weitere Aufgaben zuwies. Es hatte mit Hausarbeiten angefangen – Barclay lernte, Feuerholz zu hacken, Gustav zu füttern und Wasser vom Brunnen zu holen. Als er älter wurde, fing Barclay an, Kunden zu bedienen und sich um den Pilzkeller zu kümmern. Jetzt zog er ganz allein zum Pilzesammeln los.

Jedes Mal hatte Barclay gewusst, dass er für die neue Aufgabe bereit war. Auch wenn es schwierig oder er müde war, gefiel es ihm, wie sehr Meister Fungus sich auf ihn verließ. Jedes Mal, wenn sein Lehrer ihn lobte, spürte Barclay einen Anflug von Stolz in seiner Brust. Niemand anders in der Stadt betrachtete Waisenkinder auf diese Art.

Aber diese Verantwortung war viel größer als alles, was bisher von ihm verlangt wurde. Wenn ein Wilderbiest auf Barclays Haut lebte, war Barclay dafür verantwortlich, dass es auch dortblieb. Es war seine Verantwortung, für die Sicherheit von Biederford zu sorgen … komme, was wolle.

»Wir gehen zurück«, sagte Barclay. Trotz seiner entschiedenen Worte zitterte seine Stimme.

»Lassen sie dich denn zurück in die Stadt?«, fragte das Mädchen. »Du hast gesagt, sie würden mich verjagen, weil ich eine Wilderweise bin. Was werden sie dann mit dir anstellen?«

Grauen erfüllte Barclays Herz. Biederford machte keine Ausnahmen. Zumindest nicht für Barclay, denn er hatte keine Familie, die für ihn kämpfte.

»Sie werden nichts davon erfahren«, murmelte er bestimmt und zugleich verängstigt.

Dann packte er Selbys Hand und marschierte durch das Labyrinth aus knorrigen Bäumen. Vielleicht spielte ihm seine Fantasie einen Streich, aber als der Wind blies und die Äste knackten, kam es Barclay so vor, als würde sich jeder Baum von ihm wegneigen, um ihm den Weg frei zu machen. Als würde die Wildnis erkennen, dass er zu ihr gehörte.

Erst als die Jungen bei Meister Fungus ankamen, fiel Barclay ein, dass er mit leeren Händen von seinem Ausflug zurückkehrte. Sie hatten die Trauermorchel nicht gefunden und den unheilvollen Wolken nach zu urteilen, die sich dunkel am Himmel ballten, stand ihnen der erste Schnee bevor. Es sah leider ganz so aus, als würde Meister Fungus bis nächstes Jahr auf die Trauermorchel warten müssen.

Von außen sah das Haus merkwürdig aus. Bei dem Angriff vor sieben Jahren hatte Gravaldor die Rückseite des Hauses mit der Pranke zertrümmert, sodass Meister Fungus diese Wände hatte neu errichten lassen. Sieben Jahre später hatte er Lagerräume und ein zweites Stockwerk für Barclays Schlafzimmer hinzugefügt. Jeder Anbau bestand aus anderen Materialien, weshalb das Haus jetzt wie eine Steppdecke aus Ziegel, Stein und Holz aussah. Und wie bei allen Häusern in Biederford baumelten Anti-Biest-Amulette in jedem Fenster. Sie bestanden aus Stricken, Glasperlen und Glockenspielen, die stanken, läuteten und warnten: Haltet euch fern, haltet euch fern.

Barclay und Selby traten durch die Hintertür ein, an die ein Flugblatt genagelt worden war.

ACHTUNG, BÜRGERINNEN UND BÜRGER VON BIEDERFORD

Ab heute, dem zwanzigsten Tag des Winters, gelten vier neue, vom Rathaus erlassene Vorschriften:

Vorschrift #1192: Hiermit ist Niesen auf dem Marktplatz verboten.

Vorschrift #1193: Alle Haustiere, vor allem Enten, müssen von amtlichen Wachposten auf Wilderbiest-Magie untersucht werden.

Vorschrift #1194: Vorschrift #827 ist hiermit für nichtig erklärt. Karottenkuchen gehört wieder zur offiziellen Geburtstagskuchenauswahl.

Vorschrift #1195: Kuthbert mit C ist als Babyname nicht mehr zulässig – nur noch mit K.

Die Jungen nahmen das Flugblatt herunter und drückten die Tür zur Vorratskammer auf. Darin stapelten sich Körbe und Holzkisten, die mit verschiedenen Pilzsorten gefüllt waren. Der ganze Raum roch nach Pilzen und Pilze rochen vor allem nach Erde. Das war das einzige Zimmer im ganzen Haus, das den in Biederford üblichen Sauberkeitsmaßstäben nicht gerecht wurde. Und es war Barclays Lieblingsraum. Er mochte den Geruch und der Schmutz machte ihm nichts aus.

Die Jungen schlichen durch die Tür ins Wohnzimmer. Dort trafen sie auf Gustav, der vor dem Feuer zusammengerollt auf dem Teppich schlief.

Meister Fungus raunte etwas zur Begrüßung aus der Küche, wo er in einer Sackleinenschürze Pilze in einem Eimer Wasser wusch. Er war außergewöhnlich groß – der größte Mann in der Stadt. Er musste sich unter Türrahmen stets bücken und sein herunterhängender grauer Schnurrbart reichte ihm bis zur Brust. Bei besonderen Anlässen trug Meister Fungus einen merkwürdigen runden Hut, der ihn selbst wie ein riesiger Pilz aussehen ließ.