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William ist wieder zu Hause – aber nicht für lang. Während sein Großvater auf geheimer Mission zum Himalaya reist, muss er erst mal wieder die Schulbank drücken. Das hatte er sich ganz anders vorgestellt. Aber dann häufen sich bei William mysteriöse Ohnmachtsanfälle, in denen er das Himalayagebirge sieht. Was das wohl zu bedeuten hat? Steckt etwa der Fiesling Abraham Talley dahinter? Aber der soll doch tiefgefroren im Institut für posthumane Forschung liegen. Oder etwa nicht?
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Veröffentlichungsjahr: 2017
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Dieses Buch wurde mit Unterstützung des NORLA, Norwegian Literature Abroad, Oslo, veröffentlicht.
Alle deutschen Rechte Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2017Originalcopyright © Bobbie Peers 2016Published by agreement with Salomonsson Agency Originalverlag: H. Aschehoug & Co. (W. Nygaard), Oslo Originaltitel: KryptalportalenAus dem Norwegischen von Gabriele HaefsUmschlagillustration und Vignetten: Claudia CarlsUmschlagtypografie: formlabor Lektorat: Katja MaatschSatz und E-Book-Umsetzung: Pinkuin Satz und Datentechnik, BerlinISBN: 978-3-646-92980-5
Wissenschaftshistorisches Museum, Oxford
Pontus Dippel lehnte die Stirn gegen den Scanner am Fahrstuhl.
Er wollte nur noch eine letzte Runde drehen, ehe er Feierabend machte. Er musste jetzt besonders gut aufpassen. Der Gegenstand, der sich im Keller befand, war in aller Heimlichkeit aus einem Londoner Bunker in das Hochsicherheitsgewölbe des Museums gebracht worden.
Ein grüner Laserstrahl strich über Dippels Stirn hinweg, und mit einem pling glitt die Fahrstuhltür auf. Dippel ging hinein, und die Tür schloss sich hinter ihm.
Als die Fahrstuhltür wieder aufglitt, befand er sich tief unter der Erde. Er lief einen dunklen Gang entlang und blieb vor einer soliden Panzertür aus Stahl stehen. Die Gestalt, die lautlos hinter ihm aufgetaucht war, bemerkte er nicht.
Dippel lehnte seine Stirn gegen einen weiteren Scanner.
»Willkommen«, sagte eine angenehme Computerstimme.
»Danke, Belinda«, antwortete Dippel.
Die Tür öffnete sich mit einem leisen schwupp.
Dippel wollte den Raum betreten, hielt dann aber inne. Plötzlich hatte er das Gefühl, nicht allein zu sein. Er drehte sich langsam um und entdeckte die Gestalt, die auf ihn zukam.
»Nein …«, flüsterte er und hob abwehrend beide Hände. »Das ist nicht möglich. Du bist tot …«
Er schüttelte den Kopf und wich rückwärts in den dunklen Raum zurück.
Die Gestalt folgte ihm und zog die Tür hinter ihnen zu.
William zögerte.
Er blieb hinter dem Bühnenvorhang stehen. Schaute zu einer gestressten Frau mit Headset hinüber, die ein Stück von ihm entfernt von einem Fuß auf den anderen trat. Von draußen hörte William Applaus, und die Menschen riefen seinen Namen.
Nicht in seiner wildesten Fantasie hätte er sich vorgestellt, dass er jemals in eine solche Situation geraten könnte. Er hatte fast sein Leben lang unter falschem Namen und geheimer Adresse leben müssen. Aber plötzlich wusste beinahe die ganze Welt, wer er war, oder hatte zumindest seinen Namen schon einmal gehört. Und an diesem Abend würde er sogar landesweit im Fernsehen auftreten. Das war schon ein seltsames Gefühl.
»William Wenton … wo steckst du denn?«, hörte er den Moderator auf der Bühne rufen. »Sicher hat er da hinten einen Code gefunden, den er noch schnell knacken muss.«
Die Zuschauer lachten.
Irgendwer fing an, seinen Namen zu skandieren: »Will-liam, Will-liam …«
Andere stimmten ein, und bald riefen Hunderte von Stimmen wie aus einem Mund: »WIL-LIAM …WILL-LIAM …WILL-LIAM …«, und trampelten dabei rhythmisch auf den Boden.
Die Frau mit dem Headset kam auf ihn zu. Sie sah nicht gerade erfreut aus. William holte tief Luft und schlüpfte durch einen Vorhangspalt. Er blieb stehen, als er ins Scheinwerferlicht trat, und hörte das Publikum in lauten Jubel ausbrechen. Er versuchte sich umzublicken, war aber von den grellen Lampen vollkommen geblendet.
»Hier entlang!«, rief der Moderator.
Aber kaum wollte William losgehen, da blieb er mit dem Fuß in einem Kabel auf dem Boden hängen und fiel geradewegs auf die Nase.
Irgendwer keuchte auf.
Aber jemand anderes lachte.
William erkannte dieses verbitterte Lachen sofort. Es war Vektor Hansen, selbst ernanntes Genie und Supercodeknacker. Und jetzt lachte er so heftig, dass es sich anhörte, als werde er erwürgt.
William befreite seinen Fuß vom Kabel und kam mühsam wieder auf die Beine.
»Ich hoffe, du bist gut versichert«, scherzte der rundliche Moderator, der auf ihn zugelaufen kam und ihm beim Aufstehen helfen wollte.
William schaute verwirrt zu Ludo Kläbert auf, der schallend lachte und dabei seine leuchtend weißen Zähne bleckte. William war Kläbert zuletzt begegnet, als dieser Moderator bei der Unmöglichkeitsausstellung gewesen war. Damals hatte William den Code geknackt, der dann sein Leben auf den Kopf gestellt hatte.
Kläbert führte ihn zum Sofa. Vektor Hansen hörte auf zu lachen, sobald sich ihre Blicke begegneten. Er wurde ernst und starrte William verärgert und aus zusammengekniffenen Augen an.
»Setz dich«, sagte Kläbert munter und half William auf das Sofa, neben Vektor Hansen, der so weit ans andere Ende rutschte, wie das überhaupt nur möglich war.
Ludo Kläbert glitt hinter seinen Schreibtisch und ließ sich in den Sessel fallen. Dann lächelte er die beiden erst einmal an.
William spürte die Hitze, die die Scheinwerfer unter der Decke ausstrahlten. Er schaute zu den beiden Fernsehkameras hinüber, die vor ihm über den Boden gerollt wurden. Die eine zeigte genau auf ihn. Er konnte sich auf einem Bildschirm am Bühnenrand sehen. Er hatte zwar immer schon eine helle Haut gehabt, aber in dem grellen Licht wirkte er besonders bleich.
»Was ist das für ein Gefühl, William … hier mit dem Mann zu sitzen, den du vor wenigen Monaten auf das Ärgste gedemütigt hast?«
William schaute hinüber zu Hansen, der Arme und Beine übereinandergeschlagen hatte und mit seinem ganzen Körper seine Abscheu demonstrierte.
William hatte niemals irgendwen demütigen wollen.
»Was ist das für ein Gefühl?«, fragte Kläbert ungeduldig und schielte zum Publikum hinüber.
»Ich weiß nicht«, stammelte William unsicher. »Ich wollte den Code doch gar nicht knacken.«
»QUATSCH!«, fauchte Hansen, dass ihm dabei der Speichel aus dem Mund stob. »Du hast die Lösung garantiert schon vorher gewusst. Irgendwer muss sie dir verraten haben!«
William fiel nichts ein, was er zu seiner Verteidigung sagen könnte, und deshalb schwieg er.
»Stimmt das, William? Dass du die Lösung vorher schon wusstest?«, fragte nun Ludo Kläbert und fuhr sich mit einem dicken Zeigefinger skeptisch über das Kinn.
»Nein … ich wusste die Lösung überhaupt nicht vorher«, stammelte William und schaute hinüber zum Publikum, das vor Spannung mucksmäuschenstill dasaß. »Das ist wirklich wahr. Ich hatte keine Ahnung. Es ist einfach passiert.«
»Der lügt doch wie gedruckt!«, rief Vektor Hansen und sprang vom Sofa auf. »Man sieht ihm geradezu an, dass er lügt! Und seine Pupillen sind ganz groß! Ein Beweis dafür, dass er lügt!« Hansen hüpfte vor William auf und ab und fuchtelte vor dessen Gesicht mit einem langen Zeigefinger herum.
»Vielleicht ist er einfach nur nervös?«, fragte Kläbert.
»Er ist nicht nervös. Dieser Knabe ist durch und durch gefühllos«, rief Vektor Hansen.
Erst jetzt merkte William, wie er langsam wütend wurde. Er war darauf vorbereitet gewesen, dass Hansen Schwierigkeiten machen würde. Aber dass er William als eiskalten Lügner hinstellte?
Er spürte, dass sein Herz schneller schlug. Er durfte das Gerede nicht so ernst nehmen.
»Aber wir sind ja nicht nur hier, um uns nett zu unterhalten«, rief Kläbert und sprang aus seinem Sessel auf. »Können wir also anfangen?« Das Publikum applaudierte wie besessen.
»Bist du bereit für diese Herausforderung?«, fragte Kläbert und zeigte auf William.
»Äh, ja …«, stammelte William.
Die Frau mit dem Headset schob einen runden Tisch heran. Auf dem Tisch lag eine große silberne Servierplatte mit gewölbtem Deckel. William fragte sich, was sich darunter wohl verbarg. Es konnte alles Mögliche sein. Aber bestimmt hatte es mit irgendeinem Code zu tun.
Kläbert drehte sich zum Publikum. »Seid ihr so weit?«, rief er und zeigte auf den Schlagzeuger des Studioorchesters, das neben der Bühne auf seinen Einsatz wartete. Ein wütender Trommelwirbel brachte die Luft in dem aufgeheizten Studio zum Zittern. Abermals brach das Publikum in Jubel aus.
»Seid ihr bereit, Vektor Hansen eine neue Chance zu geben?«, rief Ludo Kläbert.
Das Publikum antwortete mit einem so lauten JAAAA, dass der Boden bebte.
Mit einer dramatischen Bewegung streckte der Moderator die Hand nach dem Deckel aus und riss ihn hoch.
Das ganze Studio schien nach Luft zu schnappen.
William traute seinen Augen nicht. Vor ihm auf der Silberplatte stand etwas, das ihm bekannt vorkam. Zwei Pappschachteln von der Größe eines Schuhkartons. Aber er starrte nicht die Schachteln an, sondern das Bild, das darauf gedruckt war. Es zeigte einen länglichen metallischen Zylinder, der gewaltige Ähnlichkeit mit der Unmöglichkeit hatte. Auf dem Zylinder stand in großen roten Buchstaben: Die Schwierigkeit.
»Na, woran erinnert dich das?«, rief Kläbert und lächelte William an. Er hob die eine Schachtel hoch, damit das Publikum sie sehen konnte.
»Das hier kann man morgen in allen Spielzeuggeschäften des Landes kaufen«, rief er, während das Publikum begeistert klatschte
»Aber …«, stammelte William.
Er konnte es nicht glauben. Eine Spielzeugversion der Unmöglichkeit. Er und Vektor Hansen sollten ein Rätsel lösen, das in Spielzeugläden verkauft wurde!
Er schaute zu Vektor Hansen hinüber, der in seiner Sofaecke saß und grinste.
»Wer hat Lust zu sehen, wie zwei der besten Codeknacker Norwegens oder vielleicht der ganzen Welt darum kämpfen, wer von ihnen die Schwierigkeit am schnellsten lösen kann?«
Das Publikum brach in laute Jubelrufe aus.
Ludo Kläbert hob die Hände, um das Publikum zum Schweigen zu bringen. Dann drehte er sich zu William um. »Was sagst du, William? Bist du bereit?«
»Das da ist ja gar nicht echt«, protestierte William.
»Perfekt«, erklärte Kläbert. »Und was sagst du, Vektor?«
Vektor Hansen streifte seine Lederweste ab, schleuderte seinen Pferdeschwanz in den Nacken und rief: »ICHKANNESGARNICHTABWARTEN!«
»Die Regeln sind einfach«, sagte Ludo Kläbert nun. »Wer den Code zuerst knackt, hat gewonnen.«
Hansen nickte der Frau mit dem Headset zu. Sie öffnete beide Schachteln und legte die beiden Schwierigkeiten auf den Tisch. Kläbert hob einen Arm in die Höhe und schaute das Publikum an. Dann drehte er sich zu William und Vektor um.
»DREI …«, begann er. »ZWEI …EINS!«
Er ließ den Arm sinken, und zugleich ertönte ein lautes Klingelzeichen.
Blitzschnell riss Vektor Hansen den nächstgelegenen Zylinder an sich.
William tat es ihm nach. Er spürte sofort, dass die Schwierigkeit nicht von derselben Qualität war wie die Unmöglichkeit. Einige Bestandteile waren aus Plastik, und der Zylinder war viel leichter. Aber das musste ja nicht bedeuten, dass der Code auch leicht zu knacken wäre.
William schaute zu Vektor Hansen hinüber, der bereits losgelegt hatte. Seine langen Finger bewegten sich in gewaltigem Tempo und drehten und wendeten den Zylinder. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass aus seinem Mundwinkel bereits ein langer Speichelfaden hing.
William schloss die Augen und konzentrierte sich, wie er das immer tat, wenn er einen Code knacken sollte. Es dürfte nicht allzu schwer sein, Vektor Hansen zu schlagen. William saß einfach nur da und wartete.
Dann spürte er es.
Dieses besondere Gefühl im Bauch, das sich immer einstellte. Das Ziehen setzte stets dort ein, dann wanderte es sein Rückgrat hoch und in seine Hände. Genau das passierte auch jetzt.
Alles um ihn herum schien zu verschwinden.
Das Einzige, was er sah, war der Zylinder in seinen Händen. Der schien zu leuchten, sich gleichsam aufzulösen, als schwebten die verschiedenen Bestandteile vor William in der Luft. William wusste, dass das nicht in Wirklichkeit passierte. Nur er konnte es sehen, das Luridium schien auf irgendeine Weise zu helfen, wenn er einen Code knacken sollte.
Seine Hände fingen an zu arbeiten.
Schneller und schneller.
Sie drehten und wendeten die verschiedenen Teile des Zylinders in einem wahnsinnigen Tempo. Er schaute zu Vektor Hansen hinüber, der auf der Sofakante saß und arbeitete, als gelte es das Leben.
Plötzlich spürte William, wie das warme Gefühl aus seinen Händen verschwand. Er fing an zu frieren. Er schaute nach unten.
Etwas stimmte hier nicht.
Seine Finger zitterten heftig, er konnte die Schwierigkeit fast nicht mehr festhalten, und das Licht, das ihn eben noch umgeben hatte, war verschwunden.
Etwas stimmte hier absolut nicht.
Vor seinen Augen wurde es schwarz, und er fing an, am ganzen Leib zu schlottern.
Und dann hielten seine Hände einfach inne.
Er versuchte sich zu konzentrieren, aber er hatte seinen Körper offenbar nicht mehr unter Kontrolle. Seine Hände waren so kalt, dass er sie kaum noch spürte.
Der Zylinder rutschte ihm aus den Händen und fiel wie in Zeitlupe zu Boden. William sah entsetzt zu, wie der Zylinder auf das Parkett knallte und zerbrach.
Er saß einfach nur da und starrte verdutzt alle Bestandteile an, die vor ihm auf dem Boden lagen.
Die Schwierigkeit war zerstört.
William hob den Blick zum Publikum. Er konnte sehen, dass die Leute im Saal die Köpfe zusammensteckten und tuschelten, aber er hörte nur ein Summen, wie von einem gewaltigen Hummelschwarm. Ihm war schwindlig, und er griff sich an den Kopf. Dann schaute er zu Vektor Hansen hoch, der die Schwierigkeit triumphierend in die Höhe hielt.
Er hatte den Code geknackt.
Vektor Hansen hüpfte wie ein verrücktes Känguru über die Bühne und jubelte:
»ICHHABEGEWONNEN! ICHHABEGEWONNEN! ICHHABEGEWONNENUNDWILLIAMWENTONHATVERLOREN!«
William hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan.
Jetzt saß er am Küchentisch und merkte, wie müde er war.
Seine Mutter kehrte ihm den Rücken zu und buk Pfannkuchen. Sie machte immer Pfannkuchen, wenn William niedergeschlagen war. Er schaute zu einer Zeitung hinüber, die zusammengefaltet auf dem Tisch lag. WILLIAMWENTON: DOCHNICHTSOGENIAL! war die fette Schlagzeile auf der ersten Seite. Darunter zeigte ein Bild den überglücklichen Vektor Hansen, der triumphierend die Schwierigkeit hochhielt, während William wie benommen auf dem Sofa im Fernsehstudio saß.
»Komm schon … iss so viele, wie du willst«, sagte Mama und stellte einen Teller voller Pfannkuchen vor ihn hin.
»Wie fühlst du dich?«
William zuckte mit den Schultern. Er wusste nicht, was schlimmer war, einen Wettbewerb zu verlieren, bei dem ihn alle schon als Sieger gesehen hatten, oder das Gefühl, die Kontrolle über seinen Körper verloren zu haben. Die ganze Nacht über hatte er sich an neuen Codes versucht, und das Luridium hatte wieder ganz normal funkioniert. Er hatte sie alle gelöst. Was in aller Welt war da im Fernsehstudio passiert? Warum hatte sein Körper dermaßen gezittert? Und was hatte ihn daran gehindert, mit der blöden Schwierigkeit fertigzuwerden?
Mamas Blick fiel auf die Zeitung. Sie zog sie zu sich und schob sie unter einen Stapel von alten Zeitungen auf der Anrichte. Danach drehte sie sich wieder zu William um und sah ihn an, als wisse sie nicht, was sie sonst noch sagen oder tun könnte. Sie zuckte zusammen, als draußen auf dem Gang ein furchtbarer Krach ertönte, so als ob jemand ein Klavier die Treppe hinuntergeworfen hätte.
»Langsam hat er das wohl im Griff«, sagte Mama mit verlegenem Lächeln.
Sie wirkte erleichtert, weil sie endlich über etwas anderes reden konnte.
»Mhm«, sagte William und sah die Pfannkuchen an.
Dann hörten sie wieder ein lautes krack. Mama lief hinaus auf den Gang.
»Alles okay?«, hörte William sie fragen.
»Sicher … ist nur eine Frage des Austarierens«, antwortete Papa mit übertrieben gut gelaunter Stimme.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte Mama.
»Nicht doch. Das geht bestens!«, sagte Papa, dann folgten ein Knall und ein Geräusch, als ob etwas zerbrochen wäre.
»Die Vase konnte ich sowieso noch nie leiden«, murmelte Mama, als sie zurück in die Küche kam.
Dann tauchte Williams Vater in der Türöffnung auf.
»Hallo, William …« Mehr brachte er nicht heraus, denn nun packte seine eine Hand die Tür und knallte sie vor seiner Nase zu.
William konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Er blieb sitzen und wartete.
Sofort wurde die Tür wieder aufgerissen und Papa kam in die Küche getrampelt. Etwas, das auf den ersten Blick aussah wie metallische Stelzen, war an der Außenseite seiner Beine befestigt. Diese Stelzen reichten von seinen Hüften bis zu seinen Füßen, und Klettverschlüsse hielten sie an Knöcheln und Oberschenkeln fest. An seinen Armen befanden sich ähnliche Geräte: zwei Metallstangen reichten von seinen Schultern bis zu seinen Händen.
Papas Arme fuchtelten unkontrolliert in der Luft herum, während sein Blick sich auf den freien Stuhl neben Mamas richtete.
»Das schaffe ich«, sagte er verbissen und streckte die Hand zielstrebig nach dem Stuhl aus.
Was Papa da an sich hatte, war ein Exoskelett. William wusste, dass das Wort »exo« griechisch war und »außen« bedeutete. Er hatte viele Fernsehsendungen über Tiere gesehen, die ihr Skelett außerhalb des Körpers hatten. Insekten zum Beispiel.
Das Exoskelett seines Vaters war einige Wochen zuvor an der Haustür abgeliefert worden, es war eine Sonderanfertigung des Instituts für Posthumane Forschungen. William hatte gehofft, dass die Sendung des Institutes für ihn wäre, und eigentlich war er ziemlich enttäuscht gewesen, als er auf dem riesigen Paket den Namen seines Vaters entdeckt hatte.
Im beigelegten Brief stand, das Skelett sei ein neuer Prototyp, den Papa doch bitte testen solle. Das Skelett solle es Leuten wie ihm ermöglichen, sich ohne Rollstuhl fortzubewegen.
Anfangs hatte Papa sich strikt geweigert. Er wollte weder mit dem Exoskelett noch mit dem Institut irgendetwas zu tun haben, und deshalb wollte er das Paket sofort zurückschicken. Aber Mama hatte ihn am Ende überreden können, es doch wenigstens auszuprobieren, was sie inzwischen vielleicht ein bisschen bereute. Es sah nämlich aus, als ob eine Herde von durchgedrehten Büffeln durch das Haus getrampelt wäre.
Papa trampelte durch die Küche und krachte gegen den Kühlschrank. Er taumelte rückwärts und knallte gegen die Anrichte, während der Kühlschrank bedrohlich wackelte.
»Das geht schon … das geht schon …«, sagte er und klammerte sich an die Küchenvorhänge.
Die Kühlschranktür sprang auf und ein Milchkarton fiel heraus. Die Milch floss über den Boden und machte es für Papa noch schwerer, sich auf den Beinen zu halten.
»Ich wisch es auf«, sagte Mama.
Papa ließ den Vorhang los, starrte William an und lächelte dabei sogar.
»Wie geht es dir denn heute?«, fragte er mit angestrengter Stimme und stolperte mit ausgestreckten Händen auf den Tisch zu.
»Okay«, log William und legte sich einen Pfannkuchen auf den Teller.
Papa ließ sich neben ihn fallen.
»Mmmm … Pfannkuchen«, sagte er, nahm sich drei vom Stapel und ließ sie auf den Fußboden klatschen.
»Brauchst du Hilfe?«, fragte William freundlich.
»Nicht nötig. Ich glaube, ich verzichte heute auf Pfannkuchen«, sagte Papa. »Die sind mir zu flach.«
Er lächelte und sie schwiegen, während Mama einen neuen Pfannkuchen nahm und ihn vorsichtig auf Papas Teller legte. Papa schien protestieren zu wollen, aber Mama hob abwehrend die Hand.
»Du musst essen«, erklärte sie energisch. »Denk doch bloß daran, wie viele Kalorien du verbrennst, wenn du diese Geräte da anhast.«
Papa seufzte und nahm sich einen Löffel Marmelade aus dem Glas. Er verkleckerte das meiste davon über dem Tisch, aber mit einem kleinen Rest konnte er den Pfannkuchen doch noch treffen. Dann hob er den Blick und starrte William eine Weile an.
»Mach dir nichts daraus, was gestern passiert ist. Wir wissen, dass du der beste Codeknacker auf der Welt bist. Und die anderen sind alle blöd«, sagte er und rang sich ein Grinsen ab.
Es tat gut, das von Papa zu hören. Noch vor einem Jahr hatte er alles, was mit Codes zu tun hatte, so sehr gehasst, dass er William das Codeknacken verboten hatte.
»Ohne Widerstand können wir nicht wachsen«, sagte Papa. »Sieh dir nur mich an!« Er breitete seine mechanischen Arme aus und wäre dabei fast vom Stuhl gefallen.
William lächelte.
Aber dann sah Papa plötzlich ernst aus. Er beugte sich zu William vor, als ob er etwas überaus Geheimes und überaus Wichtiges sagen wollte.
»Manchmal führen unsere Begabungen uns an Orte, denen wir vielleicht noch nicht gewachsen sind.« Jetzt flüsterte er fast.
»Wie meinst du das?«, fragte William.
»Ich meine, wenn etwas schwierig wird, ist das nicht notwendigerweise eine Niederlage. Es kann auch bedeuten, dass wir dabei sind, uns weiterzuentwickeln. Dass wir lernen. Und stärker werden.«
Papa legte eine kurze Pause ein, dann fügte er hinzu:
»Denk daran, du bist stärker, als du glaubst, William.«
»Wie meinst du das?«, fragte William.
»Das musst du selbst herausfinden«, sagte Papa und pikte ein Stück Pfannkuchen auf, ehe er es sich gegen die Stirn klatschte.
William starrte auf seinen Teller. Er wollte ja mehr lernen. Wollte stärker werden. Aber wie sollte er das schaffen, jetzt, wo er nicht mehr im Institut war?
Mama schien seine Gedanken lesen zu können. »Hast du in letzter Zeit von Opa gehört?«, fragte sie und sah William aufmerksam an.
Der schüttelte den Kopf.
Seine Eltern tauschten einen raschen Blick. Als ob sie etwas wüssten, das er nicht wusste.
»Was ist los?«, fragte er.
William schaute Mama an.
»Was ist los?«, fragte er noch einmal.
Er sah ihr an, dass sie es ihm eigentlich gern erzählt hätte.
»William … Es gibt etwas, das du wissen solltest … über Opa«, sagte sie langsam und zögernd.
»Was denn?«, fragte William und setzte sich gerade hin. »Habt ihr mit ihm gesprochen?«
»Nein«, sagte Mama. »Wir haben nichts von ihm gehört … das ist es ja gerade.«
»Was denn?«
»Dass wir nichts von ihm gehört haben«, sagte sie und machte eine Pause. »Aber so ist er eben.«
»Wie meinst du das?«, fragte William.
»Auf Opa ist nicht immer Verlass«, antwortete Mama. »Nicht, weil er rücksichtslos wäre. Aber er ist so in seine Arbeit vertieft, dass er ab und zu einfach alle in seiner Nähe vergisst. Vor allem seine Familie.« Mama versuchte zu lächeln.
William starrte sie an.
»Meinst du, er hat mich vergessen?«, fragte er.
Mama schüttelte den Kopf. Sie legte die Hand auf seine.
»Ich sage nur, dass er ein bisschen … zerstreut sein kann. Dass er in seiner eigenen Welt verschwindet. Und dann vergisst er einfach alles um sich herum.«
Mama schaute zu Papa hinüber, dann sah sie wieder William an.
»Ich bin sicher, für dich ist er der tollste Opa auf der ganzen Welt. Aber du bist alt genug, um zu wissen, dass er manchmal Dinge verspricht, die er dann nicht hält.«
William zog seine Hand zurück.
Was versuchte Mama ihm da zu erzählen?
Sollte das heißen, dass er vielleicht nicht ins Institut zurückkehren würde?
Herr Humburger hatte die Hände in die Seiten gestemmt und starrte die Klasse aus seinen katzenhaften Augen an.
William musterte skeptisch den Schmerbauch seines Lehrers, der bedrohlich in Richtung der Schüler zeigte. Er glaubte fast hören zu können, wie der Bauch den Countdown startete, um dann zu explodieren und sie alle auszulöschen.
»Habt ihr eure Hausaufgaben gemacht?«, fragte Herr Humburger und kniff die Augen so fest zusammen, dass sie fast verschwanden.
Zwanzig Köpfe nickten gleichzeitig.
Nur Williams nicht.
»William? Hast du etwas, das du vorzeigen kannst?«, fragte Herr Humburger. »Oder warst du zu sehr damit beschäftigt, dich im Fernsehen zu blamieren?« Er stieß ein kurzes Lachen aus, das so plötzlich endete, wie es angefangen hatte.
Herr Humburger hatte William noch nie leiden können. Er verabscheute Schüler, die intelligenter waren als er selbst. Und es gefiel ihm offenbar erst recht nicht, dass William als einer der besten Codeknacker der Welt bekannt war.
Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, wieder in seiner alten Klasse in Norwegen zu sein, weit weg vom Institut, hatte William nun auch wieder Herrn Humburger als Klassenlehrer und musste eine Stunde nach der anderen bei ihm durchleiden. Er war übellauniger denn je, und natürlich hatte er Williams Fernsehauftritt miterlebt.
»Habt ihr alle gesehen, was William sich gestern im Fernsehen geleistet hat?«, rief er in die Klasse.
Alle nickten.
»Sehr schön«, sagte Herr Humburger, dann schaute er William schadenfroh an. »Na los, hast du deine Hausaufgaben gemacht? Hast du ein Projekt mitgebracht?«
William schaute die Tischplatte an.
Natürlich hatte er seine Hausaufgaben gemacht. Er hatte sein Projekt schon längst fertig. In seinem Rucksack lag ein mechanischer Krebs, eines der coolsten Dinge, die er in der letzten Zeit erfunden hatte. Aber er hatte keine besondere Lust, den Krebs vorzuzeigen. Er hatte nach dem, was im Fernsehstudio passiert war, überhaupt keine Lust mehr, etwas vorzuzeigen. Viel lieber hätte er sich zu Hause in seinem Zimmer versteckt.
Und wäre nie wieder zum Vorschein gekommen.
»Hast du wirklich gar nichts mitgebracht?« Herr Humburger kam mit katzenhaften Schritten auf William zu.
William schaute zu Herrn Humburgers Schmerbauch hoch, der dicht vor seinem Gesicht auf und ab wogte, wie ein Geleeklumpen im Hemd.
»Doch, er hat etwas mitgebracht. Das liegt in seinem Rucksack«, sagte ein sommersprossiges Mädchen, das gleich hinter William saß. Sie zeigte auf einen Schuhkarton, der aus seinem Rucksack herauslugte. Darauf war mit rotem Filzstift Projekt geschrieben.
»Also doch …«, sagte Herr Humburger enttäuscht und sah für einen Moment aus, als ob es ihm sauer aufgestoßen wäre. Er räusperte sich. »Dann zeig mal her.«
»Jetzt?«, fragte William.
»Aber plötzlich«, blaffte der Lehrer ungeduldig und streckte eine rötliche Hand aus.
William zögerte kurz, dann bückte er sich und nahm den Schuhkarton aus seinem Rucksack.
»Ein Schuhkarton … wie originell«, sagte Herr Humburger spöttisch.
»Bestimmt liegt etwas darin«, sagte das sommersprossige Mädchen.
»Und, liegt da etwas drin?«, knurrte Herr Humburger.
William nickte.
»Dann her damit«, befahl der Lehrer.
William nahm den Deckel ab und legte ihn vorsichtig neben den Karton. Dann hob er behutsam den mechanischen Krebs heraus und stellte ihn auf das Pult.
»Vorsichtig! Nicht, dass er kaputtgeht, aber …« Mehr konnte er nicht sagen, denn schon hatte Herr Humburger den Krebs an sich gerissen.
»Was meint ihr wohl, was das hier ist?«, rief er und hielt den Metallkrebs hoch, damit die ganze Klasse ihn sehen konnte.
»Das sieht aus wie so ein Dings, mit dem man sich die Kopfhaut massiert«, meinte ein Mädchen und rückte seine große Brille zurecht. »Meine Mutter hat so ein ähnliches.«
»Ist das so ein Dings, mit dem man sich die Kopfhaut massiert, William?«, fragte Herr Humburger und sah ihn an.
William schüttelte den Kopf. Er merkte, dass er rot wurde. Warum konnte Herr Humburger ihn denn nicht einfach in Ruhe lassen?
»Andere Vorschläge?«, fragte Herr Humburger und ging zurück zum Pult.
»Das ist eine Drohne«, schlug ein rundlicher Junge mit blonden Locken vor. »Eine mechanische Tintenfischdrohne.«
»William?«, rief Herr Humburger. »Ist Drohne die richtige Antwort?«
»Nein …«, sagte William. »Oder doch, irgendwie schon … kann ich ihn jetzt zurückhaben?«
William war jetzt wirklich sauer. »Natürlich kannst du ihn zurückhaben«, sagte Herr Humburger. »Sowie du uns gezeigt hast, wozu er gut ist.«
William zögerte.
»Du kannst dir ruhig Zeit lassen, wenn du nur JETZTSOFORTLOSLEGST!«, fauchte Herr Humburger, der inzwischen knallrot im Gesicht war. Schweißtropfen liefen über seine Stirn und auf seine Nasenspitze.
William erhob sich und ging nach vorn ans Pult.
»Leg los«, rief Herr Humburger und warf ihm den Krebs zu.
William konnte ihn gerade noch auffangen, ehe er auf den Boden fiel.
»Dreh dich um und erzähl uns laut und deutlich, was du da gebaut hast.«
William drehte sich zur Klasse um. Er hatte die anderen während seiner Zeit im Institut nicht gerade vermisst. Und er glaubte auch nicht, dass die anderen ihn vermisst hatten. Einige grinsten boshaft, aber zwei andere wirkten ehrlich neugierig.
»Das ist ein mechanischer Krebs«, fing er an und zeigte ihn der Klasse. »Er kann von selbst gehen. Er kann sich umdrehen und er kann pfeifen.«
»WOOOOOW … das klingt ja total fantastisch, William«, sagte Herr Humburger, ehe William noch mehr sagen konnte. »Ein pfeifender Krebs. Nicht gerade eine Erfindung, die die Welt retten wird, glaube ich.« Sein fettes Gesicht verzog sich zu einem krampfhaften Grinsen. »Dann zeig uns doch mal …«
»Ich kann es versuchen«, sagte William kleinlaut.
Er stellte den Krebs auf das Pult und drückte auf einen Knopf auf dem Krebsrücken.
Das kleine mechanische Tier blieb bewegungslos stehen. William stupste es mit dem Zeigefinger an. Aber nichts passierte.
»Sehr gut, William«, wieherte Herr Humburger. »Du hast eine mechanische Krebsskulptur gebaut.«
Einige lachten. Ein großer dünner Junge, der Liebling von Herrn Humburger, kicherte so aufgesetzt, dass William fast selber losgelacht hätte.
William schaute wieder den Krebs an. Er hätte ihn sich am liebsten geschnappt und wäre damit aus der Klasse gestürzt.
»Ich glaube nicht …«, begann er, wurde aber davon unterbrochen, dass der Krebs plötzlich die Beine bewegte und dann auf den Pultrand zulief, während er die englische Nationalhymne pfiff. Die Klasse schnappte nach Luft.
»Fang ihn ein! Der fällt sonst runter«, rief ein Mädchen und zeigte auf den Krebs, der noch immer auf den Pultrand zuhielt.
»Wartet«, sagte William.
Als der Krebs den Rand erreicht hatte, machte er eine scharfe Wendung und marschierte wieder zurück.
»Der kapiert, wann er wenden muss«, erklärte William und schaute die Klasse an.
Viele sahen beeindruckt aus und er fühlte sich etwas besser.
»Na schön, er kann also pfeifen und sich umdrehen. Aber das können wir alle. Was kann er sonst noch?«, fauchte Herr Humburger und schaute auf seine Armbanduhr. »Jede Vorführung soll drei Minuten dauern. Du hast noch eine Minute, um uns etwas zu zeigen, was nicht absolut sterbenslangweilig ist.«
Es war leicht zu verstehen, dass es Herrn Humburger gar nicht gefiel, dass Williams Projekt offenbar funktionierte.
»Ab und zu kann er auch die Wand hochklettern«, sagte William.
»Gelogen«, rief der Lehrer, und sein Schmerbauch klatschte William ins Gesicht.
»Es stimmt!« Jetzt war Williams Ehrgeiz geweckt und er wollte der Klasse zeigen, was sein Krebs alles konnte.
Er stellte ihn auf den Boden, und der Krebs lief geradeaus, bis er bei der Wand angekommen war. Dann stieß er immer wieder mit dem Kopf dagegen, wie ein kleiner Stier. Herr Humburger war entzückt.
»Das ist ja schade«, sagte er grinsend. »Der funktioniert offenbar doch nicht. Das gibt eine schlechte Note …DERNÄCHSTE.«
Plötzlich schnappte die Klasse wieder nach Luft.
»Da!«, rief ein Mädchen und zeigte auf den Krebs.
Der war inzwischen schon die halbe Wand hochgelaufen.
»Er hat einen elektrostatischen Elektrizitätsgenerator im Bauch«, erklärte William. »Das ist dasselbe Prinzip, wie wenn man sich mit einem Ballon an den Haaren reibt, und dann haftet er an der Wand.«
Die ganze Klasse starrte den Krebs an, der seitwärts die Wand hochlief, bis er die Decke erreicht hatte. Dort blieb er eine Weile stehen, dann wanderte er über die Decke weiter.
»Das hat er noch nie gemacht«, murmelte William.
»Was denn?«, fragte Herr Humburger.
»An der Decke laufen«, sagte William.
»Nicht?«, rief Herr Humburger. »Dann tut er also nicht, was er soll? Das gibt eine schlechte Note!«
Die ganze Klasse sah zu, wie der kleine Wicht an der Decke hin und her eilte. Er knallte gegen eine Lampe, wechselte die Richtung und kam dann genau über Herrn Humburger zum Stehen.
»Was ist denn jetzt los?«, fragte Herr Humburger unsicher.
»Äh«, stotterte William. Er wusste es ja selbst nicht so recht. »Der wartet.«
»Wartet …«, äffte Herr Humburger ihn nach und verzog seine Schneckenlippen zu einer Art Schmollmund. »Worauf wartet er denn? Auf den Weihnachtsmann?«
Die Klasse lachte ein bisschen.
»Auf Befehle«, improvisierte William. Er versuchte, sich so überzeugend anzuhören wie möglich.
»Befehle kann er gern haben«, sagte Herr Humburger.
Er holte sich einen Besen, der an der Wand gelehnt hatte, und tippte den Krebs mit der Spitze des Schaftes vorsichtig an.
»Der sitzt total fest. Das ist nicht gut. Davon kann die Farbe an der Decke zerkratzt werden«, blaffte der Lehrer durch zusammengebissene Zähne. »Das gibt eine schlechte Note!«
»Warten Sie«, sagte William.
»Warten im Garten«, spottete Herr Humburger und schlug mit dem Besenstiel gegen den Panzer des Krebses.
Plötzlich löste sich der Krebs von der Decke und fiel Herrn Humburger mitten auf den Kopf. Die Klasse schnappte nach Luft.
»Au … au … au … der hat mich angegriffen«, rief Herr Humburger. »Wo steckt er denn?« Er schaute sich ängstlich um, griff sich dabei an den Kopf und schwankte. Es sah fast aus, als werde er gleich in Ohnmacht fallen.
»Da ist er!«, rief ein Junge und zeigte auf den Krebs, der auf dem Boden auf ein Bücherregal zurannte.
»Aus dem mach ich eine Konservendose«, schrie Herr Humburger.
Er hob den Besen wie ein Schwert und machte sich auf die Jagd. Er sprang vorwärts und stieß nach dem Krebs. Der bewegte sich im Zickzack über den Boden und verschwand dann blitzschnell unter dem Bücherregal.
»Stehen bleiben, du Blödmann!«, brüllte Herr Humburger und stieß mit dem Besenstiel zu.
Der Besenstiel traf das Bücherregal und brach entzwei.
»Seht ihr, was der angerichtet hat«, schrie Herr Humburger und warf den zerbrochenen Besen weg, der daraufhin durch die Luft flog und den Kopf eines Mädchens streifte, das gerade eben noch ausweichen konnte. »Das ist Zerstörung schulischen Eigentums!«
Der Lehrer ließ sich auf den Boden fallen, schob die Hand unter das Bücherregal und suchte wütend nach dem Krebs.
»Ich glaube, das ist keine so gute Idee«, sagte William vorsichtig. »Vielleicht hat er Angst, und dann …«
Aber es war schon zu spät.
Plötzlich heulte Herr Humburger auf wie ein abgestochenes Schwein, wälzte sich vom Bücherregal weg und schüttelte hektisch die Hand. Der Krebs hatte ihm beide Krallen in den Zeigefinger geschlagen und hing jetzt daran fest.
»Mach ihn ab. MACHIHNAB!«, kreischte Herr Humburger. »Der hat mich schon wieder angegriffen! Der ist ja vollkommen wild geworden!«
Herr Humburger knallte den kleinen Krebs auf den Boden, und ein Stück vom Panzer brach ab.