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Ein kleiner Einblick ins Studentenleben der 1980er Jahre, als Globalisierung und allumfassender Kapitalismus noch nicht jeden zum funktionierenden Element des Systems oder der Gesellschaft gemacht haben.
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Seitenzahl: 97
Veröffentlichungsjahr: 2017
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H. war eine Stadt von etwa zweihunderttausend Einwohnern. Noch keine Großstadt, aber auch keine Kleinstadt mehr. Sie lag am südöstlichen Rand des Ruhrgebiets, nordwestlich des Sauerlands, und gehörte weder zum einen noch zum anderen. Eine Konstellation, die jedoch keinerlei Auswirkungen auf die Gemüter ihrer Bewohner zu haben schien. Deren Anteil, der meinte, psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, lag nicht höher als anderswo. Vielleicht etwas höher als im Ruhrgebiet und etwas geringer als im Sauerland. Oder umgekehrt.
Im südlichen Teil der Stadt befand sich an exponierter Stelle seit den frühen sechziger Jahren zum Unwillen der meisten dortigen Bewohner ein Hochhaus mit sechzehn Stockwerken. Ein unansehnlicher grauer Kasten, der sämtliche anderen Gebäude des Stadtteils weit überragte und eine große Anziehungskraft auf potentielle Selbstmörder auszuüben schien.
Es handelte sich dabei niemals – bisher jedenfalls – um einen der Hausbewohner selbst, sondern immer nur um Personen, die dieses Haus betraten, um nach oben zu gehen oder zu fahren und herunterzuspringen.
Eigentümerin des Hauses war übrigens eine der großen deutschen Versicherungsgesellschaften. Kein schöner, aber ein durchaus interessanter Gedanke, einer der Selbstmörder könnte bei ihr eine Lebensversicherung abgeschlossen haben. Sofern bei Selbstmord bezahlt wird. Und sofern überhaupt bezahlt wird.
Von den Hausbewohnern, wenn sie nicht gerade ins Haus gingen oder es verließen, bekam kaum jemand jemals etwas davon mit. Es konnte zwar vorkommen, dass der eine oder andere in kurzer Zeit gleich mehrere Male mit solch einem Fall konfrontiert wurde, so wie es immer mal wieder vorkam, dass einem der eigene Nachbar gleich mehrere Male im Monat über den Weg laufen konnte; in der Regel aber bekam man weder seinen Nachbarn noch einen Selbstmörder zu Gesicht. Es herrschte, wie so oft in solchen Häusern, eine große Anonymität, unter der auch viele der Bewohner, wenn sie denn gefragt worden wären, zu leiden hatten, während einige wenige sie als durchaus angenehm empfanden, wie Jürgen Kullmann aus dem zwölften Stock, der nun schon seit geraumer Zeit auf den Schatten des pflegeleichten Warzenkaktus starrte, den die Strahlen der Sonne durch die halbgeschlossenen Jalousien von der Fensterbank auf die Wand warf.
Als der Schatten schließlich die Höhe der Bettkante erreicht hatte, kroch er aus den Federn, warf in der Küche zur Kontrolle einen Blick auf die Wanduhr – gleich drei – und begab sich ins Badezimmer. Während er sich die Zähne putzte, bemühte er sich, nicht in den Spiegel zu sehen, wagte beim Ausspülen des Mundes dann aber doch einen Blick auf sein Spiegelbild. Was er sah, war ein Gesicht, das durchaus seines hätte sein können. Er hatte Schlimmeres befürchtet. Mit der linken Hand fuhr er sich einige Male durch die langen, zerzausten Haare, um sie auf eine Art zu ordnen, die jeden anderen glauben ließ, er käme gerade aus dem Bett oder hätte sich seit Tagen nicht mehr gekämmt.
Auch eine Art von Eitelkeit, nicht eitel zu sein.
Irgendwann, als seine Haare etwa die Höhe der Brustwarzen und das Ende der Schulterblätter erreichten, hatten sie aufgehört zu wachsen. Einfach aufgehört. Ganz im Gegensatz zum Bart, diesem lästigen Ausdruck der Männlichkeit, der von Zeit zu Zeit noch gestutzt werden musste – obwohl er bisher noch nicht ausprobiert hatte, ob dieser nicht ebenfalls irgendwann aufhören würde zu wachsen.
Zurück im Wohnschlafraum seines Eineinhalb-Zimmer-KDB-Appartements, schaltete er den Fernseher ein, drehte den Ton ab und stellte das Radio an. Er schob seine beiden Sesselmit den Vorderseiten zueinander, so dass sie eine Art Sofa bildeten, und machte es sich darauf bequem. Gedankenlos betrachtete er die Bilder auf dem Bildschirm und ließ die Musik aus dem Radio über sich ergehen.
Exakt um drei Uhr vernahm er an seiner Wohnungstür das Klopfzeichen: zweimal lang, zweimal kurz, wobei sich lang auf das Intervall zwischen dem ersten und zweiten und zweiten und dritten Klopfen bezog, kurz auf dasjenige zwischen dem dritten und vierten.
Er schritt gemächlich zur Tür und öffnete sie.
Es war, wie erwartet, sein Freund Thomas, der sich nun, »habe die Treppen genommen«, heftig atmend, »Trainingsprogramm – du«, an ihm vorbeischob, »verstehst?«.
Kullmann nickte und trottete hinter ihm her ins Zimmer, wo er die beiden Sessel wieder auseinanderzog, in denen sie sich nun einander gegenüber niederließen.
»Und? Wie«, Atempause, »geht’s dir?«
»Öhm …« Kullmann schien ernsthaft nach einer Antwort zu suchen.
»Also, tja, diese Frage kommt irgendwie überraschend. Wie mir scheint, den Umständen entsprechend.«
Er tat so, als würde er nachdenken.
»Ja, genau, kann man so sagen. Und? Wie geht’s dir?«
»Frag mich nicht, alter Freund. Frag mich bitte nicht. Einfach e-len-dig. Also, so gesehen, auch den Umständen entsprechend. Dieser verdammte Wodka … macht einen einfach fertig. Wann bist du letzte Nacht abgezogen? So gegen zwei, oder?«
Kullmann zuckte mit den Schultern.
Zwei, drei, etwas früher oder später. Er hatte keine Ahnung mehr.
»Na, und ich Trottel konnte es natürlich mal wieder nicht lassen«, begann Thomas seinen Bericht über das Ende der vergangenen Nacht, »und bin anschließend, angezogen wie die Motte vom Licht, in dieser Kneipe am Bahnhof gelandet, ›Wüste‹ oder ›Die Wüste‹. Ich setze mich an einen angemessenen Platz mittig an die Theke und bestelle ein Bier und einen Wodka, trinke den Wodka und bestelle noch einen. Nach Bier war mir nicht mehr, zu viel Quantität. Und nach diesem zweiten, schätzungsweise also dem insgesamt zwanzigsten bis fünfundzwanzigsten Wodka des Abends, überkommt mich, wie soll ich sagen, eine Art PARALYSE. Ich sinke mit dem Kopf auf das Thekenholz und will dieser vollbusigen Vollblutwirtin – weckte Instinkte in mir; weniger sexuell, mehr nach Muttern, hehe – ich will ihr immer wieder sagen: ›Bitte, ruf mir einen Krankenwagen. Oder wenigstens ein Taxi. Ich KANN nicht mehr!‹ Aber ich brachte auch kein Wort mehr heraus. Ich saß da, den Kopf auf der Theke, bei übrigens klarem Bewusstsein, das heißt, ich konnte alles hören und verstehen, was die Leute um mich herum von sich gaben, nur ich selbst konnte nichts mehr sagen, geschweige denn mich noch bewegen.«
Er sah Kullmann an, als erwarte er ein paar Worte des Mitgefühls, des Trostes oder auch einen Rat.
Kullmann wusste jedoch nicht, was er dazu sagen sollte.
Es war bedauerlich, sicherlich.
»Nun ja«, nuschelte er, »vielleicht durchaus verständlich, nach solch einer Menge harter Sachen …«
»Nein, nein«, wehrte Thomas ab.
Das war es nicht, was er hören wollte.
»Wenn es nur daran liegen würde, also am Alkohol, wäre es nicht so … bedenklich. Ich könnte aufhören. Jederzeit! Es ist etwas anderes. Es ist mehr – tiefer. Ich habe das Gefühl, dass es irgendwie mit meinen Problemen von ›Raum und Zeit‹ zusammenhängt.«
Wieder sah er Kullmann erwartungsvoll an, der aber immer noch nicht wusste, was er dazu sagen sollte.
»Tja, hm … wie ging es denn weiter?«, fragte Kullmann nach einer Weile des Schweigens. »Ich meine letzte Nacht.«
Thomas lächelte.
»Es ging nicht weiter. Ich hockte regungslos da, bis der Laden so gegen fünf, halb sechs dichtmachte. Dann packten mich zwei Typen und setzten mich vor die Tür. Wie einen vollen Müllsack. Diese Schweine! Irgendwie bin ich noch, blutige Rache schwörend, bis zu Herbert gekommen …«
Kullmann hörte nun kaum noch zu. Das Wesentliche war anscheinend gesagt, und es wurden ihm, so kurz nach dem Aufstehen, zu viele der Worte. Er achtete in erster Linie auf Mimik und Tonfall, um an gegebener Stelle entweder bestätigend zu nicken oder verneinend den Kopf zu schütteln. Eine Methode, die er bei anderen schon zur Regel gemacht hatte, bei seinem Freund Thomas allerdings nur selten anwandte. Es war ihm im Laufe der Jahre aufgefallen, dass die meisten Menschen nur etwas erzählen wollten. Irgendetwas. Was es war und ob ihnen nun jemand wirklich zuhörte oder nicht, war von keinerlei Bedeutung. Sie selbst hörten auch nie zu, wenn andere erzählten. Vermutlich weil sie wussten, was im Grunde alle wussten, ohne es sich in aller Deutlichkeit eingestehen zu wollen: Es nützte nichts. Jeder konnte sich nur allein helfen, weil man in den wichtigen und entscheidenden Momenten sowieso immer allein war. Und nicht nur allein, sondern allein gegen alle anderen – wie jede Kassiererin im Supermarkt bestätigen könnte.
»Wie bitte?«, fragte er nun, aufgeschreckt aus seinen Gedanken.
Thomas hatte ihm eine Frage gestellt, die mehr als ein Nicken oder Kopfschütteln erforderte.
»Hm, also, so genau weiß ich nicht, wen du meinst.«
»Na, den Typ, der letzte Woche schon bei Herbert war. Der, der nach jedem Bier eine Flasche Underberg hinterhernahm, für den Magen.«
»Ach so, Gerhard. Oder Gerd.«
»Genau, Gerd, glaube ich. Oder Gerhard. Ist auch egal. Jedenfalls war der gerade auch noch da, und Doc natürlich und Herbert selbst, und alle sind schon wieder am Saufen. Oder immer noch.«
»Wolltest du nicht heute nach Bochum zur Uni fahren«, wechselte Kullmann das Thema und verzog sein Gesicht zu einem leichten Grinsen, »um dein Studium noch mal aufzunehmen?«
Thomas war seit siebzehn Semestern an der Ruhr-Universität für Anglistik und Germanistik eingeschrieben, hatte aber in den vergangenen zwei, drei Jahren immer häufiger immer größere Schwierigkeiten bekommen, noch an Vorlesungen oder Seminaren teilzunehmen. Ihm war einige Male zu Beginn einer Vorlesung bei dem Gedanken, sich dieses Gerede nun eineinhalb Stunden anhören zu sollen, dermaßen unwohl geworden, dass er den Hörsaal nach wenigen Minuten fluchtartig verlassen hatte. Schon bald darauf besuchte er überhaupt keine Vorlesung mehr, wenig später auch keine Seminare und war zuletzt nicht einmal mehr zum Kaffeetrinken zur Uni gefahren.
Nun, zu Beginn des Wintersemesters 86/87, hatte er sich mangels Alternativen vorgenommen, einen letzten Versuch zu unternehmen, das Ganze doch noch zum Abschluss zu bringen.
»Heute auf keinen Fall! Bin viel zu schwach. Ich hoffe, morgen oder übermorgen wieder fit genug zu sein, um es in Angriff nehmen zu können. Geht sowieso erst in den nächsten Tagen richtig los. Den einen Scheißschein noch in englischer Literatur, dann habe ich den ganzen Blödsinn hinter mir. Nun gut, noch ein paar Prüfungen, die Magisterarbeit … einen ersten Entwurf habe ich in den letzten Wochen übrigens schon geschrieben, über die Wissenschaft im Allgemeinen: »De Scientia« … Kann ich dir irgendwann mal zeigen – weißt du übrigens, wo ich gestern meinen Wagen abgestellt habe?«
»Hm, müsste am Markt stehen, auf dem großen Parkplatz. Wenn du nicht noch gefahren bist.«
»Bin ich nicht, glaube ich. Weißt du zufällig auch, wann wieder Markt ist?«
»Nein, keine Ahnung«, Kullmann lächelte, »wahrscheinlich heute.«
Thomas lächelte ebenfalls.
»Wahrscheinlich. Na, dann steht die Karre jetzt wenigstens bestens gesichert beim Abschleppdienst.«
Er erhob sich.
»Ich wollte noch kurz rüber zum Supermarkt, um was zu trinken zu holen … ich meine, Mineralwasser. Kann ich dir etwas mitbringen? Ich meine, nicht Mineralwasser, überhaupt, irgendetwas? Tabak, Brot, Bier?«
»Nein danke, ich glaube, ich brauche nichts. Ich wollte mich ohnehin gleich wieder hinlegen.«
»Ich beneide dich, mein Freund. Dich und deine Ruhe. Und du bist so schrecklich vernünftig. Bah! Ich komme vielleicht gegen Abend noch mal vorbei. Oder morgen Mittag. Okay?«
»Ja, tu das.«
»Bis dann.«
»Bis dann.«
Nachdem Thomas gegangen war, schaltete Kullmann das Radio aus, drehte den Ton des Fernsehers an, stellte die beiden Sessel wieder mit den Sitzflächen voreinander, legte sich darauf und sah zum Bildschirm.
Er hatte Thomas vor etwa sieben Jahren kennengelernt, wenige Wochen nach seinem Einzug hier ins Haus. Ein, wie sich herausstellte, gemeinsamer Bekannter hatte ihn besucht und überreden können, mit nach unten in den achten Stock zu Thomas zu kommen, wo sie ihn am späten Nachmittag noch im Bett liegend antrafen. Keine Ausnahmesituation, wie Thomas ihnen versicherte. Er würde diese Position schon seit seinen