WintersSpuren - Catrine Bauer - E-Book

WintersSpuren E-Book

Catrine Bauer

3,0

  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

ER KENNT DEINE KINDHEIT. DEINE JUGEND. DEIN LEBEN. UND ER WIRD DICH FINDEN … Umweltschutz statt Leichen! Aus diesem Grund hat Henrietta alias Henry ihren Job bei der Polizei an den Nagel gehängt und Jura studiert. Nun arbeitet sie bei einer Nichtregierungsorganisation (NGO) in ihrer Heimat Schweden. Als ihre Mutter erschossen wird, findet Henry heraus, dass ihr Vater noch lebt. Sie war bisher fest davon überzeugt gewesen, er sei bei einem Bootsunglück verstorben. Henry versucht, selbst im Mordfall ihrer Mutter zu ermitteln. Das bringt sie in gefährliche Situationen, aber sie wähnt sich in Sicherheit, als sie von Schweden nach Tübingen reist. Dort taucht sie tief in ihre Vergangenheit ein und entdeckt ein dunkles Geheimnis, das ihr Leben durcheinanderbringt – auch dem Mörder ihrer Mutter kommt sie dabei immer näher. Genauso, wie er ihr …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 448

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,0 (1 Bewertung)
0
0
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Prinzip aller Dinge ist das Wasser, denn Wasser ist alles. Und ins Wasser kehrt alles zurück.(Thales von Milet, um 625-545 v. Chr.)

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHISBN 978-3-8271-8444-3

Catrine BauerWINTERSSPUREN

Für meine Eltern und meinen Bruder

Stockholm, 1. Februar 2019

Dünne Eisplatten schwammen auf dem Wasser im Stockholmer Hafen. Allein beim Anblick fröstelte es Henry, und sie drehte die Heizung auf.

Magnus ließ mal wieder den Chef raushängen und stürmte ständig in Henrys und Christians Büro, um zu fragen, wie weit sie mit ihrer Recherche waren. Henry war längst fertig, sie musste nur noch die Präsentation über den Walfang auf den Färöer-Inseln erstellen. Die Sponsoren würden One Earth nur weiter unterstützen, wenn Henry deutlich machen konnte, wofür sie das Geld brauchten. Vorher wollte sie aber in ihre Unterlagen schauen, weil Magnus besonderen Wert auf eine Präsentation legte, die nach seinen Vorstellungen aufgebaut war.

„So ein depperter Trottel“, entfuhr es Christian in gewohnt breitem Wienerisch, als Magnus das Büro verlassen hatte. Er knallte seinen Kugelschreiber in eine Ecke.

„Der alte Grantler glaubt, er kann mir meinen Job erklären. Ich hab fünfundzwanzig Jahre Berufserfahrung, und jetzt kommt der daher und meint, ich wüsst ned, wie man eine Präsentation erstellt? Als ob man in eine Präsentation einfliegende Bilder macht. Des macht kein Mensch! Zumindest keiner, der über die Mittelstufe rausgekommen ist. Was kommt als Nächstes? Micky-Maus-Bilder? Ich pack’s ned!“

Henry lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und beobachtete grinsend ihren Kollegen, der gar nicht mehr zu beruhigen war. Sein Versuch, sein breites Wienerisch ein wenig zivilisiert deutsch klingen zu lassen, klang wie immer recht unbeholfen.

„Ich schmeiß den Scheiß hin! Soll Magnus allein seine Wale retten. In Wien ist eine Stelle als Leiter einer Rechtsabteilung im Verkehrsministerium ausgeschrieben. Ich kenn den Personalchef, mit dem hab ich studiert. Wenn ich mich bewerb, hab ich den Job sofort!“

„Du und Beamter?“, fragte Henry. „Mach dich nicht lächerlich. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass du mit geregelten Arbeitszeiten und dann noch in einer Hierarchie leben kannst. Hofrat Christian.“ Sie schüttelte den Kopf. „Als ob du dir irgendwas von irgendwem sagen lässt.“ Sie suchte nach einem wienerischen Ausdruck, damit sie überzeugender wirkte, denn sie hatte Angst, er könne es ernst meinen.

„Oida!“, warf sie bestimmt hinterher.

Jetzt musste Christian laut lachen, so lustig klang Henrys misslungener Versuch, den Wiener Dialekt zu imitieren.

„Hast eh recht“, sagte er und grinste. „Des wär nix. Und außerdem: Wer soll denn auf dich aufpassen, wenn ich weg bin?“

Sie atmete erleichtert auf.

„Willst einen Kakao?“

Er wusste, dass sie es hasste, wenn sie ihre Deadlines nicht einhalten konnte. Wenn dann noch einer wie Magnus daherkam, der etwas von ihr verlangte, was sie eigentlich nicht wollte, erhöhte das ihren Stresslevel zusätzlich. Am liebsten arbeitete sie nämlich nach eigenem Ermessen, genauso wie er.

Seit zwei Jahren waren sie nun Kollegen bei One Earth. Da sie die einzigen beiden Juristen in der Naturschutzorganisation waren, genossen sie in gewissem Maße Narrenfreiheit. Er sah väterlich über seine Lesebrille. Sie nickte dankbar, und Christian stand schwerfällig von seinem Stuhl auf.

„Und wenn ich zurückkomm, zeig ich dir die Fotos von der Mondfinsternis, die ich vorletzte Woche gemacht hab.“

Christian schwärmte seit Tagen von seinen Fotografien durch ein Teleskop. Er hatte den Einschlag eines Meteoriten auf der erdzugewandten Seite des Mondes erwischt.

Während Henry Christian draußen mit den Tassen hantieren hörte, beschloss sie, ihre Mutter anzurufen. Ohnehin hatte sie sich viel zu lang nicht bei ihr gemeldet, und jetzt brauchte sie die Unterlagen von zu Hause. In Sigtuna war die Welt noch in Ordnung. Henry hatte ihre Entscheidung, die Polizei in Hamburg zu verlassen, Jura zu studieren und nach Schweden zurückzukehren, nie bereut. Obwohl sie in Deutschland geboren war, konnte sie sich nicht vorstellen, dort zu leben. In Schweden war alles langsamer, ruhiger und vorsichtiger. Sie freute sich schon darauf, ihre Mutter am nächsten Tag zu besuchen.

Sie wählte die Nummer nach Sigtuna.

„Hej, Mama, ich bin’s.“

„Hejsan, mein Schatz, wie geht’s dir?“

Ihre Mutter wirkte nervös.

„Was ist los mit dir?“, fragte Henry sofort.

„Alles gut, Liebes. Ich bin nur etwas durch den Wind. Ich … ich habe gestern etwas erfahren, das …“ Der Hörer rauschte, weil ihre Mutter so schwer atmete. „Ach, ist auch nicht so wichtig. Wie geht’s dir, Henry?“ Martas Stimme wurde ruhiger. Henry konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Mutter sie jemals bei ihrem ganzen Namen, Henriette, genannt hatte.

Sie lebte allein in dem Haus in Sigtuna. Nach über dreißig Jahren in Schweden hatte sie aber genügend Freunde gefunden, die sie häufig besuchten. Allen voran ihre Nachbarin Barbro.

Henry wurde unruhig. Für sie war Marta das einzige noch lebende Familienmitglied; sie machte sich deshalb grundsätzlich Sorgen um ihre Mutter. Sie wusste aber auch, dass aus ihr nichts rauszukriegen war, wenn sie nicht wollte, und so nahm sie sich fest vor, Marta am nächsten Tag noch einmal darauf anzusprechen.

„Ich wollte dir nur sagen, dass ich morgen meine Ordner hole. Magnus nervt mal wieder wegen der Präsentation.“ Den letzten Satz sagte sie leise, aus Angst, ihr Chef könnte sie hören.

„Gerne! Ich habe sowieso gerade Zimtschnecken gebacken, dann können wir endlich mal wieder quatschen. Das ganze Haus riecht danach, du solltest jetzt schon hier sein. Wenn du magst, kannst du ja auch schon heute Abend kommen, dann sind sie ganz frisch. Ich muss dir da auch noch was Wichtiges erzählen.“

Während Henry überlegte, ob ihr Zeitplan es trotz Vorbereitung der Präsentation zuließ, ein ganzes Wochenende in Sigtuna zu verbringen, hörte sie am anderen Ende der Leitung ein Klopfen. Sie wartete deshalb mit ihrer Antwort ab.

„Warte, da kommt jemand. Bestimmt Barbro“, sagte ihre Mutter. „Die hat garantiert die Zimtschnecken gerochen.“

Es verging kein Tag, an dem Martas Nachbarin nicht zu Besuch kam.

Henry sah zum Fenster hinaus, wo die Eisbrecher mit den Touristen in den Stockholmer Hafen einfuhren. In Felle und Tücher gehüllt saßen sie auf dem Deck, Smartphones in der Hand, und fotografierten alles, was ihnen vor die Linse kam. Sahen diese Leute überhaupt irgendetwas dreidimensional? Es kam ihr so vor, als würden die Touristen heutzutage die Eindrücke ihres Urlaubs erst zu Hause in ihrer Bildersammlung wahrnehmen.

Es löste schon Beklemmungen in Henry aus, wenn sie den fremden Menschen nur zuschaute, wie sie auf dem Boot saßen und sich von den Wellen in den Hafen zurücktreiben ließen.

Ganz hinten an der Anlegestelle konnte sie den Bug der ,Moby Dick‘ sehen. Das alte Schiff war das Geschenk eines anonymen Spenders gewesen, der die NGO in seinem Testament berücksichtigt hatte. Theoretisch hätte Henry in ihrem Job die Möglichkeit gehabt, ihren verhassten Schreibtisch hin und wieder gegen die knallbunte ,Moby Dick‘ einzutauschen. Sie hätte sich von Fritjof, dem Kapitän, den wegen des Schiffs alle nur „Melville“ nannten, durch die Weltmeere schippern lassen können. Kjell und Håkan schwärmten jedes Mal, wenn sie von einem „Trip“, wie sie es bezeichneten, zurückkamen, obwohl die Ziele alles andere als romantisch waren. Immerhin war es eines ihrer Hauptanliegen, Norwegen, Island und Grönland davon zu überzeugen, den Walfang einzustellen. Henry war sich auch nie sicher, ob mit „Trip“ nicht irgendetwas anderes gemeint war. Für Christian war das alles nichts, der überwachte lieber im warmen Stockholmer Büro die Kaffeemaschine und bedrohte in beispiellos angsteinflößendem, wienerisch gefärbtem Juristen-Englisch irgendwelche Firmen und erinnerte sie an das Walfangabkommen aus dem Jahr 1946. Vielleicht aber blieb er auch freiwillig bei seiner Kollegin, die wegen ihrer Aquaphobie unmöglich auch nur einen Fuß auf die ,Moby Dick‘ setzen konnte.

Henry begutachtete sich in der Spiegelung der Scheibe. Die braunen Locken waren lang geworden und verdeckten jetzt ihre Wangenknochen. Vor lauter Präsentation kam sie kaum noch zum Essen, und ihr Gesicht wirkte eingefallen. Nicht einmal mehr die Sommersprossen waren geblieben. Die hatten sie immer kindlicher wirken lassen, als sie war. Ihre geringe Körpergröße tat ihr Übriges. Sie hatte es damals in Hamburg auf den Zentimeter genau, also gerade noch so, auf die Polizeischule geschafft. Erst vor einigen Wochen hatte sie mit ihrer Mutter darüber geredet, dass sie nicht aussah wie fünfunddreißig. Mehr noch: Vom Fluch der ewigen Jugend hatten sie gesprochen. Aber jetzt, so hohlwangig, glich ihr Gesicht eher dem einer Fünfundvierzigjährigen. Die Zimtschnecken würden ihr guttun.

Henry wischte sich die verschmierte Wimperntusche aus dem Augenwinkel, als sie hörte, wie ihre Mutter am anderen Ende der Leitung die knarrende Tür öffnete. In diesem Augenblick landete eine Elster vor dem Fenster ihres Büros und machte ein kratzendes, klopfendes Geräusch, sodass sie nur undeutlich einen Schrei ihrer Mutter vernehmen konnte.

„Was …“ Henry presste ihr Telefon so fest ans Ohr, dass der Ohrstecker sich schmerzhaft in ihre Haut grub. „Mama? Alles okay bei dir?“

Doch statt der Stimme ihrer Mutter hörte sie einen ohrenbetäubenden Knall. Dann ein Scheppern. Und direkt danach ein Geräusch, das wie ein Donner klang. Henrys Puls erhöhte sich schlagartig. Sie war lang genug bei der Polizei gewesen, um den Schuss einer Waffe auch durch das Telefon zu erkennen. Ihre Wangen wurden heiß, eine unbändige Angst überkam sie.

„Mama? Was war das? Sag doch was!“

Sie hörte ein Stöhnen.

„Mein Schatz, du …“

Wieder drang ein Rauschen durch den Hörer, und Henry vermutete, dass es der Wind war, der durch die offene Tür des gelben Holzhauses in Sigtuna blies.

„Hallo? Mama? Hörst du mich? Verdammt! Sag was!“

Das Gespräch wurde beendet. Sie rief ihre Mutter zurück, aber Marta hob nicht mehr ab.

Henry schnappte ihren Mantel, riss die Glastür ihres Büros auf, die gefährlich klirrend gegen die Wand krachte, und rannte durch den Flur. Weil sie nebenher versuchte, mit ihrem Handy den schwedischen Notruf 112 zu wählen, kollidierte sie mit Christian. Der Kakao schwappte auf sein Hemd.

„Ja, sag mal, hast du einen Vogel?“

Aber sie hörte ihn schon nicht mehr.

Sigtuna, 4. Februar 2019

Die Erinnerungen aus Henrys Kindheit klebten wie alter Staub auf jedem Möbelstück in Martas Haus. Diese Erinnerungen in Kartons zu verpacken, zu entscheiden, welche wichtig und welche unwichtig war, all das erledigte sie allein. Sie hätte sich Zeit lassen können damit, denn das Haus wollte sie ohnehin noch nicht verkaufen. Aber sie hatte das Bedürfnis, bei ihr zu sein, ihr nahe zu sein, sich zu erinnern und alles in sich aufzunehmen, was hier war. Auch nach dem Tod ihrer Mutter haftete der Duft nach Zimtschnecken in diesem Haus.

Was hatte sie ihr am Tag ihres Anrufs erzählen wollen? Und warum hatte sie es nicht gleich am Telefon erzählt?

Der Kater ihrer Mutter legte sich neben sie. Fiete drehte sich auf den Rücken und streckte ihr seinen getigerten Bauch entgegen. Sein Schnurren durchbrach die Stille im Raum.

„Na, alter Knabe, und was machen wir mit dir? Kommst du mit mir nach Stockholm? Ich weiß nicht, ob das so eine tolle Gegend für Katzen ist.“

Sie kraulte das Tier am Ohr, während sie mit der anderen Hand eines der in die Jahre gekommenen Fotoalben aus dem Regal zog. Sie pustete den Staub der letzten Jahrzehnte in Wölkchen durch die Luft.

Henry, die hinter den drei Kerzen auf dem Geburtstagskuchen schokoladenverschmiert in die Kamera lacht.

Marta, die ihrer Tochter das Fahrradfahren beibringt.

Marta und Henry im Urlaub auf Amrum.

Henry bei ihrer Einschulung.

Marta im Garten.

Ihre Mutter, mit der sie ihr ganzes Leben verbracht hatte, war nicht mehr da. Ein Fremder hatte sie ihr genommen, sie erschossen ohne Vorwarnung, ohne ein Wort der Erklärung. Die Frage nach dem Warum und vor allem nach dem Wer bohrte sich in ihre Gedanken.

Seit Tagen versuchte sie, sich zu erinnern, ob sie nicht doch am Telefon irgendetwas gehört hatte, das ihr einen Hinweis auf den Täter gab. Aber je länger sie darüber nachdachte, desto mehr verschwammen die Erinnerungen und verunsicherten sie. Nur ihre Mutter hatte gesprochen – und dann war da dieser Schuss gewesen. Sie hatte ein Geräusch gehört, das vermutlich das Schließen der Haustür gewesen war. Danach war es still gewesen.

Sie neigte den Kopf ein wenig, um die Titel der Bücher im Regal lesen zu können. Die meisten standen dort schon sehr lange und allesamt waren Krimis. Henry kannte die Farben der Einbände, weil sie oft mit ihrer Mutter hier im Wohnzimmer gesessen und Kakao getrunken hatte. Björn Hellberg, Uno Palmström, Arne Dahl. Und Paul Sturm, der einzige deutsche Verfasser, wie man an den Titeln erkennen konnte; sie sah drei Bücher von ihm im Regal. Von der Aufmachung her aus den Achtzigerjahren. Henry kannte den Schriftsteller nicht, aber sie las auch keine Krimis. Vielleicht würde ihr Kollege Christian, der ein Faible für Kriminalromane hatte, ein paar davon nehmen.

„Oskar!“ Sie griff hinter die Bücher, die das obere Regalbrett nach unten bogen, und wischte dabei eine Träne weg, die sich unbemerkt den Weg zu ihrem Kinn gebahnt hatte.

„Mensch, wo warst du all die Jahre? Hast mich einfach im Stich gelassen!“

Henry drückte den kaputtgeliebten Stoffaffen an ihre Brust und sog dessen Duft nach Staub und Eichenregal tief in ihre Lungen ein. Ein Auge hing ein bisschen heraus, die Nähte an den Armen bedurften einer Reparatur. Sie kannte einen Puppendoktor in der Hauptstadt, der sich Oskars sicherlich annehmen würde. Der Anblick des Stofftiers schickte sie auf eine kurze Zeitreise in ihre Kindheit; sie fühlte sich in diesem Moment überhaupt nicht wie eine Fünfunddreißigjährige, die als Juristin in einer schwedischen Metropole arbeitete.

„Hast du was gesehen? Wer hat das mit Mama gemacht?“

Fiete, der immer noch neben ihr lag, schnupperte an dem Kuscheltier, das die Antwort nicht preisgab.

Plötzlich hatte Henry das Gefühl, Schritte auf der Ve­randa zu hören, traute sich jedoch nicht nachzusehen. Ihr kam der Gedanke, dass der Mörder zurückgekommen war. Sie schlich zur Tür und lauschte. Die Nachbarskinder lachten im Garten. Ein kalter Luftzug drückte sich durch die Ränder der Haustür ins Innere.

Sie setzte sich wieder auf den Boden vor das Regal. Vermutlich war es nur der Wind gewesen, der zu dieser Jahreszeit häufig eine betäubende Kälte über die Häuser legte. Sie atmete flach, damit ihr kein Geräusch entging, stopfte den Freund aus Kindertagen in ihre Tasche und blätterte weiter durch die vielen Fotoalben.

Henry. Mama. Mama. Henry.

BEHALTEN stand in großen blauen Lettern auf dem Karton, in dem sie die Alben sorgsam ablegte. Sie selbst besaß nicht viele Fotos von ihrem ersten Lebensabschnitt. Ihr Smartphone umfasste über zweitausend: von Pflanzen, Seen, Freunden, Flüssen, Himmeln und der kalten Ostsee – dem Meer, das auf grauenvolle Weise ihre Kindheit verschlungen hatte.

Sie ließ den Blick über die vielen übereinandergestapelten Kartons streifen und blieb unweigerlich an dem Karton WICHTIGE DOKUMENTE hängen. Wie sollte sie das alles schaffen? Ohne ihre Mutter? Marta war immer diejenige gewesen, die ihr geholfen hatte, wenn es um Formalitäten ging. Eine Geburtsurkunde besorgen, die Steuererklärung machen. Sie hatte sie stets daran erinnert, eine warme Jacke oder einen Regenschirm mitzunehmen – und das Schlimmste von allem: Sie würde ihr nie wieder eine heiße Schokolade mit frisch gebackenen Zimtschnecken hinstellen und behaupten, sie hätte sie sowieso gemacht und es sei gar keine Mühe gewesen. Nein, Henry fühlte sich überhaupt nicht mehr erwachsen, seit ihre Mutter weg war.

Sie war verdammt allein.

Fredrik wollte sie nicht darum bitten, ihr beim Ausräumen des Hauses zu helfen. Martas ehemaliger Lebensgefährte hatte sich schon bei der Planung der Beerdigung einmischen wollen, dabei hatte Marta ihn vor einigen Wochen verlassen. Den Mord würde sie diesem Taugenichts zutrauen. Immerhin hatte er schon in der Beziehung ständig Geld von Marta gefordert. Sie schüttelte sich. Aber so viel hatte ihre Mutter nun auch nicht besessen, als dass sich ein Mord gelohnt hätte. Der Leichnam ihrer Mutter war noch nicht freigegeben, und Henry wollte die Beerdigung noch gar nicht planen.

Das Schmuckkästchen war verschwunden. Das einzige Schmuckstück, das noch existierte, war der Ehering, den Henry seit vielen Jahren selbst am Finger trug. Jakob, 26.06.1983. Der Täter hatte hauptsächlich wertlosen Modeschmuck mitgenommen, einen Raubmord schloss Henry eigentlich aus. Ein Dieb klopft nicht, erschießt jemanden und nimmt dann billigen Schmuck mit. Was hatte diesen Mann angetrieben, der Marta ohne Vorwarnung gnadenlos erschossen hatte? Wer war dieser Kerl, dass er ihr einfach die Mutter nahm? Oder war es womöglich sogar eine Frau gewesen? Egal, wer es war, wenn die Polizei ihn nicht finden würde, würde sie selbst es tun. Sie erinnerte sich an ihre Zeit bei der Kripo und daran, wie es sie angewidert hatte, bei Mordfällen mitzuwirken, aber das hier war anders. Es war ihre Mama.

Im oberen Stockwerk suchte sie Martas Lieblingsschal. Ein dunkelblauer aus Kaschmir, den Henry ihrer Mutter vor einigen Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. In ihrer Kindheit hatte sie oft nach vertrautem Mutterduft riechende Kleidungsstücke entwendet. Sie hatte sie zum Einschlafen gebraucht, wenn Marta nicht da gewesen war. Jetzt, so ihr Gefühl, brauchte sie eines zum Wachbleiben.

Im Kleiderschrank musste er sein, zwischen den vielen Blusen, den ordentlich gebügelten Röcken, all den Stoffen, die Martas eleganten Körper gekleidet hatten. Einige hingen seit den Neunzigerjahren darin. In letzter Zeit hatte ihre Mutter die Zeitzeugen dieses modischen Waterloo wieder getragen und Henry hatte sich über die Entwicklung von Martas Modegeschmack gewundert.

Eine Blechdose, die hinter den Kleidern hervorblitzte, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich und ließ sie den Schal für einen Moment vergessen. Die Kanten waren rostig, obenauf prangte das viele Jahrzehnte alte Bild einer Hausfrau, die ein deutsches Waschmittel anpries. Henry versuchte, die Dose zu öffnen, doch sie war so verbogen, dass sie Angst hatte, sich einen Fingernagel abzubrechen. Immerhin hatte sie vor ein paar Tagen das erste Mal seit vielen Jahren mühsam ihre Nägel lackiert. Ein warmes Himbeerrot, von dem Christian fand, dass es ihr nicht stand.

Auf der Suche nach einem passenden Gegenstand schaute sie sich im Zimmer um, sah auf dem Nachttisch ein Buch mit einem Flyer als Lesezeichen, daneben ein Bild von sich selbst. Henry hielt ihre Tränen zurück. Ihre Augen brannten seit Tagen.

Ein lautes Scheppern aus dem Wohnzimmer ließ sie zusammenzucken. Sie rannte die Treppe hinunter und kämpfte um ihr Gleichgewicht. Längst hatte ihre Mutter einen Handwerker für die ungleichmäßigen Stufen beauftragen wollen.

Fiete, der sich offenbar erschrocken hatte, saß auf dem Esstisch, am Boden verstreut der Inhalt des Kartons mit der Aufschrift VIELLEICHT. Rotglitzernd versammelten sich Lichterketten, Schneemänner, Glöckchen und eine Spieluhr, die müde die ersten Töne von ,Hej tomtegubbar‘ spielte, auf dem Dielenboden.

Henry atmete auf und sammelte die Weihnachtsdekoration aus ihrer Kindheit zusammen. Es tat ihr leid, dass sie letztes Weihnachten Witze über diesen ganzen Kram gemacht hatte. Wie gern hätte sie das nächste Weihnachtsfest mit ihrer Mutter und all dem Nippes verbracht. Unter dem Weihnachtsbaum sitzen und Pfefferkuchen essen. Mit wem sollte sie jetzt Heiligabend feiern? Ihre Großmutter, die einzige Verwandte, die sie neben ihrer Mutter gehabt hatte, war vor einigen Jahren verstorben.

Fiete sprang lautlos vom Tisch und stand reumütig vor einem zerbrochenen Weihnachtsmann aus Ton.

„Nicht so schlimm.“

Henry streichelte das Tier und beseitigte mit einem Besen die Reste des Unfalls. Als sie die Scherben in die Küche bringen wollte, stellte sie fest, dass die Haustür einen Spalt offen stand. Ihr Herz pochte. Leise atmend blickte sie um sich, um zu kontrollieren, ob der Lärm womöglich doch nicht nur von Fiete verursacht worden war. Wenn jemand das Haus betreten hatte, mussten auf dem Dielenboden zumindest Schneespuren zu finden sein, doch sie konnte keine Veränderung erkennen.

Für einige Sekunden stand sie an der Tür und hörte nur ihren Atem. Das Kehrblech mit den Scherben hielt sie fest umschlossen und beobachtete den Kater, der sich roten Glitzer aus dem Fell putzte.

Draußen hörte man immer noch die spielenden Kinder, ansonsten war alles ruhig. Unsicher schloss Henry die quietschende Haustür und drehte den Schlüssel zweimal herum.

In der Küche öffnete sie die letzte Dose Katzenfutter, die sie gefunden hatte, und füllte den Inhalt in einen Napf.

„Wenn man traurig ist, braucht man was Süßes, Fiete.“ Henry zitierte ihre Mutter und holte für sich eine Tafel Schokolade von Marabou aus dem Geheimfach. Die alte Schachtel Paniermehl ließ sie lächeln. Sie kannte das Versteck seit dreißig Jahren. Es war ein sinnloses Unterfangen, Süßigkeiten zu verstecken, wenn man gegen eine Sechsjährige antrat.

Aus der Besteckschublade nahm sie das stets frisch geschliffene Klappmesser ihrer Mutter heraus, Marke Opinel. Auf der Küchenablage lag ein Schlüssel mit einem beschrifteten Anhänger: Fredrik. Warum hatte ihre Mutter immer noch den Schlüssel dieses Barbaren? Henry schob ihn in ihre Hosentasche.

Ihr Smartphone klingelte. Ohne auf das Display zu schauen, schaltete sie das Gerät aus. Als sie das Telefon über die Arbeitsplatte rutschen ließ, sah sie, dass ihre Mutter das gleiche Werbegeschenk bekommen hatte wie sie: eine Bio-Handcreme, dabei hasste Marta Lotionen. Sie erinnerte sich an Martas faltige Hände, die sich so oft wie warmes Pergamentpapier um ihre gelegt hatten. Sie schloss kurz die Augen, als könne sie den Gedanken daran auf diese Art löschen, doch er wurde nur umso intensiver.

„Das Messer ist tabu“, hatte ihre Mutter häufig gesagt und den Zeigefinger erhoben. Obwohl Henry längst erwachsen war, hatte sie immer noch Respekt vor dem Messer, vor allem jetzt, wo sie mit dem Opinel die asymmetrischen Holztreppen nach oben ging. Als balancierte sie auf einem Drahtseil über den Amazonas, setzte sie einen Fuß vor den anderen, aus Angst, sie könnte sich mit dem zugeklappten Messer verletzen. Beim Hochgehen erinnerte sie sich wieder an die Tür, die plötzlich einen Spalt offen gestanden hatte, sah ins Wohnzimmer hinunter und war doch froh, eine Waffe bei sich zu tragen. Fiete zeigte sich aber nach wie vor unbeeindruckt, und so ging sie davon aus, dass der Wind die Tür aufgedrückt hatte.

Die Blechdose wartete auf dem Boden vor dem Bett ihrer Mutter. Queensize. Herrenbesuche über Nacht hatte Marta nie gemocht und deshalb auf ein größeres verzichtet. Kein Wunder, ihr Männergeschmack hatte sich im Lauf der Jahre ähnlich schlecht entwickelt wie ihr Modegeschmack.

Henry machte es sich bequem, zog die Dose auf ihren Schoß und schob vorsichtig die scharfe Klinge des Messers unter die Deckelkante. Sie bog die Dellen nach außen, bis sie den Behälter öffnen konnte. Fiete war ihr gefolgt und sah ihr von der Wäschetonne aus neugierig zu.

Obwohl die Dose von außen kein bisschen staubig war, roch sie nach altem Papier und Vergangenheit.

Sie fand Fotos. Marta und Jakob. Papa, Mama und Henry. All diese Bilder waren nicht in den Alben zu finden, und sie hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, dass derartige Aufnahmen existierten. Ihr Vater, der mit ihr Kreidebilder auf die Straße malte, im Hintergrund eine alte Linde, deren Äste sich schlangenartig in den Himmel wanden. Ein anderes Bild zeigte ihren Vater, wie er sie festhielt, als sie das Laufen lernte. Jakob zu sehen, gemeinsam mit ihr, versetzte Henry einen Stich. Sie kannte Fotos von ihm, aber keine, auf denen sie ebenfalls abgelichtet war. Sie sah auf den glänzenden Ehering ihrer Mutter, der auf ihrem Ringfinger mit dem himbeerroten Nagellack steckte und ihre braunen Locken spiegelte.

Eine richtige Familie waren sie gewesen, bis diese Einheit für immer auseinandergerissen worden war, bis das Meer ihren Vater verschluckt und sie zur Halbwaisen gemacht hatte. Sie streichelte über das jugendliche Gesicht ihres Vaters. Wie er jetzt wohl aussehen würde, wenn er noch am Leben wäre?

Wieder hörte sie Geräusche aus der unteren Etage. Die Fenster hätten abgedichtet werden müssen. Das alles war hinfällig, wenn sie das Haus verkaufen würde.

Henry zog einen Kronkorken aus der Blechdose. 12.3.1979 hatte ihre Mutter in mikroskopisch kleiner Schrift auf die Innenseite geschrieben. Eine Kinokarte für den Film ,Shining‘ aus dem Jahr 1980, Kino Museum, Tübingen. Die Rechnung über einen Restaurantbesuch von 1982. Carpaccio di Manzo, Pizza Margherita, Pizza Frutti di Mare, eine Flasche Barolo.

Warum hatte ihre Mutter keine Zeitungsartikel aus dem Jahr 1986 aufbewahrt? Artikel über das Unglück mit dem Segelboot, das ihr den geliebten Ehemann genommen hatte? Oder war die Blechdose nur ein Zeuge für die Zeit davor und Marta hatte sie seither nicht mehr angerührt?

Nachdem Henry sich durch Quittungen und getrocknete Blüten gearbeitet hatte, fand sie eine schwarze Audio­kassette mit der Aufschrift 1986. Sie sah sich um, obwohl sie wusste, dass ihre Mutter keinen Kassettenrekorder im Schlafzimmer hatte. Mit etwas Glück würde sie einen auf dem Dachboden finden, zwischen ihren alten Spielsachen. Sie schob die Kassette in die Gesäßtasche ihrer Jeans und griff nach dem Umschlag, der den Boden der Blechdose bedeckte. Der Wecker auf dem Nachttisch piepste zweimal, Henry schreckte hoch und sah aus dem Fenster. Die Sonne war stillschweigend schon fast hinter den Apfelbäumen verschwunden, und sie musste vor Anbruch der Dunkelheit in Stockholm sein. Hätte sie die Nebelscheinwerfer ihres VW Käfers doch letzte Woche repariert! So war es unmöglich, im Dunkeln nach Hause zu fahren, falls wieder ein Schneesturm aufkommen würde. Beim Aufstehen erblickte sie den Kaschmirschal ihrer Mutter unter dem Bett und zog ihn hervor.

Zügig steckte sie den Umschlag zum Opinel in die andere Hosentasche und legte sich den staubigen Schal um.

Die Ventile des Käfer-Motors klingelten laut, als sie vom kiesbedeckten Hof ihrer Mutter fuhr. Fiete saß auf der Veranda, und rote Glitzerpartikel aus der Weihnachtsdekoration reflektierten die Abendsonne in seinem Fell.

Immer noch unsicher, ob nicht doch jemand außer ihr da gewesen war, sah sie im Rückspiegel dem Haus ihrer Mutter nach, das in einer kleinen Rußwolke verschwand. Sie hätte um Haaresbreite den schwarzen Mercedes übersehen, der ihr auf der schmalen Slottsgatan entgegenkam. Erschrocken riss sie das Lenkrad nach rechts und verhinderte damit im letzten Moment eine Kollision. Das Klappmesser drückte auf ihren Oberschenkel. Ein wütendes Hupen drang an ihr Ohr und sie erkannte einen Mann am Steuer des auf Hochglanz polierten Daimlers, der wild gestikulierte.

„Schon gut, du eingebildeter Lackaffe“, nuschelte sie und hob zur Entschuldigung lächelnd die Hand, während sie den alten Volkswagen vorsichtig in Richtung Hauptstraße steuerte.

Stockholm, 4. Februar 2019

Kurz nach Einbruch der Dunkelheit betrat Henry ihre Wohnung in dem alten Haus in Stockholm-Farsta. Sie rieb sich die Hände und drehte die Heizung auf. Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt, was für Schweden im Februar nicht sonderlich kalt war. Aber seit dem Tod ihrer Mutter verspürte sie eine innere Kälte, die bis ins Mark drang. Eine Stunde hatte sie Zeit, bevor sie sich auf den Weg in die Altstadt machen musste.

Die Wohnung roch immer noch nach ihrem misslungenen Backversuch vom Vormittag. Sie hatte der Nachbarin ihrer Mutter Kekse mitbringen wollen. Da Barbro Andersson jedoch eine ausgezeichnete Bäckerin war, hatte Henry beschlossen, die angekokelten Haferkekse allein zu essen. Sie würde stattdessen für ihren nächsten Besuch welche bei ,Tant Bruns Kaffestuga‘ kaufen. Barbro würde gar nicht merken, dass sie sie nicht selbst gemacht hatte.

Die Energiesparlampe schaffte es gerade mal, die Bilder an der Wand auszuleuchten. Eines vom Mälarsee, eines vom Norrström, der durch die schwedische Hauptstadt floss, eines von der tosenden Ostsee. Ihre anderen Wände waren nüchtern und schlicht und verlangten eigentlich nach bunten Bildern oder Ähnlichem, doch bisher hatte sie nichts gefunden, was ihr zugesagt hatte. Und so war die Wand mit den drei Bildern die einzige, die nicht an eine Turnhalle erinnerte. Kjell hatte einmal gesagt, ihre Wohnung sei so kalt wie ihre Seele. Aber dass sie seine Einschätzung ihrer Persönlichkeit nicht ernst nehmen konnte, das wusste sie schon, seit er ihr ein paar High Heels hingestellt hatte. In Wahrheit kannte er sie überhaupt nicht, denn sie selbst hielt ihre Seele für alles andere als kalt. Sie tat sich nur schwer mit Entscheidungen und bevor sie die falschen Bilder aufhängte, ließ sie es lieber ganz bleiben.

Henry stellte einen Topf Milch auf den Herd, zog den dunkelgrauen Filzmantel aus und schüttete Kakaopulver in eine Tasse. Die Zimmerpflanzen ließen traurig ihre Blätter hängen und sie goss den Rest einer Flasche Mineralwasser in die durstige Erde. „Tut mir leid, Leute.“

Sie drückte auf den blinkenden Knopf des Anrufbeantworters.

„Eine neue Nachricht. Vierter Februar 2019, elf Uhr.“

Ihre Stiefel hatten salzigen Schneematsch in die Wohnung getragen. Henry warf ein Handtuch auf den Boden und wischte mit den Füßen die Pfützen vom Parkett.

„Servus, ich bin’s. Ich hab dich am Handy ned erreicht und wollt fragen, ob du, jetzt nach dem … also nach dem, was passiert ist, überhaupt die Ergebnisse von deiner Recherche am Freitag vortragen kannst und willst. Meld dich, bitte.“

Obwohl er sich wieder einmal große Mühe gab, Hochdeutsch zu sprechen, machte Christians wienerischer Akzent eine Namensnennung überflüssig. Die Präsentation hatte sie zwischenzeitlich total vergessen. Durch den Tod ihrer Mutter war alles andere nichtig erschienen. Sie war krankgeschrieben, hatte den Vortrag am kommenden Freitag aber trotzdem zugesagt. Magnus kannte auch wenig Erbarmen, wenn es um wichtige Präsentationen ging. Er hatte ihr zwar im Eiltempo eine Beileidskarte zukommen lassen, aber die war so unpersönlich gewesen wie die Geburtstagskarten aus der Apotheke des Vertrauens.

Ein Zischen lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Küche. Mit einem Satz war sie am Herd, zog den Topf mit der überlaufenden Milch von der Platte und leerte die sprudelnde Flüssigkeit über das Kakaopulver in ihrer Tasse. Der Duft nach heißer Milch und Schokolade ließ sie ruhiger werden.

Sie rührte um, legte die Kassette auf den Tisch und überlegte, wo sie auf die Schnelle einen Kassettenrekorder herbekommen könnte. Bestimmt waren Musikstücke darauf. Ein kleiner Ausflug in die Achtziger. Erst vor zwei oder drei Jahren hatten Marta und sie alte Kassetten aussortiert und vorher alle einmal angehört. Es waren hauptsächlich Bänder aus den Neunzigerjahren, als man noch vor dem Radio gesessen und auf das Lieblingslied gewartet hatte. Einmal hatten sie und Marta sogar noch einen Teil der Nachrichten von damals hören können, weil sie mit aufgenommen worden waren. Der Untergang der ,Estonia‘ hatte auf dem Weg nach Stockholm über achthundert Todesopfer gefordert.

Der Umschlag, den sie in der Blechdose gefunden hatte, war von der langen Fahrt zerknittert. Sie zog den Brief aus dem von ihrer Mutter sorgsam geöffneten Kuvert. Henry hatte sich den Ärmel ihres Pullovers über die Hand gezogen, hielt damit die heiße Kakaotasse fest und las.

Ihre Augen weiteten sich. Konnte das wahr sein?

Ihr Herz zog sich zusammen wie bei einer Achterbahnfahrt.

Was hatte das zu bedeuten? Wie in Zeitlupe rutschte ihr der Henkel zwischen den Fingern hindurch und die Tasse krachte mitsamt dem heißbraunen Inhalt auf den Boden. Die dampfende Flüssigkeit bahnte sich ihren Weg durch die von ihrer Mutter gestrickte blaue Wollsocke und verbrühte ihren rechten Fuß. Sie sprang auf und riss sich den nassen Strumpf vom Fuß. Die Haut war rot und brannte.

Wer nahm sie hier auf den Arm?

Nachdem Henry ihren Fuß unter fließendem Wasser gekühlt hatte, umwickelte sie ihn mit einem nasskalten Handtuch und setzte sich an den Küchentisch, um den Brief noch einmal in Ruhe zu lesen.

Ihr wurde übel.

Sie ging zur gegenüberliegenden Wand, holte tief Luft und zwang sich, den See anzuschauen. Sie zählte bis zehn. Dann Blick zum Fluss und wieder bis zehn. Zuletzt das Meer und noch einmal bis zehn. Langsam atmete sie mit dicken Backen aus, als läge sie in den Wehen.

„Beruhige dich“, sagte Henry zu sich selbst und schaute auf ihre Hände, die immer noch so sehr zitterten, dass die drei Silberarmreifen an ihrem linken Handgelenk gegeneinanderklirrten. „Der Brief ist nicht von deinem Vater, Henry. Dein Vater ist tot. Im Meer ertrunken. Der Brief ist nicht von deinem Vater.“

Die beiden Spulen der Kassette starrten sie vorwurfsvoll an. Vielleicht waren auf dem Band gar nicht die Stimmen von Falco, Queen und den Pet Shop Boys, sondern irgendetwas, das mit dem Inhalt des Briefes zu tun hatte. Wenn dem so war, musste sie es sofort anhören. Wo zur Hölle bekam man im Jahr 2019 auf die Schnelle einen Kassettenrekorder her? Kein Mensch hatte so ein Teil noch zu Hause.

Die Erinnerung an die Fotos aus dem Album kam in ihr hoch. Farbe verlierend zog ihr Leben in bunten Streifen an ihr vorbei.

Sie musste dringend mit Kjell reden.

In letzter Sekunde sprang Henry in die Tunnelbana in Richtung Alvik. Sie würde sich nie an diese großstädtische Hektik gewöhnen und manchmal bedauerte sie, dass sie aus Sigtuna weggezogen war. In Stockholm war es immer laut und hell.

Jedes Mal, wenn die U-Bahn sich wie ein Regenwurm an die Oberfläche grub, pressten sich die Lichter der Stadt durch die beschlagenen Scheiben und schmerzten in Henrys Augen. Der Rucksack des Jungen neben ihr bohrte sich in ihre Rippen. Obwohl die U-Bahn gerade erst ihre Reise angetreten hatte, war sie voll bis zum Anschlag.

Henry verstaute ihre langen Haare in der Kapuze ihres Mantels und verbarg ihre Hand, in der sie immer noch den Brief hielt, tief in der Tasche. An der Haltestelle Gullmarsplan stieg der Großteil der Fahrgäste aus, wahrscheinlich wegen irgendeines Hockeyspiels im ,Ericsson Globe‘. Sie setzte sich auf einen der vorgewärmten Sitzplätze und schloss die Augen. Ihr Körper nahm die sanft pulsierenden Bewegungen der U-Bahn wahr, die sie zunehmend beruhigten.

Wie immer stieg sie eine Station vor ihrem Ziel aus, an der Haltestelle Slussen, und suchte sich eine Bank, von der aus sie aufs Wasser schauen konnte. Sie zog den zerknitterten Brief aus ihrer Tasche und ließ ihren Blick hastig über die Buchstaben fliegen.

Ich habe die Tonaufnahme gehört und weiß, dass ihr in Schweden seid … kenne dein Geheimnis … will meine Tochter sehen …

Wenn das stimmte, dass ihr Vater lebte, war ihre ganze Vergangenheit eine Lüge gewesen. Hatte er das Bootsunglück vor dreiunddreißig Jahren wirklich überlebt? Und wo war er jetzt? Und warum war er danach nicht zu seiner Frau und ihr, seiner Tochter, die damals gerade zwei Jahre alt gewesen war, zurückgekehrt? Hatte er womöglich unter Amnesie gelitten? Von welchem Geheimnis sprach er?

Sie steckte den Brief wieder ins Kuvert und schaute auf die sanft glitzernden Wellen in der Bucht.

Henry nahm den Weg über die Brücke Katarinavägen in die Altstadt. Um diese Uhrzeit war hauptsächlich die Stockholmer Partyszene unterwegs. Die Hauptstadt kannte keine Werktage, sie kannte keine Ruhe, keine Pause. Autos bogen in die Straße ein und beleuchteten mit ihren Scheinwerfern vereinzelt Geschäftsleute, die in ihren Feierabend hetzten, als wären sie Theaterschauspieler auf einer Bühne. Eine Frau zerrte einen kleinen Jungen hinter sich her in Richtung U-Bahn. Im Kontrast dazu musste es für Außenstehende so aussehen, als ginge Henry in Zeitlupe durch diese Szene. Ihre Schritte verlangsamten sich, ihre Atmung wurde ruhig. In solchen Momenten vermisste sie ihr kleines Sigtuna, wo jetzt sicher alle zu Hause vor ihren Kaminöfen sitzend Wallander-Krimis lasen. Sie zwang sich immer wieder, auf die Saltsjön-Bucht zu schauen. Das Wasser hatte in all den Jahren nichts von seiner Bedrohlichkeit verloren, obwohl sie diesen Weg nahezu jede Woche zu Fuß ging. Durchaus willentlich, weil Doktor Frobenius sie darauf hingewiesen hatte, dass nur die Konfrontation mit dem Wasser ihre Ängste lösen konnte.

Kjell saß sicher bereits in der ,Tweed Bar‘ und ärgerte sich, dass Henry, wie so oft, zu spät kam. Er hasste es, versetzt zu werden, das wusste sie. Eigentlich war sie ein pünktlicher Mensch, aber irgendetwas in ihr schien sich bei Kjell verspäten zu wollen.

Nachdem sie die Brücke hinter sich gelassen hatte, beschleunigte sie ihre Schritte. An jedem Laden, an dem sie vorbeikam, überlegte sie sich, ob er wohl Kassettenrekorder führte. Gab es die überhaupt noch zu kaufen? Vielleicht sollte sie in dem Plattenladen in der Nähe der Deutschen Kirche nachfragen. Im Internet bestellen war ihr zuwider.

Ihr Gesicht war von der Kälte taub und es war höchste Zeit für ein Glas Wein. In ihrer Manteltasche drückte sie die Vibration eines Anrufs weg.

„Ich komm doch schon“, murmelte sie.

„Nur zehn Minuten zu spät?“, feixte Kjell und umarmte Henry zur Begrüßung. Er roch nach einer Mischung aus Hugo Boss Bottled, Zigaretten und Bourbon.

„Wie schaffst du das eigentlich immer, pünktlich bei unseren Meetings im Büro zu sein und bei privaten Verabredungen grundsätzlich zu spät zu kommen? Lass mich raten, du bist wieder in Slussen ausgestiegen?“

Henry nickte kurz, warf ihren Mantel über die Stuhllehne und bestellte Rotwein. Am Nebentisch saß ein verliebtes Pärchen, das seine Umgebung nicht wahrnahm.

„Sag mal, Kjell. Hast du zufällig einen Kassettenrekorder?“

„Nein, oh Gott, Hen, seit den Neunzigern nicht mehr.“ Er lachte. Schon wieder die Neunziger, dachte Henry. Wo hatte Marta nur diesen Kassettenrekorder hin, mit dem sie die alten Tapes angehört hatten? Sie musste doch noch einmal in Sigtuna auf dem Dachboden schauen.

„Verdammt. Hat denn keiner mehr so ein Teil?“

„Wozu brauchst du den überhaupt?“

„Erkläre ich dir gleich. Erst benötige ich deine Expertise.“

„Oho, meine Expertise.“ Kjell zog ostentativ eine Augenbraue hoch.

„Oder deinen freundschaftlichen Rat. Nenn es, wie du willst.“

Er nippte an seinem Glas. „Freundschaftlich also …“ Seine dunkelbraunen Augen wirkten im Schein der atmosphärischen Lampen fast schwarz. Henry holte den Brief aus der Tasche und ließ ihn quer über den Tisch gleiten.

„Was ist das?“, fragte Kjell.

„Der Prolog zur Geschichte mit dem Kassettenrekorder. Also, falls du es lesen kannst. Ist auf Deutsch. Sonst übersetze ich es dir. Habe ich in einer Blechdose bei meiner Mutter gefunden.“

Henry wusste, dass er bedauerte, im Deutschunterricht in der Schule nicht aufgepasst zu haben. Er beschwerte sich jedes Mal, wenn sie sich mit Christian unterhielt. Wenn der dann noch in breites Wienerisch verfiel, was vor allem der Fall war, wenn er sich ärgerte, verstand Kjell kein Wort mehr. Henry ging davon aus, dass ihn der Kontrollverlust störte. Er wollte immer ganz genau wissen, worüber sie mit ihrem österreichischen Kollegen sprach.

Kjell entfaltete das Schriftstück und las. Sein Mund öffnete sich beim Lesen immer weiter. Ein Kopfschütteln unterstrich seine Fassungslosigkeit.

„Puh, du bist echt für Überraschungen gut, Hen. Ich befürchte, ich verstehe das Wichtigste.“

Er gab ihr das Schreiben zurück, wobei er es zwischen den Fingerspitzen hielt, als sei es ein nasser Putzlappen. Die Natriumlampen tauchten sein Gesicht in gelbes Licht.

„Tja, das habe ich dann wohl von meinem Vater. Bei dem Brief habe ich eine Kassette gefunden, und genau die konnte ich noch nicht abspielen, weil ich keinen verdammten Kassettenrekorder habe!“ Sie nahm ihr Glas und trank einen großen Schluck. Der Wein schmeckte ihr nicht.

„Wir werden schon einen finden. Im Büro ist sicherlich einer. Oder hast du vergessen, dass Magnus sogar noch einen 8mm-Filmprojektor hat? Von dem würdest du vermutlich auch ein Grammofon bekommen, wenn du es bräuchtest. Der Chef wirft doch nichts weg.“

Er hatte recht. Das Büro ihres gemeinsamen Vorgesetzten Magnus erinnerte an ein Antiquariat. Henry wollte trotzdem erst Christian fragen.

„Was machst du mit der Information aus dem Brief?“ Kjell starrte immer noch auf das Papier, das jetzt vor ihr lag.

„Keine Ahnung, vielleicht nach Deutschland fliegen, um ihn zu suchen.“

„Du kannst doch nicht wie selbstverständlich nach Deutschland fliegen und ihn irgendwo dort suchen!“ Er trank sein Glas leer und bestellte gestisch beim Kellner Nachschub.

Kjell sah ihr in die Augen. Sie hasste diesen Blick und beobachtete deshalb weiter den sich drehenden Rotwein in ihrem Glas.

„Er wohnt in Tübingen“, sagte sie. „Das steht im Brief.“ Sie machte eine kurze Pause. „In meiner Geburtsstadt. Aber vielleicht hast du recht. Ich habe ihn über dreißig Jahre nicht gesehen, ich weiß nicht einmal, wie er aussieht.“

„Hast du mal eine Suchmaschine angeworfen?“, fragte Kjell.

„Wann hätte ich das tun sollen?“ Den Ton bereute sie sofort und sagte deshalb etwas sanfter: „Ich habe den Brief gelesen und bin direkt hierhergekommen. Kein Google. Kein Kassettenrekorder.“ Sie seufzte und erwähnte nicht, dass sie in der U-Bahn Zeit gehabt hätte, ihren Vater zu suchen. Aber sie war so mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen, dass sie auf die Idee nicht gekommen war. Die Schockstarre löste sich erst jetzt, nachdem sie ihre Entdeckung mit jemandem hatte teilen können. Sie musste sich eingestehen, dass sie Angst davor hatte, Jakob im Internet zu suchen. Kjell ignorierte die aufkommende Anspannung, nahm sein Smartphone zur Hand und gab den Namen ihres Vaters ein.

„Hm … da haben wir doch schon einen Jakob Winter aus Deutschland.“

Henrys Herz schlug bis zum Hals.

„Zeig her!“ Sie riss ihm das Gerät aus der Hand, was Kjell mit einem Seufzen kommentierte.

Sie sah sich das geöffnete Social-Media-Profil an. „Der Junge ist fünfzehn“, warf Henry ein.

Unschuldig hob er die Hände. „Sorry, ich kann ja nicht weiterlesen, wenn du mir mein Telefon wegnimmst. Es gibt auch sicher nicht nur einen Jakob Winter.“

Sie schob das Smartphone zu ihm zurück. Während er weitersuchte, wandte er ein: „Du könntest ihm auch erst mal einen Brief schreiben.“

Henry hatte einen Schluck Wein im Mund und die leichte Schärfe des Alkohols kribbelte auf ihrer Zunge. Sie schluckte ihn hinunter und hustete kurz. „Ein Brief bringt doch nichts! Ich muss hinfahren.“

„Hen …“ Dramatisch atmete er tief ein. „Du musst vor allem die Präsentation erstellen. Du kannst jetzt nicht weg, Magnus bringt dich um.“

„Ich könnte auch Christian fragen, ob er das für mich übernimmt.“

„Um dem Germknödelschubser wieder mal eine Plattform zu bieten, damit er sich profilieren kann? Es ist doch deine Präsentation, nicht seine.“

Henry runzelte die Stirn. Was sollten diese ständigen Spitzen von Kjell? „Spar dir bitte deine Gehässigkeiten gegenüber Christian.“

Er verdrehte die Augen, wie er es immer tat, wenn sie ihren Kollegen verteidigte.

„Offensichtlich wollte dein Vater dich dreiunddreißig Jahre lang nicht sehen. Oder warum sonst hätte deine Mutter mit dir nach Schweden gehen und dir erzählen sollen, dass dein Vater tot ist? Er hatte jahrzehntelang kein Interesse an dir und weil er jetzt irgendeine Tonaufnahme gehört hat, will er dich plötzlich sehen? Seltsame Geschichte.“

Henry vergrub ihr Gesicht in den kalten Händen und antwortete nicht. Die Armreifen saßen locker und klimperten aneinander. Das Geräusch erinnerte sie an das Windspiel in Barbros Garten, und sie versuchte, die aufkommende Sehnsucht nach zu Hause hinunterzuschlucken, doch die klebte in ihrem Hals wie Kaugummi. Mit einem großen Schluck Wein spülte sie das schmerzhafte Gefühl hinunter.

„Ich finde in Tübingen keinen Jakob Winter, der vom Alter hinkommen könnte. Aber dort gibt es laut dem Telefonbuch zumindest einen Wilfried und einen Hermann Winter, außerdem eine Anna, vielleicht ist das seine Frau und die anderen seine Brüder“, sagte Kjell und nahm ihre Hand. Sie zog sie zurück und verschränkte die Arme.

„Du meinst, er hat wieder geheiratet? Muss er ja, sonst würde er ja auch noch Winkler heißen, oder?“

„Es ist doch über dreißig Jahre her. Aber gut, Winter ist, wie gesagt, auch kein ungewöhnlicher Name, das gebe ich zu. Übrigens: Der Brief hat keine Briefmarke. Er muss bei deiner Mutter gewesen sein, und unter Umständen hast du ihn schon einmal gesehen, Hen.“

Ihr wurde heiß. „Unsinn! Er schreibt doch keinen Brief an eine Tote!“ Das letzte Wort löste Unbehagen in ihr aus.

„Hast du das Datum angeschaut, du kleiner Sherlock? Der Brief wurde vor ihrem Tod verfasst. Sonst hätte sie ihn ja wohl kaum noch in irgendeine Blechdose legen können. Mannomann, es ist wirklich gut, dass du nicht mehr bei der Polizei bist.“

Henrys Wangen färbten sich rot. Sie wollte die letzten zehn Minuten am liebsten zurückspulen und einfach einen gemütlichen Abend verbringen, bei dem sie alles vergessen konnte.

„Vielleicht ist er ja noch da“, unterbrach Kjell ihren angestrengten Gedankenfluss.

„Wenn er noch in Schweden ist, weiß ich erst recht nicht, wo ich ihn suchen soll.“

„In Deutschland würdest du ihn dann jedenfalls nicht finden“, sagte Kjell, wohl in der Hoffnung, sie damit besser überzeugen können.

Er zerrte den Brief unter Henrys kaltschweißiger Hand hervor und las laut: „… und ich kenne dein Geheimnis. Welches Geheimnis denn überhaupt? Das klingt ja wie in einem Thriller. Hat deine Mutter jemanden umgebracht?“ Bevor sie antworten konnte, las er weiter: „… und wohne noch immer in der Grünwaldstraße in Tübingen. Und genau dorthin könntest du den Brief adressieren. Der wird dann trotzdem zugestellt, also auch ohne Hausnummer. Die Post weiß schon, wo der Kerl wohnt.“

Sein Deutsch klang furchtbar.

„Schreib deinen Brief doch selber. Ich will dorthin fahren!“

Er lachte. „Sei nicht albern. Es ist doch dein Vater, nicht meiner. Aber wenn du meinst, dass du jetzt, wo wir mit unserer Recherche in der heißen Phase sind, das Land verlassen musst, bitte.“

Er klang gereizt.

„Ich will Antworten von ihm, und die bekomme ich nicht über Briefe. Was mache ich denn, wenn er mir überhaupt nicht zurückschreibt? Ich werde hier wochenlang auf einen Brief warten, und wenn keiner kommt, bin ich kein Stück weiter, habe aber viel Zeit verloren. Viel leichter ist es, in diese Grünwaldstraße nach Tübingen zu fahren und ihn dort aufzusuchen.“

Kjell seufzte. „Wenn es unbedingt sein muss. Aber ich komme mit.“

Henrys Gesichtszüge entgleisten. „Auf gar keinen Fall!“

„Warum nicht? Jemand, der von einem Geheimnis schreibt, ist mir jedenfalls nicht geheuer!“

„Weil das meine Sache ist.“

„Ja, aber wir wissen beide, dass du auch ein großes Talent hast, in skurrile und gefährliche Situationen zu geraten. Nicht umsonst hast du dich entschieden, bei der Polizei aufzuhören und Jura zu studieren.“ Sein Grinsen wich einem ernsten Gesichtsausdruck. „Und außerdem solltest du dir wirklich langsam Gedanken darüber machen, was ich eigentlich für dich bin, Hen. Wenn ich dich nicht einmal bei einer so wichtigen Sache begleiten darf.“

„Ich weiß, was du für mich bist.“

„Ja? Was denn?“

„Ein guter Freund natürlich.“ Sie rang sich ein Lächeln ab und dachte an Doktor Frobenius, der in etlichen Therapiesitzungen darüber philosophiert hatte, warum Henry sich auf keinen Mann ernsthaft einlassen konnte und darum lieber Affären mit Idioten einging, die ihre Frau nicht verlassen wollten.

Kjell war definitiv so ein Idiot.

Sie hatte die Theorie, dass sie sich das bei ihrer Mutter abgeschaut hatte. Und bei der, so viel stand für Henry fest, hatte es daran gelegen, dass sie sich einfach nicht binden wollte und deshalb irgendwann dazu übergegangen war, sich auf Vollpfosten wie Fredrik einzulassen.

Er spielte mit den Bierdeckeln. Henry bestellte sich noch ein Glas Rioja.

„Mal im Ernst. Du suchst jetzt nicht wirklich selber nach dem Mörder, oder?“, fragte er.

„Wie kommst du plötzlich darauf?“, fragte sie lauter, als es sie es beabsichtigt hatte.

„Weil ich dich kenne!“

„Na ja, bisher noch nicht. Ich habe nur Thomas angerufen. Er will Kontakt zu diesem Polizisten aus Stockholm aufnehmen, Mikael Dahlin. Ich fürchte aber, dass ich nicht so leicht an die Informationen komme, und Christian will seine Kontakte zu Oberstaatsanwalt Erik Elander nicht spielen lassen.“

Thomas war ihr Ausbilder in Hamburg gewesen. Er hatte ihr den Spitznamen „Abrissbirne“ gegeben, nachdem sie die halbe Blumenrabatte einer Rentnerin abgeerntet hatte, weil sie die Gewächse für Marihuana hielt. Einige Dellen im Streifenwagen später hatte Thomas ihr in väterlicher Fürsorge vorgeschlagen, doch noch das längst angestrebte Jurastudium zu absolvieren. Nach dem Studium hatte er ihr sogar einen Job in einer Kanzlei besorgt. Henry war zwei Jahre geblieben, wollte dann aber mit Mord und Totschlag nichts mehr zu tun haben. Die vakant gewordene Stelle bei One Earth in Stockholm war ihr damals recht gekommen. Umwelt- und Tierschutz.

Keine Kinderleichen.

„Was erhoffst du dir davon, dass Mister Wichtig den Oberstaatsanwalt konsultiert? Ich denke, die Polizei wird ihre Arbeit schon machen und den Mörder deiner Mutter finden. Dazu brauchen wir keinen österreichischen Paragrafenreiter. Du musst einfach mal die Füße stillhal …“

„Gar nichts macht die Polizei!“, fuhr Henry ihn an. „Die haben nur Barbro befragt und sonst überhaupt nichts getan! Da meldet sich keiner, und wenn ich anrufe, macht der Dahlin immer Pause. Der macht, glaube ich, nichts anderes als Pause, während da draußen ein Irrer rumrennt!“

„Hen … Weder bist du bei der Staatsanwaltschaft noch bist du Kalle Blomquist und solltest dich deshalb jetzt dringend um die dänischen Wale und um dich selbst kümmern. Sonst kommst du noch auf dumme Ideen.“

Er sagte das, ohne sie dabei anzusehen; vielmehr widmete er seine Aufmerksamkeit dem Pärchen am Nebentisch. „Und außerdem willst du doch wissen, warum dein Vater euch verlassen hat, oder?“

„Ja, schon, aber …“

„Nichts aber. Dein Vater kann dir diese Frage beantworten.“ Er zuckte die Schultern. „Mal was ganz anderes. Hast du diesem Thomas erzählt, dass dein Vater noch lebt?“

Henry rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her. „Nein, warum? Und wie auch? Ich weiß das doch erst seit ein paar Stunden.“

„Weil er …“ Kjell holte tief Luft und gab ihr das Gefühl, völlig auf dem Schlauch zu stehen. „… vielleicht herausfinden kann, was damals wirklich passiert ist. Dann müsstest du nicht extra hinfliegen.“

Er betonte das mehr wie eine Frage, was Henry ein zweites Mal suggerierte, dass sie schwer von Begriff war. Kjell lieferte eindeutig die besseren Ideen. Sie war offensichtlich zu sehr persönlich betroffen, um klar denken zu können. Christian versuchte immer wieder, sie zu motivieren, sich bei der Åklagarmyndigheten zu bewerben, der Staatsanwaltschaft. Er selbst fühlte sich zu alt, um sich in das schwedische Rechtssystem einzuarbeiten, One Earth war international. Für Henry wäre das kein Problem gewesen, immerhin war sie hier aufgewachsen. Christian fand, dass sie eine hervorragende Kombinationsgabe hatte, und empfand es als Verschwendung, dass sie bei One Earth nur recherchieren durfte. Und jetzt saß sie hier und ließ sich von einem Ökologen erklären, wie man Vermisstenfälle aufklärt.

„Ich glaube nicht, dass er an die Akten rankommt, die müssen doch irgendwo in Kiel liegen. Soweit ich weiß, sind die zuständig für Bootsunglücke in dem Bereich der Ostsee.“

„Du glaubst also, Thomas kann eher Informationen von einem Polizisten aus Stockholm bekommen als von einem aus Kiel?“ Kjell legte den Kopf fragend zur Seite, als rede er mit einem Kleinkind.

„Ja, stimmt. Vermutlich nicht. Ich kann ihn ja mal fragen.“

„In Schweden kennt bei der Polizei jeder jeden über ein paar Ecken, das wird in Deutschland nicht anders sein. Vielleicht hat dein Vater das alles inszeniert, um sich aus der Affäre zu ziehen.“ Der Brief hatte ihn offenbar selbst neugierig gemacht. Kjell vermutete also, dass Jakob überlebt und den Moment genutzt hatte, um sich aus dem Staub zu machen.

Sie dachte an ihren Kollegen Håkan, der bei One Earth für die IT zuständig war.

„Meinst du, Håkan kann sich in irgendwelche Systeme hacken?“, fragte Henry und holte ihn in die Gegenwart zurück.

Kopfschüttelnd lachte er laut auf. „Nein, so leicht ist das nicht. Ich vermute auch, dass die Akten aus den Achtzigerjahren nicht digitalisiert vorliegen. Außerdem ist das kriminell, das weißt du auch. Wieso willst du dich überhaupt da reinhacken, wenn du es viel einfacher haben könntest?“

„Können wir nicht über was anderes reden?“ Sie verschränkte die Arme auf dem Tisch und legte den Kopf darauf.

Kjell wollte Henry eine Pause gönnen und wechselte darum das Thema. Er erzählte von seinem Kurztrip mit Håkan nach Norwegen und von den vielen Frauen beim Après-Ski. Es interessierte sie überhaupt nicht, aber alles war ihr lieber, als weiter über den Mord an ihrer Mutter oder das Verschwinden ihres Vaters zu reden.

Es war kurz vor Mitternacht, als sie die Brücke am Katarinavägen überquerten. Die Lichter der Boote waren schon erloschen, sodass Henry das Wasser nur anhand der Reflexionen des Laternenlichts auf der Oberfläche erahnen konnte.

Sie sah auf ihr Smartphone, um die Uhrzeit zu überprüfen, und stellte fest, dass die Anrufe am Nachmittag und vor einigen Stunden nicht von Kjell stammten, sondern von Christian. Wenn er so spät abends anrief, war es wichtig.

Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie vergessen hatte, auf seine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter zu reagieren. Sie musste ihn dringend zurückrufen.

Als könnte sie sich dadurch vor der Welt um sie herum schützen, zog sie ihren Mantel enger um sich. Gleich morgen würde sie Christian nach einem Kassettenrekorder fragen.

Kjell schloss den Reißverschluss seiner Feldjacke und zog die Schultern hoch. „Wenn ich gewusst hätte, dass ich mit dir schon wieder über diese verdammte Brücke vor Slussen gehen muss, hätte ich den Wollwalkmantel und die Fellmütze meines Opas angezogen.“

Sein Großvater war Same gewesen, und zwar so ein richtiger mit Rentieren. Henry wusste, dass er maßlos übertrieb. Den Brief hatte sie in ihrer Umhängetasche verstaut, sodass sie in den Manteltaschen Platz für ihre frostkalten Hände fand. Sie gab den Haustürcode ein und deutete mit einer Handbewegung an, dass Kjell eintreten solle.

In ihrer Wohnung sah er sich um, als wäre er nie hier gewesen. Tatsächlich war es zwei oder drei Wochen her, jedoch keineswegs so lange, dass er sich fremd fühlen konnte.

„Wie bist du überhaupt an diese Bude gekommen? Ich warte seit acht Jahren auf eine bezahlbare Wohnung in Stockholm. Åkersberga ist nun wirklich nicht der Renner.“

Es war schwierig, legal an Immobilien in der Hauptstadt zu kommen – und dann noch an eine wie diese. Henrys Kollegen warteten teilweise Jahrzehnte auf Wohnungen.

„Mal sehen, wie lange ich die noch habe. Sie läuft über meine Mutter.“ Als sie diesen Satz aussprach, stellte sie selbst fest, dass sie vermutlich bald noch ein weiteres Problem haben würde. Man würde ihr kündigen und die Wohnung einem ihrer Kollegen geben, die seit Jahrzehnten auf der Warteliste standen.

„Sie hat sich vor achtzehn Jahren für mich auf die Wohnungswarteliste setzen lassen. So vorausschauend war sie. Es hat auch nur sechzehn Jahre gedauert, bis die Zusage kam.“

Über ihnen hörte man die Nachbarn streiten. Eine Tür wurde zugeschlagen.

Kjell schaute fragend an die Zimmerdecke.

Henry verdrehte die Augen und hob die Hände. „Tja, was will man machen? Du kannst froh sein, dass du in Åkersberga wohnst.“

„Bei uns randalieren dafür nachts die Besoffenen. Ist auch nicht besser. Aber wenn du es ruhig haben willst, zieh doch ins Haus deiner Mutter nach Sigtuna, ich nehme deine Wohnung und komme am Wochenende zum Essen vorbei.“ Er grinste.

Sie sah sich um, als kenne sie ihr eigenes Zuhause nicht und müsse erst nach Augenmaß die Größe der Immobilie abschätzen. „Die Wohnung ist doch viel zu klein für drei Personen. Ich glaube auch nicht, dass deine Frau mit Jonas in meine alte Wohnung ziehen will, zumal das hier auch keine Gegend für kleine Kinder ist. Außerdem will ich nicht in einem Haus leben, in dem meine Mutter …“ Sie schluckte. „… kaltblütig ermordet worden ist.“

Sein Grinsen verschwand innerhalb von Millisekunden. „Oh Mann, klar, versteh ich. Vergiss, was ich gesagt habe.“

Henry setzte Milch für heiße Schokolade auf dem Herd auf. Kjell bestellte stattdessen ein Bier, als säße er noch in der ,Tweed Bar‘.