Windstärke 10 - Arnd Rüskamp - E-Book

Windstärke 10 E-Book

Arnd Rüskamp

4,0

Beschreibung

Ein facettenreicher Krimi mit hintergründigem Witz und einer großen Portion Lokalkolorit. Der Bundeswirtschaftsminister wird ermordet aufgefunden – auf einhundert Metern Höhe, in der Gondel eines Windrades. So spektakulär der Tatort, so brisant ist der Fall, schließlich zieht der Tod des Politikers die Aufmerksamkeit des ganzen Landes auf sich. War der Mord ein Rachefeldzug im politischen Umfeld, liegt das Motiv im Privatleben des Ministers, oder geht hier jemand aus purer Liebe zur Heimat über Leichen? Hauptkommissarin Marie Geisler und ihr Team wagen sich in gefährliche Gewässer.

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Arnd Rüskamp ist am südlichen Rand des Ruhrgebietes am Baldeneysee geboren. Er hat Publizistik studiert, war Reporter und Moderator, Autor und Verleger. Heute verdient er sein Geld noch immer in den Medien, hat aber erkannt, dass sein berufliches Glück zwischen zwei Buchdeckeln liegt. Dort macht er für sich und seine LeserInnen Grenzerfahrungen zwischen Fiktion und Realität. Er lebt im Ruhrgebiet und in seiner Wahlheimat zwischen Schlei und Ostsee.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Nordreisender/photocase.de

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Hilla Czinczoll

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-464-3

Küsten Krimi

Originalausgabe

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Für meine Eltern

In der Reihe hinter Lukas saßen die Zwillinge. Sie waren nach ihm in den Schulbus gestiegen. Lukas hatte gesehen, wie sie grinsten, als sie ihn entdeckten. Der Bus beschleunigte. An Lukas’ rechtem Arm pikste etwas. Er schaute in den Spalt zwischen den rot und grün karierten Sitzen und sah, wie ein spitzer Zweig verschwand. Die Zwillinge kicherten. Lukas drehte sich um, kniete sich auf die Sitzfläche, umfasste die Rückenlehne und reckte seinen Kopf, so schnell er konnte, über die Kopfstütze. Die Zwillinge rissen die Augen auf und schrien, wie Lukas sie noch nie hatte schreien hören. Sie waren zu Tode erschrocken. In der Reihe vor Lukas schrie Amelie, sie schrie höher und lauter als die Zwillinge. Der Bus bremste. Jetzt schrien auch die anderen. Es war so laut, dass Lukas sich die Ohren zuhielt und sich auf den Sitz zurückplumpsen ließ. Er schaute aus dem Fenster, und dann schrie auch er.

Noch kein Abschied

Ein Taxi hatte Dr. Holm gebracht. Es war eine spontane Verabredung gewesen. Er wolle wissen, wie es ihr gehe, hatte er am Telefon gesagt. Beinahe ein halbes Jahr war seit ihrem letzten Treffen vergangen. Der legendäre LKA-Mann und Marie, seine beste Mitarbeiterin.

»Zum Frühstück?« Holm deutete auf Maries Glas. »Sie wissen, wie viel Zucker da drin ist.«

»Sie sind nicht mehr mein Chef.« Marie griff nach dem Glas, trank und grinste.

»Nein, nicht mehr Ihr Chef.« Er schaute aus dem Fenster. Eine kleine Gruppe junger Männer in orangefarbenen Hosen näherte sich laut feixend, zwei Männer betraten den Imbiss. Die anderen setzten sich an die Tische zwischen dem flachen Gebäude und der schmalen Rasenfläche. Eine Schachtel Zigaretten machte die Runde. Von der Sonne gebräunte, sehnige Unterarme stützten sich auf dem Tisch ab. Unbeschwertes Lachen drang durch die Tür und das gekippte Fenster.

»Und, bleibt was?«, fragte Holm ins Klappern aus der Imbissküche. Fügte nach einer kurzen Pause hinzu: »Bleibt – uns was?« Er betrachtete seine Hände.

Marie schluckte, öffnete und schloss den Mund, setzte die Cola langsam ab. Ein Tropfen lief außen am Glas herunter. Der Untersetzer sog ihn auf, die Flüssigkeit breitete sich aus. Marie starrte. »Ja«, sagte sie dann. »Vertrauen. Uns bleibt Vertrauen.«

Holm beobachtete weiter die lebhafte Szene draußen. »Die haben Pommes bestellt.«

»Zum Frühstück«, ergänzte Marie. »Wollen wir auch?«

»Noch mal über die Stränge schlagen, meinen Sie?«

»Erfährt ja niemand.«

Holm schürzte die Lippen. Marie stand auf und bestellte.

Im Eckernförder Cleanpark gleich nebenan wusch eine blonde Frau einen weißen Transporter. Die Männer in Orange hatten gelacht, gegessen, gekleckert. Jetzt waren sie gegangen. Eine Möwe besorgte den Rest. Marie und Holm aßen schweigend.

»Warum haben Sie es nicht gemacht?«

»Ihren Job übernommen?«

»Ja. Sie hätten das gut gemacht.«

»Abteilungsleiterin. Das hätte mich aufgefressen.«

»Und jetzt Fallanalyse?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich das kann.«

»Das wusste ich schon. Also, warum?«

»Schauen Sie sich an.«

»Touché.«

»Metastasen?«

Holm bedeckte seine linke mit der rechten Hand. Die kleinen Einblutungen hatte Marie schon gesehen, als sie sich begrüßt hatten. Und die fahle Haut hatte sie gesehen, die eingefallenen Wangen. Der Maßanzug ihres ehemaligen Chefs hing ihm schlaff vom Körper.

»Im Skelett. Ich schaue nach einem Hospiz.«

Marie legte die rechte Hand über Holms Hände. Er zog sie nicht zurück.

»Soll ich meinen Mann mal fragen? Er hat sich intensiv mit Palliativmedizin beschäftigt. Aber groß ist das Angebot nicht.«

Wieder nickte Holm. Marie wusste nichts über seine Familie. Nie hatte er Privates mit ins LKA gebracht. Keine Fotos auf seinem Schreibtisch. Vielleicht war er nicht nur beruflich ein einsamer Wolf gewesen.

»Wie geht’s Ihrem Ermittlungsmobil?«

»EMO? Blendend. Nachdem mein Schwiegervater im letzten Jahr eine gelbe Warnleuchte einfach abgeklebt hat, läuft er und läuft und läuft. Beinahe wie ein Käfer. Das kleine runde Auto aus Ihrer Zeit. Wir könnten eine Spritztour machen. Dann wasche ich ihn eben morgen. Ich habe frei, und Sie können mir das Wochenende nicht mehr versauen, wie früher.«

Marie zog den Schlüssel aus der Hosentasche und wedelte mit ihm vor Holms Augen, die nichts an Glanz verloren hatten.

»Sie könnten mich nach Hause fahren.«

»Gern. Ich wollte schon lange sehen, wie Sie leben. Eine Höhle, nein, warten Sie, eine Hütte tief im Wald?«

»Als ob ich Sie hineinbitten würde.« Holm stand auf. Schmerz in seinem Gesicht. Marie ging zur Theke und zahlte.

Als sie das EMO, ihren zum Ermittlungsmobil umgebauten VW-Bus, erreichte, stand Holm an der Beifahrertür, die Hand bereits am Türgriff. Reglos. Er wirkte, als habe man ihn dort abgestellt. Marie stieg ein, Holm stieg ein. Sie startete den Motor, er schnallte sich an, nannte die Adresse.

»Wissen Sie, wo das ist?«

Marie wusste und bog links ab, fuhr zwischen den parkenden Autos auf der linken und der Eckernförder Famila-Filiale auf der rechten Seite hindurch, hupte, als sie Michael in Richtung Getränkemarkt verschwinden sah. Der Warenhausleiter erkannte sie, drohte mit der Faust. Sein Fußballverein war nicht Maries Fußballverein. Freunde waren sie trotzdem.

An der Eisenbahnschranke mussten sie warten. Zwei Männer in Orange befreiten die Fläche jenseits der Gleise mit Motorsensen von dem, was die Natur aus jeder Ritze drückte. Ein Sicherheitsmitarbeiter beobachtete sie mit einer Zigarette im Mundwinkel und einer Signaltröte über der Schulter.

»Dänische Zigaretten«, bemerkte Holm. »Ein sparsamer Mann aus dem Grenzgebiet.«

»Waren die eben am Nebentisch?«, kombinierte Marie. »Habe ich nicht wiedererkannt.« Dann grinste sie. »Die Jungs rauchen Look.«

Holm schnaubte. »Hatte schon kurz an Ihnen gezweifelt. Überhaupt: Ihr T-Shirt. Kryptisch.«

Marie zupfte an ihrem hellblauen T-Shirt, auf dem in dunkelblauer Schrift »Dünn war ich schon« zu lesen war. »Eine Unachtsamkeit während der Bestellung. Der Spruch war für meinen Vater gedacht. Dummerweise habe ich es in meiner Größe bestellt.«

»Ihr Vater hat es nicht leicht mit Ihnen.« Die Schranke öffnete sich.

»Musik?«, fragte Marie, und ohne eine Antwort abzuwarten, schob sie die erstbeste CD in den Schacht. »Ich höre bei der Arbeit Streichquartette.«

»Ich weiß. Aber Sie haben doch frei.«

»Ein bisschen Kultur schadet nie.«

Es erklang ein Stück des Danish String Quartet. Holm drehte den Kopf nach rechts. In der Feuchtwiese standen Galloway-Rinder, deren zotteliges Fell warm im Sonnenlicht leuchtete. Die Musik passte zu den Tieren, das Wasser der Ostsee zur Musik. Leicht stieg die Straße an, die Bäume rückten näher. Schatten. Zwischen sich und dem Wasser wusste Marie den Begräbniswald. Sie dachte an ihre Mutter auf dem Friedhof. Fünf Autostunden von hier. Am Abzweig zur Nebenstrecke nach Kiel verklang das erste Stück. Holm wischte sich mit der Hand über die Augen.

»Was ist das? Es ist wunderschön.«

»Männer mit langen Bärten und Turnschuhen. Nichts für Sie.«

»Es ist wunderschön«, wiederholte Holm.

»Vier Dänen mit traditionellen, aber auch eigenen Kompositionen.«

»Nordische Folklore.«

»So ist es.«

Hinter dem Flughafen bog Marie nach Kiel-Holtenau ab, fuhr hinunter Richtung Schleuseninsel.

»Hausnummer?«

»Gleich hier bei der Schlachterei.«

Marie parkte halb auf dem Bürgersteig.

»Machen Sie das immer so?«

»Nur wenn ich Männer nach Hause begleite.«

Ein Containerschiff verließ die Schleuse. Stolz die in den Himmel ragenden weißen Aufbauten, mächtig der blaue Rumpf Richtung Brunsbüttel. Es roch nach Diesel. Marie war stehen geblieben.

»Panta rhei«, sagte Holm. Er trat neben Marie. Gemeinsam betrachteten sie das Schiff, den rostigen Anker, das Schraubenwasser, als es sich entfernte, die gleichmäßige Bewegung.

»Gemacht, geholt, gebracht, gebraucht. Alles im Fluss. Das ist schon wahr. Nix is fix.« Marie hakte Holm unter. Und wieder ließ er es geschehen. Holm, der Unnahbare. Das war gestern. »Na, dann zeigen Sie mir mal Ihre Junggesellenbude.«

Vor Holms Haustür angelangt, klingelte Maries Handy. Sie fischte es mit der linken Hand aus der Hosentasche. »Meine neue Chefin«, erklärte sie.

Holm ließ ihren Arm los. »Danke fürs Bringen. Die Briefmarken dann beim nächsten Mal.«

»Wer?« Marie sprach ins Handy.

»Ich gebe nur weiter, was die Polizei vor Ort gesehen und mitgeteilt hat, Frau Geisler.«

»Und der Auffindeort ist bestätigt?«

»Ja.«

»Warum muss ich das machen?«

»Weil ich es sage.«

»Ich melde mich.« Marie drückte den Anruf weg.

Ihre neue Chefin war Holm gar nicht unähnlich. Sie kommunizierte kurz und knapp. Damit konnte Marie gut umgehen. Eigentlich passte das nicht zu der Frau, die im LKA den Ruf genoss, hart durchgreifen zu können. Astrid Moeller kam aus Süderlügum, sprach als Spross einer deutsch-dänischen Familie fließend Dänisch, und ihr Büro war mit »hyggelig« noch zurückhaltend beschrieben. Spötter behaupteten, mit den Kerzen aus ihrem Büro könne man eine Lichterkette um das gesamte LKA bilden. Marie gab EMO die Sporen.

Über die Autobahn war es ein Katzensprung bis an den Kanal nach Sehestedt. Sie hatte Glück und konnte als letztes Auto an Bord der Kanalfähre »Pillau« rollen. Über die Backbordreling hinweg sah Marie, dass in Holgers Kanalimbiss schon reges Treiben herrschte. Wohnmobile in Reih und Glied, ein paar Motorradfahrer, und gern hätte sie einen Kaffee mit Aussicht getrunken, aber Tote ließ man nicht warten. Sie als Polizistin ließ Tote nicht warten, weil Spuren allzu schnell kalt wurden. Sie als Mensch ließ Tote nicht warten, weil es pietätlos wäre.

Ganz zu Anfang ihrer Laufbahn hatte ein Kollege eine Zigarettenkippe über einen Leichnam hinweggeschnippt. Der anwesende Rechtsmediziner hatte sich den jungen Polizisten so zur Brust genommen, dass nach dessen Ansprache niemand mehr ein Wort sagte. Marie würde nicht vergessen, womit er geschlossen hatte: »Stellen Sie sich vor, es wäre Ihre Mutter, die da liegt.«

Aus dem Augenwinkel warf Marie einen Blick auf die Sehestedter Kirche, deren hölzernen Glockenturm sie schon immer sympathisch gefunden hatte. Wie viele Seeleute und Passagiere großer Kreuzfahrtschiffe die Kirche und den zwischen dem Gotteshaus und dem Kanal gelegenen Friedhof wohl schon gesehen, was sie dabei gedacht, gefürchtet oder gehofft hatten? Friedhöfe waren für Marie erst zu besonderen Orten geworden, nachdem ihre Mutter gestorben war.

Es gab einen sanften Ruck. Ankunft auf der nördlichen Seite des Kanals.

Als Letzte der kleinen Fahrzeugkolonne fuhr Marie von Bord, hob kurz die Hand zum Dank. Der Decksmann nickte. Oben an der T-Kreuzung angekommen, bog Marie rechts ab, passierte die Scheune des Künstlers Leander Bruhn, den Sportplatz, und dann sah sie die Menschentraube an der Einmündung zur Landstraße. Dorfbewohner wohl, auch Urlauber und sehr wahrscheinlich Pressevertreter. Handys, Fotoapparate mit Teleobjektiven. Marie hielt an, stieg aus, griff nach dem Megafon, das sie eigentlich nur auf dem Fußballplatz verwendete, und stellte sich vor den Bus.

»Meine Damen, meine Herren, bitte mal kurz hergehört! Mein Name ist Marie Geisler. Ich bin Hauptkommissarin beim Landeskriminalamt. Ich erteile Ihnen hiermit einen Platzverweis. Stellen Sie sofort das Fotografieren ein und verlassen Sie umgehend die Kreuzung. Danke.«

Marie stieg wieder ein und fuhr an. Die Menschenmenge teilte sich. Einige gingen kommentarlos, andere machten wegwerfende Handbewegungen und traten murrend von einem Bein auf das andere. Marie bog rechts ab, fuhr vor zu dem freien Platz, von dem aus ein Wirtschaftsweg zu vier Windrädern führte. Dort sprach sie einen Polizisten an und beauftragte ihn, sicherzustellen, dass die Schaulustigen sich tummelten. Dann warf sie einen ersten Blick auf den Toten. Astrid Moeller hatte recht gehabt. Der Auffindeort war – ungewöhnlich.

Hoch hinaus

Gesche Triebel hielt die Gardine mit der linken Hand. Nach dem Streifenwagen war ein Notarztwagen an ihrem Fenster vorbeigefahren. Mit Blaulicht, ohne Martinshorn. Durch das Fernglas konnte sie sehen, dass sich an Windrad vier eine kleine Gruppe von Menschen versammelt hatte. Eine Frau in beigen Shorts und hellblauem T-Shirt sprach mit einem uniformierten Polizisten.

Sie hörte, dass das Telefon klingelte. Es klingelte nur leise. Lutz wurde immer gleich so nervös, wenn es laute Geräusche gab. »Gesche«, rief er von oben. »Was war das? Ich will keinen Besuch, hörst du?«

Gesche stellte das Fernglas auf den Tisch, ging in den Flur. »Es ist alles in Ordnung, Lutz. Schlaf einfach weiter.« Sie nahm den Hörer ab. Wind rauschte, Stimmengewirr. »Hallo, wer ist da?«

»Ich bin’s«, flüsterte Ben. »Hast du gesehen, was hier los ist?«

»Ja.«

Ben hielt das Mikrofon zu. Es raschelte. Er sprach: »Bist du noch dran?«

»Ja, nun sag schon.«

»Kronenburg ist tot.« Ihr Sohn legte auf.

***

Marie legte den Kopf in den Nacken. Ungefähr hundert Meter lagen zwischen ihr und dem Körper eines Mannes dort oben. Auf die Entfernung fielen Marie zwei Merkmale ins Auge. Er schien einen Hipsterbart zu tragen, und er hatte offenbar aus einer Kopfwunde viel Blut verloren. Der Mann hing, wohl durch einen Gurt gehalten, kopfüber an der Außenseite der Windradgondel. Sein Blut war über die weiße Hülle der Gondel nach unten gelaufen. Marie zog ihr Schleibook hervor, in das sie Notizen und Skizzen zu jedem neuen Fall machte.

Als sie wieder nach oben schaute, sah sie einen anderen Mann, bekleidet mit der typischen Jacke der Notärzte. Er steckte in einem Klettergurt. Zwei Männer sicherten ihn von oben. Der Notarzt schob sich seitlich an den Mann im dunklen Anzug heran. Kurz hingen seine Beine frei über dem Abgrund. Dann bekam er wieder Kontakt zur Gondel, geriet mit dem linken Bein in die Rinnsale aus Blut, verschmierte sie, griff endlich an den Hals des Mannes, verdeckte nun den Kopf und Oberkörper. Es dauerte keine Minute, dann machte er ein Zeichen nach oben und wurde hochgezogen.

Zurück blieb der leblose Körper, und zurück blieben Streifen, Tropfen und verwischte Spuren aus Blut, die Marie an Werke des amerikanischen Malers Jackson Pollock erinnerten. Action Painting, dachte sie und war unangenehm berührt, dass sie im Angesicht des Todes immer wieder solche befremdlichen Assoziationen hatte. Tatortarbeit, dachte sie, wie sollen wir da oben fotografieren, Spuren sichern? Wo war Elmar überhaupt? Der Kollege von der KTU würde Rat wissen.

Marie schaute sich um. Der Transporter der Kriminaltechnik stand bereits am Fuße des Windrades. Die Jungs waren mit Schwung herangefahren. Das linke Vorderrad hatte den Schotter des losen Untergrundes ein ganzes Stück vor sich hergeschoben und war nun beinahe bis zur Felge verschwunden.

Von der Straße her hörte Marie, dass dort ein Auto bremste und auf den Schotterweg abbog. Sie schaute über die Schulter und erkannte Eles rotes Cabriolet. Die Haare der Rechtsmedizinerin bewegten sich im Fahrtwind. Eine Staubwolke bildete sich hinter dem Auto. Auch sie fuhr zügig, bremste, und die Reifen gruben sich geräuschvoll in den Schotter. Ele stieg aus. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, fischte ihre Tasche vom Rücksitz und kam auf Marie zu. Die Frauen küssten einander auf die Wangen. Ele duftete nach Sommer und Pfefferminztee.

»Das haben wir lange nicht gemacht«, sagte Marie und löste sich nur langsam, schaute Ele fragend an.

Ele schwieg, dann deutete sie auf die Tür. »Wir müssen da rauf?«

Marie nickte und blickte ihrer Freundin hinterher, die sich, mühsam über den unebenen Boden stöckelnd, von ihr entfernte. Sie schaute über den kurzen Rock hinunter zu den Pumps, die farblich perfekt zum Kostüm passten. »Was hast du dich denn so aufgerüscht?«

Ele blieb stehen, wandte sich Marie zu. »Ich war auf dem Weg zu einem Vortrag in Hamburg, als mich der Anruf deiner neuen Chefin ereilte. Habe keinen Dienst, aber Kai ist mitten in einer Obduktion. Du kennst das ja. Und du? Sehr lässiges Outfit.«

»Habe auch frei. Der Anruf meiner neuen Chefin ereilte mich, als ich auf dem Weg in Holms Wohnung war.«

Ele schaute ungläubig. »Der lässt dich in seine Wohnung?«

»Ich glaube, es geht ihm richtig schlecht, und ich fürchte, er hat niemanden.«

»Wenn er meine Meinung möchte oder eine Verbindung zu einem Spezialisten – jederzeit.«

Die Freundinnen kehrten den Autos den Rücken und gingen auf die Treppe zu, die hinauf zum Eingang des Windrades führte. Neben der Tür stand ein älterer Polizeibeamter, dem Marie ihren Ausweis zeigte.

»Alles okay bei Ihnen?«, fragte sie. Der Mann war blass um die Nase.

»Danke, Frau Hauptkommissarin. Geht schon. Ich bin nicht so richtig höhenfest.«

»Sie waren oben?«

»Ja, mein Kollege Triebel und ich waren als Erste hier. Aber da war nichts mehr zu machen. Den Notarzt haben wir trotzdem gerufen.«

»Wer hat den Mann gefunden – also, entdeckt?«

»Die Kinder, die der Schulbus morgens nach Eckernförde bringt. Sie fahren ja direkt hier vorbei.« Der Hauptwachtmeister zeigte zur Straße.

»Und wo sind die Kinder jetzt?«

»Die meisten konnten wir von ihren Eltern oder Großeltern abholen lassen, zwei sind in der Schule. Alleinerziehende, berufstätige Mütter. Wie das so ist heutzutage.«

»Wie das so ist heutzutage? Wie ist es denn heutzutage?«

Ele griff Marie an den Arm.

»Frau Hauptkommissarin, wir haben den Toten sofort erkannt. Er war ja gestern erst hier.«

Marie war von ihrer Chefin informiert worden, forderte den Hauptwachtmeister aber mit einer Handbewegung auf, weiterzuberichten.

»Pressetermin. Gestern gab es einen Pressetermin, und da war er hier. Quicklebendig.«

Marie nickte.

»Da oben. Das ist der Minister. Das ist Lothar Kronenburg.«

»Unser Bundeswirtschaftsminister, da sind Sie sich ganz sicher?«

»Ja, der schöne Lothar. Jetzt ist er hin.«

***

Gesche Triebel hatte Bruno angerufen. Bruno Klein war der Nächste in der Telefonkette, die sie schon in der ersten Woche aufgestellt hatten. Damals, in der Gründungsphase der Genossenschaft. Jetzt schlüpfte sie in ihre Crocs, reckte den Kopf ein wenig, stützte sich am Handlauf des Treppengeländers ab. »Lutz, Luuutz, ich fahre rasch zum Schlachter. Bin gleich wieder zurück. Hörst du?«

Keine Antwort. Er schlief vermutlich. Glück gehabt. Gesche Triebel griff nach dem Schlüsselbund, dem Handy und ihren Zigaretten. Das Feuerzeug steckte in der Packung. Sie öffnete die Haustür, machte zwei Schritte nach vorn und zog die Tür vorsichtig hinter sich zu. Sie stieg in den alten Golf Plus, der auf der Einfahrt stand, startete den Motor, setzte zurück und fuhr rechts die Hauptstraße hinunter. Sie hätte auch laufen können, das kurze Stück, aber heute war die Arthrose im rechten Fuß wieder richtig schlimm.

An der Alten Schmiede bog sie links ab, sah schon den Nord-Ostsee-Kanal, überholte die Schlange wartender Autos, fuhr parallel zum Wasser auf den Parkplatz unterhalb von Holgers Imbiss bis ganz nach vorn zum Spender für die Hundekotbeutel. Das war immer ihr Treffpunkt gewesen, wenn sie etwas zu besprechen hatten. Etwas, das andere nicht hören sollten.

Sie war die Erste, ging zum Wirtschaftsweg, zog die Zigaretten aus der Tasche ihrer fliederfarbenen Fleecejacke. Das Rauchen war ihr geblieben. Sonst nichts. Der letzte Zipfel der Jugend, der Freiheit. Seit Lutz den Schlaganfall erlitten hatte, war sie Sklavin seiner Krankheit, kam kaum noch aus Sehestedt raus. In den letzten Monaten hatte sie sich manchmal gefragt, wie es wohl ohne Lutz wäre. Sie hatte sich geschämt, aber die Gedanken kamen immer öfter.

Bruno Klein rollte auf seinem E-Bike heran. Er trug die Jogginghose von Hummel. Er trug immer die Jogginghose von Hummel. Schwarz mit weißen Winkeln an den Seiten. Er war mal Kreisläufer in der zweiten Mannschaft des THW Kiel gewesen. Früher.

»Gesche, was ist los? Was machst du für einen Alarm? Wir wollten gerade zum Einkaufen nach Rendsburg.«

Gesche Triebel machte eine abwiegelnde Bewegung. »Warte, bis alle da sind. Zigarette?«

Sie schnippte eine Kippe aus der Packung. Bruno griff zu. So standen sie an der Wasserkante, stießen abwechselnd Rauchwolken in die noch kühle Luft des Vormittags. Über Nacht hatte sich der Wind gelegt. Sie schauten immer wieder zur Straße und warteten.

»Komm, das ist doch albern, ich steh hier blöd rum, und du spannst mich auf die Folter.«

»Hast du denn nichts mitgekriegt?«

»Was mitgekriegt? Ich war hinterm Haus im Garten.«

»Das ist wieder mal typisch. Ihr von drüben kriegt ja nie was mit.« Gesche zeigte über den Kanal hinweg nach Sehestedt-Süd. »Nie kriegt ihr was mit.«

Der Mercedes von Hans Truelsen näherte sich. Er hatte Gabriele und Bernd eingesammelt. Beide saßen auf der Rückbank.

»Fehlen nur noch die Blaublüter«, stellte Gesche fest und zündete sich eine Zigarette an der Glut der letzten an. »Und Lucky«, ergänzte sie.

»Gesche, ob du wohl so freundlich bist, mir mitzuteilen, was hier läuft?«

Gesche nahm einen tiefen Zug, und mit dem Rauch, den sie ausatmete, sagte sie: »Ben hat mir Bescheid gegeben. Er hat Dienst, wurde zu den Windrädern gerufen. Von diesem neuen Busfahrer.« Gesche atmete ein, hustete und nahm einen weiteren Zug. »Ben kommt an, und was sieht er an Windrad vier?«

»Ja, was sieht er denn da?«

»Er sieht jemanden, der ihm bekannt vorkommt. Fernglas raus. Hat er immer dabei. Ein privates. Lutz war ja mal Jäger.«

»Ich weiß, dass Lutz Jäger war. Ich war hier der Bezirksförster, Gesche. Das solltest du als Ex-Bürgermeisterin wissen.«

»Ach, Bruno. Wenn du wüsstest, was ich alles weiß. Das zum Beispiel: Ben setzt das Fernglas an – und was sieht er? Er sieht den schönen Lothar, wie er oben am Windrad hängt. Ist sofort rauf, mein Ben, mit seinem Kollegen, und – das hat er natürlich schon vorher kombiniert, er will ja zur Kripo – tot, der schöne Lothar. Jetzt kommst du.«

»Kronenburg ist tot? Auf dem Windrad? Das ist ja lächerlich. Wie soll er denn da raufkommen? Ist doch abgeschlossen.«

»Du in deiner kleinen Beamtenwelt, Bruno. Nur weil da abgeschlossen ist, heißt das ja nicht, dass da keiner reinkommt.«

Der Mercedes fuhr vor. Hans Truelsen stieg aus.

»Bürgermeister, wo bleibst du denn?« Gesche schüttelte missbilligend den Kopf.

Hans Truelsen kam um die Front seiner Karosse herum. Sein Lächeln eine Spur zu süffisant für Gesches Geschmack. »Moin. Gesche, Bruno. Kein Grund zur Panik. Ich weiß Bescheid. Der Minister. Dein Parteifreund, Gesche. Dein Ex-Parteifreund.«

»Wer war das?« Gesche trat ihre Kippe aus, zog die Packung Zigaretten aus der Tasche, steckte sie dann aber doch wieder weg.

Hans Truelsen zuckte mit den Schultern. »Das Schicksal? Das Schicksal meint es vielleicht gut mit uns.«

»Wo ist eigentlich Lucky?« Gesche schaute hinüber zur Fähre.

»Unseren Mafioso habe ich seit Mittwoch nicht mehr gesehen. Seit unserem letzten Training.« Bruno schob die Hände in seine Trainingshose. Er war der Coach der Boule Amis Sehestedt. Wie es ausgerechnet zu diesem Namen gekommen war, ließ sich weder nachvollziehen noch ändern. Sie spielten jeden Mittwoch. Früher bei Bruno im Garten, und seitdem es die Boulebahn gab, oben auf dem Spielplatz. »Sollen wir mal rauf? Vielleicht hockt er ja auf der Bank und wartet da auf uns.«

Alle nickten. Und so trotteten die Boule Amis den Hügel empor. Nur um festzustellen, dass Klaus Kramer, genannt Lucky, nicht erschienen war.

»Ob Lucky dahintersteckt?« Gesche war ein bisschen außer Puste.

»Unsinn.« Bruno lehnte am abschließbaren Schrank, in dem sie Boulekugeln, Schweinchen, ein paar Flaschen Wein, Gläser, Starterlisten und im Minitresor die prall gefüllte Kasse aufbewahrten.

»Ein Denkmal wäre ihm immerhin sicher«, unterstützte der Bürgermeister die Vermutung der Ex-Bürgermeisterin.

»Außerdem ist Lucky der Einzige ohne Rente. Er hat doch alles auf ein Pferd gesetzt. Lucky hat jeden Cent in unseren Bürgerwindpark gesteckt, und wenn einer darunter leidet, dass Kronenburg die Einspeisevergütung kappen wollte, dann ja wohl Lucky mit seiner Gebrauchtwagenklitsche. Nur mal so. Von wegen Motiv. Ben hat das auf der Polizeischule gelernt.«

»Kaum ist einer nicht da, haut ihr ihn die Pfanne?« Bruno klang empört. »Wir wissen wenig. Kronenburg ist tot. Sagt dein nichtsnutziger Sohn. Mehr wissen –«

»Nichtsnutziger Sohn? Geht’s noch, Bruno?«

»Du weißt genau, was ich meine, Gesche. Ich sage nur: Ladendiebstahl. Hätten wir damals nicht die Hand über deinen Sohn gehalten, wäre der heute nicht bei der Polizei.«

»Schluss jetzt.« Hans Truelsen beendete die Diskussion mit einer kurzen Handbewegung. »Wir müssen zusammenhalten. Wir haben immer zusammengehalten. Auch, als du noch Bürgermeisterin warst, Gesche. Bruno hat recht. Wir wissen nicht viel. Nichts ist bestätigt. Mein Informant ist zuverlässig, aber offiziell ist das nicht.«

»Dein Informant. Wer ist denn dein Informant?« Gesche spielte mit der Zigarettenpackung.

»Tut nichts zur Sache. Nehmen wir an, dass Kronenburg tatsächlich tot ist. Was heißt das denn für uns? Zunächst mal heißt das gar nichts. Die Vergütung wird gekappt, und wir gucken in die Röhre.« Hans Truelsen zog die Augenbrauen hoch. »Es sei denn …«

»Es sei denn, es sei denn. Dieses Rhetorikgetue vom Kreisparteitag kannst du dir hier sparen, Hans.« Bruno schloss den Schrank auf und nahm eine Flasche Rotwein raus, drehte sie ins Licht, versuchte das Etikett zu lesen. »Kann ich mal deine Brille haben, Hans?«

Der Bürgermeister reichte Bruno die Brille und fuhr fort: »Es sei denn, künftige Entscheider sind uns wohlgesinnt.« Er lächelte, trat neben Bruno und holte Gläser aus dem Schrank.

»Ein erster Schritt ist jedenfalls gemacht«, sagte Gesche und nahm Bruno eines der Gläser aus der Hand.

»Bist du nicht mit dem Auto da?«, stichelte Bruno.

»Ich habe einen guten Draht zur Polizei. Komm, mach auf, die Flasche. Vielleicht haben wir ja was zu feiern. Und was Lucky angeht: Ist doch klar, dass ich hinter ihm stehe. Ich bin sauer, weil er bei der letzten Inspektion so teures Öl abgerechnet hat, der alte Verbrecher.«

Gabriele und Bernd standen dicht beieinander. Als Bruno ihnen die Gläser hinhielt, lächelte Gabriele, schüttelte den Kopf und ging einen Tippelschritt zurück. Vom Parkplatz neben dem Kanalimbiss hörte man das Blubbern eines Achtzylinders.

»Die Blaublüter«, stellte Gesche fest und nahm einen Schluck vom Roten. Den spendeten die Blaublüter, die einen Weinberg an der Ahr besaßen, mit der immer gleich großen Geste. Schlurfende Schritte, und nun tauchten Sandra und Robert von Turnau am Bouleplatz auf. Die Dame ging an Gehstützen. Ein kleiner Reitunfall, wie man hörte.

»Bonjour, mes amis«, posaunte Robert von Turnau. »Habt ihr schon gehört? Der schöne Lothar hängt an Windrad vier. Wir haben ihn mit eigenen Augen gesehen. Quel dommage, nicht wahr?« Er lachte dröhnend, schlug Hans Truelsen auf den Rücken und nahm Bruno die Weinflasche ab.

Der Vorstand des Bürgerwindparks Sehestedt war komplett.

***

Als Marie das überraschend kühle Innere des Windrades betrat, änderte sich die Akustik. Geräusche klangen, als befänden sie sich in einer Halle. Marie richtete den Blick nach oben, und sofort spielte ihr der Gleichgewichtssinn einen Streich. Sie kippte in Richtung Tür und musste sich festhalten.

»Das ist nur die Zwischenebene auf siebzig Metern«, sagte ein gut aussehender Mittdreißiger in Shorts, die denen von Marie ähnelten. Er reichte ihr die Hand. »Kai Koost, ich bin hier der technische Betriebsführer.«

»Und Sie sind warum eher hier als wir?« Marie sah aus dem Augenwinkel, wie Ele den Mann taxierte.

»Vielleicht weil unser Firmensitz keine zwei Kilometer Luftlinie von hier entfernt liegt?«

»Ele Korthaus, ich bin die Rechtsmedizinerin.«

Der Mann ließ Maries Hand los. »Ein bisschen schwach ist mir schon, Frau Doktor. Angenehm.« Er lächelte.

»Wo geht es denn hier nach oben, Herr Betriebsführer?« Marie schob sich zwischen Ele und den Mann.

»Das hängt davon ab, ob Sie die Leiter nehmen möchten oder doch eher die Befahranlage.«

»Die Befahranlage?«

»Wir sind in Deutschland, dem Land, in dem man präzise mit Sprache umzugehen pflegt. Würden Sie – ich darf mal vorgehen – diesen Käfig hier Fahrstuhl oder Lift nennen?«

»Befahranlage passt wunderbar«, mischte sich Ele ein.

»Nun, bevor wir Ihren Kamin hier befahren –«

»Besteigen wäre aber auch möglich?« Eles Pumps klackerten auf dem Betonboden.

Der Mann spitzte kurz die Lippen. »Wenn Sie das wirklich wollen. Mit Schuhen und Tasche.«

»Sicher werden Sie beide das später klären können. Aber ich bin ja nicht zum Spaß hier. Bevor wir also abheben – wie ist der Mann, der dort oben hängt, hier reingekommen?«

»Ich bin als Einbrecher unerfahren, aber aufgebrochen war die Tür nicht. Ich tippe, dass er einen Schlüssel hatte, oder jemand hat ihn reingelassen.«

»Wie könnte er in Besitz eines Schlüssels gekommen sein, und wer könnte ihn reingelassen haben?«

»Das ist kein Hochsicherheitsbereich im eigentlichen Sinne. Wir haben Schlüssel, der Betreiber hat Schlüssel, und die Servicetechniker haben Schlüssel.«

»Sie machen mir bitte eine Liste mit den Namen und Kontaktdaten aller, die Schlüssel für diese Tür besitzen.« Marie wandte sich zur Tür, durch die in diesem Moment ein Mann trat, sich kurz umschaute, in sein Sakko griff, einen Ausweis zückte und »Meier, BKA« sagte. »Wer ist der Kollege vom LKA?«

»Nur eine Kollegin heute«, antwortete Marie. »KHK Geisler, moin.«

Meier verzog keine Miene. »Ich habe mit Ihrer Chefin gesprochen. Sie berichten direkt an mich. Was wissen wir?«

»Sie wissen bestimmt eine ganze Menge. Ich auch. Sobald ich den Eindruck habe, dass ich in diesem Fall mehr weiß als Sie, erfahren Sie es als Erster. Karte?«

Meier griff erneut ins Sakko und reichte Marie, wonach sie verlangt hatte. Auf der Karte las sie, dass Meier sich »Mayr« schrieb.

»Sagen Sie, Herr Mayr, sofern es sich um den handelt, um den es sich handeln soll: Wo waren respektive sind eigentlich die Personenschützer?«

Mayr zog einen Block aus seinem Sakko, blätterte, schwieg. »Ich nenne Ihnen die in Frage kommenden Ansprechpartner.« Er drehte sich um und ging zur Tür.

»So, Herr Betriebsleiter. Dann bringen Sie uns mal nach oben.«

»Nicht ohne PSA.«

»PSA?«, fragten Ele und Marie wie aus einem Mund. Sie dachten an das prostataspezifische Antigen, das einen Hinweis auf eine Erkrankung geben kann. Marie dachte auch an Holm.

»Persönliche Schutzausrüstung«, erklärte der Betriebsführer und hielt den Frauen Sicherungsgurte und Helme entgegen.

»Na, da kann ja nichts mehr schiefgehen«, sagte Ele, zog ihren Rock ein Stück hoch und stieg in die Beinschlaufen. Der Blick des Betriebsleiters war mindestens interessiert. Mayr vom BKA schaute weg.

Nachdem auch Marie die Ausrüstung angelegt hatte, bestiegen sie den Fahrkorb. Der Einstieg war lediglich durch einen gewöhnlichen Rollladen verschlossen. Vertrauenerweckend wirkte das auf Marie keineswegs. Sie spürte, dass ihre Hände feucht wurden. Lochbleche an den Seiten, viel Plexiglas, insgesamt eine Konstruktion, die luftig, beinahe filigran wirkte und Marie an die Baukästen ihrer Kindheit erinnerte. Schulfreunde hatten damals mit Fischer-Technik die tollsten Sachen zusammengeschraubt.

Zur Wandseite hin gab es einen Ausstieg. Marie las den Text, der mit »ACHTUNG« überschrieben war: »Vor Benutzung der Befahranlage sind die beiden Stahlseile so weit wie möglich auf einwandfreien Verlauf optisch zu kontrollieren. Sollte hier ein Mangel festgestellt werden, so ist dieser vor Fahrtantritt zu beheben. Aufgrund der extremen Seillänge in Verbindung mit den normalen Turmschwankungen kommt es manchmal zu dem Problem, dass sich die Seile mit Turmbauteilen verheddern.«

Der Betriebsführer hatte Maries Blick annähernd richtig gedeutet. »Sollte die Technik mal streiken, können Sie immer noch klettern.« Kein ironischer Unterton. Er glaubte offenbar tatsächlich, diese Information habe etwas Beruhigendes.

Der Betriebsführer schloss die Tür. »Gute Fahrt. Ihre Kollegen oben habe ich eingewiesen. Nur, falls Fragen sind.«

Er drückte einen Knopf, es gab einen kleinen Ruck, ein surrendes Geräusch, und dann setzte sich der Fahrkorb in Bewegung. Ein bisschen ruckelnd. Nicht so sanft und gleichförmig, wie Aufzüge das taten.

Marie griff nach Eles Hand. »Ich habe Angst.«

»Musst du nicht, mein Täubchen. Du bist hier diejenige mit der Pistole.«

Langsam wurden die Schaltschränke aus lichtgrauem Blech kleiner, die gelben Aufkleber mit Warnhinweisen, die roten Not-Aus-Knöpfe verschwanden aus Maries Blickfeld. An den Wänden aus nacktem Beton liefen schwarze Kabel entlang. Marie zitterte.

»Denk an was Schönes«, empfahl Ele.

»Der Betriebsführer ist scharf auf dich.«

»So was meinte ich, was Schönes.« Ele strahlte und bewegte keck den Kopf hin und her.

»Ganz schön langsam, das Ding. He, Betriebsführer! Wie lang dauert der Spaß denn eigentlich?« Maries Stimme hallte durch den Turm.

»Ich tippe, beim Fliegengewicht der beiden Damen, unter sieben Minuten«, rief der Betriebsführer.

»Ich muss mal«, flüsterte Marie.

Ele drückte ihre Hand. »Keine Sorge, du schwitzt das bis oben alles aus.«

Endlich, nach einer Reise, die Marie wie ihre letzte erschienen war, erreichten sie die Gondel. Maries rechte Hand verkrampfte sich um Eles, Maries linke Hand erfasste die von Elmar, dem der gelbe Helm viel zu klein war.

»Marie, du musst mich schon loslassen, sonst wird das nichts«, riet Ele. Elmar zog sanft, aber bestimmt, und dann stand Marie in der Gondel, über hundert Meter über dem unschuldigen Feld zwischen Nord-Ostsee-Kanal und dem Wittensee.

Elmar schwitzte unter dem Helm. Der Gurt ließ ihn aussehen wie eine zu eng verschnürte Roulade. Seine Laune indes war bestens. »Frau Hauptkommissarin, melde: Kriminaltechnik des LKA mit zwei Mann angetreten, wie befohlen.«

»Das scheint ja ganz nach deinem Geschmack.«

»Der beste Leichenfundort ever. Wird in die Annalen eingehen. Vielleicht gebe ich ein Interview für die Gewerkschaftszeitung. Spektakulär. Darf ich vorstellen?« Er zog einen schmächtigen jungen Mann hinter einem ummantelten Bauteil des Windrades hervor. »Andrzej Błaszczykowski, mein neuer Mitarbeiter. Sag Moin, Andrzej.«

»Moin.«

»Dzień dobry«, antwortete Marie. »Ich bin Marie Geisler, Fallanalyse. Das ist Dr. Ele Korthaus, Rechtsmedizin. Willkommen im Team.

Andrzej lächelte. »Sie sprechen Polnisch?«

»Trochę.«

»Ein bisschen also. Das ist toll. Deutsche sprechen nie Polnisch.«

»Dort, wo ich herkomme, ist das gar nicht so unüblich.«

»Woher, wenn ich fragen darf?«

»Aus dem Ruhrgebiet. Im 19. Jahrhundert sind viele Menschen aus Preußisch-Polen ins Ruhrgebiet gezogen. Meine Familie hat Verwandtschaft in Posen. Und Sie heißen wie Kuba. Der Fußballer. Früher beim BVB. Wird bei uns noch immer sehr geschätzt.«

Andrzej hob eine behandschuhte Hand. »Von Fußball habe ich keine Ahnung.«

»Bevor hier gleich noch Polka getanzt wird – wie komme ich zur Leiche?« Ele schob sich zwischen Marie und dem neuen Kriminaltechniker hindurch. So weit der Weg in die Gondel des Windrades gewesen war, so beengt ging es hier zu.

Elmar streckte seine Hand aus. »Soll ich Ihre Tasche nehmen, Frau Doktor?«

»Gern.« Der hochgezogene Rock, der Sicherungsgurt. Ele stieg ein wenig ungelenk über die mächtige Welle hinweg, hinüber auf die linke Seite der Gondel.

»Hier die Leiter rauf.« Elmar zeigte auf eine gewöhnliche Treppenleiter, wie Marie sie auch im Garten benutzte, wenn sie die Rhododendren beschnitt. Sie war enttäuscht, hatte mehr Hightech erwartet. Sie folgte Ele, die beherzt die ersten Stufen der Leiter nahm, deren oberes Ende in eine Plexiglasluke hineinragte, die ihrerseits aussah, als habe man sie im Baumarkt nebenan erworben. Ein bisschen wie das Oberlicht in Uwes nagelneuem VW California mit Hochdach. Dass ihr Schwiegervater diesen Luxusbus gekauft hatte, fand Marie praktisch. Vielleicht konnten sie ihn ja mal ausleihen.

Nun trat Ele hinaus ins Licht. »Heiliges Kanonenrohr«, hörte Marie sie sagen. »Das ist ja der absolute Knaller. Ist das geil. Alter!«

Eles Absätze klapperten auf der Hülle. Jetzt war Marie, Angst hin oder her, doch neugierig geworden und griff nach dem Holm der Leiter.

»Einhaken, Frau Doktor, sofort einhaken, und ziehen Sie doch bitte diese Schühchen aus.« Elmar klang streng.

Es waren exakt elf Sprossen, die Marie nach oben stieg. Sie spürte jede einzelne und glaubte, nun auch das Schwanken des Windrades zu fühlen, von dem sie unten im Warnhinweis gelesen hatte. Ein letztes Mal drückte sie sich mit dem linken Bein nach oben, dann verschlug es ihr den Atem.

Es war still. Windstill. Totenstill. So still, dass Marie das Knirschen der Muskeln hörte, als sie den Kopf drehte. Der Oberkörper nun oberhalb der Luke. Der Blick entglitt ihr in die Weite der Landschaft. Ein Blick, als schaue sie aus einem Flugzeug hinunter auf Wiesen und Felder, auf Wälder, Seen, Wasserläufe, die in der Sonne glitzerten. Eine große Ausdehnung von Weite und Stille. Dann griff Elmar nach dem großen Karabinerhaken und ließ ihn klackend in der gelben Öse gleich neben der Luke einrasten.

»Sicher«, sagte er. »Jetzt bist du sicher.«

Marie schaute nach rechts und sah die Waden eines Mannes. Die dunkle Hose war hochgerutscht. Die Waden waren weiß, als hätten sie noch nie die Sonne gesehen. Blutleere Waden. Es waren die Waden eines toten Mannes. Vorsichtig versuchte sie, aus der Hocke aufzustehen. Ein Unterfangen, das jetzt und wohl auch zukünftig zum Scheitern verurteilt war. Vielleicht sollte sie mal bei einem Besuch im Eckernförder Hochseilgarten an ihrer Höhenangst arbeiten. Sie kauerte auf der Gondel und kämpfte um die Kontrolle über ihr Gleichgewichtsorgan.

Das Dach der Gondel, eine gewölbte, zu den Seiten hin abfallende Fläche. Kein Geländer weit und breit, von einer Plattform ganz zu schweigen. Immerhin war die Oberfläche angeraut. Rechts von Marie reckte sich ein Flügel des Windrades in den Himmel. Vor ihr lag Ele auf dem Bauch, vom Gurt gehalten und von Elmar, der seinerseits auf dem Bauch lag und Eles rechtes Fußgelenk festhielt. Kurz drehte er sich nach hinten zu Marie um. »Na, ist das nicht unglaublich? Dass ich das erleben darf.«

Marie krabbelte auf allen vieren so weit an Elmar heran, dass sie den Körper des Mannes sehen konnte. Auch Teile des Kopfes. Die rechte Gesichtshälfte wies zum Himmel. Eine blutende Wunde auf der Wange – so wie es aussah, war auch die Augenhöhle betroffen.

Sie wandte sich an Ele. »Erschlagen?« Keine Antwort. Marie schaute hoch. Ele schaute in die Ferne. »Ele, he, träumst du?«

Die Rechtsmedizinerin räusperte sich. »Sieht so aus.«

»Mehr hast du nicht zu sagen?«

»Das ist jetzt noch Mutmaßung, Marie. Warum kannst du nicht mal warten? Ich komme doch kaum an ihn ran. Haben Sie die nötigen Fotos gemacht, Herr Brockmann?«

Elmar schaute Ele an. »Ja sicher, Frau Doktor. Soweit das möglich war von hier aus. Käpt’n Dirk startet gleich eine kleine Drohne, dann haben wir andere Möglichkeiten.«

»Käpt’n Kirk?«

»Nicht Kirk. Dirk, unser lizenzierter Drohnenflieger.«

»Wir können ihn also hier noch nicht wegschaffen?«

»Nein.«

Marie mischte sich ein. »Elmar, hast du seine Taschen kontrolliert?«

»Nein, wie denn? Sobald Käpt’n Dirk fertig ist, seilen wir ihn ab, okay? Zwanzig Minuten vielleicht.«

»Ele, und du? Erschlagen? Das sieht von hier aus ziemlich eindeutig aus.«

Ele schob sich ein Stück rückwärts in Maries Richtung, drehte sich, setzte sich. Es gab unschöne Geräusche. »Den Rock kann ich vergessen«, sagte sie ärgerlich. Dann saß sie Marie gegenüber, die immer noch auf allen vieren hockte.

»Also, ja, er ist wahrscheinlich erschlagen worden. Aber ohne Gewähr. Jemand schlägt ihn von links unten. Mit einem schweren, stumpfen Gegenstand. Kleine Aufprallfläche, große Wirkung. Knöcherne Strukturen werden zerstört, das Kahnbein splittert, die weiter hinten liegende Halsschlagader platzt. Der Mann stürzt, kommt mit dem Kopf nach unten zu liegen. Volumenmangelschock. Symptome sind Herzrhythmusstörungen, der Blutdruck fällt, der Puls wird flach, es treten erste Bewusstseinsstörungen auf, Exitus letalis.«

»Er ist verblutet?«

»Ja, würde der Laie meinen. Aber es sind eher biologisch-chemische Prozesse, die den Kollaps machen. Erhöhte Permeabilität der Kapillaren im ganzen Körper, der dünnen Gefäße zwischen Arterien und Venen. Die Blut-Gewebe-Schranke verschiebt sich. Es findet ein drastisch gesteigerter Flüssigkeitsaustausch statt.«

Marie hob die rechte Hand. »Schon gut. Der Schlag war also nicht unmittelbar tödlich?«

»Eher nicht.«

»Wie lange hat es gedauert, bis er tot war?«

»Weiß ich nicht.«

Marie rollte mit den Augen und schaute sich um. »Elmar«, rief sie. »Habt ihr was? Ein Tatwerkzeug vielleicht?«

»Nichts.«

»Ihr müsst auch unten suchen.«

»Ach.«

»Ele, von links unten, hast du gesagt?«

Ele nickte. Marie stellte sich hin und ging gleich wieder in die Hocke. Die Höhe hatte gewonnen. Sie nahm ihr Handy in die linke Hand und führte eine Bewegung von links unten nach rechts oben aus. Da brachte nicht mal ein Linkshänder besonders viel Kraft in den Schlag.

Ele stand auf, ging um sie herum, kniete sich hinter sie, griff nach dem Handy, legte es Marie in die rechte Hand, führte Maries Hand nach links unten. »Du hast doch bestimmt mal Tennis gespielt, du Sportskanone.«

»Rückhand«, sagte Marie. »Na klar. Von links unten nach rechts oben. Mit einem Hammer. Da ist dann richtig Wucht dahinter.«

»Kein Hammer. Jedenfalls nicht die kurze Seite eines Hammers. Die Wunde deutet eher auf einen flachen Gegenstand hin.«

An der Sichtkante der Gondel tauchte plötzlich eine summende Drohne auf, an der eine Kamera befestigt war.

»Elmar, wehe, der macht jetzt irgendwelche Fotos oder Videos von uns, wie wir hier hocken. Hast du ein Funkgerät? Sag ihm, er soll warten, bis wir hier weg sind. Los.«

Elmar zog ein Funkgerät aus der Tasche, drückte auf die Sprechtaste. »Dirk, die Damen sind nicht zurechtgemacht. Fotos bitte erst, wenn sie von der Bildfläche verschwunden sind.«

»Verstanden und aus«, tönte es krächzend aus dem Gerät, das wie ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert wirkte.

»Frauen und Frauen zuerst«, sagte Marie und fädelte rückwärts in die Luke ein.

»Du willst den Fundort nicht zeichnen?« Elmar war überrascht.

»Ausnahmsweise verlasse ich mich auf eure Fotos und Videos. Sicher macht Käpt’n Dirk das sehr gut.«

Als Marie das Innere der Gondel erreicht hatte, kam es ihr vor, als habe sie nach einer Atlantiküberquerung erstmals wieder festen Boden unter den Füßen. Und gleich stellte sich auch wieder ein klarer Gedanke ein. »Was hatte der hier bloß verloren?«, murmelte sie.

»Verloren ist das richtige Stichwort.« Mit hochrotem Kopf kam Andrzej hinter der Turbine hervor und hielt einen USB-Stick in die Höhe. Marie zuckte mit den Schultern.

»USB-Stick«, erklärte Andrzej.

»Und?«

»Mit Bundesadler und Initialen. L.K.« Er reichte Marie den Stick.

»L.K., soso. Wäre schon sehr ungewöhnlich, wenn es sich beim Toten da oben nicht um Lothar Kronenburg handeln würde.«

Ele stieg die Leiter hinunter. Gerötete Wangen. »Hätte ich gewusst, dass das so toll ist, hätte ich schon längst mal versucht, auf so ’n Ding zu kommen.«

Zehn Minuten später öffnete der Betriebsführer die Tür des Fahrkorbes. »Wie zwei Engel«, sagte er und schaute Ele an.

»Sie wollen mich einladen?«

Der Betriebsführer nickte.

»Gut, Samstagabend in der Skyline Bar.«

»In Hamburg?«

Ele nickte.

»Zwanzig Uhr?«

Ele nickte.

Die Frauen entledigten sich ihrer Schutzausrüstungen und traten vor die Anlage.

»Schleppst du die Kerle immer so schnell ab?«

»Nö, aber der ist schon süß, oder?«

Marie schmollte.

»Nicht so süß wie du, aber du bist ja verheiratet.«

Vor den Stufen des Eingangs landete die Drohne.

Aus der silbernen Limousine mit Berliner Kennzeichen stieg Mayr aus und kam auf Marie und Ele zu. »Erkenntnisse?«, fragte er.

Marie berichtete vom USB-Stick und schloss: »Das muss allerdings nicht bedeuten, dass er den Stick zu einem früheren Zeitpunkt verloren hat und wiederkam, um ihn zu suchen. Es könnte aber so gewesen sein. Wir sollten ihn jetzt von da oben runterholen und endlich seine Identität klären.«

Marie griff zum Funkgerät. »Elmar, ist der Betriebsführer bei dir?«

»Ist auf dem Weg.«

»Gut, ihr könnt den Mann dann abseilen.«

Sprengstoff

Klaus »Lucky« Kramer war ein bescheidener Mensch. Er brauchte nicht viel, hatte ja auch keine Familie. Gut, da waren die fetten Karren, die klotzigen Armbanduhren. Aber das gehörte zu seinem Job, war in der Gebrauchtwagenbranche üblich. Man musste mit breiter Brust auftreten, damit einen die Konkurrenz ernst nahm, damit die Kunden Vertrauen hatten. Nur Verlierer fuhren Golf und trugen Uhren von Swatch.

Er hatte lange bei seiner Mutter gewohnt, bis zu seinem vierunddreißigsten Lebensjahr war sein Kinderzimmer sein Zuhause gewesen. Seine Mutter hatte für ihn gekocht, seine Wäsche gewaschen, sich um die Buchhaltung gekümmert. Dann war sie gestorben. Ganz unerwartet. Lucky hatte die Wohnung behalten, schlief weiter in seinem Kinderzimmer, hatte den großen Flachbildfernseher aber ins Wohnzimmer geschafft, damit er nicht mehr so dicht davorsitzen musste. Auf der Arbeitsplatte in der Küche standen Konserven aus dem Supermarkt. Da konnte er nicht viel falsch machen. Und es schmeckte ihm auch. Im Kühlschrank Bier, Energydrinks und Mixed Pickles. Die vermisste er jetzt.

Er starrte auf den weißen Strand, das Blau des Schwarzen Meeres und war verzweifelt. Wenn die Kohle aus dem Bürgerwindpark demnächst nicht mehr fließen würde, war er geliefert. Der Rentenbescheid war ernüchternd gewesen, und die Geschäfte gingen schlecht in letzter Zeit. Niemand wollte die sparsamen Diesel haben, die auf seinem Hof standen, und dieser Igor hatte sich auch nicht gemeldet. Aber von Hybridautos und Elektroantrieben verstand er nichts. Und an allem waren diese Politiker schuld.

Der amerikanische Präsident hatte schon recht. Die vornehmen Herrschaften in Brüssel und Berlin kümmerten sich nicht um Leute wie ihn. Von den Schrottkarren, die er ab und zu an Kunden von auswärts verkaufte, mal abgesehen, hatte er sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Und jetzt sollte er im Alter von Stütze leben, sollte zum Amt gehen? Das konnte man wirklich nicht von ihm erwarten.

Versonnen spielte er mit dem Armband seiner Rolex Oyster. Der schöne Lothar hatte auch so eine gehabt. Da waren sie auf Augenhöhe gewesen, der Minister und er. Lucky spuckte aus. Dass Lothar einen Teil des Geldes für den Mustang hatte zurückhaben wollen, empörte ihn immer noch. Geschäft ist Geschäft. Nur weil dieser Idiot Spielschulden hatte, sollte er sein Sky-Abo kündigen. So weit kam’s noch.

***

»Gundlach«, sagte eine Frauenstimme, nachdem Marie den Anruf auf ihrem Handy angenommen hatte, und gleich fielen ihr, wenn auch nicht alle, so doch einige ihrer Sünden ein. Sie schaute auf die Armbanduhr.

»Frau Geisler, ich warte seit einer Viertelstunde auf Sie.«

Marie wand sich. Innerlich und äußerlich. Ele schaute irritiert, Marie ging ein paar Schritte zum EMO, um dessen Heck herum, lehnte sich ans warme Blech und sagte: »Frau Gundlach, ich bin dienstlich gebunden. Können wir den Termin um anderthalb Stunden nach hinten –«

»Wie stellen Sie sich das vor, Frau Geisler? Der Grund für Termine im Rahmen des Elternsprechtages ist ja ein geregelter Ablauf.«

Marie nahm das Handy vom Ohr, atmete, war gewillt, freundlich zu bleiben. »Sie haben selbstverständlich recht. Allerdings verschieben sich manchmal die Prioritäten.«

Erneut unterbrach Frau Gundlach. »Welche Priorität genießt denn Ihr Sohn Karl, Frau Geisler?«

Ele bog ums Eck. »Marie, er kommt.« Sie schaute nach oben. Der Körper des Mannes näherte sich rasch dem Boden. Elmar und der Betriebsführer hatten ihn so gesichert, dass er mit den Füßen voran nach unten schwebte. Sein Kopf lag auf der Brust, das dunkle Sakko war geöffnet, Blut auf dem Hemd.

»Ich rufe dann mal in der Praxis Ihres Gatten an.«

»Nein, ich komme Montag vor Unterrichtsbeginn. Schönes Wochenende.« Marie drückte das Gespräch weg und zog neue Handschuhe über.

Der KTU-Kollege, der die Drohne gesteuert hatte, zupfte an der Plane herum, auf der der Körper zu liegen kommen würde. Nur noch etwa zwei Meter. Eine Flüssigkeit tropfte aus dem Leichnam und erreichte die Plane hör- und sichtbar. Marie, Ele und der KTU-Kollege griffen nach dem Körper, fassten ihn an den Schultern und am Kopf, sorgten dafür, dass er nicht ohne jede Würde auf der Plane landete. Mayr vom BKA stand in der geöffneten Tür seiner Limousine und telefonierte.

Marie löste den Karabinerhaken, machte ein Zeichen nach oben. Der Haken und das dünne Drahtseil verschwanden. Nun lag der Mann auf dem Rücken, die verletzte Kopfseite nach oben. Es handelte sich ziemlich offensichtlich um den Mann, den sie aus den Zeitungen und aus dem Fernsehen kannten. Marie zückte das Schleibook, machte eine kurze Skizze. Kronenburg wirkte auch im Tod wie einem Lifestyleblog entsprungen, wie die Ikone der Hipsterszene. Sein Äußeres war ihm offensichtlich extrem wichtig gewesen.

Ele und Marie knieten sich neben ihn. Marie griff in die zugeknöpften Innentaschen des Sakkos. Mayr trat an die Plane heran. Marie zog eine Brieftasche aus der linken Innentasche und ein Handy aus der rechten. Sie öffnete die Brieftasche und entnahm ihr den Personalausweis. Lothar Kronenburg, geboren am 7. November 1970. Er war keine fünfzig Jahre alt geworden.

Schlagartig wurde Marie bewusst, dass dies ein Fall mit bundespolitischer Bedeutung war. Alle würden auf den gewaltsamen Tod des Ministers schauen, auf ihre Arbeit. Vorgesetzte, Medienvertreter, die Bürgerinnen und Bürger des ganzen Landes. Sie drehte den Kopf, nickte Mayr zu, der das Handy wieder ans Ohr nahm und wegging.

In der Brieftasche keine Fotos, keine Briefchen, nichts Persönliches. Aus den Medien wusste Marie, dass Kronenburgs Eltern vor einigen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Hatte er in einer Talkshow erzählt, und Marie war das sehr inszeniert vorgekommen. Traurig war es dennoch. Er war nicht verheiratet, hatte keine Kinder. Ein Leben, wie es sich Marie nicht vorstellen konnte.

Sie war froh, keine Todesnachricht überbringen zu müssen.

Brieftasche und Handy steckte sie in separate Beutel, tastete die anderen Taschen ab. Sie fand einen Autoschlüssel, der vermutlich zu dem unscheinbaren weißen Polo passte, der am Rand des Platzes parkte, einen Schlüsselbund, Lutschbonbons, ein Stofftaschentuch. Marie verstaute die Asservate im EMO, in das ein kleiner Tresor und eine wirksame Alarmanlage eingebaut worden waren.

Mit dem Autoschlüssel ging sie hinüber zu dem etwas abseits geparkten Auto. Sie schloss es auf und staunte nicht schlecht. Auf der Rückbank lagen ein nagelneuer Kuhfuß, ein stabiler Schraubendreher und ein Picking-Besteck zum Öffnen von Schlössern, wie auch sie eines besaß. Da war jemand in der Absicht unterwegs gewesen, eine Tür zu knacken.

Marie setzte sich ins Auto, öffnete das Handschuhfach. Bordbuch und die Lutschbonbons der Marke und Sorte, die sie in Kronenburgs Tasche gefunden hatte. Sie klappte die Beifahrersonnenblende herunter. Ein selbst ausgedruckter Stromlaufplan für die Feuerwehr und ein Fahrzeugschein. Der Polo war auf Sina Carstens zugelassen. Eine Adresse in Kiel.

Marie wusste, wer Sina Carstens war. Sie kannte die Fernsehredakteurin vom Bildschirm. Warum war Kronenburg mit deren Auto gefahren? Hatte er ihr Auto gefahren? Die KTU musste das prüfen. Marie stieg aus, schaute in den Kofferraum. Nichts außer einem Warndreieck und einer leeren Ikea-Tasche. Sie verschloss den Polo, ging hinüber zu Elmar und Ele. Von der Straße her näherte sich ein Leichenwagen.

»Du bist schon fertig?«, fragte sie Ele.

»Hier kann ich nichts mehr tun. Ich brauche ihn auf dem Tisch.« Ele rückte ihr Kostüm zurecht, umarmte Marie kurz und wandte sich zum Gehen. »Ich ruf dich an, sobald ich Ergebnisse habe.«

»Pass gut auf dich auf, morgen in der Skyline Bar!«

Ele winkte ab und wackelte mit dem Hintern.

»Elmar?«

Der KTU-Mann setzte sich auf ein kleines Höckerchen und schob die Kapuze seines Schutzanzugs nach hinten. Die wenigen Haare klebten am Kopf. »Ja, Marie?«

»Der Polo da drüben. Kronenburg hatte einen Schlüssel dafür. Vermutlich ist er mit dem Auto hierhergefahren. Ihr überprüft das?«

»Mok wi.«

»Auf der Rückbank sind Einbruchwerkzeuge. Nagelneu.«

»Das ist ja nicht mein Bier. Quittung suchen, Baumarkt suchen …«

»Schon klar. Ich möchte nur, dass ihr nachschaut, ob es am Werkzeug und an der Tür der Anlage Spuren gibt, die Rückschlüsse auf einen Einbruchversuch zulassen. Ich glaube ja, er hatte einen Schlüssel, oder jemand hat ihn reingelassen. Schade, dass der Eingang nicht kameraüberwacht ist.«

»Schade, dass die Welt nicht besser ist.«

»Den USB-Stick nehme ich mit. Schaue ich mir gleich im Büro an und lege ihn dann auf deinen Schreibtisch.«

Der Motor von Mayrs Limousine sprang an. Das Auto fuhr an. Es staubte. Mayr bremste neben Marie und Elmar, ließ die Scheibe hinuntersurren. Er reichte Marie einen Zettel raus. »Die Personenschützer. Bei der Befragung bin ich dabei. Zwei Stunden Vorlauf reichen. Ich bleibe zunächst in Kiel.«

Das Fenster surrte nach oben. Die Limousine fuhr davon. Marie drehte sich um und sah noch, wie sich der Deckel des Kunststoffsarges über Lothar Kronenburg schloss. Sie nickte den drei KTU-Kollegen zu, stieg ins EMO und fuhr los.

Oft half es ihrem Denken auf die Sprünge, wenn sie eine Situation verließ. Jetzt fuhr sie, allerdings ohne zu denken, parallel zum Kanal in Richtung Kiel, und plötzlich kam der Hunger, er griff nach ihr, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Er rumorte in der Magengegend, stieg auf durch den Brustkorb und nahm Besitz von Maries Gedanken, war wie die Sucht eines Rauchers. Sie musste jetzt essen.