Winesburg, Ohio - Sherwood Anderson - E-Book

Winesburg, Ohio E-Book

Sherwood Anderson

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Beschreibung

Klassiker der US-Moderne

Mit «Winesburg, Ohio» revolutionierte Sherwood Anderson die moderne amerikanische Short Story. Lakonischer war das Leben seiner Landsleute nie erzählt worden. In der vorliegenden Neuübersetzung, der ersten seit über 50 Jahren, lässt sich dieser wegweisende US-Klassiker nun endlich wiederentdecken.

Wing Biddlebaum verlor durch ein fatales Missverständnis seine Stelle als Lehrer und mit ihr seine Seelenruhe. Alice Hindman wartet auch elf Jahre nach deren Verschwinden noch verzweifelt auf die Rückkehr ihrer Jugendliebe. Der Arzt Mr Reefy schreibt seit dem Tod seiner Frau Gedankensplitter auf kleine Zettel – und wirft sie weg. Selbst die Existenz des jungen Lokalreporters George Willard, der neugierig all diese Schicksale sammelt, ist nicht frei von tragischen Verstrickungen. Schrullige, einsame Charaktere bevölkern das Städtchen Winesburg in Ohio, einen Ort auf der literarischen Landkarte, dem Autoren bis heute ihre Reverenz erweisen.

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Seitenzahl: 347

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Dem Andenken meiner Mutter, EMMA SMITH ANDERSON, die als scharfe Beobachterin des Lebens um sie herum in mir erstmals das Verlangen weckte, hinter die Fassade der Existenzen zu schauen, ist dieses Buch gewidmet.

Inhaltsverzeichnis

Das Buch des GroteskenHÄNDEPAPIERPILLENMUTTERCopyright

Das Buch des Grotesken

Der Schriftsteller, ein alter Mann mit weißem Schnurrbart, hatte Schwierigkeiten, ins Bett zu kommen. Die Fenster des Hauses, das er bewohnte, waren weit oben, und er wollte, wenn er morgens wach wurde, auf die Bäume blicken. Ein Tischler kam, das Bett so zu richten, dass es auf einer Ebene mit dem Fenster lag.

Um die Angelegenheit wurde viel Aufhebens gemacht. Der Tischler, der im Bürgerkrieg Soldat gewesen war, trat ins Zimmer des Schriftstellers, setzte sich und sprach davon, zum Anheben des Bettes ein Podest zu bauen. Der Schriftsteller hatte Zigarren daliegen, und der Tischler rauchte.

Eine Weile redeten die beiden Männer über das Anheben des Bettes, dann redeten sie über andere Dinge. Der Soldat kam auf den Krieg zu sprechen. Vielmehr hatte der Schriftsteller ihn auf das Thema gebracht. Der Tischler war einmal im Gefängnis von Andersonville in Haft gesessen und hatte einen Bruder verloren.1 Der Bruder war verhungert, und jedes Mal, wenn der Tischler darauf zu sprechen kam, weinte er. Wie der alte Schriftsteller hatte auch er einen weißen Schnurrbart, und wenn er weinte, verzog er den Mund, und der Schnurrbart wippte auf und nieder. Der weinende Alte mit der Zigarre im Mund wirkte lächerlich. Der Plan des Schriftstellers, sein Bett anheben zu lassen, war vergessen, und später richtete der Tischler es nach seinen Vorstellungen, und der Schriftsteller, der über sechzig war, musste sich eines Stuhls bedienen, wenn er abends zu Bett ging.

Im Bett drehte sich der Schriftsteller auf die Seite und lag ganz still da. Jahrelang hatten ihn Ahnungen betreffend sein Herz bedrängt. Er war starker Raucher, und er hatte Herzflimmern. In seinem Kopf hatte sich die Vorstellung festgesetzt, dass er irgendwann unerwartet stürbe, und jedes Mal, wenn er zu Bett ging, musste er daran denken. Es beunruhigte ihn nicht. Die Folge war eigentlich etwas sehr Besonderes und nicht leicht zu erklären. Es machte ihn im Bett lebendiger als irgendwo sonst. Vollkommen reglos lag er da, und sein Körper war alt und kaum noch zu gebrauchen, aber etwas in ihm war ganz und gar jung. Er war wie eine Schwangere, nur dass das in ihm kein Baby war, sondern ein Jüngling. Nein, kein Jüngling, es war eine Frau, jung, und sie trug eine Rüstung wie ein Ritter. Es ist ja doch absurd, erzählen zu wollen, was in dem alten Schriftsteller vorging, wie er so auf seinem Hochbett lag und dem Flimmern seines Herzens lauschte. Beschreiben lässt sich aber, woran der Schriftsteller, oder vielmehr das junge Wesen in dem Schriftsteller, dachte.

Wie alle Menschen auf der Welt hatte auch der alte Schriftsteller während seines langen Lebens eine ganze Menge Vorstellungen im Kopf gehabt. Er hatte einmal recht gut ausgesehen, und etliche Frauen waren in ihn verliebt gewesen. Und dann hatte er natürlich Leute gekannt, viele Leute, hatte sie auf eine merkwürdig vertraute Weise gekannt, die sich von der unterschied, wie Sie und ich Leute kennen. Das jedenfalls dachte der Schriftsteller, und der Gedanke machte ihn froh. Warum mit einem alten Mann über seine Gedanken streiten?

In dem Bett hatte der Schriftsteller einen Traum, der kein Traum war. Wenn er ein wenig schläfrig wurde, aber doch noch bei Bewusstsein war, erschienen ihm Gestalten vor Augen. Er stellte sich vor, dass das nicht beschreibbare junge Wesen in ihm eine lange Prozession von Gestalten vor seinen Augen vorbeiziehen ließ.

Das Interessante an all dem waren nämlich die Gestalten, die vor den Augen des Schriftstellers vorbeizogen. Sie waren alle grotesk. Alle Männer und Frauen, die der Schriftsteller je gekannt hatte, waren grotesk geworden.

Die grotesken Gestalten waren nicht alle scheußlich. Manche waren amüsant, manche beinahe schön, und eine, eine Frau, die völlig aus der Form geraten war, schmerzte den alten Mann mit ihrer grotesken Erscheinung. Als sie vorbeizog, machte er ein Geräusch wie ein wimmernder kleiner Hund. Wären Sie da ins Zimmer getreten, Sie hätten geglaubt, der alte Mann habe unangenehme Träume oder vielleicht Verdauungsstörungen.

Eine Stunde lang zog die Prozession der grotesken Gestalten vor den Augen des alten Mannes vorbei, dann kroch er, obwohl es ihm Schmerzen bereitete, aus dem Bett und begann zu schreiben. Einige der grotesken Gestalten hatten ihn tief beeindruckt, und das wollte er beschreiben.

Der Schriftsteller arbeitete eine Stunde an seinem Schreibtisch. Schließlich schrieb er ein Buch, das er «Das Buch des Grotesken» nannte. Es wurde nie veröffentlicht, aber ich habe es einmal gesehen, und es machte einen unauslöschlichen Eindruck auf mich. Das Buch hatte einen zentralen Gedanken, der sehr merkwürdig ist und der mir immer in Erinnerung geblieben ist. Indem ich mich seiner entsinne, vermag ich viele Menschen und Dinge zu verstehen, die ich davor nie verstanden habe. Der Gedanke war vertrackt, aber eine simple Wiedergabe würde ungefähr so lauten: Dass es am Anfang, als die Welt jung war, eine ganze Menge Gedanken gab, aber nichts, was einer Wahrheit gleichkam. Der Mensch machte sich die Wahrheiten selbst, und jede Wahrheit setzte sich aus einer ganzen Menge vager Gedanken zusammen. Die Wahrheiten waren allenthalben auf der Welt, und sie waren alle schön.

Der alte Mann hatte Hunderte solcher Wahrheiten in seinem Buch aufgeführt. Ich will gar nicht erst versuchen, Ihnen von allen zu erzählen. Es gab die Wahrheit der Jungfräulichkeit und die Wahrheit der Leidenschaft, die Wahrheit des Reichtums und der Armut, der Sparsamkeit und der Verschwendung, der Achtlosigkeit und der Hingabe. Zu Hunderten und Aberhunderten gab es Wahrheiten, und sie waren alle schön.

Und dann kamen die Leute. Jeder griff, als er erschien, nach einer der Wahrheiten, und einige, die sehr stark waren, griffen sich gleich ein Dutzend.

Es waren die Wahrheiten, die die Leute zu grotesken Gestalten machten. Der alte Mann hatte dazu eine ziemlich ausgefeilte Theorie. Seiner Vorstellung nach wurde einer in dem Augenblick, in dem er eine der Wahrheiten für sich in Anspruch nahm, sie seine Wahrheit nannte und versuchte, danach zu leben, grotesk und die Wahrheit, die er sich zu eigen gemacht hatte, wurde unwahr.

Sie werden ja selbst sehen, wie der alte Mann, der sein ganzes Leben lang geschrieben hatte und erfüllt war von Wörtern, Hunderte Seiten darüber schrieb. Das Thema nahm in seinem Kopf solche Bedeutung an, dass er Gefahr lief, selbst zu einer grotesken Gestalt zu werden. Er wurde es vermutlich doch nicht, und zwar allein deshalb, weil er das Buch nie veröffentlichte. Den alten Mann rettete das junge Wesen in ihm.

Was den alten Tischler betrifft, der das Bett für den Schriftsteller richtete, so habe ich ihn nur erwähnt, weil er wie viele derer, die man ganz einfache Leute nennt, dem Begreiflichen und Liebenswerten an all den grotesken Gestalten im Buch des Schriftstellers am nächsten kam.

HÄNDE

Auf der halb verrotteten Veranda eines kleinen Holzhauses, das am Rande einer Schlucht nahe der Stadt Winesburg, Ohio, stand, lief ein dicker kleiner alter Mann nervös auf und ab. Am anderen Ende eines langen Felds, das mit Klee eingesät war, aber nur eine dichte Fülle gelben Ackersenfs hervorgebracht hatte, konnte er die Landstraße sehen, auf der ein Wagen voller Beerenpflücker fuhr, die von den Feldern heimkehrten. Die Beerenpflücker, Jungen und Mädchen, lachten und schrien ausgelassen. Ein Junge in einem blauen Hemd sprang vom Wagen und versuchte, eines der Mädchen mitzuziehen, doch die kreischte und protestierte schrill. Die Füße des Jungen wirbelten auf der Straße eine Staubwolke auf, die der scheidenden Sonne übers Gesicht wehte. Über das lange Feld hinweg erklang eine mädchenhafte Stimme. «Ach, du, Wing Biddlebaum, kämm dir die Haare, sie fallen dir ja in die Augen», befahl die Stimme dem Mann, der eine Glatze hatte und dessen nervöse kleine Hände auf der kahlen weißen Stirn herumfuhren, als wollten sie eine wirre Lockenflut ordnen.

Wing Biddlebaum, ständig verängstigt und verfolgt von einer gespenstischen Gedankenschar, betrachtete sich in keiner Weise als Teil des Lebens dieser Stadt, in der er schon seit zwanzig Jahren lebte. Unter allen Menschen Winesburgs war ihm lediglich einer nahe gekommen. Mit George Willard, Sohn von Tom Willard, dem Besitzer des «New Willard House», verband ihn so etwas wie Freundschaft. George Willard war der Reporter des «Winesburg Eagle», und er ging manchmal abends die Landstraße entlang zu Wing Biddlebaum. Während der alte Mann also auf der Veranda auf und ab lief und nervös mit den Händen herumfuchtelte, hoffte er, George Willard käme und verbrächte den Abend mit ihm. Als der Wagen mit den Beerenpflückern fort war, ging er durch das Feld mit dem hohen Ackersenf, kletterte über einen Lattenzaun und spähte sehnsüchtig die Straße hinunter in Richtung Stadt. Einen Augenblick stand er so da, rieb sich die Hände und schaute die Straße hinauf und hinab, dann überkam ihn Furcht, und er lief wieder zurück zum Haus und stieg die Stufen zur Veranda hoch.

In Gegenwart George Willards verlor Wing Biddlebaum, der für die Stadt seit zwanzig Jahren ein Mysterium war, ein wenig von seiner Verzagtheit, und sein schattenhaftes Wesen, das sonst in einem Meer von Zweifeln trieb, tauchte auf und betrachtete die Welt. Den jungen Reporter an seiner Seite, wagte er sich bei Tageslicht auf die Main Street oder schritt auf der wackligen Veranda seines Hauses auf und ab und redete erregt. Die Stimme, die sonst leise und zittrig war, wurde schrill und laut. Die gebeugte Gestalt richtete sich auf. Zappelnd wie ein Fisch, der vom Angler in den Bach zurückgeworfen wird, redete Biddlebaum der Stumme auf einmal, mühte sich, die Ideen, die sich während langer Jahre des Schweigens in seinem Kopf angesammelt hatten, in Worte zu fassen.

Wing Biddlebaum redete viel mit den Händen. Die schmalen, ausdrucksstarken Finger, immerzu geschäftig, immerzu bemüht, sich in den Taschen oder hinter seinem Rücken zu verbergen, kamen hervor und wurden zu den Kolbenstangen seiner Ausdrucksmaschine.

Die Geschichte des Wing Biddlebaum ist eine Geschichte über Hände. Deren ruhelose Geschäftigkeit, ähnlich dem Flügelschlagen eines eingesperrten Vogels, hatte ihm seinen Namen gegeben. Ein obskurer Dichter in der Stadt hatte ihn sich ausgedacht. Die Hände alarmierten ihren Besitzer. Er wollte sie versteckt halten und betrachtete voller Verwunderung die ruhigen, ausdruckslosen Hände anderer Männer, die neben ihm auf dem Feld arbeiteten oder mit verschlafenen Gespannen über Landstraßen an ihm vorüberfuhren.

Wenn er mit George Willard redete, ballte Wing Biddlebaum die Fäuste und schlug damit auf einen Tisch oder gegen die Wände seines Hauses. Davon wurde ihm wohler. Überkam ihn das Verlangen zu reden, wenn die beiden über die Felder wanderten, dann suchte er sich einen Stumpf oder die oberste Latte eines Zauns und redete, heftig darauf hämmernd, mit frischer Ungezwungenheit.

Die Geschichte von Wing Biddlebaums Händen ist allein schon ein Buch wert. Einfühlsam dargestellt, würde sie so manche merkwürdigen, schönen Eigenschaften unbedeutender Männer erschließen. Das ist eine Aufgabe für einen Dichter. In Winesburg hatten die Hände lediglich wegen ihrer Lebhaftigkeit Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Mit ihnen hatte Wing Biddlebaum an einem Tag bis zu einhundertvierzig Quart2 Erdbeeren gepflückt. Sie wurden sein kennzeichnendes Merkmal, die Quelle seines Ruhms. Auch machten sie eine ohnehin schon groteske und schwer fassbare Persönlichkeit noch grotesker. Winesburg war auf Wing Biddlebaums Hände in derselben Weise stolz, wie es stolz auf das neue Steinhaus von Bankier White war und auf Wesley Moyers braunen Traberhengst Tony Tip, der beim Herbstrennen von Cleveland den Zwei-fünfzehn-Lauf gewonnen hatte.

George Willard hatte sich schon viele Male nach den Händen erkundigen wollen. Zuweilen hatte eine nahezu überwältigende Neugier von ihm Besitz ergriffen. Er spürte, dass es für ihre merkwürdige Geschäftigkeit und ihre Neigung, sich versteckt zu halten, einen Grund geben musste, und nur wachsender Respekt vor Wing Biddlebaum hielt ihn davon ab, mit den Fragen herauszuplatzen, die ihm häufig durch den Kopf gingen.

Einmal war er schon im Begriff gewesen, ihn zu fragen. Die beiden spazierten an einem Sommernachmittag durch die Felder und hatten haltgemacht, um sich auf eine Grasböschung zu setzen. Den ganzen Nachmittag hatte Wing Biddlebaum wie beseelt geredet. An einem Zaun war er stehen geblieben und hatte wie ein riesiger Specht auf die oberste Latte eingehämmert, dabei auf George Willard eingeschrien und seine Neigung verurteilt, sich von den Leuten um ihn herum zu sehr beeinflussen zu lassen. «Du zerstörst dich selbst», rief er. «Du neigst zum Alleinsein und zum Träumen, und du fürchtest dich vor Träumen. Du willst wie die anderen in der Stadt hier sein. Du hörst sie reden, und du versuchst, sie nachzuahmen.»

Auf der Grasböschung hatte Wing Biddlebaum dann erneut versucht, ihm seinen Standpunkt klarzumachen. Seine Stimme wurde weich und schwelgend, und mit einem zufriedenen Seufzer hub er zu einer langen, weitschweifigen Rede an und sprach, als wäre er in einem Traum verloren.

Den Traum formte Wing Biddlebaum für George Willard zu einem Bild. In dem Bild lebten die Menschen wieder in einer Art idyllischem goldenem Zeitalter. Über ein grünes, weites Land kamen junge Männer mit wohlgeformten Gliedern, manche zu Fuß, manche zu Pferd. In Scharen kamen die jungen Männer, um sich zu Füßen eines alten Mannes zu sammeln, der in einem winzigen Garten unter einem Baum saß und mit ihnen sprach.

Wing Biddlebaum war nun richtig beseelt. Ausnahmsweise vergaß er einmal seine Hände. Langsam stahlen sie sich fort und legten sich George Willard auf die Schultern. Etwas Neues und Kühnes trat in die Stimme, die da sprach. «Du musst versuchen, alles, was du gelernt hast, zu vergessen», sagte der alte Mann. «Du musst anfangen zu träumen. Von nun an musst du die Ohren vor dem Gebrüll der Stimmen verschließen.»

Wing Biddlebaum unterbrach seine Rede und betrachtete George Willard lang und ernst. Seine Augen loderten. Erneut hob er die Hände, um den Jungen zu streicheln, dann strich ihm Entsetzen übers Gesicht.

Mit einer krampfartigen Körperbewegung sprang Wing Biddlebaum auf und stieß die Hände tief in die Hosentaschen. Tränen stiegen ihm in die Augen. «Ich muss mich auf den Heimweg machen. Ich kann nicht weiter mit dir sprechen», sagte er nervös.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, war der alte Mann den Hügel hinab über eine Wiese gehastet, und George Willard blieb verblüfft und verängstigt auf dem Grashang sitzen. Zitternd vor Furcht erhob sich der Junge und ging auf der Straße zurück in die Stadt. «Ich werde ihn nicht nach seinen Händen fragen», dachte er, berührt von der Erinnerung an das Entsetzen, das er in den Augen des Mannes gesehen hatte. «Da stimmt etwas nicht, aber was genau, möchte ich nicht wissen. Seine Hände haben etwas mit seiner Angst vor mir und vor allen anderen zu tun.»

Und George Willard hatte recht. Betrachten wir doch kurz die Geschichte dieser Hände. Vielleicht vermag es, wenn wir darüber reden, den Dichter zu wecken, der dann die verborgene Wundergeschichte von dem Einfluss erzählt, unter dem die Hände bloß flatternde Fähnchen der Verheißung waren.

In seiner Jugend war Wing Biddlebaum in einer Stadt in Pennsylvania Lehrer gewesen. Damals kannte man ihn noch nicht als Wing Biddlebaum, vielmehr trug er den weniger euphonischen Namen Adolph Myers. Als Adolph Myers war er bei den Jungen an seiner Schule sehr beliebt.

Adolph Myers war von der Natur zum Lehrer der Jugend bestimmt. Er war einer jener seltenen, kaum verstandenen Männer, die mit einer so sanften Macht herrschen, dass sie als liebevolle Schwäche angesehen wird. In ihren Gefühlen für die ihnen anvertrauten Jungen sind solche Männer dem feineren Geschlecht der Frauen in deren Liebe zu Männern nicht unähnlich.

Und dennoch erklärt es das nur grob. Hier ist der Dichter gefragt. Mit den Jungen seiner Schule war Adolph Myers des Abends ausgegangen oder hatte bis zur Dämmerung, verloren in einer Art Traum, auf den Stufen der Schule gesessen. Hierhin und dahin wanderten seine Hände, streichelten die Schultern der Jungen, umspielten die zerzausten Köpfe. Wenn er redete, wurde seine Stimme weich und klangvoll. Auch darin lag Zärtlichkeit. In gewisser Weise waren Stimme und Hände, das Streicheln der Schultern und das Berühren der Haare Teil der Bemühungen des Lehrers, den jungen Köpfen einen Traum einzugeben. Die Zärtlichkeit in seinen Fingern war seine Art, sich auszudrücken. Er gehörte zu jenen Männern, in denen die Kraft, die Leben schafft, diffus ist, nicht gebündelt. Unter der Zärtlichkeit seiner Hände wurde der Geist der Jungen frei von Zweifel und Unglauben, und sie begannen ebenfalls zu träumen.

Und dann die Tragödie. Ein schwachsinniger Junge an der Schule verliebte sich in den jungen Lehrer. Nachts im Bett stellte er sich unsagbare Dinge vor, und am Morgen erzählte er dann seine Träume als Tatsachen. Seltsame, widerliche Anschuldigungen flossen ihm über die losen Lippen. Ein Schauder durchlief die pennsylvanische Stadt. Verborgene, schattenhafte Zweifel, welche die Männer, Adolph Myers betreffend, zuvor schon gehabt hatten, verhärteten sich zu Überzeugungen.

Die Tragödie ließ nicht auf sich warten. Zitternde Jungen wurden aus dem Bett gezerrt und befragt. «Er hat den Arm um mich gelegt», sagte einer. «Seine Finger haben immer mit meinem Haar gespielt», ein anderer.

Eines Nachmittags kam ein Mann aus der Stadt, Henry Bradford, ein Saloonbesitzer, an die Tür des Schulhauses. Er rief Adolph Myers auf den Schulhof und schlug ihn mit den Fäusten. Während seine harten Knöchel in das angstvolle Gesicht des Lehrers droschen, wurde sein Zorn immer schrecklicher. Kreischend vor Bestürzung rannten die Kinder wie aufgestörte Insekten durcheinander. «Ich werde dich lehren, die Hände an meinen Jungen zu legen, du Tier», brüllte der Saloonwirt, der den Lehrer nun, als er genug hatte vom Schlagen, mit den Füßen über den Hof stieß.

In jener Nacht wurde Adolph Myers aus der pennsylvanischen Stadt gejagt. Mit Laternen in der Hand kam ein Dutzend Männer an die Tür des Hauses, in dem er allein lebte, und forderte ihn auf, sich anzuziehen und herauszukommen. Es regnete, und einer der Männer hatte einen Strick in Händen. Sie hatten beabsichtigt, den Lehrer aufzuhängen, doch etwas an seiner Gestalt, so klein, weiß und bedauernswert, rührte sie am Herzen, und sie ließen ihn gehen. Als er in das Dunkel lief, bereuten sie ihre Schwäche und rannten ihm hinterher, fluchten und warfen Stöcke und dicke, weiche Matschklumpen nach der Gestalt, die schrie und immer schneller in das Dunkel rannte. Seit zwanzig Jahren lebte Adolph Myers allein in Winesburg. Er war erst vierzig, aber er sah aus wie fünfundsechzig. Den Namen Biddlebaum hatte er von einer Kiste mit Waren, die er an einem Güterbahnhof entdeckt hatte, als er durch eine Stadt im östlichen Ohio lief. In Winesburg hatte er eine Tante, eine schwarzzähnige alte Frau, die Hühner züchtete, und bei ihr lebte er bis zu ihrem Tod. Nach dem Vorfall in Pennsylvania war er ein Jahr lang krank, und nach seiner Genesung arbeitete er als Tagelöhner auf den Feldern, wobei er zaghaft zu Werke ging und sich mühte, seine Hände zu verbergen. Obwohl er nicht begriff, was geschehen war, spürte er, dass die Hände schuld gewesen sein mussten. Immer wieder hatten die Väter der Jungen von den Händen gesprochen. «Lass deine Hände bei dir», hatte der Saloonwirt gebrüllt, als er wie ein Rasender auf dem Schulhof herumtanzte.

Auf der Veranda seines Hauses bei der Schlucht ging Wing Biddlebaum weiter auf und ab, bis die Sonne verschwunden war und die Straße hinterm Feld sich in den grauen Schatten verlor. Dann trat er ins Haus, wo er sich Brotscheiben abschnitt und mit Honig bestrich. Als das Rumpeln des Abendzugs, der die Expresswaggons mit der Tagesernte Beeren fortbrachte, verklungen und die Stille wieder in der Sommernacht Einzug gehalten hatte, machte er sich erneut auf seinen Gang über die Veranda. In dem Dunkel konnte er die Hände nicht sehen, und sie wurden ruhig. Obwohl er sich weiter nach dem Jungen sehnte, der das Medium war, durch das er seine Menschenliebe ausdrückte, wurde die Sehnsucht wie früher Teil seiner Einsamkeit und seines Wartens. Wing Biddlebaum entzündete eine Lampe und spülte das wenige Geschirr, das durch sein schlichtes Mahl beschmutzt war, dann stellte er an der Fliegentür, die auf die Veranda führte, ein Faltbett auf und entkleidete sich für die Nacht. Ein paar versprengte Weißbrotkrümel lagen auf dem sauber gewischten Fußboden neben dem Tisch; er stellte die Lampe auf einen niedrigen Schemel und machte sich daran, die Krümel aufzulesen und sie einen nach dem anderen mit unglaublicher Geschwindigkeit an den Mund zu führen. In dem dichten Lichtfleck unter dem Tisch sah die kniende Gestalt wie ein Priester aus, der in eine Art Gottesdienst seiner Kirche vertieft war. Die nervösen, ausdrucksvollen Finger, die unablässig durchs Licht zuckten, hätten gut und gern für die eines Eiferers gehalten werden können, der eilig Perle um Perle seines Rosenkranzes abspult.

PAPIERPILLEN

Er war ein alter Mann mit weißem Bart, einer riesigen Nase und mächtigen Händen. Lange vor der Zeit, in der wir ihn kennenlernen, war er Arzt und lenkte ein müdes weißes Pferd von Haus zu Haus durch die Straßen Winesburgs. Später heiratete er eine Frau, die Geld hatte. Beim Tod ihres Vaters hatte sie eine große, fruchtbare Farm geerbt. Die Frau war still, groß und dunkel, und viele fanden sie sehr schön. Jeder in Winesburg fragte sich, warum sie den Arzt geheiratet hatte. Binnen eines Jahres nach der Heirat starb sie.

Die Knöchel der Hände des Arztes waren außergewöhnlich groß. Waren die Hände geschlossen, sahen die Knöchel aus wie Reihen unlackierter Holzkugeln, die groß wie Walnüsse und durch Stahlstangen verbunden waren. Er rauchte Maispfeife, und nach dem Tod seiner Frau saß er den ganzen Tag in seiner leeren Praxis an einem Fenster, das mit Spinnweben überzogen war. Nie öffnete er das Fenster. Einmal, an einem heißen Tag im August, versuchte er es, doch es klemmte, und danach vergaß er es vollkommen.

Winesburg hatte den alten Mann vergessen, dabei lag in Doktor Reefy die Saat von etwas sehr Schönem. Allein in seiner muffigen Praxis im Heffner-Block über der Kurzwarenfirma «Paris», arbeitete er unablässig, baute auf, was er selbst zerstört hatte. Kleine Wahrheitspyramiden errichtete er, und nachdem er sie errichtet hatte, stieß er sie wieder um, um die Wahrheiten zu erhalten, mit denen er andere Pyramiden errichten konnte.

Doktor Reefy war ein hochgewachsener Mann, der seit zehn Jahren nur einen einzigen Anzug trug. Der war an den Ärmeln abgewetzt, und an den Knien und Ellbogen zeigten sich kleine Löcher. In der Praxis trug er außerdem einen Leinenkittel mit riesigen Taschen, in die er beständig Papierschnipsel stopfte. Nach einigen Wochen wurden aus den Papierschnipseln kleine, harte, runde Kugeln, und wenn die Taschen voll waren, leerte er sie auf den Fußboden. Seit zehn Jahren hatte er nur einen einzigen Freund, einen weiteren alten Mann mit Namen John Spaniard, der eine Baumschule besaß. Zuweilen nahm der alte Doktor Reefy, wenn er zu Späßen aufgelegt war, eine Handvoll der Papierkugeln aus seinen Taschen und bewarf den Baumzüchter damit. «Verflixt noch eins, du sentimentaler alter Quatschkopf», rief er dann und schüttelte sich vor Lachen.

Die Geschichte von Doktor Reefy und seinem Werben um die große dunkle Frau, die seine Frau wurde und die ihm ihr Geld vermachte, ist sehr eigenartig. Sie ist köstlich wie die verwachsenen kleinen Äpfel in Winesburgs Obstgärten. Spaziert man im Herbst in die Obstgärten, ist der Boden hart vom Frost. Die Äpfel sind von den Pflückern schon von den Bäumen gezupft. Sie wurden in Fässer gelegt und in die Städte verschickt, wo sie in Wohnungen gegessen werden, die voller Bücher, Zeitschriften, Möbel und Menschen sind. An den Bäumen hängen nur noch einige wenige schrumplige Äpfel, die die Pflücker verschmäht haben. Sie sehen aus wie die Knöchel an Doktor Reefys Händen. Knabbert man daran, schmecken sie köstlich. In einer kleinen runden Stelle außen am Apfel hat sich dessen ganze Süße gesammelt. Man läuft über den gefrorenen Boden von Baum zu Baum, pflückt die schrumpligen, verwachsenen Äpfel und füllt sich damit die Taschen. Nur wenige kennen die Süße der verwachsenen Äpfel.

Die Frau und Doktor Reefy begannen ihr Werben an einem Sommernachmittag. Er war fünfundvierzig und hatte bereits die Angewohnheit, seine Taschen mit den Papierschnipseln zu füllen, die dann zu harten Kugeln und weggeworfen wurden. Die Gewohnheit war entstanden, während er auf dem Wagen hinter dem müden weißen Pferd saß und langsam die Landstraßen entlangfuhr. Auf den Papierchen waren Gedanken notiert, Schlüsse von Gedanken, Anfänge von Gedanken.

Diese Gedanken erzeugte, einen nach dem anderen, Doktor Reefys Kopf. Aus vielen davon hatte er eine Wahrheit geschaffen, die sich riesengroß in seinem Kopf erhob. Die Wahrheit verdunkelte die Welt. Sie war dann schrecklich anzusehen und verblasste, worauf es wieder mit den kleinen Gedanken begann.

Die große dunkle Frau kam zu Doktor Reefy, weil sie in anderen Umständen war und Angst bekommen hatte. In diesem Zustand war sie wegen einer Reihe von Geschehnissen, die ebenfalls merkwürdig waren.

Der Tod ihres Vaters und ihrer Mutter sowie die fruchtbaren Morgen Land, die ihr zugefallen waren, hatten ihr eine Reihe von Freiern an die Fersen geheftet. Zwei Jahre lang traf sie sich beinahe jeden Abend mit einem. Bis auf zwei waren sie alle gleich. Sie sprachen zu ihr von Leidenschaft, und in ihren Stimmen und Augen lag, wenn sie sie ansahen, etwas Angestrengtes, Begieriges. Die beiden, die anders waren, waren einander sehr unähnlich. Der eine, ein schlanker junger Mann mit weißen Händen, der Sohn eines Juweliers aus Winesburg, redete unablässig von Jungfräulichkeit. War er mit ihr zusammen, ließ ihn das Thema nie los. Der andere, ein schwarzhaariger Junge mit großen Ohren, sagte gar nichts, sondern schaffte es immer, sie ins Dunkel zu locken, wo er sie dann küsste.

Eine Zeit lang dachte die große dunkle Frau, sie werde den Juwelierssohn heiraten. Stundenlang saß sie schweigend da und hörte sich an, was er zu ihr sagte, und dann bekam sie es mit der Angst. Hinter seinem Gerede von Jungfräulichkeit steckte, wie sie zunehmend glaubte, eine Begierde, die größer war als bei allen anderen. Zuweilen erschien es ihr, als hielte er, wenn er redete, ihren Körper in Händen. Sie stellte sich vor, wie er ihn in seinen weißen Händen langsam drehte und betrachtete. Nachts träumte sie, er habe in ihren Körper gebissen und dass sein Kinn triefte. Diesen Traum hatte sie dreimal, dann geriet sie in andere Umstände von dem, der gar nichts sagte, sondern sie im Augenblick seiner Leidenschaft tatsächlich in die Schulter biss, sodass der Abdruck seiner Zähne noch tagelang zu sehen war.

Nachdem die große dunkle Frau Doktor Reefy kennengelernt hatte, war ihr, als wollte sie ihn nie wieder verlassen. Eines Vormittags ging sie in seine Praxis, und ohne dass sie etwas sagte, schien er zu wissen, was mit ihr geschehen war.

In der Praxis des Arztes war eine Frau, die Ehefrau des Mannes, der die Buchhandlung von Winesburg führte. Wie alle altmodischen Landärzte zog Doktor Reefy auch Zähne, und die Frau, die da wartete, hielt sich ein Taschentuch an die Zähne und stöhnte. Ihr Mann war bei ihr, und als der Zahn gezogen wurde, schrien beide, und Blut rann auf das weiße Kleid der Frau. Die große dunkle Frau beachtete es gar nicht. Als die Frau und der Mann gegangen waren, lächelte der Arzt. «Ich fahre jetzt mit Ihnen hinaus aufs Land», sagte er.

Mehrere Wochen lang waren die große dunkle Frau und der Arzt fast täglich zusammen. Die Umstände, die sie zu ihm geführt hatten, vergingen mit einer Krankheit, doch die Frau glich nun einem, der die Süße der verwachsenen Äpfel für sich entdeckt hat, für sie gab es nun nicht mehr nur die runde, vollkommene Frucht, wie sie in den Stadtwohnungen gegessen wird. Im Herbst nach dem Beginn ihrer Bekanntschaft heiratete sie Doktor Reefy, und im darauffolgenden Frühjahr starb sie. Den Winter hindurch las er ihr alle kleinen Gedankenschnipsel vor, die er auf die Papierchen notiert hatte. Nachdem er sie vorgelesen hatte, lachte er und steckte sie in seine Taschen, wo sie dann zu harten, runden Kugeln wurden.

MUTTER

Elizabeth Willard, die Mutter George Willards, war groß und hager, und ihr Gesicht war von Pockennarben gezeichnet. Obwohl erst fünfundvierzig, hatte eine obskure Krankheit ihrer Gestalt das Feuer genommen. Teilnahmslos ging sie in dem unordentlichen alten Hotel herum und betrachtete die verblichenen Tapeten und die abgewetzten Teppiche und verrichtete, sofern sie aufstehen konnte, zwischen vom Schlummer dicker Handelsvertreter verschmutzten Betten die Arbeit eines Zimmermädchens. Ihr Ehemann, Tom Willard, ein schlanker, eleganter Mann mit breiten Schultern, raschem, militärischem Gang und einem schwarzen Schnurrbart, dessen Spitzen scharf nach oben zeigten, bemühte sich, seine Frau aus seinen Gedanken zu verbannen. Diese große, geisterhafte Gestalt, wie sie langsam durch die Gänge schlich, nahm er als persönlichen Vorwurf. Dachte er an sie, wurde er zornig und fluchte. Das Hotel war nicht profitabel und war ständig am Rand des Bankrotts, und er wünschte, er wäre anderswo. Er betrachtete das alte Haus und die Frau, die darin mit ihm lebte, als vernichtet und erledigt. Das Hotel, in dem er anfangs so hoffnungsfroh gelebt hatte, war nur noch ein Schatten dessen, was ein Hotel sein sollte. Wenn er herausgeputzt und geschäftsmäßig durch die

Titel der amerikanischen Ausgabe:

«Winesburg, Ohio» (1919)

Copyright © 2012 by Manesse Verlag, Zürich in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Diese Buchausgabe wurde von Greiner & Reichel in Köln aus der Sabon gesetzt.

eISBN 978-3-641-08074-7

www.manesse.ch

www.randomhouse.de

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